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Genozid

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Abstract

Genozide werden allgemeinhin als die intentionale, oft aber nicht nur mit physischer Gewalt verbundene Vernichtung einer klar identifizierbaren Gruppe von Nichtkombattantinnen und Nichtkombattanten verstanden. So neu der Begriff ist, so alt sind viele der Praktiken. Dazu gehören massenhafte Tötungen, Vertreibungen, Versklavung, Kinderdiebstahl, Zerstörung kultureller und religiöser Orte bzw. Verbot der Ausübung von Bräuchen und Ritualen, sowie der Nutzung der je eigenen Sprache. Hinter diesen Maßnahmen stehen zumeist politische Motive, die eng an die Erlangung und Aufrechterhaltung zentralisierter politischer Macht ge- bunden sind. Psychologische Konzepte und Erkenntnisse werden für Forschende im Feld relevant, wenn es um die Erklärung individuellen und kollektiven Agierens im Kontext dieser spezifi- schen Form kollektiver Gewalt geht. Vor allem die Ergebnisse experimenteller sozialpsycho- logischer Studien aus den 1940-70er Jahren bilden seit Jahrzehnten das Rückgrat oft weitrei- chender erklärender Erzählungen. Die vielfältigen Probleme einer Übertragbarkeit dieser Studien auf doch sehr diverse Ereignisse blieben lange Zeit unbeachtet. Insbesondere im letz- ten Jahrzehnt sind allerdings zunehmend Studien erschienen, in denen die Geltung der Klas- siker neu bewertet wird. Neben dieser Einordnung alter Arbeiten mag die Fruchtbarmachung bisher wenig be- achteter Zugänge zum Verständnis von Gewalt in sehr unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten beitragen. Das beträfe zum einen Aspekte, die kulturspezifisch sind wie Sinnbildungsprozesse, Identitäts- und Selbstkonstruktionen. Zum anderen sind dies As- pekte, die aktuell noch gar nicht benannt werden können. So gibt es eine Reihe von Autor*in- nen, die seit einigen Jahren an der Entwicklung einer in ihren Worten genuin afrikanischen Psychologie arbeiten. Ob sich daraus neue Zugänge für die Gewalt- bzw. Friedensforschung ergeben, muss sich noch erweisen. Hinzu kommen indigene Zugänge, die sich selbst gar nicht als Psychologie bezeichnen. Das sind etwa religiöse Deutungen menschlichen Agierens wie sie sich beispielsweise im Hinduismus, Buddhismus und damit auch in Meditationspraktiken finden. Weiter gibt es Psychologien, die Kultur nicht als Störfaktor, sondern als fundamental für das Verständnis individueller Psychen deuten. Ein Beispiel ist die Kulturpsychologie. Schließlich greift die Fokussierung auf die Gewaltausführenden konzeptionell zu kurz. Denn jede individuelle Aktion, die in zeitlicher und räumlicher Nähe zur Gewalt stehen sind Teil ihrer Ermöglichung (u.a. absperren, transportieren, verwalten, oder auch nur die Versor- gung der Mordenden mit Lebensmitteln. Genauso können solche Handlungen Teil der Ver- hinderung, Eindämmung oder Minderung der Gewalt sein (u.a. widersprechen, nicht mitma- chen, verstecken, kämpfen). Handbuch Friedenspsychologie
Kapitel betreut von N. Knab, angenommen am 28.07.2022 1
Gudehus: Genozid
2 Handbuch Friedenspsychologie
Christopher Cohrs Nadine Knab Gert Sommer (Hrsg.)
Handbuch Friedenspsychologie
ISBN 978-3-8185-0565-3
DOI: https://doi.org/10.17192/es2022.0036
Lektorat und Formatierung: Michaela Bölinger und Marie Schumacher
Titelbild und Kapitelgestaltung: Nadine Knab
Umschlagbild: Hoffnung (Esperanza). Frieden, Dankbarkeit, Kreativität und Wiederstandfä-
higkeit sind die Symbole und Elemente, die in diesem Kunstwerk in Einklang gebracht wer-
den. Es ist als Großformat in der Gemeinde 13 in Medellín, Kolumbien, Teil der Graffiti-
Tour. Das Kunstwerk vermittelt eine wichtige Botschaft der Hoffnung sowohl an die lokale
Gemeinde als auch an ausländische Besucher/innen.
@medapolo.trece @fateone96 @radycalshoes @pemberproducciones
https://handbuch-friedenspsychologie.de
Website-Gestaltung: Tamino Konur, Iggy Pritzker, Nadine Knab
Forum Friedenspsychologie
https://www.friedenspsychologie.de
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Handbuch Friedenspsychologie
Kapitel betreut von N. Knab, angenommen am 28.07.2022 3
Genozid
Christian Gudehus
Zusammenfassung
Genozide werden allgemeinhin als die intentionale, oft aber nicht nur mit physischer Gewalt
verbundene Vernichtung einer klar identifizierbaren Gruppe von Nichtkombattantinnen und
Nichtkombattanten verstanden. So neu der Begriff ist, so alt sind viele der Praktiken. Dazu
gehören massenhafte Tötungen, Vertreibungen, Versklavung, Kinderdiebstahl, Zerstörung
kultureller und religiöser Orte bzw. Verbot der Ausübung von Bräuchen und Ritualen, sowie
der Nutzung der je eigenen Sprache. Hinter diesen Maßnahmen stehen zumeist politische
Motive, die eng an die Erlangung und Aufrechterhaltung zentralisierter politischer Macht ge-
bunden sind.
Psychologische Konzepte und Erkenntnisse werden für Forschende im Feld relevant,
wenn es um die Erklärung individuellen und kollektiven Agierens im Kontext dieser spezifi-
schen Form kollektiver Gewalt geht. Vor allem die Ergebnisse experimenteller sozialpsycho-
logischer Studien aus den 1940-70er Jahren bilden seit Jahrzehnten das Rückgrat oft weitrei-
chender erklärender Erzählungen. Die vielfältigen Probleme einer Übertragbarkeit dieser
Studien auf doch sehr diverse Ereignisse blieben lange Zeit unbeachtet. Insbesondere im letz-
ten Jahrzehnt sind allerdings zunehmend Studien erschienen, in denen die Geltung der Klas-
siker neu bewertet wird.
Neben dieser Einordnung alter Arbeiten mag die Fruchtbarmachung bisher wenig be-
achteter Zugänge zum Verständnis von Gewalt in sehr unterschiedlichen historischen und
kulturellen Kontexten beitragen. Das beträfe zum einen Aspekte, die kulturspezifisch sind
wie Sinnbildungsprozesse, Identitäts- und Selbstkonstruktionen. Zum anderen sind dies As-
pekte, die aktuell noch gar nicht benannt werden können. So gibt es eine Reihe von Autor*in-
nen, die seit einigen Jahren an der Entwicklung einer in ihren Worten genuin afrikanischen
Psychologie arbeiten. Ob sich daraus neue Zugänge für die Gewalt- bzw. Friedensforschung
ergeben, muss sich noch erweisen. Hinzu kommen indigene Zugänge, die sich selbst gar nicht
als Psychologie bezeichnen. Das sind etwa religiöse Deutungen menschlichen Agierens wie
sie sich beispielsweise im Hinduismus, Buddhismus und damit auch in Meditationspraktiken
finden. Weiter gibt es Psychologien, die Kultur nicht als Störfaktor, sondern als fundamental
für das Verständnis individueller Psychen deuten. Ein Beispiel ist die Kulturpsychologie.
Schließlich greift die Fokussierung auf die Gewaltausführenden konzeptionell zu kurz.
Denn jede individuelle Aktion, die in zeitlicher und räumlicher Nähe zur Gewalt stehen sind
Teil ihrer Ermöglichung (u.a. absperren, transportieren, verwalten, oder auch nur die Versor-
gung der Mordenden mit Lebensmitteln. Genauso können solche Handlungen Teil der Ver-
hinderung, Eindämmung oder Minderung der Gewalt sein (u.a. widersprechen, nicht mitma-
chen, verstecken, kämpfen).
