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Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus Eine kommentierte Fallsammlung

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Abstract

Dieses medienjournalistische Paper basiert auf einer umfangreichen Sammlung journalistischer Qualitätsmängel in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie in den General Interest Medien, die zunächst für einen Beitrag in der Zeitschrift "Journalistik" (EN: "Journalism Research") begonnen wurde (Rieg 2020b). Die kommentierenden Ausführungen zu ca. 600 journalistischen Beiträgen basieren größtenteils auf bereits veröffentlichten Artikeln von mir. Das meiste referenzierte Material stammt aus den ersten beiden Pandemiejahren, nur weniges aus den Folgejahren; entsprechend sind Einordnungen ggf. auch nur auf den Pandemiebeginn zu beziehen. Seit Veröffentlichung der ersten Version am 6. Februar 2023 wurde die Sammlung drei Mal aktualisiert und erweitert, zuletzt am 26. Juli 2024. Weitere Updates sind nicht geplant. Englische Version: https://www.researchgate.net/publication/385292484_Quality_Deficits_in_German_Corona_Journalism
1
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus
1
Eine kommentierte Fallsammlung
Von Timo Rieg
2
= Inhaltsübersicht =
Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus .............................................................................................. 1
1 Vorbemerkungen .................................................................................................................................. 4
2 Forschungsstand ................................................................................................................................... 6
3 Richtigkeit ........................................................................................................................................... 14
4 Vollständigkeit .................................................................................................................................... 31
5 Meinungsvielfalt ................................................................................................................................. 43
6 Repräsentativität ................................................................................................................................ 57
7 Objektivität ......................................................................................................................................... 68
8 Relevanz ............................................................................................................................................. 94
9 Recherche ........................................................................................................................................... 99
10 Zwischenfazit .................................................................................................................................. 115
11 Ergänzungen & Updates ................................................................................................................. 131
12 Resümee & Ausblick ....................................................................................................................... 182
Literatur ............................................................................................................................................... 187
Anhang ................................................................................................................................................ 194
Register ................................................................................................................................................ 206
Durch das Vorblatt von Researchgate in der pdf-Zählung jeweils +1.
= Ausführlichere Gliederung =
1 Vorbemerkungen ................................................................................................................................................. 4
= Technische Hinweise = ................................................................................................................................ 5
= Methodik = .................................................................................................................................................. 5
= Qualitätsmessung = ..................................................................................................................................... 5
2 Forschungsstand .................................................................................................................................................. 6
2.1 fög-Studie...................................................................................................................................................... 7
2.2 Augstein-Studie ........................................................................................................................................... 11
= Vielfalt =..................................................................................................................................................... 12
= Ausgewogenheit = ..................................................................................................................................... 13
3 Richtigkeit ........................................................................................................................................................... 14
= Exkurs: Meinungen und Tatsachen = ......................................................................................................... 15
= Tatsachen und Meinungen zu Corona = .................................................................................................... 17
= Aus Meinungsquellen sprudeln keine Tatsachen = ................................................................................... 21
= Sehen, was man sehen will = ..................................................................................................................... 22
= Kleine Fehler, große Verständnislücken = ................................................................................................. 24
= Unbelegte Behauptungen = ....................................................................................................................... 26
= Auch falsche Prognosen sind falsch = ........................................................................................................ 27
= Fehler werden nicht korrigiert = ................................................................................................................ 27
= Fehler werden nicht eingestanden = ......................................................................................................... 28
= Fehler werden nicht verstanden = ............................................................................................................ 29
= Ungenaue Behauptungen = ....................................................................................................................... 30
1
Publiziert unter https://www.researchgate.net/publication/368289947
2
Dipl.-Journ. Dipl.-Biol. Timo Rieg, Journalistenbüro Bochum-Berlin, https://www.journalistenbuero.com
2
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
4 Vollständigkeit .................................................................................................................................................... 31
= Formale Aspekte der Vollständigkeit = ...................................................................................................... 32
= Unvollständige Beiträge = ......................................................................................................................... 33
= Fehlende Einordnung = ............................................................................................................................. 35
= Vergleichswerte und Wertungsskalen = .................................................................................................... 36
= Whataboutism ist Pflicht = ........................................................................................................................ 37
= Pars pro Toto = .......................................................................................................................................... 40
= Unvollständige Medien = ........................................................................................................................... 41
5 Meinungsvielfalt ................................................................................................................................................. 43
= Meinungen sind weder richtig noch falsch = ............................................................................................. 44
= Sinn der Meinungsvielfalt = ....................................................................................................................... 45
= Erforderliches Meinungsspektrum = ......................................................................................................... 46
= Die typischen Protagonisten = ................................................................................................................... 48
= Die gesellschaftliche Meinungsvielfalt = ................................................................................................... 50
= Label Verschwörungstheoretiker = ........................................................................................................... 51
= Die reale Meinungseinfalt = ...................................................................................................................... 52
= Schroeder und die Meinungsfreiheit = ...................................................................................................... 54
= Kritikfunktion der Medien = ...................................................................................................................... 55
= Meinungseinfalt aus gutem Grund? = ....................................................................................................... 56
6 Repräsentativität ................................................................................................................................................ 57
= Themenauswahl = ..................................................................................................................................... 58
= Stimmenauswahl = .................................................................................................................................... 61
= Skandalisierung = ....................................................................................................................................... 62
= Bebilderung = ............................................................................................................................................ 65
= Ebene Mediensystem = ............................................................................................................................. 66
7 Objektivität ......................................................................................................................................................... 68
= Kein objektiver Standpunkt = .................................................................................................................... 69
= Expertenauswahl = .................................................................................................................................... 71
= Narrative = ................................................................................................................................................. 71
= Framing = ................................................................................................................................................... 73
= Gut und Böse = .......................................................................................................................................... 75
= Interpretationen statt Tatsachen = ........................................................................................................... 77
= Der Zweck heiligt die Kommentierung = ................................................................................................... 78
= Gleiches wird ungleich behandelt = .......................................................................................................... 79
= Faktenchecks nach Belieben = ................................................................................................................... 81
= Härtefall: Medienkritik = ........................................................................................................................... 82
= Vom journalistischen Umgang mit Kritik = ................................................................................................ 85
= Rezeption der Medienkritik von Precht und Welzer = .............................................................................. 87
= Nachfrage kein Qualitätsbeweis = ............................................................................................................. 88
= Journalismusforschung = ........................................................................................................................... 90
= Fazit zur Objektivität = ............................................................................................................................... 93
8 Relevanz ............................................................................................................................................................. 94
= Nachrichtenwert = ..................................................................................................................................... 95
= Skandalisierung = ....................................................................................................................................... 96
= Demokratischer Prozess unmöglich = ....................................................................................................... 97
= Relevante Auswahl = ................................................................................................................................. 98
= Das Problem der (boulevardesken) Einzelfälle = ....................................................................................... 98
= Desorientierung durch Irrelevanz = ........................................................................................................... 99
9 Recherche .......................................................................................................................................................... 99
= Recherche: die Verfassungs-Grundfragen = ............................................................................................ 101
= Alles infrage stellen = .............................................................................................................................. 102
= Fragen statt Framen = ............................................................................................................................. 105
= Absurditäten als Rechercheaufträge = .................................................................................................... 106
= Wirkungen und Nebenwirkungen = ........................................................................................................ 107
= Gerichtsverfahren und -entscheidungen = .............................................................................................. 109
= Einzelfälle als Recherchegrundlage = ...................................................................................................... 111
= Fragefehler = ........................................................................................................................................... 112
= Widersprüchliche Informationen = ......................................................................................................... 113
3
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
10 Zwischenfazit .................................................................................................................................................. 115
= Markante Medienereignisse = ................................................................................................................. 117
= Systematische Fehler im Corona-Journalismus = .................................................................................... 122
= Interpretation der Qualitätsdefizite = ..................................................................................................... 125
= Fragen an die Medienforschung und Kommunikationswissenschaft = ................................................... 127
11 Ergänzungen & Updates ................................................................................................................................. 131
11.1 Weitere Qualitätsaspekte ....................................................................................................................... 131
= Argumentation = ..................................................................................................................................... 131
= Genauigkeit = ........................................................................................................................................... 136
= Rezipientendialog (Kommunikativität) = ................................................................................................. 137
= Transparenz = .......................................................................................................................................... 138
= Unparteilichkeit = .................................................................................................................................... 138
= Informationsleistung = ............................................................................................................................ 141
= Maßstabsgerechtigkeit = ......................................................................................................................... 141
11.2 Ergänzungen (nachgereichte Fallbeispiele) ............................................................................................ 144
= Journalisten als Regierungs-Botschafter = .............................................................................................. 144
= Tatsachen und Meinungen = ................................................................................................................... 146
= Recherche statt Ignoranz = ...................................................................................................................... 149
= Recherche statt blindes Vertrauen = ....................................................................................................... 153
= Journalistische Ethik = ............................................................................................................................. 154
= Leserbriefe als Stimmungsbarometer = .................................................................................................. 155
= Politikkritik = ............................................................................................................................................ 155
= Fehlende Aufarbeitung = ......................................................................................................................... 156
= Faktenchecks = ........................................................................................................................................ 163
11.3 Journalistische Journalismuskritik .......................................................................................................... 166
11.4 Wissenschaftliche Journalismuskritik ..................................................................................................... 170
= Fehlende Differenzierung der Kritik = ..................................................................................................... 172
= Journalistische Kritik an der Wissenschaft = ........................................................................................... 173
11.5 Medienkritik von Kunden und Betroffenen ............................................................................................ 175
11.6 Forschungsstand 2024 ............................................................................................................................ 176
11.7 Resonanz ................................................................................................................................................. 179
12 Resümee & Ausblick ....................................................................................................................................... 182
= Journalismus-Verständnis = ..................................................................................................................... 182
= Journalismus-Schwächen = ...................................................................................................................... 184
= Ursachen = ............................................................................................................................................... 185
Literatur .............................................................................................................................................................. 187
Anhang ................................................................................................................................................................ 194
Essay: Desinfektionsjournalismus (uncut) Die Corona-Berichterstattung war kein Leuchtturm der
Orientierung | Juni 2020................................................................................................................................. 194
Literatur zum Anhang "Desinfektionsjournalismus" ...................................................................................... 201
Belege zum Anhang ........................................................................................................................................ 202
Register ............................................................................................................................................................... 206
4
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
1 Vorbemerkungen
Dieses medienjournalistische Working-Paper basiert auf einer umfangreichen Sammlung journalisti-
scher Qualitätsmängel in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie, die zunächst für einen Beitrag
in der Zeitschrift "journalistik" begonnen wurde (Rieg 2020b
3
). Die kommentierenden Ausführungen
basieren zum Teil auf bereits veröffentlichten Artikeln von mir. Das meiste referenzierte Material der
Kapitel 2 bis 9 stammt aus den ersten beiden Pandemiejahren 2020/21, entsprechend sind Einord-
nungen ggf. auch nur darauf zu beziehen, das Präsens ist in Teilen nicht mehr korrekt. Auf dieser
Grundlage wurde am 5. Februar 2023 eine erste Version dieses Papers veröffentlicht (94 Seiten). Da
noch viele Fälle archiviert waren und Notizen zu weiteren Aspekten existierten, wurde die Sammlung
bis zum 1. Mai 2023 mehrmals erweitert (auf zuletzt, ohne Anhang, 144 Seiten) und erreichte bis
Ende des Jahres bei Researchgate knapp 25.000 Abrufe (siehe auch Kap 11.7 Resonanz). Nach der
heutigen Bearbeitung (26.07.2024) ist kein weiteres Update mehr geplant.
4
Neu gegenüber der vo-
rangegangenen Version sind, neben einzelnen kleinen Ergänzungen, Link-Aktualisierungen und neuen
Formatierungen, folgende Abschnitte: die Abschnitte "Informationsleistung" und "Maßstabsgerech-
tigkeit" in Kap. 11.1; "Leserbriefe als Stimmungsbarometer", "Politikkritik", "Fehlende Aufarbeitung"
und "Faktenchecks" in Kap. 11.2; Kap 11.4, 11.5, 11.6, Kap 12 und das Register am Ende. Kap. 11.7
"Resonanz" war in der vorherigen Fassung Kap. 11.4.
Die ab Kapitel 11 nachgereichten Fälle und Aspekte würden eigentlich eine Neugliederung nötig ma-
chen. So habe ich Aspekte des Kriteriums "Maßstabsgerechtigkeit" zuvor unter "Objektivität" gefasst
(die selbst kein operationalisierbares Qualitätskriterium ist, sondern verschiedene Eigenschaften
zusammenfasst). Auch in dieser letzten Fassung verzichte ich jedoch auf eine Neugliederung, in ers-
ter Linie, um denjenigen, die bereits eine frühere Version gelesen haben, das Auffinden der Ergän-
zungen zu erleichtern.
Das Paper ist als Diskussionsbeitrag zur journalistischen Qualität und der Operationalisierbarkeit ihrer
Messung gedacht. Alles, was hier an Fällen aus dem Corona-Kontext aufgeführt wird, lässt sich auch
an völlig anderen Themenfeldern zeigen. Alle Beleg-Referenzen sind beispielhaft zu verstehen; um
den Fußnotenapparat noch übersichtlich zu halten, habe ich nur vereinzelt mehrere Belege für einen
Sachverhalt angegeben. Zur Vertiefung wird daher an mehreren Stellen auf andere Beiträge verwie-
sen, u.a. aus dem von mir herausgegebenen medienjournalistischen Blog "Spiegelkritik" (z.B. für
ausführliche Text-Autopsien).
Die Literatur am Ende ist bewusst schmal gehalten. Es können und sollen hier keinesfalls die wissen-
schaftlichen Grundlagen zu den einzelnen Qualitätskriterien erörtert werden.
Es wird im Folgenden nicht um Corona-Politik gehen, sondern ausschließlich um die Darstellung der
Pandemie in den Medien. Dieser Hinweis ist auch deshalb wichtig, weil bis heute Kritik am "Corona-
Journalismus" von einigen mit "Corona-Skepsis" oder gar "Corona-Leugnung" gleichgesetzt wird. Wie
sich hoffentlich auf den folgenden Seiten zeigen wird, gründet diese Verwechslung einer Wertung
mit einer Tatsache gerade in den Unzulänglichkeiten der Berichterstattung und ist ein Zirkelschluss.
Der Fokus liegt auf den General Interest Media wie Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Nachrichten-
sendungen im Rundfunk und entsprechenden Internet-Angeboten. Special Interest Media und reine
Kommentarmedien kommen nur ganz am Rande vor. Deshalb wäre etwa die gelegentlich schon
3
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/desinfektionsjournalismus/ mit einer Entgegnung von Tanjev
Schultz https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/ungerechte-medienkritik/ und meiner Replik
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/vernachlaessigte-medienkritik/
4
Ggf. werden weitere Reaktionen und Updates unter https://www.spiegelkritik.de/2024/04/06/updates-zu-
qualitaetsdefizite-im-corona-journalismus/ dokumentiert.
5
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
angetroffene Schlussfolgerung, in wie auch immer definierten 'Alternativmedien' seien die hier
aufgeführten Probleme nicht anzutreffen, völlig unhaltbar. Ich habe mich mit diesen schlicht nicht
beschäftigt. Quantitative Aussagen lassen sich ohnehin mit meinem Material nicht treffen (auch
wenn danach immer wieder gefragt wird). Nicht nur, weil ich es nicht in dieser Weise ausgewertet
habe, sondern weil die Datengrundlage völlig willkürlich ist: In der Sammlung landete, was mir aufge-
fallen ist.
= Technische Hinweise =
Um (populäre) Fälle oder Themen zu finden, empfiehlt sich die Suchfunktion des von Ihnen verwen-
deten pdf-Readers. Da es exakte Übereinstimmung braucht, sollte man nur ein relevantes Schlagwort
oder einen Teil davon verwenden. Manches lässt sich nun wohl auch über das Register am Ende fin-
den (Namen wurden z.B. nicht aufgenommen, diese bitte im Dokument suchen; das Register ist auf
einige wesentliche Schlagworte beschränkt). Einige Links lassen sich nicht direkt aus dem pdf öffnen.
In diesen Fällen müssen diese manuell kopiert und in einen Browser eingegeben werden. Dabei kön-
nen Bindestriche wegfallen, die als Trennstrich interpretiert werden, in solchen Fällen müssen sie
nachgetragen werden (Bsp:
https://web.archive.org/web/20200319112557/https://www.tagesschau.de/kommentar/kommenta
r-merkel-corona-rede-101.html wurde bei Tests fälschlich zu ... merkelcorona-rede-101.html).
Z.T. sind verlinkte Beiträge inzwischen nicht mehr verfügbar. Wie in der Wikipedia bleiben die Links
dann dennoch stehen, da sie Informationen zum Beleg und für die weitere Suche enthalten können.
= Methodik =
In die Fallsammlung aufgenommen wurde, was mir beim täglichen, privaten wie beruflichen Medien-
konsum begegnet ist. Viele Hinweise dazu stammen von Twitter (heute: X). Zu einzelnen interessan-
ten Fällen habe ich dann gezielt nach weiteren Veröffentlichungen gesucht. Dabei ist einzuschränken,
dass ich nicht für alle Medien geeignete Archivzugänge hatte und dass die Suchfunktion in einigen
Archiven mangelhaft ist, konkret also tatsächlich vorhandene Beiträge trotz korrekter Abfrage nicht
ausgewiesen werden. Hier erwies sich oftmals eine spezifizierte Google-Suche als erfolgreicher, so-
fern Beiträge eben (teilweise) online standen. Wo ich nachfolgend behaupte, zu einem Thema finde
sich nichts in einem bestimmten Medium, fußt diese Aussage auf entsprechenden Archivabfragen.
Die Fälle sind überwiegend nach einigen in der Literatur besonders einschlägigen Qualitätskriterien
sortiert, weshalb es Überschneidungen und Unschärfen gibt. So ist "Recherche" kein Qualitätskriteri-
um, sondern eine Arbeitstechnik, deren Output u.a. an den Qualitätskriterien Meinungsvielfalt, Ar-
gumentativität und Einordnung (Kontext) gemessen werden kann (a.A. Arnold 2009: 232). Für die
hiesige Sammlung von Material aus der journalistischen Praxis ist das jedoch unerheblich.
= Qualitätsmessung =
Die Qualität (Eigenschaften) journalistischer Werke wird am sinnvollsten anhand einzelner Aussagen
bestimmt. Dabei kann eine Aussage explizit dem Beitrag direkt entnommen werden (Zitat) oder aus
ihm implizit gelesen werden. So ist eine Text-Bild-Schere eines Filmbeitrags nur in eigenen Worten
beschreibbar, während ein falsch geschriebener Name direkt zitierbar ist.
Implizite journalistische Aussagen lassen sich auf vier Publikationsebenen erheben:
(1.) Die Basiseinheit ist der journalistische Beitrag (Artikel, Film etc.), welcher aus zahlreichen einzel-
nen Aussagen besteht (die jedoch meist im Kontext des Beitrags gesehen werden müssen).
(2.) Mehrere Beiträge werden als Publikationseinheit gebündelt und verbreitet (Tageszeitungsaus-
6
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
gabe, Magazinsendung, Tagesschau).
(3.) Als Ebene Medium werden mehrere oder alle Publikationseinheiten im Zeitverlauf erfasst (zwei
Monate Zeit, ein Woche Spiegel-Online, alle Montagsausgaben der taz nach einer Bundestagswahl).
(4.) Alle Medien gemeinsam bzw. das Portfolio der von einzelnen Menschen genutzten Medien bil-
den die Medienlandschaft (ein mediales Ökosystem).
Abb. Ebenen der Qualitätsmessung 1 bis 3
Die Eigenschaften auf diesen verschiedenen Ebenen unterscheiden sich, mithin sind auch die Quali-
tätskriterien unterschiedlich zu definieren. So wird die Richtigkeit von Aussagen auf der Beitragsebe-
ne (1) gemessen, wozu wie immer der Kontext des gesamten Beitrags zu berücksichtigen ist (hierzu
gehören auch Metadaten, bspw. das Publikationsdatum "1. April" für einen Aprilscherz). Der Befund
"Gegenseite kommt nicht zu Wort" als Vollständigkeits-Eigenschaft kann ebenfalls auf Ebene 1 erho-
ben werden, und zwar als implizite Aussage. Das Fehlen einer erwarteten Nachricht kann auf den
Ebenen Publikationseinheit (2), Medium (3) oder Medienlandschaft (4) festgestellt werden.
Manche Qualitätsbefunde lassen sich nur beim Vergleich zweier oder mehrerer individuell ausge-
wählter Beiträge erheben, z.B. die Maßstabsgerechtigkeit; dies bildet jedoch keine neue Ebene, denn
untersucht werden jeweils Einzelbeiträge (1). Beim Vergleich zweier oder mehrere Beiträge handelt
es sich mithin nicht um eine neue Publikationsebene, sondern um eine Forschungsperspektive (vgl.
Geuß 2018: 42f).