Gudehus: Genozid
4 Handbuch Friedenspsychologie
Schlüsselwörter: Genozid, indigene Psychologie, Kulturpsychologie, Prävention, Sozialpsycho-
logie
Abstract
Genocides are generally understood as the intentional destruction of an identifiable group of
non-combatants combined with physical violence. As new as the term is, many of the practices
are old. These include mass killings, expulsions, enslavement, child theft, destruction of cul-
tural and religious sites, prohibition of the practice of customs and rituals, and the use of one's
language. These measures are mostly driven by political motives, closely tied to attaining and
maintaining centralized political power.
Psychological concepts and findings become relevant for researchers in the field when
it comes to explaining individual and collective agency in the context of this specific form of
collective violence. In particular, the results of experimental social psychological studies from
the 1940 to-70s have formed the backbone of often far-reaching explanatory narratives for
decades. The various problems of these studies' transferability to a very diverse set of events
remained unnoticed for a long time. In the last decade, an increasing number of studies have
appeared in which the validity of the classics is reassessed.
In addition to this recontextualization of old work, there is an urgent need to recognise
the fruitfulness of other approaches that may help to get a better understanding for violence
in very different historical and cultural settings. On the one hand, this would concern aspects
that are culture-specific, such as processes of meaning formation, identity- and self-construc-
tion. On the other hand, these are aspects that currently cannot even be named. For example,
there are several authors who have been working for some years on the development of what
they call a genuinely African psychology. Whether this will result in new approaches for re-
search on violence and peace remains to be seen. In addition, there are indigenous ap-
proaches that do not call themselves psychology. These are, for example, religious interpreta-
tions of human activity such as those found in Hinduism, Buddhism, and thus also in medita-
tion practices. Finally, some psychologies interpret culture not as a disturbing factor but as
fundamental for the understanding of individual psyches. One example is cultural psychology.
Finally, focusing on the perpetrators of violence falls short conceptually. Any individual
actions that are temporally and spatially proximate to violence are part of its enabling space
(including cordoning off, transporting, managing, or even just providing food to the murder-
ers. In the same way, such actions can be part of the prevention, containment or mitigation
of violence (e.g., resisting, not participating, hiding, fighting).
Keywords: Genocide, indigenous psychology, cultural psychology, prevention, social psychol-
ogy
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 5
Definitorisches
Tatsächlich ist der Antrieb jeder Forschung zu Gewalt (im weitesten Sinne), diese zu minimie-
ren. Das gilt umso mehr für die Beschäftigung mit Genoziden, da deren Konsequenzen extrem
und der Natur der Sache nach schwerwiegend und somit nicht mehr korrigierbar sind. Dieses
Bemühen beginnt mit dem Verstehen bzw. zunächst mit dem Nichtverstehen. Wie kommt es,
dass ...? ist wohl die Ausgangsfrage schlechthin für jede Forschung. Im Falle von Genoziden
schwingt häufig noch ein Wie konnten sie nur? mit, was zu einem starken Interesse an den
Gewaltausübenden und den die Gewalt Initiierenden führt. Und so konstituiert sich der Ge-
genstand aus Beobachtungen von Vorkommnissen, die erstens Fragen hervorrufen und zwei-
tens nach und nach systematisiert und somit definierbar gemacht werden.
Als Genozide wahrgenommen worden sind zunächst Vorkommnisse extremer, hoch-
gradig asymmetrischer, kollektiver Gewalt, ausgeübt an Nichtkombattantinnen und Nicht-
kombattanten. Wie auch in den meisten anderen Forschungsfeldern gibt es einen Unterschied
zwischen Gegenstand und Begriff. Denn solchermaßen bestimmte Formen der Gewalt lassen
sich in Variationen seit Jahrtausenden nachweisen, der Begriff allerdings und damit auch eine
Bestimmung dessen, was ein Genozid sei, ist relativ neu. Die Geschichte ist oft erzählt worden,
daher soll hier nur das Ergebnis eine Rolle spielen. Es gibt seit 1951 eine UN-Konvention (Con-
vention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide), die detailliert völker-
rechtlich festlegt, was als Genozid zu gelten hat. Diese Bestimmung enthält drei wesentliche
Elemente.
Das sind erstens die verbotenen bzw. schädigenden Handlungen, zweitens die be-
troffenen Gruppen und drittens die Intentionalität der die Handlungen ausführenden Akteure.
Die Liste der Handlungen ist insbesondere im letzten Jahrzehnt vor allem in der sozialwissen-
schaftlichen Literatur stark erweitert worden. Bezüglich der Gruppen ist vor allem die Ergän-
zung um politische Gegner der Gewaltakteure diskutiert worden (Feierstein, 2014). Kaum in
Frage gestellt worden ist das schwierig zu belegende, aber im juristischen Kontext zentrale
Kriterium der Intentionalität. Woraus folgt, dass ein Genozid in einem massiven Angriff auf
mindestens eine Gruppe besteht, die diese hinsichtlich ihres Fortbestandes beabsichtigt und
zielgerichtet gefährdet. Der Angriff findet also statt, um die Gruppe zu zerstören. Ausgeschlos-
sen sind damit Fälle der Zerstörung von Gemeinschaften, die ein Nebeneffekt anderer Ziele
waren oder sind. Das betrifft etwa Jagden nach zu versklavenden Menschen und einige For-
men der Kolonisation. Auf Beides wird noch näher eingegangen werden.
Wie auch bei anderen Konzepten (etwa Trauma) zu beobachten, weiten sich die Hand-
lungskontexte, die als Genozid etikettiert werden, immer weiter aus (Haslam & McGrath,
2020). Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Die erste Begründung findet sich in dem
Bereich, der etwas unzureichend als politische Motivation bezeichnet wird. Das umfasst die
symbolische, aber durchaus auch rechtliche Anerkennung vergangenen Unrechts. Gerade die-
ser Aspekt zeigt, wie sehr solche als politisch wahrgenommen Ansprüche zutiefst psychologi-
scher Natur sind. Denn Anerkennung seitens der Gewaltausübenden, aber auch seitens eines
Dritten in Gestalt einer Weltgemeinschaft, vertreten durch internationale Organisationen, ist
Gudehus: Genozid
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eine fundamentale Voraussetzung für Prozesse der Befriedung, des Ausgleichs und in man-
chen Fällen gar der Versöhnung (Benjamin, 2017). Eindeutig politischer Natur sind die vielfäl-
tigen Bemühungen, jeweils zeitgenössische Ereigniskomplexe kollektiver Gewalt als Genozide
zu bezeichnen, da dies völkerrechtliche Konsequenzen hat oder sagen wir haben sollte (Feier-
stein, 2019). Aktuelle Beispiele betreffen den Komplex Myanmar/Rohingya (Independent In-
vestigative Mechanism for Myanmar, 2022) und die Maßnahmen des chinesischen Staates in
den seit dem 9. Jahrhundert von Uigurinnen und Uiguren bewohnten Gebieten (Newlines In-
stitute for Strategy and Policy & Raoul Wallenberg Centre for Human Rights, 2021). Für einige
Fälle sind auf nichtstaatliche Initiative hin Tribunale eingerichtet worden, die etwa im Falle
von Sri Lanka und eben den Uigurinnen und Uiguren, orientiert an den Vorgaben der UN-Kon-
vention zu dem Ergebnis gekommen sind, dass es sich in beiden Fällen um Genozide gehandelt
habe bzw. handelt (Permanent People`s Tribunal, 2010; Uyghur Tribunal Judgement, 2021).
Der zweite Grund betrifft die Diskussion insbesondere in den Sozialwissenschaften.