Da sich journalistische Eigenschaften auf den Ebenen über dem einzelnen Beitrag meist nur mit
quantitativer Forschung messen lassen, es jedenfalls eine Vollerhebung braucht, soll es hier überwie-
gend um journalistische Einzelleistungen gehen (denen bei den heutigen Rezipientengewohnheiten
wohl auch die größte Bedeutung zukommt, da Beiträge zunehmend einzeln, losgelöst von ihrer Pub-
likationseinheit, rezipiert werden). Eine Ausnahme bildet u.a. die Maßstabsgerechtigkeit.
2 Forschungsstand
Bisher gibt es m.W. nur eine Studie, die sich an eine Gesamtbewertung des deutschen Corona-
Journalismus wagt: "Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der
7
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie" (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski
2021; s.a. Reinemann/ Maurer/ Kruschinski/ Jost 2024). Sie untersucht, "wie etablierte Nachrichten-
medien zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 30. April 2021 über die COVID-19-Pandemie in
Deutschland berichteten" (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 5).
Bereits über ein Jahr zuvor hat für die Schweiz die Forschungsgruppe um Mark Eisenegger, die das
Jahrbuch Qualität der Medien
5
erstellt, eine Sonderauswertung veröffentlicht für den Zeitraum
01.01.2020 bis 30.06.2020 (Eisenegger/ Oehmer/ Udris/ Vogler 2020). Es gab frühzeitig Untersu-
chungen einzelner Kommunikationsfelder (z.B. Quandt/ Boberg/ Schatto-Eckrodt/ Frischlich 2020),
die aber nicht zum hiesigen Fokus passen.
Einen guten Überblick zur Gemengelage der Medienkritik und Medienforschung zu Beginn der Pan-
demie geben Kramp/ Weichert (2021: 6-15), die mit denen im Anschluss vorgelegten Fallanalysen
kursorisch auf die (konstruktiven) Journalismusleistungen von zehn Medien schauen, von der Apo-
theken-Umschau bis zur Zeit.
6
2.1 fög-Studie
Einige der Kritikpunkte, die im Folgenden ausgeführt werden, finden sich schon in der ersten großen
Qualitätsstudie allerdings nur für die Schweiz. Am "Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesell-
schaft" (fög) wird seit 2010 die Qualität der Schweizer Medien gemessen
7
und in einem Jahrbuch
veröffentlicht. Mit ähnlicher Methodik hat das Forschungszentrum der Uni Zürich Ende Juli 2020
Befunde zur "Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie" (Eisenegger et al. 2020)
vorgelegt. Die Inhaltsanalysen erfassen dabei stets nur allgemeine Ausprägungen der Berichterstat-
tung, etwa wie viele verschiedene Akteure zu Wort kommen. Nicht gemessen werden u.a. so wichti-
ge Qualitätskriterien wie die Richtigkeit oder Vollständigkeit von Berichten. Die Studie misst die Me-
dienleistung in den Dimensionen Vielfalt, Relevanz und Deliberationsqualität.
Erster auffälliger Befund: Corona hat in der Berichterstattung nicht nur dem Eindruck nach alles be-
herrscht. Bis zu 75 % aller Artikel in den Zeitungen und aller Rundfunknachrichten der Stichprobe
beschäftigten sich mit der Pandemie. Eine vergleichbare Themendominanz hat es wohl lange nicht
gegeben. Zum Vergleich: Das dominante Thema Klimawandel erreicht im Schweizer Parlamentswahl-
jahr 2019 zur Spitze kaum mehr als 10 % der Gesamtberichterstattung. Für die manuelle Inhaltsana-
lyse wurde eine repräsentative Stichprobe aus 28.695 Beiträgen zum Thema COVID-19 gezogen, die
zwischen 1. Januar und 30. April in 22 deutsch- und französischsprachigen Schweizer Nachrichten-
medien erschienen waren (darunter NZZ, Tagesanzeiger, Blick, 10vor10 und Tagesschau des SRF
8
).
Zusätzlich gab es eine automatische Vollerhebung des Themas COVID-19 in 34 deutsch-, französisch-
und italienischsprachigen Schweizer Nachrichtenmedien mit insgesamt 100.612 Beiträgen aus der
Zeit 1. Januar bis 30. Juni 2020.
Nachdem der Bundesrat (Schweizer Regierung) am 28. Februar 2020 die "besondere Lage" erklärt
hatte (mit Ziel und Folge einiger Kompetenzverschiebungen), stieg in den deutschsprachigen Schwei-
zer Medien der Veröffentlichungsanteil mit Coronabezug von etwa 30 % auf über 60 % und blieb bis
Mitte Mai stets über 50 %.
5
https://www.foeg.uzh.ch/de/jahrbuch-qdm.html
6
Die Autoren knüpfen damit an ihr Arbeitsheft "Nachrichten mit Perspektive" an (Kramp/ Weichert 2020).
7
https://www.foeg.uzh.ch/de/jahrbuch-qualit%C3%A4t-der-medien.html
8
https://www.srf.ch/play/tv/sendung/tagesschau?id=ff969c14-c5a7-44ab-ab72-14d4c9e427a9
8
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Damit ist die Dominanz überdeutlich und zugleich zwangsläufig belegt, dass der Raum für alle
anderen Themen sehr begrenzt war. Haarkötter beklagte schon Anfang April 2020 im Gewerk-
schaftsmagazin "Menschen Machen Medien"
9
:
>Die Sendezeit und die bedruckte und im Internet beflimmerte Fläche, die auf die Corona-
Pandemie verwandt wird, verdrängt andere Sachverhalte und Ereignisse aus dem Sichtfeld.
Dabei ist die Welt, entgegen dem weitläufigen Eindruck, nicht stehen geblieben. Die Krisen-
gebiete, die es vor der Corona-Krise gab, bestehen immer noch, die Bürgerkriege, die Heu-
schreckenplagen und die Hungersnöte grassieren weiterhin völlig unbeschadet eines Virus,
das auch den Journalismus beträchtlich infiziert hat.<
Während die Themenvielfalt insgesamt also stark sank, war sie laut Schweizer Studie innerhalb des
Corona-Feldes jedoch nah am Maximum. Dazu wurden die journalistischen Stücke zum einen nach
ihrem Ressort klassifiziert, nach gesellschaftlich-öffentlicher Sphäre (Politik, Wirtschaft, Kultur) und
gemeinschaftlich-privater Sphäre (Sport, Bevölkerung/Human Interest). Zum anderen
>wurde das Thema identifiziert, über das zentral im Beitrag berichtet wurde. Unterschieden
wurde dabei zwischen den Themen 'Grundlagenwissen über Corona und Pandemie', 'Umgang
mit der Pandemie', 'Maßnahmen gegen Corona/Pandemie auf individueller (Mikro), organisa-
tionaler (Meso), oder gesamtgesellschaftlicher Ebene (Makro)', 'Schäden (Mikro, Meso, Mak-
ro)', 'Nutzen (Mikro, Meso, Makro)', 'Hilfen zur Bewältigung der Corona-Folgen' und 'Exit(-
strategien) aus dem Lockdown und Lockerung der Maßnahmen'.< (Eisenegger et al. 2020: 8)
Eine solche Vielfaltsberechnung erfasst also nicht alle tatsächlichen Themen, sondern nur ein sehr
grobes Raster. Ob alle möglicherweise für relevant gehaltenen Aspekte behandelt wurden, sagt die
Auswertung nicht so wie sie auch nicht berücksichtigt, ob die einzelnen Themen journalistisch
"gut" behandelt wurden; die Richtigkeit von Aussagen z.B. wird nicht überprüft, ob jeweils "die Ge-
genseite" zu Wort kommt ebenfalls nicht. Die Themenvielfalt hat über die Zeit zugenommen. Zu
Beginn der Pandemie erfolgte die Berichterstattung "zu insgesamt knapp 70 % aus der Perspektive
der Medizin (42,2 %) und der Wirtschaft (26 %)". Die Autoren resümieren:
>Zusammenfassend wird die Berichterstattung den sich ändernden Informationsbedürfnissen
der Bevölkerung im Laufe eines Krisenzyklus weitgehend gerecht. Zunächst erfolgt die Ver-
mittlung von Grundlagenwissen, dann stehen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise
deutlich im Vordergrund, gefolgt von der gemeinsamen Fokussierung auf die Maßnahmen
und den Umgang mit der Krise sowie abschließend der Darstellung von Umgang, Maßnahmen
und verursachten Schäden.< (Eisenegger et al.: 10)
Separat untersucht wurde die Vielfalt an Experten, die in den Medien zu Wort kommen. Experten
sind dabei "alle Akteure, die wegen ihres privilegierten Wissens schwerpunktmäßig im Beitrag ihre
Position, Ansicht, Entscheidung oder auch Forderung vermitteln (können)". 83 % aller Beiträge wer-
den auch von Experten getragen, und mit der Berücksichtigung verschiedener Professionen (wie
Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Politik, Justiz und Polizei) zeigen sich die Forscher erneut zufrie-
den:
>Dass die Corona-Pandemie ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, zu dem sich auch
verschiedene Expertengruppen äußern und ihre Perspektive einbringen sollten, wird somit in
den Medien ab Mitte März 2020 weitgehend Rechnung getragen.< (Eisenegger et al.: 11)
Dennoch gibt es natürlich Experten, die besonders häufig zu Wort kommen. "Unter den 30 resonanz-
stärksten Experten waren fast nur Mediziner", sagt Linards Udris auf Anfrage. So belegt der deutsche
9
https://mmm.verdi.de/beruf/gehts-auch-mal-wieder-kritisch-65457
9
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Virologe Christian Drosten bei den Internetangeboten von Blick, NZZ, Watson, Aargauer Zeitung,
Berner Zeitung, 20minuten und Tagesanzeiger jeweils einen der ersten drei Plätze der am häufigsten
zitierten Experten. Die "TOP-3-Experten" zusammen vereinen gemeinsam je nach Medium 31 bis
75 % der Resonanz auf sich.
Untersucht wurde auch die "Deliberationsqualität", und zwar unter drei Aspekten: "Behördendis-
tanz", "Einordnungsleistung" und "Umgang mit Zahlen und Statistiken". Zum spannenden ersten
Aspekt konstatieren die Autoren:
>Die Befunde [zeigen], dass es leicht mehr kritische Stimmen gegenüber der nationalen Regie-
rung und den nationalen Behörden (7 %) gibt als explizit unterstützende Stimmen (6 %). 14 %
aller Beiträge thematisieren Regierungs- und Behördenhandeln neutral oder ambivalent. Es
lässt sich also nicht behaupten, dass die Medien generell unkritisch über Behörden und die
Regierung berichtet haben.< (Eisenegger et al.: 18)
Allerdings haben die Forscher auf eine sehr hilfreiche Differenzierung verzichtet und als "Kritik" so-
wohl die Warnung vor als auch die Forderung nach mehr oder härteren staatlichen Maßnahmen
zusammengefasst (was auch nachfolgende Studien so beibehielten). Doch mit einer qualitativ-
hermeneutischen Betrachtung der Daten kommt Linards Udris zu folgendem Eindruck:
>Kurz vor dem Lockdown war es in der Schweiz so: Kritik an Regierung und Behörden war e-
her, dass diese bisher zu langsam reagiert hätten. Von dem her gab es damals (noch) keine
Kritik, dass Maßnahmen wie der Lockdown übertrieben wären. Eine solche Kritik setzt erst ca.
Anfang April ein. Schon relativ zu Beginn der Lockdown-Phase aber gab es Kritik an Regie-
rung/ Behörden, dass diese die aktuelle Situation zu wenig professionell angehen würden
u.a. sei das Zusammentragen der Infektionsdaten aus den Kantonen zu langsam und zu feh-
leranfällig.< (Udris, persönliche Mitteilung)
In der Studie heißt es dazu:
>Eine systematische Auseinandersetzung mit der drastischsten Maßnahme, nämlich einem
möglichen Lockdown, zum Beispiel durch einordnende Vergleiche mit unterschiedlich be-
troffenen Ländern, findet in den untersuchten Medienbeiträgen allerdings nur am Rande
statt.< (Eisenegger et al.: 18)
Im Fazit ihrer Untersuchung der Corona-Berichterstattung, die ein "Stresstest für die Medien" gewe-
sen sei, heißt es:
>Insgesamt kann die Berichterstattungsleistung trotz klarer Mängel tendenziell positiv beur-
teilt werden. [...]
Die Medien haben vor und während der Corona-Pandemie in mehreren Bereichen eine gute
Qualität geleistet. Das bestätigt die früheren Resultate aus dem Jahrbuch Qualität der Medi-
en, wonach die Qualität der Medien in der Schweiz im Allgemeinen relativ gut ist. [...]
In nur rund 6 % aller Beiträge lässt sich eine fundierte, einordnende Hintergrundberichterstat-
tung beobachten. Die Deliberationsqualität ist ambivalent, weil die Medien zwar insgesamt
eine kritische Distanz gegenüber Regierung und Behörden wahren, diese Distanz aber in der
sensiblen Phase kurz vor dem Lockdown gering ausfällt.< (Eisenegger et al.: 21)
In der Schweiz ist eine ganze Reihe (kurzer) Nachrichten zu dieser Studie erschienen, Tenor: "Schwei-
zer Medien haben sachlich und vielfältig über Corona berichtet"
10
. In Deutschland gab es hingegen
10
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/studie-zeigt-schweizer-medien-haben-sachlich-und-vielfaeltig-
ueber-corona-berichtet-138595389
10
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
kaum Interesse an den Erkenntnissen (Ausnahmen u.a. das Branchenblatt Horizont
11
). Im Medienma-
gazin des Bayerischen Rundfunks kommentierte Studienleiter Mark Eisenegger die Ergebnisse, sein
deutscher Kollege und gern gefragter Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen kommentierte den
Bezug zu Deutschland
12
. Pörksen sieht nur eine sehr kurze defizitäre Phase in der deutschen Bericht-
erstattung von zehn bis 14 Tagen:
>Journalistische gesprochen gab es sehr viele gute, herausragende, reflektierte Leistungen
mit Ausnahme dieser Phase Ende März. Da hätte man aus meiner Sicht viel stärker auf eine
Debatte über die Folgen und Nebenfolgen des Lockdowns drängen können.<
Aber war nicht genau das die entscheidende Phase, in der kritische Stimmen für die Meinungsbildung
des demokratischen Souveräns notwendig gewesen wären? Begann nicht genau dort die Phase, in
der die Weichen gestellt wurden, was künftig noch als denkbar, sagbar, diskutierbar gelten würde?
Kann man sagen, es war quasi ein 'kurzer Aussetzer', geschuldet der persönlichen Verunsicherung
der Journalisten und ihrem Glauben an die Institutionen, die uns durch die Krise führen werden, auch
und gerade ohne kritischen, umfassend informierenden Journalismus? Darum wird es im Weiteren
noch ausführlich gehen und nein, das ist kein "hindsight bias“ (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski
2021: 57).
Bereits am 9. April 2020 hatten Vinzenz Wyss und Klaus Meier in Meedia "die fünf Defizite der
Corona-Berichterstattung"
13
ausgemacht. In der Schweizer Studie sahen sie später ihre "erste grobe
Analyse" bestätigt. Meier resümiert
14
mit Bezug auf die fög-Studie:
>Zentraler Kritikpunkt war, dass die Maßnahmen von Politik und Behörden nicht frühzeitig in
der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Nicht vielfältige Recherche, kritische Distanz und Diskurs
prägten demnach den Journalismus, sondern die Verlautbarungen 'starker Anführer' und so-
gar Rufe nach noch mehr und schnelleren drakonischen Einschränkungen unserer Grundrech-
te.
Die weitreichenden, bislang in der Demokratie nie dagewesenen Eingriffe waren zwischen
einzelnen Experten und der Exekutive im Hinterzimmer verhandelt und anschließend lediglich
verlautbart worden insgesamt rund drei Dutzend Notverordnungen des Bundesrats. Ob sie
im Detail notwendig, zielführend oder nicht auch willkürlich und widersprüchlich waren, wur-
de kaum recherchiert und thematisiert.<
Auch die kritisierte "Zahlenfixierung", die "teilweise wie Tabellenstände im Sport vermittelt wurde",
weise die Schweizer Studie nach. Denn dort heißt es: "In 27,1 Prozent aller Beiträge machen Zahlen
und Statistiken den Schwerpunkt der Berichterstattung aus."
Obwohl aus professioneller Sicht Zahlen meist nicht für sich allein sprechen können, "sondern kritisch
interpretiert und eingeordnet werden" müssen, geschah dies in der Mehrzahl der Fälle nicht. In der
fög-Studie heißt es:
11
https://www.horizont.net/schweiz/nachrichten/universitaet-zuerich-relativ-hohe-qualitaet-der-
berichterstattung-zur-corona-pandemie-184658
12
https://www.br.de/radio/b5-aktuell/sendungen/medienmagazin/medien-schweiz-deutschland-corona-
berichterstattung-100.html
13
https://meedia.de/2020/04/09/journalismus-in-der-krise-die-fuenf-defizite-der-corona-berichterstattung/
14
https://medienwoche.ch/2020/07/31/halb-voll-ist-eben-auch-halb-leer-studie-zur-corona-
berichterstattung/
11
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Es wird längst nicht immer begründet, was diese Zahlen aussagen und warum diese verwen-
det wurden. Der Anteil an Beiträgen ohne Einordnung von Zahlen und Statistiken (14,8 %) ist
höher als der Anteil an Beiträgen, die Zahlen und Statistiken einordnen (12,4 %).< (Eisenegger
et al. 2020: 21)
Klaus Meier:
"Ein weiterer Kritikpunkt von uns war, dass Virologen zu Medienstars aufgebaut wurden und
Stimmen aus anderen Wissenschaften fehlten. [...] Zudem bemängelten wir die Darstellung
wissenschaftlicher Statements als eindeutig, unfehlbar und als Maßstab, nach denen sich Po-
litik und Gesellschaft zu richten hätten. Dies läuft der Logik wissenschaftlicher Forschung zu-
wider, nach der sich Wissenschaftler irren dürfen Wissenschaftler erzielen sogar durch den
Beweis von Irrtümern Fortschritte."
15
Mangelnde Vielfalt wissenschaftlicher Expertise in der journalistischen Berichterstattung kritisiert
nun auch die fög-Studie. Ob die Wissenschaft tatsächlich als unfehlbar dargestellt wurde, wie Meier
und Wyss es annehmen, haben die Schweizer hingegen nicht untersucht.
Meier sieht zudem Indizien für mangelnde Transparenz im Journalismus. Weil Journalismus Medien-
realität konstruiere und die Definition und Wahrnehmung von Krisen und Risiken durch die Men-
schen beeinflusse, müsste "immer wieder transparent darüber aufgeklärt werden, wie Journalismus
dies tut." Doch unter den zahlreich zu Wort gekommenen Experten fehlten unter anderem Kommu-
nikationswissenschaftler.
Der fünfte Kritikpunkt von Wyss und Meier bezog sich auf die Fokussierung und Dramatisierung des
Einzelfalls, zulasten von Kontext und Gesamtstruktur. Dazu zählt vor allem die endlose Wiederholung
dramatischer Bilder, beispielsweise von den Särgen in Bergamo
16
, die in Deutschland zum Sinn- und
Schreckensbild mindestens für gesamt Italien, wenn nicht für die globale Corona-Krise wurden, ob-
wohl dies der realen Situation überhaupt nicht gerecht wurde (Beispiel: Tagesspiegel
17
). Bildsprache
hat die fög-Studie allerdings komplett ausgeklammert, auch Fernsehnachrichten wurden nur auf ihre
Texte hin untersucht, so dass zu repräsentativen oder verzerrenden Abbildungen der Corona-
Pandemie die Journalismusforschung noch gefordert ist.
2.2 Augstein-Studie
Im Oktober 2021 erschien eine deutsche Untersuchung zur Qualität des Corona-Journalismus von
Marcus Maurer (IfP, Uni Mainz), Carsten Reinemann (IfKW, Uni München) und Simon Kruschinski (IfP,
Uni Mainz), herausgegeben von der Rudolf-Augstein-Stiftung.
Das Sample umfasst die Berichterstattung "in elf Leitmedien mit unterschiedlichen redaktionellen
Linien" zwischen 01.01.2020 und 30.04.2021, nämlich in den sieben Online-Angebote faz.net, sued-
deutsche.de, welt.de, bild.de, spiegel.de, focus.de und t-online.de, in den drei Fernsehnachrichten-
formaten Tagesschau (ARD), heute (ZDF) und RTL aktuell sowie der zeitweilig täglich ausgestrahlten
15
https://medienwoche.ch/2020/07/31/halb-voll-ist-eben-auch-halb-leer-studie-zur-corona-
berichterstattung/
16
Bsp. für die Berichterstattung: https://www.bild.de/news/ausland/news-ausland/schockierende-bilder-aus-
italien-armee-transportiert-corona-tote-69489308.bild.html Kritisch zum Narrativ:
https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-
movie-theatre/
17
https://www.tagesspiegel.de/politik/italien-mit-hoechstzahl-an-corona-toten-armee-transportiert-leichen-
mit-lkw-ab-ausnahmezustand-im-land-verlaengert/25660522.html
12
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Sondersendung "ARD Extra" zur Corona-Pandemie, ab 17.03.2020 unter dem Titel "Die Corona-
Lage"
18
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 4). Die Qualität der Medienberichterstattung wurde
dabei "an frühere Studien anknüpfend auf sechs Dimensionen [gemessen]: 1) Relevanz, 2) Vielfalt, 3)
Sachlichkeit/ Neutralität, 4) Richtigkeit/ Sachgerechtigkeit, 5) Ausgewogenheit und 6) Einordnung/
Kontextualisierung." (ebd.) In die quantitative Inhaltsanalyse eingeflossen sind wegen der großen
Menge aus den Nachrichtensendungen und Online-Medien nur die Beiträge jedes zweiten Tages. Von
den Online-Angeboten wurde codiert, was "auf den Startseiten im Hauptnachrichtenbereich erschie-
nen" ist sowie alle Beiträge aus den "Ressortbereichen News, Politik, Corona(virus) oder Wis-
sen(schaft) unterhalb des Hauptnachrichtenbereichs" (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 19).