Hier geht es vor allem darum, die Vorstellung, Genozide seien Ereignisse extremer Gewalt ge-
gen viele Angehörige einer genau definierten Gruppe, in Frage zu stellen. So gewinnen Kon-
zepte wie cultural genocide und cold genocide an Bedeutung. Beide sehen tatsächlich weitge-
hend ab von physischer Gewalt gegen Menschen und betonen stattdessen die Unterdrückung
von beispielsweise Sprache, Ritualen, Religionsausübung oder Bekleidung, die sich über län-
gere Zeiträume erstrecken (Anderson, 2015; Bachman, 2019). Deutlich wird, dass nicht die
physische Vernichtung im Vordergrund steht, sondern die Beseitigung der Besonderheiten ei-
ner Gruppe. Die Gruppe wird über eine Vielzahl von Maßnahmen, u.a. auch durch Zwangshei-
raten mit Mitgliedern der Unterdrückergruppe, aufgelöst (Turdush & Fiskesjö, 2021). Der An-
griff gilt also all dem, was Kennzeichen für Identitäten sind.
Während in diesen Beispielen die Gruppen noch relativ klar identifizierbar sind, was
sie eben erkennbar und somit auch angreifbar macht, gibt es Konzeptionen, die als Ziel nicht
die Vernichtung, sondern den Umbau von Gesellschaften qua Gewalt in den Fokus rücken. Der
argentinische Soziologe Feierstein (2014) etwa definiert Genozid als die intentionale Zerstö-
rung der sozialen Struktur von Gesellschaften. Folgerichtig werden die Politiken des Ver-
schwindenlassens, der Folterzentren, der Adoption von Kindern ermordeter Personen als In-
dikatoren für einen Genozid gesehen, der sich nicht gegen eine Gruppe richtet, sondern den
Umbau einer Gesellschaft zum Ziel hat. Diese durch einen Wissenschaftler erfolgte neue De-
finition hat, und das macht solche Bemühungen so interessant, Folgen für die Strafverfolgung
in Argentinien selbst. Denn dort wurden und werden Angehörige derjenigen, die politisch für
die Gewalt verantwortlich waren ebenso wie jene, die in den Folterzentren tätig waren, des
Genozids angeklagt.
Deutlich wird, jede akademische Diskussion des Konzeptes ist eng mit politischen, ju-
ristischen und psychologischen Dimensionen verbunden. Angesichts der vielfältigen, oft gut
begründeten Deutungen und Definitionen von Genoziden, erscheint es wenig ergiebig zu dis-
kutieren, ob dieses oder jenes Geschehen als ein solcher einzuordnen ist oder nicht. Stattdes-
sen bietet es sich an, Formen vernichtender Gewalt zu unterscheiden.
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 7
Praktiken gemeinschaftszerstörender Gewalt
Im Folgenden ist eine Auswahl von (oft miteinander verbundenen) Praktiken und Beispielen
aufgeführt, um die Breite der Aktivitäten anzudeuten, die aktuell als genozidale Gewalt disku-
tiert werden.
Tötungen: Der Versuch möglichst viele Angehörige mindestens einer von den Gewalt-
akteuren definierten Gruppe zu ermorden. In diesen Fällen sind Zwangsadoptionen aber auch
Vergewaltigungen nicht vorgesehen (was nicht heißt, dass diese nicht vorkommen). Ein Fall
ist der Holocaust und die Vernichtung von Sinti und Roma durch den deutschen Staat unter
nationalsozialistischer Herrschaft.
Vertreibung und Massaker: Der Versuch möglichst viele Angehörige mindestens einer
von den Gewaltakteuren definierten Gruppe aus einem Gebiet zu entfernen. In diversen Fäl-
len geht diese Vertreibung äußerst gewaltsam vonstatten und führt so zur physischen Ver-
nichtung großer Bevölkerungsteile. Ein Fall ist der Genozid an den Armeniernnen und Arme-
niern und anderen christlichen Gruppen durch die Türkei mit einem Höhepunkt 1915. Solche
Vertreibungen gehen häufig mit Massakern, wie jenes an denen sich selbst als Dersimer be-
zeichnenden Gruppe (1937-38), ebenfalls durch den türkischen Staat, einher (Küpeli, 2022, S.
189-209).
Kinderentnahme: Streng genommen ist diese Übernahme von Kindern aus der Verfolg-
tengruppe nur dann möglich, wenn diese als nicht an sich für minderwertig, andersartig und
damit unheilbar konzipiert wird. Dies geschieht häufig dann, wenn der Unterschied der Grup-
pen ein politischer und damit nicht rassifiziert ist. Beispiele finden sich vor allem in den Mili-
tärdiktaturen Südamerikas. So sind in Argentinien Kinder von Verfolgten (teilweise in Gefan-
genschaft Geborene) von Angehörigen des Regimes adoptiert worden (Marti, 2012). Die Ent-
indigenisierung von Kindern, wie sie etwa in den so genannten Residential Schools in Kanada
über fast eineinhalb Jahrhunderte stattfand, ist noch stärker als die Zwangsadoptionen als
Maßnahme des gesellschaftlichen Umbaus zu verstehen. Die Kinder wurden den Eltern entzo-
gen, ihnen wurde die Benutzung ihrer Sprache verboten und sie wurden mit Gewalt zu, aller-
dings relativ ungebildeten und christianisierten, Mitgliedern der nichtindigenen Gesellschaft
gemacht oder, wie neuere Funde zeigen, massenhaft ermordet (Meyer-Wehrmann, 2021).
Auch im nationalsozialistischen Deutschland entnahm man Kinder aus Familien politischer
Gegnerinnen und Gegner (vor allem Kommunistinnen und Kommunisten) und brachte diese
über Jahre weit entfernt bei fremden Familien mit der Option zur Adoption unter.
1
Versklavung und Vernutzung: Hier steht die Vernichtung nicht in jedem Fall im Vorder-
grund, sondern kann ein nichtintendierter Nebeneffekt sein. So ist mit Blick auf die national-
sozialistischen Konzentrationslager teilweise mit Recht von Vernichtung durch Arbeit die
1
Dem Verfasser sind entsprechende Fälle bekannt, wenngleich es hierzu (seines Wissens) keine publizierte For-
schung gibt. Ein Beispiel betrifft die fünf Kinder der Familie Kreikbaum aus Hannover, die sämtlich bis zu mehr
als sechs Jahre bei Familien im Burgenland und der Wachau untergebracht waren. Diesbezüglich liegen eides-
staatliche Erklärungen vor.
Gudehus: Genozid
8 Handbuch Friedenspsychologie
Rede. Zugleich gab es im Komplex der erpressten Arbeit in den Lagern auch solche Tätigkeiten,
deren Ausübung nicht lebensbedrohlich war. Die Vernutzung ist besonders drastisch im Falle
der erzwungenen Arbeitsleistung in der Zuckergewinnung und -herstellung, insbesondere in
der Karibik, vor allem im 16. Jahrhundert und erneut im 19. Jahrhundert in Bezug auf Kakao
und Kaffee, sichtbar. Die Menschheitsgeschichte hält allerdings viele weitere Beispiele bereit,
von Sumer (eine frühe Hochkultur in Mesopotamien im 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrech-
nung), bis in die Lager der Sowjetunion (GULag). Wenn oben von nichtintendierten Genoziden
die Rede war, betraf dies insbesondere die so genannten Sklavenjagden. Denn zweifelsohne
wurden ganze Gemeinschaften (wenn auch keine vollständigen Sprachgruppen) durch Mord,
Zerstörung von Wohn- und Kulturstätten (um Flucht und Rückkehr zu verhindern), Verschlep-
pung und Vernutzung zerstört (Zeuske, 2013).
Gesellschaftlicher Umbau: Hier geht es explizit nicht um die Ermordung von großen
Teilen einer Gruppe, sondern darum, mit Gewalt und hier insbesondere Terror (vor allem
durch Folter) Gesellschaften hinsichtlich ihrer Sozialität umzubauen. In Bezug auf Argentinien
etwa, ist damit die massive Zurückdrängung gesellschaftlicher Solidarität und die Förderung
einer monopolkapitalistischen Wirtschaftsordnung gemeint (Feierstein, 2014). Revolutionen,
wie die französische, zeichnen sich gleich durch eine Reihe von Elementen und Praktiken aus,
die sich in diversen Genoziddefinitionen wiederfinden. Neben dem Terreur, dessen Zielgruppe
nicht von Beginn an klar definiert war und sich dramatisch ausbreitete eine Parallele zu den
Geschehnissen in Kambodscha der Jahre 1975-1979 (Bultmann, 2017) schlachtete die Armee
in der Vendée bis zu eine Viertelmillion Menschen ab. Auch hier war das Ziel nicht die Ver-
nichtung einer Gruppe, sondern die Durchsetzung zentralstaatlicher Macht (Secher, 1986).