Die Qualitätsdimension Relevanz wurde im Intra-Extra-Media-Vergleich bestimmt, als Kennzeichen
realer Relevanz wurden "offizielle Statistiken zur Entwicklung der Pandemie (z. B. Zahl der Neuinfek-
tionen, Sterbefälle) sowie Informationen über die Verkündung wichtiger politischer Entscheidungen
(z. B. zu Eindämmungsmaßnahmen)" herangezogen (ebd: 21). Je größer das Infektionsgeschehen und
damit "dramatischer" die Pandemie, um so relevanter ist das Thema (ebd. 23f). Beispiel-Befund:
>Stärkere Zusammenhänge zwischen der Berichterstattungsmenge und den Indikatoren für
das Infektionsgeschehen zeigen sich, wenn man die Berichterstattung etwas detaillierter be-
trachtet. So können wir z. B. auch dezidiert die Häufigkeit der Erwähnung von Todesfällen in
den Medien mit der tatsächlichen Zahl von Todesfällen vergleichen. Hierbei zeigt sich, dass die
Medien während der zweiten Pandemie-Welle zumindest etwas häufiger über Todesfälle be-
richtet haben als während der ersten Welle. Den massiven Anstieg der Todesfälle in der zwei-
ten Welle spiegelt sie allerdings nicht wider. Umgekehrt blieb die Berichterstattung über To-
desfälle auch dann noch, als diese durch die zunehmende Impfung von Risikogruppen deutlich
zurückgingen [...].<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 25f).
= Vielfalt =
Der "Grad an Emotionalität vs. Sachlichkeit" wird "als Indikator für Neutralität" erhoben. Zur Be-
stimmung der Sachlichkeit der Berichterstattung wird analysiert, "in welchem Ausmaß die Darstel-
lung der Pandemie durch Statistiken und andere summarische Informationen (thematisches Framing)
oder durch die Darstellung von Einzelfällen (episodisches Framing) geprägt war." (ebd.: 21)
Als eine gemeinsame Qualitätsdimension werden Richtigkeit und Sachgerechtigkeit aufgefasst und
anhand von drei Benchmarks erfasst: "den Vergleich des Corona- mit dem saisonalen Influenza-Virus,
die Darstellung des Meinungsklimas zu den Corona-Maßnahmen und die Frage, ob die Berichterstat-
tung den Eindruck vermittelte, in der Wissenschaft herrsche ein Konsens über die Pandemie." (ebd.:
21) Da im Zuge der Studie kein Factchecking betrieben wurde, gibt es "drei exemplarische Indikato-
ren, um einen Eindruck von der Richtigkeit bzw. Sachgerechtigkeit der Berichterstattung zu bekom-
men" (ebd.: 35): 1. Vergleiche zwischen Corona-Virus und Influenza-Virus (sachgerecht ist die Dar-
stellung hier, wenn die Gefährlichkeit von Corona "als deutlich höher eingeschätzt" wird), 2. Darstel-
lung von Konsens oder Dissens "in den unmittelbar mit den medizinischen Aspekten der Pandemie
beschäftigten wissenschaftlichen Disziplinen" (sachgerecht: Konsens im Laufe des Jahres 2020), 3.
wird untersucht, "ob das auf die Corona-Maßnahmen bezogene Meinungsklima als die Maßnahmen
befürwortend oder gegen die Maßnahmen gerichtet dargestellt wurde." (ebd.: 35)
18
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ARD-Extra-Sendungen
13
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Zur Beurteilung der Ausgewogenheit der Berichterstattung wird ermittelt, "inwieweit auch kritische
Positionen zur Pandemie, den Maßnahmen und Akteuren in der Berichterstattung vorkamen und
inwiefern die Medien dabei unterschiedliche redaktionelle Linien vertraten." (ebd.: 22)
Die Auswertung der sog. Akteursvielfalt ergab u.a.:
> Zählt man die Bundesregierung, die daran beteiligten Parteien sowie deren Politiker auf
Bundesebene zusammen, machten Regierungsakteure über 20 Prozent aller Akteursnennun-
gen aus, während Oppositionsakteure gerade einmal auf 3 Prozent kamen.<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 27).<
Unter Einbeziehung der Landespolitik vergrößert sich der Abstand zwischen CDU/ CSU und den ande-
ren Parteien weiter "trotz unterschiedlicher Regierungskonstellationen", "weil [die] Ministerpräsi-
denten Söder und Laschet deutlich häufiger erwähnt wurden als deren Amtskollegen aus anderen
Bundesländern" (ebd.: 29).
Bei der Virologen-Präsenz sticht Drosten "als engster Regierungsberater" hervor, der "mit 513 Medi-
ennennungen mehr mediale Aufmerksamkeit erhielt, als alle anderen Virologen zusammen" (ebd.:
31).
>Drosten blieb bis Herbst 2020 der deutlich dominierende Pandemie-Erklärer in den Medien,
wurde aber während der zweiten Pandemiewelle partiell und während der dritten Pandemie-
welle schließlich vollständig von einem „Kollegen“ abgelöst [...] [:] Karl Lauterbach [...].<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 31)
Bei der Bewertung der Maßnahmen gab es zunächst, während der 'ersten Welle', noch einen Wider-
streit zwischen positiven und negativen Folgen, danach dominierten "die positiven Folgen für die
Gesundheit" den medialen Diskussion eindeutig. "Negative gesundheitliche Folgen der Maßnahmen
wurden im gesamten Untersuchungszeitraum praktisch nicht thematisiert." (ebd.: 33)
Das Meinungsklima in der Bevölkerung wurde laut Studie "insbesondere im Oktober und November
2020 sowie im Januar 2021" verzerrt dargestellt: "sehr viel häufiger als zuvor [vermittelten Medien]
den Eindruck eines die Maßnahmen ablehnenden Meinungsklimas [...], obwohl sich an der grund-
sätzlichen Haltung der großen Mehrheit der Bevölkerung, die Maßnahmen seien nicht übertrieben,
nichts Wesentliches geändert hatte." (ebd.: 39)
= Ausgewogenheit =
Zu Beginn der Pandemie-Berichterstattung war der Tenor zu politischen Maßnahmen überwiegend
positiv. "Hier hatten die politischen und wissenschaftlichen Akteure tatsächlich eine deutliche media-
le Unterstützung, was nicht bedeutet, dass es nicht auch Kritik in der Berichterstattung gegeben hät-
te." (ebd.: 43) In der Gesamtstichprobe thematisierten knapp 90 Prozent der analysierten Beiträge
eine oder mehrere Maßnahmen mit insgesamt mehr als 35.000 Nennungen. Im Gesamttenor bewer-
teten 44 % der Beiträge (N= 5.295) die politischen Maßnahmen als angemessen, 31 % als nicht aus-
reichend und 26 % als zu weit gehend. (ebd.: 44) Die Betrachtung einzelner Medien zeigt deutliche
Unterschiede in den 'Blattlinien' bzw. redaktionellen Haltungen wenn es darum geht, ob die Maß-
nahmen zu milde oder zu drastisch waren:
>Die stärkste Positionierung für strengere oder mehr Maßnahmen ist bei t-online zu erkennen
(Saldo = +19 %), etwas schwächer auch bei heute (+14 %), dem ARD Corona Extra (+13 %),
RTL aktuell (+11 %), spiegel. de (+11 %) und welt.de (+10 %). Eine zweite Gruppe von Medien
weist nur einen kleinen Überhang von Beiträgen auf, in denen strengere Maßnahmen als
14
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
notwendig erschienen. Zu dieser Gruppe zählen die Tagesschau (+5 %), focus.de (+4 %) und
sueddeutsche.de (+4 %). Zwei Medien schließlich lassen über den gesamten Untersuchungs-
zeitraum einen Überhang von Beiträgen erkennen, in denen die Maßnahmen als zu weitrei-
chend erschienen. Dies sind mit einer leichten Tendenz faz.net (-4 %) und mit dem deutlichs-
ten Tenor bild.de (-13 %) [...].<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 47)
Abwägungen von Folgen der Pandemie und Folgen ihrer Bekämpfung kamen "tatsächlich in der ers-
ten Phase der Pandemie im April 2020 am seltensten" vor (ebd.: 55)
In der Zusammenfassung am Ende heißt es:
>Ein sehr klares Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass die untersuchten Nachrichtenmedi-
en nicht völlig unkritisch insbesondere gegenüber den Regierungen in Bund und den Ländern
waren. Denn Kritik war in den Medien sehr deutlich vorhanden, sowohl an den amtierenden
Regierungen und ihren Repräsentanten als auch an den Corona-Maßnahmen. In dieser Hin-
sicht war die Berichterstattung folglich zugleich regierungsnah und regierungskritisch. Sie war
regierungsnah, weil die Medien, ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen
plädierten. Sie war zugleich aber auch regierungskritisch, weil den Medien diese Maßnahmen
oft gar nicht hart genug erschienen oder zu spät kamen.<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 55)
In der abschließenden Bewertung heißt es:
>Insgesamt nahmen die Medien gegenüber der Pandemie folglich eine eindeutig warnende
Haltung ein, die man durchaus als einseitig betrachten kann. Betrachtet man diese Einseitig-
keit als Problem, dann kann man dies allerdings nur aus einer Position tun, die die Pandemie
als eher ungefährlich oder die Maßnahmen als eher übertrieben wahrnimmt. Stellt man da-
gegen in den Mittelpunkt, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bislang auch im
Hinblick auf die Zahl von Todesfällen vergleichsweise gut durch die Pandemie kam und führt
man dies nicht nur auf das gute Gesundheitssystem und die vielen Intensivbetten, sondern
auch auf die Maßnahmen zurück, dann kann man diese mediale Mitgliedschaft im „Team
Vorsicht“ als Ausweis von Rationalität, Wissenschaftsorientierung und hoher Qualität der Be-
richterstattung betrachten.<
19
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 58)
3 Richtigkeit
Ein grundlegendes Qualitätskriterium im Journalismus ist die Richtigkeit. Für die Orientierungsleis-
tung der Medien sind zwar weitere Kriterien unabdingbar und manche deutlich spannender als die
Richtigkeit, doch ohne das strikte Bemühen um Faktizität haben wir es erst gar nicht mit Journalis-
mus zu tun. Umso erstaunlicher ist, wie viele Fehler sich im Journalismus finden. Neben Fragen zur
Ethik fokussieren daher Medienwatchblogs vor allem auf Patzer bei der Richtigkeit, von denen es
keineswegs nur bei der 'Bild' reichlich gibt. Über die Tragweite einzelner Fehler in der Berichterstat-
tung mag man streiten, letztlich kann aber jede Unrichtigkeit zu Fehlorientierungen führen, also ge-
nau zum Gegenteil dessen, was Journalismus zu leisten für sich beansprucht. Zudem beeinträchtigt
jede Unrichtigkeit das Vertrauen in Medien und kann damit die öffentliche Aufgabe des Journalismus
19
Um diese Interpretation geht es später noch unter "Medienkritik" im Kap. 7 (Objektivität) sowie im Resü-
mee.