Auflösung ethnischer Besonderheit: Ziel dieser Form ist es, die von den Gewaltakteuren
definierte Gruppe langfristig verschwinden zu lassen. Die Volksrepublik China etwa betreibt
langangelegte Sinisierungen von Gebieten, die historisch mehrheitlich von Gruppen bewohnt
werden, die sich in Bezug auf diverse Kulturelemente von Han-Chinesen unterscheiden. Dies
betrifft unter anderem Tibet, Westturkistan und Teile der Mongolei. Auch wenn es hier Mas-
saker gab, sind die wesentlichen Elemente der Gewaltpolitik nicht die direkte Ermordung einer
großen Zahl von Menschen. Stattdessen werden die jeweiligen Kulturen auf mehreren Ebenen
zerstört. Physisch ist die Demontage von religiösen und kulturellen Stätten und Landschaften.
Hinzu kommen die Unterdrückung von Sprachausübung, ebenso wie von Bräuchen. Frauen
werden entweder Zwangssterilisiert oder in Partnerschaften mit Han-Chinesen gezwungen,
so dass unmittelbar in die Familienstrukturen eingegriffen wird (Turdush & Fiskesjö, 2021). Es
handelt sich hierbei um eine Form der Kolonisation, die besonders nachhaltig ist. Denn ähnlich
wie bei der Vernichtung von Dörfern, die den versklavten Gefangengenommenen die Mög-
lichkeit nimmt zurückzukehren, ist es das Ziel solcher Politiken, einen point of no return zu
schaffen.
Diese unvollständige und stark verkürzte Auflistung sollte zeigen, wie vielfältig die
Praktiken (verbrecherischen Handelns) sind und dass sie teilweise seit Jahrtausenden in ganz
unterschiedlicher Ausprägung und Kombination Anwendung finden. Letztlich ist die Zerstö-
rung einer Gruppe nicht zwangsläufig das primäre Ziel der Gewaltakteure. In der Regel geht
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 9
es, eigentlich seit der Entstehung erster sogenannter Hochkulturen, um politische Macht um
die Kontrolle über Territorien, Ressourcen und Menschen. Genozidale Gewalt ist somit letzt-
lich ein sekundäres Phänomen. Sieht man es so, relativiert sich die Frage nach der Intention
zur Zerstörung auf der kollektiven Ebene zwangsläufig. Weit weniger gilt dies für die Gewalt
ausübenden Akteure, die Mörder, Diebe und Vergewaltiger, deren vielfältige und durchaus
auch komplexe Motivlagen Gegenstand psychologisch ausgerichteter Erklärungsansätze wa-
ren und sind.
Kanonisierte psychologische Deutungen und Erklärungen genozidaler Gewalt
Wenn eine psychologische Perspektive nun darin besteht, das Agieren von Individuen und
Kollektiven zu erklären, liegt eine Systematisierung entlang entsprechender Erklärungsansätze
nahe. Ein wichtiger Fragenkomplex würde sich dann etwa damit beschäftigen, wie sich Fälle
als genozidal definierter Gewalt hinsichtlich individueller Handlungsmotivationen unterschei-
den bzw. ob sie dies überhaupt tun. Tatsächlich gibt es in der Genozidforschung eine lange
Tradition der Bezugnahme auf psychologische, und hier insbesondere experimentelle sozial-
psychologische Forschung. Das eint sie mit Teilen der Friedensforschung, wie sie etwa in Hand-
büchern verbreitet wird (Imbusch & Zoll, 2010; Sommer & Fuchs, 2004).
In den anglophonen Genocide Studies ist, gerade was den Bezug auf psychologische
Studien angeht, eine starke Kanonisierung, also eine Konzentration auf eine begrenzte Anzahl
und Art von Werken und Zugängen, zu beobachten, die sich so nur in Teilen der deutschen
Publikationen wiederfindet. Es gibt dort eine Reihe von breit rezipierten Monographien, in
denen im Kern drei Bereiche diskutiert werden: Persönlichkeit, Situation und soziokulturelle
Konstellationen. Es zeigt sich, dass diese Arbeiten letztlich als Versuche gelesen werden kön-
nen, durch die Verbindung der drei Bereiche jeweils eine Theorie der Massengewalt zu kon-
struieren. Diese Tendenz ist gut an drei Beispielen viel zitierter und daher kanonisierter Arbei-
ten aus drei Jahrzehnten zu verdeutlichen.
Staub (1989) überträgt seine personal goal theory auf Genozide und Massengewalt. Er
versammelt eine Reihe von Aspekten, die zusammenwirkend die Teilnahme an Gewalt erklä-
ren sollen. Grundlage bilden individuelle Erfahrungen eines Mangels, der nicht durch eigenes
Handeln behoben werden kann. Fällt diese Erfahrung mit weiteren Faktoren zusammen, wird
Gewalt zu einer Bewältigungsstrategie. Staub nennt eine Reihe von auf ganz unterschiedlichen
Ebenen ansetzenden Erklärungsfragmente, die zusammengenommen Menschen dazu moti-
vieren, sich an kollektiver Gewalt zu beteiligen. Diese sind u.a. eine Kultur der Gewalt, Ingroup-
Outgroup Konstellationen, groupthink, ein Mangel an Selbstreflexion (self-awarness) und
Selbstannahme (self-acceptance), geringes Selbstwertgefühl, unbewusste Motivationen, eine
Selbstauslese (nicht jeder Mensch strebt jede Tätigkeit an), der, wie er es nennt, Täter (per-
petrators) Sündenbockfunktion, Handlungsabfolgen (eins folgt aus dem anderen, ohne dass
das Ergebnis am Anfang schon intendiert gewesen sein muss), Rechtfertigungsnarrative, au-
toritäre und totalitäre Systeme, learning by doing, die Rolle von Zuschauern und moralische
Werte.
Gudehus: Genozid
10 Handbuch Friedenspsychologie
Baumeister (1997) kombiniert vier zentrale Aspekte, um Verhalten, das er als Böse
(evil) bezeichnet, zu erklären. Er beschränkt sich nicht auf Akteure im Kontext von Massenge-
walt, sondern entwickelt und begründet seine Theorie mit Beispielen aus den Bereichen der
Ganggewalt, des Lynchens (in den USA), politischer Gewalt, Terrorismus oder gar dem Fall O.J.
Simpson. Entsprechend erklärt er die von ihm diskutierten vier Wurzeln des Bösen als univer-
sal gültig. Als zentrale, die Ausübung von Gewalt begünstigende Faktoren führt Baumeister
erstens materieller Gewinn, vor allem in Form von Macht und/oder Geld (wenn die legitimen
Mittel, diese zu erlangen, nicht erfolgreich waren oder sein werden) an. Zweitens, und hier
widerspricht er der These vom geringen Selbstwertgefühl als Gewaltmotivator, nennt er be-
drohten Egotismus (‚ich werde schlechter bewertet, als ich mich selbst einschätze‘). Der dritte
Bereich betrifft Idealismus, gemeint ist die Auffassung an einer richtigen und wichtigen Sache
mitzuwirken. Viertens schließlich spricht er sadistisches Vergnügen an. Diese Punkte führen
schrittweise zu Normverschiebungen. Es handelt sich hier um Prozesse, die mit kleinen Hand-
lungen, Eskalationen und Rechtfertigungen beginnen.
Waller (2007) ist angetreten zu erklären, wie Menschen Böse werden (becoming evil).