15
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
insgesamt beschädigen. Besonders tragisch wird es daher auch, wenn Unrichtigkeiten keine Ent-
schuldigung mehr auslösen. Leider begleiten uns Unrichtigkeiten vom ersten Tag der Corona-
Berichterstattung.
Unrichtig ist eine Aussage, sobald sie falsifiziert ist. Ansonsten kann sie bestritten bzw. bezweifelt
sein. Fehlende Belege oder auch widersprechende Informationen in anderen Veröffentlichungen sind
Indizien, aber keine Beweise für Unrichtigkeit.
Das Qualitätskriterium Richtigkeit ist der eindrücklichste Vertreter nur negativ messbarer Eigen-
schaftsausprägungen. Es gibt außerhalb der Rhetorik kein "sehr richtig", aber es gibt natürlich unter-
schiedliche Bedeutungsgrade von Unrichtigkeit, die zu sehr verschiedenen Bewertungen führen kön-
nen.
= Exkurs: Meinungen und Tatsachen =
Tatsachen sind immer richtig, Meinungen nie. Falsch bzw. unwahr können Tatsachenbehauptungen
sein (ausf. Rieg 2024
20
). Das macht für die Richtigkeitsprüfung erforderlich, diese drei grundverschie-
denen Aussagetypen strikt zu trennen und vor allem Meinungen deutlich als solche auszuweisen,
wozu zwingend gehört, sie zu personalisieren, weil nur natürliche Personen Meinungen haben kön-
nen. Das klingt vermutlich banal empirisch betrachtet liegt hier aber eines der größten Probleme
des Corona-Journalismus (und wohl des Journalismus insgesamt). Bevor wir daher zu Beispielen un-
richtiger Behauptungen kommen, muss der Unterschied zwischen Tatsachen einerseits und Meinun-
gen über Tatsachen andererseits klar sein. Gerade weil ich aus vielen Diskussionen weiß, an dieser
Stelle bereits Leserschaft zu verlieren, sobald ein dieser unpassend scheinendes Beispiel erwähnt
wird: Schreiben Sie mir bitte, wenn Sie es anders sehen! Ich bin gerne bereit zu widerrufen; aber
solange dieser Punkt als ungeklärt gilt, erübrigt sich jede Forschung über und Diskussion um Qualität
im Journalismus. Wenn Sie dem ersten Beispiel nicht widersprechen, können Sie diesen Abschnitt
allerdings überspringen.
Um mit einem Lehrbuchbeispiel zu beginnen (Esslinger/ Schneider 2015: 25):
Bsp.: Die Überschrift "Schmidt will nicht Bundeskanzler werden” zu einer Aussage des damaligen
Hamburger Bürgermeisters Helmut Schmidt wurde nicht erst falsch, als dieser doch als Kanzlerkandi-
dat zur Wahl antrat, sie war zu jedem Zeitpunkt reine Spekulation, die falsche Darstellung einer Mei-
nungsbekundung als Tatsache. Fakt war allein, dass Schmidt gesagt hatte, nicht Kanzler werden zu
wollen. Was er aber wirklich wollte, konnte außer ihm niemand wissen. Dieser Unterschied ist keine
Petitesse
21
, sondern essentiell, um über Richtigkeit im Journalismus diskutieren zu können.
Tatsachen sind intersubjektiv nachprüfbar. Verschiedene Betrachter kommen Mittel und Vermögen
vorausgesetzt zur gleichen Feststellung. Das sind wir gewohnt von Gerichten, wir erwarten es bei
der Bewertung von Prüfungsleistungen ebenso wie beim Wetterbericht. Tatsachen (Fakten) sind da,
und sie sind immer richtig (denn andernfalls sind sie eben keine Tatsachen, sondern unwahre Tatsa-
chenbehauptungen und damit nein, nicht Meinungen, sondern: Fiktionen).
Helmut Schmidt, um zum Lehrbuchbeispiel zurückzukommen, hatte damals eine Meinung. Diese
wäre eine Tatsache gewesen, hätten wir sie valide prüfen können; da sie außer ihm selbst aber na-
turgemäß niemand als solche sehen konnte, blieb für die Kommunikation nur seine Behauptung die-
ser Meinung. Diese Behauptung war eine Tatsache aber eben nur als Behauptung. Wenn Schmidt in
20
https://www.spiegelkritik.de/2024/07/10/tatsachen-und-meinungen-ein-differenzierungsvorschlag/
21
https://www.spiegelkritik.de/2017/06/11/fragen-stellen-und-antworten-verstehen/
16
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
einem Interview sagt: "Ich will nicht Bundeskanzler werden", dann ist es eine Tatsache, dass er dies
gesagt hat. Es ist aber keine Tatsache, dass er nicht Bundeskanzler werden will. Da wir Meinungen
anderer nur durch ihre (auch nonverbale) Äußerung zur Kenntnis nehmen können, dürfen wir den
korrekten Begriff "Meinungsbehauptung" schlicht auf "Meinung" verkürzen.
Jedes Gesetz, jede Verordnung und alles, was wir so an Regeln haben, sind Meinungen. Es sind gera-
de keine "Naturgesetze", sie können keinem Wahrheitsbeweis unterzogen werden. Homosexualität
kann bestraft oder steuerlich begünstigt werden. Cannabis kann verboten oder erlaubt sein, der
Handel damit kann bußgeld- oder mehrwertsteuerpflichtig sein. Tatsache ist jeweils nur die aktuelle
Kodifizierung einer Meinung. Tatsache ist, dass man für Vergehen oder Verbrechen nach den ent-
sprechenden Gesetzen bestraft werden soll (sog. Rechtstatsachen, vgl. Branahl 2019: 106). Keine
Tatsache ist hingegen, dass dies so sein muss. Eine mehrheitliche Meinungsänderung im Parlament
genügt, und die Welt sieht ganz anders aus.
Regelmäßig befasst mit der Unterscheidung von Meinungen (Werturteilen) und Tatsachenbehaup-
tungen sind Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bezeichnet etwa die Meinungsäuße-
rungsfreiheit als für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend (BVerfGE 5, 85 (134 f.) =
1 BvB 2/51 vom 17.08.1956
22
; BVerfGE 7, 198 (208) = 1 BvR 400/51 vom 15.01.1958
23
), wohingegen
unwahre Tatsachenbehauptungen keinen Schutz bei der "Abwägung mit anderen Grundrechten oder
einfachgesetzlich geschützten subjektiven Rechten" genießen (Di Fabio 2010: 373).
24
Eine Tatsache ist nicht diskutierbar und nicht falsifiziert, aber technisch falsifizierbar
25
. Eine Meinung
ist nicht falsifizierbar und die Aussage kann stets auch anders formuliert werden, ohne unrichtig zu
sein, denn sie ist ein Werturteil über Tatsachen. Tatsachenbehauptungen, die nicht falsifizierbar sind,
gehören zum Glauben.
Für die Richtigkeitsprüfung von Aussagen kommt es natürlich stets auf den Kontext an. "Die Erde ist
eine Kugel" werden wir im Alltag für richtig halten, weil wir selbst als Freunde wissenschaftlicher
Exaktheit verstehen, was gemeint ist, und das ist keine spezielle Leistung, sondern Grundlage aller
Kommunikation. In einem physikalischen Kontext hingegen wird man die Behauptung einer Erdkugel
als falsch bezeichnen müssen, da eine Vermessung eben die Unrichtigkeit belegt (während die Bestä-
tigung der Kugelform weitere Fragen aufwerfen würde, etwa warum die Fliehkraft der Erdrotation
keine Auswirkungen auf den Körper hätte). Bei der Richtigkeitsprüfung journalistischer Aussagen soll
daher keine Pedanterie betrieben werden. Alle nachfolgend genannten Fälle zu allen Qualitätsaspek-
22
Für unsere Thematik durchaus relevant etwa folgendes Zitat aus dem Urteil: "Für den politisch-sozialen
Bereich bedeutet das, dass es nicht genügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von
'Untertanen' zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den
Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken. Der Staat hat ihm dazu den Weg zu öffnen; das geschieht in
erster Linie dadurch, dass der geistige Kampf, die Auseinandersetzung der Ideen frei ist, dass mit anderen Wor-
ten geistige Freiheit gewährleistet wird. Die Geistesfreiheit ist für das System der freiheitlichen Demokratie
entscheidend wichtig, sie ist geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung; sie bewahrt
es insbesondere vor Erstarrung und zeigt die Fülle der Lösungsmöglichkeiten für die Sachprobleme auf."
https://openjur.de/u/335396.html
23
https://openjur.de/u/183740.html
24
siehe https://www.spiegelkritik.de/2024/07/10/tatsachen-und-meinungen-ein-differenzierungsvorschlag/#d
25
d.h. sie ist der Überprüfung zugänglich; sollte eine Tatsachenbehauptung irgendwann falsifiziert werden,
dann war sie natürlich auch davor schon falsch. Dass sich unsere gesamte Wahrnehmung im Rahmen unserer
Erkenntnismöglichkeiten bewegt, kann man auch ohne Konstruktivismus-Theorie einsehen.
17
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ten eint, dass sie den Orientierungsauftrag des Journalismus unzureichend erfüllen oder ihm sogar
zuwiderlaufen.
Dass mit jeder Tatsachenbeschreibung auch Meinungen verbunden sein können, gehört zu den
Grundkonflikten in der Kommunikationswissenschaft. Für die nachfolgenden Betrachtungen des
Corona-Journalismus ist diesbezüglich jedoch nur wichtig, sich des Unterschieds zwischen Tatsachen
und Meinungen bewusst zu sein. Sofern dies klar ist, müssen wir nicht ständig umständlich berechtig-
te Vorbehalte formulieren. Aber wenn es darauf ankommt, sollten wir eben nicht unsere Meinung als
Tatsache zu tarnen versuchen.