Denn für ihn kann in Kontexten kollektiver Gewalt jede Person Täter werden. Er verfolgt somit
die in Folge Brownings Studie aus dem Jahr 1992 breit akzeptierte Normalitätsthese in
Deutschland etwa vertreten von Welzer (2005). Unter Bezug auf eine lange Reihe von Diszip-
linen und Subdisziplinen entwickelt Waller ein Modell, um den Prozess des becoming evil zu
erklären. Dazu gehören Massenpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie,
Evolutionspsychologie, Psychoanalyse, Soziologie, Geschichtswissenschaft und Philosophie.
Grundlage des Modells sind soziobiologisch fundierte Annahmen hinsichtlich der evolutionä-
ren Entwicklung des Menschen. Genauer sind damit Anpassungen gemeint, die sich als Selek-
tionsvorteil erwiesen haben. Dazu gehören Wettbewerb, Bevorteilung der Eigengruppe, Miss-
trauen bzw. Abwertung der Fremdgruppe usf. Sein Argument lautet, kurz und knapp, dass die
Ausübung extremer Gewalt Teil der menschlichen Natur ist. Er arbeitet dies anhand von drei
Bereichen durch. Das ist erstens die kulturelle Konstruktion von Weltbildern. Waller spricht
hier von kulturellen Modellen, die Vorstellungen und Praktiken von „obedience, conformity,
tradition, safety, and order“ (S. 288-289), die grundsätzlich nichts Schlechtes sind, aber stets
den Keim von in Gewalt umschlagende ingroup-outgroup Wahrnehmungen beinhalten. Zwei-
tens diskutiert er radikale Formen des otherings, also des Ausschlusses von Menschen aus der
mit gleichen Rechten versehenen Gruppe. Der dritte Bereich stellt auf die Gewaltaktionen
selbst ab. Waller rekonstruiert, wie über berufliche Sozialisation und weitere gruppenpsycho-
logische Prozessen Gewalt erlernt, gerechtfertigt und durchführbar wird.
Auch wenn einige der Thesen und Bezüge inzwischen überholt sind bzw. differenzier-
ter betrachtet werden, illustrieren die drei Beispiele, wie in den vorgestellten Arbeiten im Ver-
fahren der Kombination von zum Teil sehr unterschiedlichen theoretischen und empirischen
Zugängen erklärende Erzählungen/Narrative erzeugt werden. Diese Art der Kombination un-
terschiedlichster Zugänge wird in den Arbeiten und darüber hinaus nicht ausreichend reflek-
tiert. Die seit über einem halben Jahrhundert anhaltende kritische Diskussion der Arbeit von
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 11
Milgram, die massiven Probleme des Stanford Prison Experiments und der überaus problema-
tischen, ja falschen Rezeption von Asch, zeigen, dass schon die Grundlagen jeder einzelnen
These weniger eindeutig als dargestellt sind (Gudehus, 2021; Le Texier, 2019; Smeulers, 2020).
Ganz grundsätzlich fällt auf, wie wenig die insbesondere in der experimentellen Sozialpsycho-
logie geführten Debatten bisher Niederschlag in vor allem der englischsprachigen Genozidfor-
schung gefunden haben. Das betrifft im Wesentlichen vier Aspekte: Erstens die Replizierbar-
keit von Ergebnissen, zweitens die Übertragbarkeit der Erkenntnisse in reale Kontexte und
drittens, eng mit diesen beiden Punkten verbunden, die Besonderheit der Gruppe, aus der
sich die Versuchsteilnehmer vieler klassischer Studien rekrutieren (Henrich, Heine & No-
renzayan, 2010; Klein et al., 2019). Viertens schließlich wird das Prinzip der Kombination di-
verser theoretischer und empirischer Zugänge nicht kritisch reflektiert. Die Fragen etwa, wie
sich prozessorientierte Handlungstheorien mit Persönlichkeitspsychologie verbinden, ob ein
Modell für alle Akteure bzw. Kontexte funktioniert oder ob es überhaupt eine umfassende
Theorie der Massengewalt geben kann.
Asch (1956) hat in seinen Studien zu independence & conformity bereits unmittelbar
und sehr früh auf gleich eine ganze Reihe dieser und anderer Probleme hingewiesen. Gruppen
von sieben bis neun Personen nahmen an einem vermeintlichen Experiment zur "visuellen
Diskriminierung" teil. Tatsächlich waren aber alle bis auf eine Person Teil der Versuchsanord-
nung, deren Aufgabe es war, 12 der 18 Fragen, z. B. zu Längenvergleichen von Linien, falsch
zu beantworten. Asch war daran interessiert, wie die Versuchsperson auf offensichtlich fal-
sche Aussagen der anderen instruierten Teilnehmenden reagieren würde.
Asch (1956) selbst zeigt gleich 15 Differenzen zwischen den von ihm durchgeführten
Experimenten und realen Situationen auf. Weiter, und das wird nicht nur bei der Rezeption
dieser Studie ignoriert, weist er auf den Unterschied zwischen der Beobachtung eines Effektes
und dessen Erklärung hin. Mit anderen Worten, dass eine Menge Menschen auf einen Reiz
bzw. die Variation eines Reizes in einer bestimmten Weise reagieren, erklärt nicht, warum das
so ist. Schließlich ist es im Falle der Asch-Studie nicht mal eine Mehrheit von Personen, die
nachgeben (im Original: yield). Der Versuchsaufbau führt also zu gegensätzlichen Verhaltens-
weisen, was als Beleg dafür gesehen werden kann, dass solche Experimente individuelle Dif-
ferenzen hervorheben, statt Beweise für beispielsweise die Situationalismusthese zu sein.
Dennoch wird in großen Teilen der Literatur auch noch heute genau diese Studie herangezo-
gen, um Erklärungslücken hinsichtlich der Beteiligung an genozidaler Gewalt (vermeintlich) zu
schließen.
Ein weiterer Punkt sollte en passant deutlich geworden sein: Die Aufmerksamkeit gilt
weit überwiegend jenen, die Gewalt ausüben bzw. diese begünstigen. Erklärt werden soll, was
die psychologischen Voraussetzungen dafür sind, dass Menschen Andere in Kontexten kollek-
tiver Gewalt massiv schädigen. Andere Akteure und Umweltbedingungen finden soweit Rück-
sicht, wie sie sich als fördernd oder hemmend auf die Handlungen auswirken. Andere Aktivi-
täten im selben Kontext werden noch sehr wenig berücksichtigt, obwohl das zum Beispiel un-
ter Bezugnahme auf Hilfe für die Verfolgten bzw. Widerstand seit einiger Zeit gefordert und
in Teilen auch demonstriert wird (Därmann, 2019; Gudehus, 2015).
Gudehus: Genozid
12 Handbuch Friedenspsychologie
Nun ist das Fazit bis hierhin nicht, dass es keine brauchbare psychologische Forschung
zu genozidaler Gewalt gibt. Das Problem besteht vielmehr in der sehr selektiven und leider
oftmals nicht sonderlich kenntnisreichen Rezeption und Wiedergabe in der Literatur. Daher
bedarf es einer kritischen Aufarbeitung der klassischen Studien und Konzepte die bereits in
vollem Gange ist. Leider ist damit das Problem der verkürzten und damit verzerrenden, ja nicht
selten falschen, Bezugnahme auf diese Studien nicht gelöst. Denn genau diese Art wissen-
schaftlicher Narrativität ist inzwischen insbesondere in der englischsprachigen auf Zeitschrif-
ten fokussierten Veröffentlichungspraxis weit verbreitet. Die Kombination von Aussage und
Verweis als die Bestätigung der Aussage hat zu einer Konzentration auf wenige Erklärungsmo-
delle (Kanonisierung) geführt, die an eine übersichtliche Zahl von Publikationen, oft beruhend
auf Experimenten, gebunden sind. Lehr- und Handbücher, wie auch dieses, tragen zwangsläu-
fig zu einer solchen Kanonisierung bei.