Bsp.: Zoonose. Man kann Zoonose als einen medizinischen Begriff verwenden, um simpel Krankhei-
ten zu bezeichnen, die sowohl Menschen als auch Tiere treffen können bzw. die vom Tier auf den
Menschen übertragen werden können (wie auch umgekehrt).
26
Aber in vielen realen Kommunikati-
onszusammenhängen ist mit "Zoonose" eine Meinung verbunden, die für ein wissenschaftliches
Weltbild steht: nämlich die grundlegende Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren, etwas,
das es für Human- und Veterinärmediziner qua Definition gibt, was aber kaum ein Biologe, insbeson-
dere kein Zoologe und schon gar kein Primatologe teilen wird. Die Verwendung des Begriffs setzt
bereits eine Differenzierung zwischen Mensch und Tier voraus, ohne dass diese genau benannt wür-
de (was für zahlreiche darauf bauende Meinungen aber essentiell ist).
= Tatsachen und Meinungen zu Corona =
Corona ist eine Tatsache, politische Entscheidungen dazu basieren auf Meinungen, die neue Tatsa-
chen schaffen. Das gälte es fortwährend zu trennen, doch genau hier kam der Corona-Journalismus
komplett aufs falsche Gleis. Denn er machte einige Meinungen und Tatsachenvermutungen zu Tatsa-
chen, von denen alles Weitere abhing und bis heute abhängt: Die zentrale Hypothese war, das
Corona-Virus sei deutlich gefährlicher als das Grippe-Virus. Und deshalb, so die zentrale Meinung, die
als Tatsache betrachtet wurde, müsse die Politik in noch nie dagewesenem Umfang in die Freiheit
der Bürger eingreifen und das Leben jedes Einzelnen so lange beherrschen, bis die Pandemie wie
auch immer r beendet erklärt werden kann. So entstand ein Jahrhundertereignis.
27
Beides war am Anfang legitim. Aber beides konnten eben keine Tatsachenaussagen sein. Entspre-
chend hätte der Journalismus beide Dogmen behandeln müssen. Eine besondere Gefährlichkeit
konnten am Anfang noch gar nicht bescheinigt werden, weil die Fallzahlen dafür viel zu gering waren.
Es ließ sich nur spekulieren, wie der weitere Verlauf unter welchen Bedingungen sein könnte. Man
konnte Worst-Case-Szenarien modellieren, aber man konnte damit nicht in die Zukunft schauen.
Was Wissenschaftler der Politik zu tun rieten, waren ausschließlich Meinungen. Die konnte man
überzeugend oder nicht überzeugend finden, aber sie waren nie alternativlos (denn das ist, siehe
oben, Wesensmerkmal von Meinungen), zumal die Grundlagen eben stets Prognosen waren, die
naturgemäß nicht beanspruchen können, wahr zu sein. Tatsachen waren (unter Berücksichtigung der
Datenerhebungen!) Infektionszahlen, Krankenstände, Todesraten, R-Werte etc., alles, was eben fak-
tisch da war.
Bitte vergegenwärtigen Sie sich für die Betrachtung aller folgenden Qualitätsaspekte, dass die gesam-
te Corona-Politik und wie auch immer miteinander in Wechselwirkung stehend ein großer Teil der
26
https://www.zoonosen.net/zoonosenforschung/was-sind-zoonosen
27
Bundeskanzler Scholz: „Wir werden alles tun, was notwendig, ist, es gibt da für die Bundesregierung keine
roten Linien.“ https://www.wz.de/politik/inland/bundeskanzler-olaf-scholz-gibt-keine-roten-linien-im-kampf-
gegen-corona_aid-64638659
18
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
journalistischen Corona-Kommentierung auf einer im Februar, spätestens März 2020 gefassten Mei-
nung basiert. Fast alles, was in den folgenden drei Jahren berichtet wurde, hängt von dieser einen
Meinung ab. Demonstrationsverbote (mit gewaltsamen Auflösungen, mit Schlagstöcken, Pfeffer-
spray, Reiterstaffeln, Wasserwerfern) und die ganze mediale Erregung dazu basieren auf der Mei-
nung, zum Infektionsschutz Unbeteiligter müssten solche Aufzüge und Kundgebungen unbedingt und
mit allen Mitteln verhindert werden. Besuchsverbote, nicht nur im Privaten, auch in Krankenhäusern,
Pflegeheimen, Wohngruppen für Behinderte, teilweise wochenlange Isolation: sie basieren auf einer
Meinung. Reiseverbote, geschlossene Universitäten, neue Sperrstunden: die Grundlage für all das
waren Werturteile. Dass Verstorbene ohne Angehörige beerdigt wurden: eine Tatsache. Dass es so
kam: Resultat einer Meinung. Dass es nicht anders ging: eine falsche Tatsachenbehauptung. Dass
auch nach 24 Monaten Corona Menschen einsam im Krankenhaus starben, weil sie keinen Besuch
bekommen durften: eine Tatsache; die Grundlage für die entsprechenden Verfügungen: Meinungen
(oft von örtlichen Krankenhaus- und Pflegedienstleitungen, also ohne verpflichtende Anordnung, die
wiederum eine Tatsache wäre, aber auf einer gesetzgeberischen bzw. verordnungsgeberischen Mei-
nung basierend). Dass es "richtig" war, ungeimpfte Menschen in ihren Rechten drastisch einzu-
schränken (sie durften unter 2G
28
nicht einmal in einem Imbiss etwas zu Essen abholen): eine Mei-
nung.
Der Inzidenz-Wert von 50 pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen ist eine rechnerische Tatsache
(soweit die Berechnung stimmt). Wenn Politik und Behörden bei entsprechenden Werten handeln,
sind das natürlich so wie die Infektionen selbst Tatsachen, ihre Interpretation aber eben etwas, wo-
rüber man streiten
29
kann (und zwar aus allerlei Gründen). Dass Gesetze Gültigkeit haben und Ver-
stöße gegen sie harte Sanktionen nach sich ziehen können, ist eine Tatsache, der Inhalt der Gesetze
bleibt aber Meinung: Man kann eben wahlweise männliche Homosexualität unter Strafe stellen oder
deren Diskriminierung.
Ein Standardfehler in der Berichterstattung ist daher die Verwechslung der Tatsache Corona mit der
Meinung Corona-Politik. Und so lesen wir dann etwa:
Bsp.: >Viele Prostituierte sind wegen Corona in existentieller Not<
30
Falsch. Die existentielle Not hat nicht "Fräulein Corona"
31
verursacht, sondern das von der Politik
verhängte Prostitutionsverbot. Ob die Nachfrage auch ohne ein Verbot zurückgegangen wäre, ist
reine Spekulation.
Bsp.: Die Wirtschaft leidet auch nicht "unter Corona"
32
, sondern unter dem globalen Shutdown.
Bsp.: Ob Dunja Hayali ihre Filmarbeiten bei der ersten Berliner 'Corona-Demo' tatsächlich abbrechen
musste, wie es viele Medien behaupteten
33
, wissen wir nicht. Tatsache ist allein, dass sie ihn abge-
28
https://de.wikipedia.org/wiki/2G-Regel
29
https://web.archive.org/web/20200508143625/https://www.tagesschau.de/inland/corona-obergrenze-
kritik-101.html
30
https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/prostituierte-ulm-wegen-corona-in-not-sex-bordell-und-
puff-geschlossen-hure-leben-bei-freier-ausstieg-schwer-51835158.html
31
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Fraeulein-Corona-tut-was-sie-will,audio656658.html (nicht mehr
online); Ersatz: https://www.podchaser.com/podcasts/mdr-kultur-peter-zudeicks-woch-
147749/episodes/wehmutiger-abschied-von-fraule-91783977
32
https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/Historischer-Export-Einbruch-So-leidet-die-Wirtschaft-
unter-Corona-id57526586.html
19
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
brochen hat (und, nebenbei bemerkt, natürlich zu keinem Zeitpunkt neutrale, sondern stets teilneh-
mende Beobachterin war, Akteurin, Partei). Hayalis Bodyguard ist Fakt, die Notwendigkeit eine Mei-
nung.
Bsp.: Covid-19-Patienten auf Intensivstationen "müssen" auch nicht beatmet werden, was ein Fak-
tum wäre, sondern sie "werden künstlich beatmet", aufgrund der Meinung behandelnder Ärzte.
34
Falsch ist die Behauptung daher regelmäßig bei der Angabe exakter Zahlen bzw. der Beschreibung
einer konkreten Personengruppe.
Bsp.: "618 Covid-19-Patienten werden intensivmedizinisch behandelt, 319 davon müssen beatmet
werden".
35
Nicht zu beanstanden ist hingegen die Formulierung: "Manche Kleinkinder müssen sogar beatmet
werden."
36
Zwar fehlt hier ebenso der Beleg, aber dass es für "manche" gleich "irgendwelche" Klein-
kinder zutrifft, ist anzunehmen; widerlegbar wäre die Aussage nur, wenn für alle beatmeten Kinder
eine ihrem Interesse entsprechende Alternativbehandlung aufgezeigt werden könnte.
Bsp.: Die weit verbreitete Behauptung eines Faktums, wo es nur um eine Mutmaßung geht, ist be-
sonders auffällig in Beiträgen, die sich gerade der Faktentreue widmen, wie eine ZEIT-Analyse des
Lauterbach'schen "Freestyling": "Denn viele haben den vergangenen Herbst wohl vergessen. Als noch
Delta grassierte, mussten schwer kranke Intensivpatienten mit Flugzeugen quer durchs Land geflogen
werden, weil mancherorts die Intensivstationen voll waren."
37
Für das Müssen gab es keinerlei Beleg,
aber die Medien-PR dazu wird bis heute selbstreflexiv als Beleg herangezogen.
Den Hinweis auf solch völlig falsches "Müssen" findet Schultz (2020) sophistisch und entgegnet in der
"journalistik":
"Als mündiger Leser verstehe ich, wenn ich die kritisierte Formulierung lese, dass die Beat-
mung im Urteil der Mediziner, die das entschieden haben, notwendig war."
Aber versteht der mündige Leser auch, dass es parallel andere Meinungen gab, etwa die des Pallia-
tivmediziners
38
, der zur Sterbebegleitung geraten hat? Entnimmt der mündige Leser diesem kurzen
"Müssen" auch das Geschäftsmodell des Krankenhauses? Liest er die unabhängig von Corona große
Zahl medizinischer Fehlentscheidungen mit, die täglich getroffen werden? Weiß der mündige Leser,
wie viele der künstlich beatmeten Patienten in die Behandlung eingewilligt haben, noch einwilligen
konnten oder dies per Patientenverfügung vorab geregelt haben, und bei wie vielen Ärzte und ggf.