Diverse Psychologien
Es gilt also, gleich eine Reihe von Problemen anzugehen. Erstens müssen die kanonisierten
Studien historisch kontextualisiert und somit im Hinblick auf ihre Geltung kritisch überprüft
werden. Beides geschieht bereits. Zweitens bedarf es einer Kultur der Unvollkommenheit. So
lässt sich mit Bezug auf Asch keine allgemeingültige Aussage zur Bedeutung von Konformität
im Kontext kollektiver Gewalt formulieren. Die Ergebnisse der Studie und vieler weiterer Stu-
dien machen eine deutlich differenziertere Darstellung notwendig, die möglicherweise nicht
mehr geeignet ist eindeutige Zusammenhänge bzw. Kausalitäten zu erzählen. Drittens sind
systematische Erkundungen alternativer psychologischer Zugänge notwendig. Es handelte
sich dabei um eine Form von Grundlagenforschung, deren Ergebnis offen ist. Es hätte sich erst
zu erweisen, ob die erprobten Zugänge tatsächlich geeignet sind, Aspekte individuellen Agie-
rens in Kontexten kollektiver (speziell genozidaler) Gewalt besser oder zumindest anders zu
verstehen, als dies bisher der Fall war.
Um dies zu tun, bedarf es zunächst einer Festlegung dessen, was denn als Psychologie
bzw. psychologisch gelten soll. Diesbezüglich sind einige Unterscheidungen vorzunehmen. So
gibt es solche Erklärungsweisen, die sich selbst als Psychologien bezeichnen. Das beträfe zum
Beispiel die Psychoanalyse oder kulturpsychologische Zugänge. Während es für Erstere eine
lange Tradition der Fruchtbarmachung ihrer Theoreme gibt, stehen solche Bemühungen für
die Zweite am Anfang (Gudehus, 2018; Parens, 2017). Die Kulturpsychologie (in ihren diversen
Ausprägungen) repräsentiert auch einen weiteren Typ von Zugängen, so genannte kultursen-
sitive Psychologien. Das sind solche Arbeiten, die Kultur als wichtigen Determinanten indivi-
dueller Psychen betrachten. Zu guter Letzt und daran anschließend gibt es eine Reihe von in-
teressanten Bemühungen, regionale Psychologien zu entwickeln bzw. zu popularisieren. Dies
geschieht etwa mit Blick auf afrikanisierte bzw. genuin afrikanische Psychologien mit ersten
Versuchen, interpersonale Gewalt durch spezifisch ghanaische Verständnisse von etwa Per-
sönlichkeit, Männlichkeit und sozialer Anerkennung zu erklären (Adjei, 2018, 2019; Ratele,
2017). Adjei (2019, S. 499) etwa betont die Bedeutung des Kollektivs bzw. der engen Verbin-
dung handelnder Akteure untereinander anders als in vielen europäischen Gemeinschaften
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 13
für Entscheidungsfindung bzw. Handlungsmotivation von Gewaltakteuren. Darüber hinaus
gibt es ein reichhaltiges Wissen zu klassischen psychologischen Themen wie Motivation, Glück
aber auch Gewalt in zum Beispiel religiösen Traditionen, die als indigene Psychologien be-
zeichnet werden können (Chakkarath, 2021).
Am Beispiel der Kulturpsychologie lässt sich gut verdeutlichen, dass es nicht nur darum
geht, deren Studien und Theorien bekannt zu machen. Vielmehr müssen diese auf ihre
Brauchbarkeit für die Gewaltforschung erkundet und ggf. erst nutzbar gemacht werden.
Zum Beispiel: Potentiale einer kulturpsychologisch fundierten
Gewaltforschung
Ein kulturpsychologischer Beitrag zur Gewaltforschung besteht wohl weniger darin, Erklä-
rungslücken zu füllen (Was motiviert Menschen, sich an der Ausübung kollektiver Gewalt zu
beteiligen?). Auch kann es nicht Ziel sein, eine Theorie der (Massen-)Gewalt zu entwickeln.
Eher im Gegenteil: Statt allgemeingültige Theoreme, die über Zeit, Raum und Perspektiven
Geltung beanspruchen, geht es eher darum, ein theoretisches Instrumentarium zu entwickeln,
dass eben diesen drei Differenzbereichen gerecht wird. Genau dies wird dem von Chakkarath
und Straub (2020) formulierten Anspruch gerecht, eben keine Subdisziplin zu sein, sondern
eine allgemeine Perspektive auf alle möglichen Gegenstände psychologischer Forschung und
damit einhergehende wissenschaftliche, aber auch außerwissenschaftliche Diskurse und de-
ren Manifestationen“ (S. 5). Genau daran fehlt es aktuell zum Beispiel in großen Teilen insbe-
sondere, aber nicht nur, der englischsprachigen Genozidforschung. Dort werden im Westen
(gemeint sind damit Australien, Nordamerika, West- und Nordeuropa) und für den Westen
entwickelte psychologische, soziologische oder kriminologische Erklärungsmodelle mit Inter-
views so genannter Täter aus Südasien, Zentralafrika und Südosteuropa verbunden. Dies ge-
schieht ohne eine adäquate Auseinandersetzung mit den eben kulturell bedingten Differenzen
etwa bezüglich von Handlungswahl, Sinnbildung, Körperlichkeit oder Emotionalität. Genau
diese Aspekte betreffen den Kern dessen, was kulturpsychologische Zugänge zu leisten im
Stande sind. Gerade was die oben angesprochene Liste zentraler Erklärungsfaktoren angeht,
bietet kulturpsychologisches Wissen Werkzeuge zu deren Beurteilung und Differenzierung.
Chakkarath und Straub (2020) haben dieses Potential, wohl ohne dabei an Gewalt zu denken,
benannt:
Kultur ist demnach nicht einfach eine lediglich vage charakterisierbare ‚symboli-
sche Ordnung’ (oder dergleichen), sondern ein differenziell bestimmbares, trans-
individuelles und handlungsleitendes Wissens-, Zeichen- oder Symbolsystem, das
sich zusammensetzt aus
1. kollektiven Zielen, die Individuen übernehmen, situationsspezifisch konkreti-
sieren und als zweckrational handelnde Akteur/innen durch den Einsatz wiede-
rum kulturspezifischen Mittelwissens [z.B.: Wer zollt wem, wie Respekt oder
was gilt als (akzeptable) Gewalt und was nicht] verfolgen können […];
Gudehus: Genozid
14 Handbuch Friedenspsychologie
2. kulturspezifischen Handlungsregeln; dazu gehören auch sprachliche Regeln al-
ler Art, außerdem wie gesagt soziale Normen, die in Aufforderungs- bzw.
die sie fundierenden Bewertungsnormen oder Werte differenziert werden kön-
nen […];
3. einem kulturspezifischen Reservoir an geteilten Geschichten, durch die Ange-
hörige einer Kultur ihre Identität, ihr kollektives und individuelles Selbst- und
Weltverständnis bilden, artikulieren und tradieren, und dies so, dass nicht zu-
letzt der zeitlichen und kreativen Dimension der Praxis Rechnung getragen
wird. (Chakkarath & Straub, 2020, S. 10)
Es wird deutlich, worauf zu achten ist, welche Art von Daten zu sammeln sind und dass es
adäquater Methoden eben der Sammlung und Deutung bedarf. Eine Konsequenz bestünde
beispielsweise darin, Übersetzende nicht als Dienstleistende, sondern als Forschungspartne-
rinnen und Forschungspartner zu betrachten. Im Idealfall wären Akteure mit intimen Kennt-
nissen von Sprache(n) und Kultur(en) bereits möglichst früh in Forschungsprozesse zu integ-
rieren. Das betrifft Forschungsdesign, Datenauswahl, Datenerhebung und deren Analyse. So
könnten Prozesse gegenseitigen Erklärens bei entsprechender Erfahrungsoffenheit die kultur-
fremden Forschenden einerseits und die oft mit den Gebräuchen westlichen Forschens wenig
Vertrauten vor Ort andererseits qualifizieren und somit einem verbesserten Verständnis des
jeweils untersuchten Gegenstands näherbringen. Eine Konsequenz sollte eine auch sichtbar
gemachte Ko-Autorenschaft der Beteiligten sein.
Psychologien allein reichen nicht
Genozidforschung ist ein Feld und keine Disziplin. Daher bedarf es der Zusammenschau diver-
ser Zugänge, um die Form der Regulation sozialer Beziehungen zu beschreiben und zu erklä-
ren. Psychologien diverser Provenienz fokussieren auf die Erklärung individuellen und durch-
aus auch kollektiven Agierens in Kontexten als genozidal klassifizierter Gewalt. Das trifft aller-
dings auch auf andere Erklärungsmodelle zu. Beispielhaft seien prozesssoziologische, praxeo-
logische aber auch soziobiologische Zugänge genannt.
Sozialität ist prozesshaft. Identität zum Beispiel ist wesentlich in den permanenten Pro-
zessen ihrer performativen Erzeugung zu verstehen. Gleiches gilt für Gewalt. Sie ist zu allererst
Aktion, Ausübung, Erleben. Die Beschreibung und Analyse der Prozesshaftigkeit von Gewalt
haben eine lange Geschichte (z.B. Welzer, 2005). Auf solchen Überlegungen aufbauend haben
beispielsweise Hoebel und Knöbl (2019) eine theoretisch fundierte, aber letztlich empirische
Zugangsweise zur Rekonstruktion exakt solcher Prozesse vorgelegt. Ein solcher Ansatz verzich-
tet auf die Technik des Samplings diverser Erklärungsmodelle. Sie lehnen darüber hinaus die
weit verbreitete Micro-Meso-Macro Systematik ab wie dies auch praxeologische Ansätze
tun (Schatzki, 2016). Stattdessen schlagen sie eine Methodologie des prozessualen Erklärens
von Gewalt vor, in dem sie Ereignisse analysierend schrittweise nacherzählen (Hoebel & Knöbl,
2019, S. 179). So wird zugleich erklärt, analysiert und erzählt, wie dieses Beispiel illustriert,
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 15
dass sich auf ein in der Genozidforschung bekanntes Material bezieht, nämlich die Erschie-
ßungen von Jüdinnen und Juden durch deutsche Polizisten in Józefów: "Die schließlich gewalt-
gezeichnete Situation setzt sich jedoch unter ihrer Beteiligung fort, weil sich die Männer ent-
lang von Erwartungen arbeitsteiliger Unterstützung auf Basis von hierarchischen und kame-
radschaftlichen Gepflogenheiten aneinander orientieren, die wiederum ‚ganz normal‘ für sie
sind" (S. 169). Diese Arbeit ist nur ein Beispiel für die reiche Landschaft an Autorinnen und
Autoren und Ansätzen, die angetreten sind, Gewaltakteure zu verstehen. Dazu gehören so
unterschiedliche Zugänge wie die eben angesprochene Prozesssoziologie, die wesentlich von
Abbott (2001) ausformuliert worden ist. Oder das brillante Buch des Biologen, Neurologen
und Primatenforschers Sapolski (2017), der ausführlich die biologischen Grundlagen aggressi-
ven Verhaltens erklärt und dabei eine erstaunlich differenzierte Kenntnis sozialwissenschaft-
licher Ansätze beweist. Und schließlich die 900 Seiten, auf denen der Historiker Fink (2015)
den Völkermord von Srebrenica mit Vor- und Nachgeschichte aus vielerlei Perspektiven re-
konstruiert. Ganz zu schweigen von den Erkenntnissen derjenigen, die in jahrelangen, mühsa-
men Prozessen mit Aussteigern aus der politischen Gewalt arbeiten, wie das etwa verschie-
dene Abteilungen staatlicher Sicherheitsbehörden praktizieren (zum Überblick Core-nrw,
2022).
Es gibt also viele, sehr unterschiedliche Ansätze, Agieren in Kontexten kollektiver Ge-
walt und zwar nicht nur jenes, der so genannten Täterinnen und Täter zu verstehen. Psy-
chologien tragen wesentlich zu diesem Verständnis bei allerdings kann, wie gezeigt, nicht
von DER psychologischen Theorie oder Erklärung gesprochen werden. Klinische Psychologie,
Kulturpsychologie, Persönlichkeitspsychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie,
sowie diverse regionale bzw. indigene Psychologien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Epis-
temologien, Methodologien und empirischen Herangehensweisen. Schon allein aufgrund die-
ser Vielfalt kann auch nicht von einer einzelnen Psychologie die Rede sein, die es vermag Ge-
nozide zu verhindern.
Prävention
Die Literatur zur Genozidprävention ist recht umfangreich, allerdings spielen Psychologien nur
eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund stehen Frühwarnmodelle, die beruhend auf Be-
obachtung oft durch Technik Risiken zu erkennen versuchen. Der bereits erwähnte Waller
(2016) hat ein breit rezipiertes Buch vorgelegt, in dem er beruhend auf seinem becoming evil-
Ansatz, Vorschläge zur Prävention confronting evil macht. Die Basis bilden vier Kategorien
von Risikofaktoren für gewaltsame oder genozidale Konflikte (sic!), die, wie schon die bloße
Auflistung zeigt, nur begrenzt Bezug auf psychologische Konzepte nehmen. Es sind dies (1)
politische Führung, (2) Konfliktgeschichte, (3) wirtschaftliche Bedingungen und schließlich (4)
soziale Fragmentierung (S. 151). Innerhalb dieser Kategorien diskutiert Waller allerdings ei-
nige genuin psychologische Zugänge. So etwa kulturelles Trauma, Identität, Kohäsion und
eben soziale Fragmentierung. In den Empfehlungen ist dann aber erneut und explizit von po-
litischen, ökonomischen, rechtlichen und militärischen Präventionsmaßnahmen (preventive
response tools) die Rede (S. 227-228). Letztlich lassen sich die genuin psychologischen Aspekte
Gudehus: Genozid
16 Handbuch Friedenspsychologie
der Analyse und daraus folgenden Empfehlungen wie folgt zusammenfassen: Sorgt dafür, dass
es den Menschen gut geht. Sie müssen das Gefühl haben, in stabilen und fair organisierten
Verhältnissen zu leben, in denen es positive Anerkennungsverhältnisse gibt und möglichst viele
Akteure sich als selbstwirksam erleben.
Strategisch, wäre anzufügen, muss das Ziel sein, Ausgrenzungsprozessen entgegenzu-
wirken, da diese unter recht spezifischen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen das
Potenzial haben, extreme Massengewalt hervorzubringen. Dazu bedarf es einer Konkretisie-
rung solch doch recht globaler Zugänge. Allerdings wirft schon ein Blick auf beispielsweise die
staatlichen und von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen genozidalen Politiken der
Volksrepublik China Fragen hinsichtlich der Umsetzbarkeit psychologischer Erkenntnis auf. So
ist zu fragen, wo und wie welche Art von Psychologie auf welche Weise und vor allem durch
wen ansetzen kann?
Fazit
Was heute als Genozid bezeichnet wird, konstituiert sich aus einer Vielzahl von Praktiken und
hinsichtlich der Akteure sehr diversen Handlungen auslösenden Momenten. Die aus psycho-
logischer Perspektive vorzunehmende Erklärung solcher Geschehenskomplexe ist angesichts
dieser Vielfalt von Praktiken, Positionen im Geschehen (u.a. und keinesfalls stabil: ausübend,
erfahrend, beobachtend) äußerst schwierig zu formulieren. Denn Handlungskontext, Praktik
und das zur Analyse herangezogene Werkzeug (etwa eine bestimmte Auswertungsmethode
oder ein theoretisches Modell) sind schon allein drei Parameter, die bestimmen, wie zu erklä-
ren ist. So kann es um die Erklärung einzelner Handlungen gehen, ebenso wie darum, das
Agieren einer Person über Zeit zu betrachten, oder auf bestimmte Handlungen, die von ver-
schiedenen Individuen ausgeübt werden, zu fokussieren. Schließlich können es auch die psy-
chologischen Elemente der Bedingungen des Zustandekommens von recht unterschiedlich di-
mensionierten Gewalthandlungen (bzw. Gewalt ermöglichenden Handlungen) von Interesse
sein. Das beträfe dann allein auf Seite derjenigen, die Gewalt ausüben, Administration, Trans-
porte, Absperrungen, Kochen, Schlagen, Schießen, Vergewaltigen, Aufräumen ...
Die durchaus berechtigte und keinesfalls abgeschlossene Ausweitung des Verständnis-
ses davon, was als Genozid gilt, hat das ohnehin schwierige Unterfangen einer Psychologie
des Genozids (in US-amerikanischen Publikationen ist gerne von Psychologies of Evil die Rede)
nicht eben vereinfacht. Letztlich ist zu fragen, ob es einer solchen denn überhaupt bedarf.
Denn schaut man sich die vorliegenden Modelle an, zeigt sich, dass sie in großen Teilen auf
Konzepten und Erkenntnissen beruhen, die nicht spezifisch für Gewalt und schon gar nicht für
genozidale Gewalt sind. Im Übrigen empfehlen sich angesichts der vielen hier nur angedeute-
ten Probleme und offenen Fragen mindestens die folgenden Unternehmungen. So müssen die
Historisierung und Kontextualisierung insbesondere der experimentellen Studien fortgesetzt,
ja intensiviert werden. Weiter bedarf es einer Entkanonisierung. Alternative Psychologien sind
systematisch hinsichtlich ihres Potenzials, die zur Rede stehenden Geschehnisse zu erklären,
Gudehus: Genozid
Handbuch Friedenspsychologie 17
zu überprüfen. Ganz grundsätzlich ist der Raum für Innovation, aber damit auch der Beschäf-
tigung mit Abseitigem und die Möglichkeit des Misslingens (zum Beispiel der Erprobung von
Zugängen vielleicht Kulturpsychologie die letztlich nicht überzeugen) auf allen Ebenen wis-
senschaftlichen Seins und Wirkens zu öffnen.
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Eine geradezu mythologische Narration des Okzidents besagt, dass der Mensch mit der europäischen Aufklärung begonnen habe, sein Schicksal nicht mehr übergeordneten Instanzen zu überlassen, sondern es im mutigen Vertrauen auf die eigenen Potenzen in die eigene Hand zu nehmen. Mal abgesehen davon, dass dieser Topos vom selbstbestimmten Menschen die Mythologien und Heldenepen zahlreicher, auch nichteuropäischer Kulturen prägt, scheint an der neuzeitlichen europäischen Narration doch zumindest auffällig, ihr Ideal von Selbstwerdung wie auch gesellschaftlicher und individueller Vervollkommnung an die Vorstellung stetigen Fortschritts zu binden. Am Beispiel einiger zentraler hinduistischer Vorstellungen werde ich aus einer kulturpsychologischen Perspektive zu skizzieren versuchen, dass individuelle Perfektionierung auch in kosmologischen Vorstellungen als möglich gedacht werden kann, in denen stetige Auflösung und Zerstörung als Prinzip alles Seins betont werden. Abschließend werden einige knappe Überlegungen dazu angestellt, wie derartige Vorstellungen dazu beitragen können, bestimmte Aspekte gegenwärtiger Gesellschaft und Politik umfassender zu analysieren. Sri Krishna: Ich bin der Tod, der Zerstörer von Welten. [...] Ich bin die Zeit, die Verschwenderin von Völkern. Ich mache den Augenblick reif für ihren Zerfall. Arjuna: Feuergesichtiger, du hauchst die Welten zu Asche. [...] Die furchtbaren Hauer all deiner Münder knirschen. [...] In deinem grausamen Rachen liegen sie alle, auch die Krieger, ihre Häupter zertrümmert. (Verse aus der Bhagavadgita, Kap. 11)
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In genocide, both women and men suffer. However, their suffering has always been different; with men mostly subjected to torture and killings, and women mostly subjected to torture and mutilation. These differences stem primarily from the perpetrators' ideology and intention to exterminate the targeted people. Many patriarchal societies link men with blood lineage and the group’s continuation, while women embody the group’s reproductivity and dignity. In the ongoing genocide against the Uyghurs and other Turkic Muslims in East Turkistan, the ideology of Chinese colonialism is a root cause. It motivates the targeting of women as the means through which to destroy the reproductivity and the dignity of the people as a whole. It is a common misunderstanding to associate genocide with only mass killings, and the current lack of evidence for massacres has led some to prematurely conclude there is no genocide. But this overlooks the targeting of women, which is also a prominent part of the definition of genocide laid out in the Genocide Convention. State policy in China intentionally targets Uyghur and other Turkic women in multiple ways. This dossier is focused on analyzing China’s targeted policies against Uyghur women and their “punishment,” as rooted in part in ancient Chinese legalist philosophy. In doing so, this dossier contributes toward further exposing Chinese colonialism and the genocidal intent now in evidence.
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Over the past century the concept of trauma has substantially broadened its meanings in academic and public discourse. We document four directions in which this semantic expansion has occurred: from somatic to psychic, extraordinary to ordinary, direct to indirect, and individual to collective. We analyse these expansions as instances of ‘concept creep’, the progressive inflation of harm-related concepts, and present evidence for the rising cultural salience and semantic enlargement of trauma in recent decades. Expansive concepts of trauma may have mixed blessings for personal and collective identity.
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Milgram’s obedience to authority experiments were conducted more than 50 years ago and can undoubtfully be considered one of the most important but also most controversial studies ever conducted. In the last few years (2011-2015), a book on Milgram was published, a film made and 4 international peer-reviewed journals dedicated a special issue to Milgram’s experiments. All this triggered by the opening of the Yale archives which gave access to Milgram’s personal notes. This review essay has three aims: to analyse to what extent this new information sheds new light on the Milgram experiments; to assess what we can actually learn from Milgram’s experiments and to discuss whether his findings can help us understand mass atrocities such as the Holocaust.
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Gewalt ist ein soziales Ereignis, das alltäglich ist, auch wenn sich Regionen der Welt mitunter massiv in ihren Gewaltniveaus unterscheiden. Und doch wird Gewalt – zumindest in den westlichen Gesellschaften – als Rätsel oder exotisches Geschehnis wahrgenommen, mit Auswirkungen, die selbst noch in den Sozialwissenschaften zu beobachten sind. Denn die Gewaltforschung tut sich einigermaßen schwer, Gewalt zu erklären, wenn nicht sogar der Versuch der Erklärung dezidiert zurückgewiesen wird. Erklärungen, die jeweils bei den Motiven von Akteuren, bei situativen Interaktionsdynamiken oder gesellschaftlichen Bedingungskonstellationen ansetzen, können allein nicht überzeugen. Die Autoren schlagen vor, an prozessualen Erklärungen von Gewalt zu arbeiten, die den Blick auf die Vorgänge der Verursachung richten, um so der wissenschaftlichen Diskussion um Gewalt einen neuen methodischen Impuls zu geben.
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Der Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung hat eine lange und verwobene Geschichte. Um die gegenwärtigen Spannungen und die Konsequenzen der staatlichen Politik verstehen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich. Ismail Küpeli nimmt sich dieses Komplexes an und analysiert vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen die autoritäre und gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit in der Türkei. Auf dieser Grundlage formuliert er darüber hinaus Empfehlungen für eine politische Bildung, die einen Beitrag zur Anerkennung von Pluralität und Diversität sowie zu einem gesellschaftlichen Friedensprozess liefern kann.
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It seems to have become an unquestioned standard in genocide research to abbreviate a very limited number of mainly social psychological studies to help explain that individuals commit violent acts in the context of collective violence. This exemplary review of adaptations of Solomon E. Asch’s studies on independence and conformity hopes to reveal some fundamental problems of supposedly transdisciplinary genocide research and beyond: (1) Asch's originally very elaborate arguments are seriously abbreviated; (2) especially the scope of Asch’s experimental research is not sufficiently contextualized as (3) are his psychological findings, a problem that (4) can be associated with a lack of references to the discussions in the disciplines consulted. These observations do not merely apply to the case under discussion but hint at fundamental problems of inter- or transdisciplinary research on violence.