33
https://www.deutschlandfunkkultur.de/demonstration-gegen-corona-massnahmen-zdf-
journalistin.1013.de.html?dram:article_id=481654
34
Aus der unendlich langen Liste: Express: https://www.express.de/bonn/mehr-corona-faelle-kreis-spd-
kritisiert--geheimniskraemerei--um-ausbruchsorte-37394302 ; FAZ: https://www.faz.net/aktuell/rhein-
main/kein-kreis-mehr-ohne-neuinfektionen-binnen-sieben-tagen-16969031.html ; BILD:
https://www.bild.de/regional/hannover/hannover-aktuell/fruehestens-im-oktober-land-wartet-mit-
lockerungen-der-corona-regeln-72706982.bild.html ; Nordwest-Zeitung:
https://www.nwzonline.de/sande/sanderbusch-varel-zwei-corona-patienten-auf-
intensivstation_a_50,10,3859185806.html
35
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/antworten-zu-covid
36
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/synzytial-virus-kinder-muessen-erneut-ausbaden-was-
erwachsene-verbockt-haben
37
https://www.zeit.de/gesundheit/2022-09/karl-lauterbach-stiko-corona-impfung-kommunikation
38
https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche-100.html
20
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Angehörige an ihrer statt entscheiden haben? Das Müssen gehört zur Arztsprache, aber es ist fast
immer falsch. Man muss keine Tabletten nehmen, man muss nicht unters Messer, man muss sich
nicht untersuchen lassen. Es kann Wenn-Dann-Konstellationen geben: "Wenn ich als Arzt Sie behan-
deln soll, dann erfordert dies von Ihnen dies und das und jenes." Oder: "Wenn wir eine Antibiotika-
Behandlung beginnen, dann müssen Sie sich verpflichten, diese auch bis zum Ende durchzuhalten,
weil Sie sonst durch die Möglichkeit einer Resistenzbildung andere Patienten gefährden könnten."
Aber viel Leid wird verursacht, weil Menschen glauben, sie müssten tun, lassen oder ertragen, was
Ärzte verlangen. Es ist daher keine Petitesse, eine Zwangsläufigkeit zu behaupten, wo nur eine Mei-
nung, eine Gepflogenheit oder gar ein Geschäftsmodell existiert (vgl. hierzu 2023 die Diskussion um
Tote durch zu frühe Intubation/ invasive Beatmung
39
).
(Update: Eine ebenso falsche und wirkmächtige Fehl-Kausalität erleben wir seit dem 24. Februar
2022: Alle wirtschaftlichen Veränderungen gibt es nun "wegen [des russischen] Ukraine-Kriegs"
40
.
Das ist allerdings eine desorientierende Simplifizierung. Auch wenn es etwas Mühsal bereiten und
ggf. sogar Recherche erfordern sollte: Grund für vieles ist nicht der russische Krieg, sondern die Reak-
tion darauf. "Wegen der Sanktionen", "wegen der Weigerung, in Rubel statt Euro zu zahlen" etc.
Wem auch das sophistisch erscheint, der kann gleich alles von der eigenen schlechten Laune bis
zum globalen Artensterben begründen mit: "wegen dem Urknall".)
Über einen Beitrag "Kommentar" zu schreiben macht die Unterscheidung von Ansichten und Fakten
noch nicht obsolet. Sicherlich wird "der mündige Leser" dort an vielen Stellen ein nicht geschriebenes
oder nicht gesprochenes "Ich bin der Ansicht" selbst gedanklich korrekt ergänzen.
Bsp.: Dass Prof. Christian Drosten versuche, "nach bestem Wissen und Gewissen über das neuartige
und noch immer weitgehend unbekannte Virus, dessen Eigenheiten und die davon ausgehenden
Gefahren für die Menschheit zu informieren"
41
, kann der Autor dieser Aussage natürlich gar nicht
wissen, aber es darf sein Eindruck sein, und genau so werden es wohl die allermeisten lesen (auch
dies ist eine Meinung, hoffentlich hinreichend durch "wohl" gekennzeichnet). Aber was ist mit einer
Agenturmeldung zur ersten Berliner Großdemo, in der es (vielfach kolportiert) heißt:
Bsp.: >Trotz steigender Infektionszahlen hatten Tausende Menschen gegen die staatlichen Maßnah-
men zur Eindämmung der Corona-Pandemie protestiert.<
42
43
Ist dieses "trotz" als Meinung erkennbar, und wenn ja: wer äußert sie? Die Deutsche Presseagentur
als Unternehmen? Dies zu fragen ist ebenso wenig sophistisch wie das Verb "müssen" beim Beatmen
zu kritisieren. Denn es wird ein Konflikt oder Widerspruch ohne jeden Beleg behauptet. Ist es
zwangsläufig, also eine Tatsache, dass bei "steigenden Infektionszahlen" Proteste gegen die Politik
unterbleiben müssten, dass sie unsinnig sind, sich selbst ad absurdum führen? Vermutlich (Meinung!)
steht hinter diesem simplen "trotz" ein Weltbild, eine Haltung, eine Meinung, jedenfalls vermittelt es
so etwas. Welche nachrichtliche Aussage bekämen wir, wenn das "trotz" durch ein "wegen" ersetzt
würde? Das entspräche ggf. einigem, was auf der Veranstaltung selbst proklamiert wurde: 'Weil auch
39
https://www.telepolis.de/features/Covid-Schwere-Vorwuerfe-wegen-massenhafter-kuenstlicher-Beatmung-
9048800.html
40
https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-03/ukraine-krieg-energiepreise-aengste-konsum-kautlaune-leidet-gfk
41
https://www.merkur.de/welt/coronavirus-christian-drosten-deutschland-virologe-covid-19-china-experte-
labor-podcast-studie-zr-13761655.html
42
https://www.krankenkassen.de/dpa/341403.html
43
https://www.welt.de/vermischtes/article212680885/Berlin-Protest-gegen-Corona-Massnahmen-Politiker-
kritisieren-Verhalten-der-Teilnehmer-scharf.html
21
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
schärfste Eingriffe in die Grundrechte die Ausbreitung des Corona-Virus nicht komplett gestoppt
haben, halten wir sie für unverhältnismäßig'. Dieses simple "trotz" kommuniziert einen "Trotz", eine
Tatsachen gegenüber ignorante Haltung, ohne Beweise oder wenigstens Belege dafür zu nennen. Mit
diesem simplen "trotz" scheitert die dpa als größte Nachrichtenagentur des Landes an der Heraus-
forderung, einen Sachverhalt korrekt darzustellen. (Und da sprechen wir noch nicht über die Frage,
was "der mündige Leser" unter "steigenden Fallzahlen"
44
am 1. August 2020 verstanden haben mag,
so ohne jede Einordnung.)
= Aus Meinungsquellen sprudeln keine Tatsachen =
Sich des grundlegenden Unterschieds von Meinungen und Tatsachen bewusst zu sein, könnte schon
bei der Quellenauswahl helfen. Warum fokussierten Journalisten gerade zu Beginn der Pandemie so
auf Merkel und Spahn, warum war Lauterbach Dauergast in den Talkshows? Sie geben politische
Meinungen zum Besten. Die Tatsachen, die sie dabei einstreuen und je nach Belieben für ihre Argu-
mentationen nutzen
45
, stammen regelmäßig nicht von ihnen, sind nicht Ergebnis ihrer eigenen For-
schung. Es ist geradezu Rechercheverweigerung, sich von Politikern ein Naturereignis erklären zu
lassen, zumal man bei ihnen nie weiß, ob das Geäußerte wenigstens wirklich ihre Meinung ist oder
nur eine opportune Meinungsbehauptung. Im März hatte Bundeskanzlerin Merkel, die für ihre Wis-
senschaftlichkeit von Journalisten gefeierte "Physikerin der Macht"
46
, noch prognostiziert, 60 bis 70
Prozent der Bevölkerung werden sich mit dem Corona-Virus infizieren und schloss sich dem globalen
Mantra "Flatten the Curve" an.
47
Dass wir dann eine ganz andere Politik zu spüren bekamen, ist un-
strittig. Im Dunkeln bleiben wird, wann welche Meinungsbekundungen so sehr vom Gedachten abwi-
chen, dass man von Lügen sprechen würde.
Bsp.: Nur selten lässt sich das so schön dokumentieren wie mit jenem denkwürdigen Tweet des Bun-
desministeriums für Gesundheit vom 14. März 2020: "Achtung Fake News" stand da zwischen zwei
dicken roten Ausrufezeichen, gefolgt von:
"Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundes-
regierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen.
Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen."
48
Viele Medien, allen voran der ARD-Faktenfinder
49
, nahmen die politische PR als Tatsache und verbrei-
teten sie so. Zwei Tage später wurden die "Fake News" Wirklichkeit, die Politik verhängte den Shut-
44
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1100739/umfrage/entwicklung-der-taeglichen-fallzahl-des-
coronavirus-in-deutschland/
45
http://www.tagesschau.de/mehr/faktenfinder/lauterbach-twitter-101.html
46
Georg Schwarte,
https://web.archive.org/web/20200319112557/https://www.tagesschau.de/kommentar/kommentar-merkel-
corona-rede-101.html
47
https://www.volksstimme.de/deutschland-welt/deutschland/corona-krise-merkel-60-bis-70-prozent-
infizierte
48
https://twitter.com/BMG_Bund/status/1238780849652465664?s=20
49
https://web.archive.org/web/20200314180325/https://www.tagesschau.de/faktenfinder/panikmache-
coronavirus-101.html
22
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
down.
50
Die oft vernachlässigte Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen (über Tatsachen) wird beim
Qualitätskriterium "Vollständigkeit" noch eine wichtige Rolle spielen.
Weil Meinungen weder richtig noch falsch sein können, ist es methodischer Nonsens, ihnen mit Fak-
tenchecks zu begegnen, wie das in der Pandemie üblich geworden ist. Auf Fakten prüfen kann man
nur die Tatsachenbehauptungen, die Meinungen zugrunde liegen. Und man kann Prognosen (also
Tatsachenannahmen) auf ihre Plausibilität hin prüfen, nicht aber auf ihre Richtigkeit.
Bsp.: Erstaunlich früh tauchte in den Medien das Stichwort "Impfpflicht" auf, lange bevor überhaupt
ein Impfstoff auf dem Markt war. Immer wieder wurde eine anstehende Impfpflicht per Faktencheck
zu wiederlegen versucht,
51
was eine Irreführung des Publikums war. Der weitere Verlauf hat ja dann
gezeigt, wie untauglich all solche "Faktenchecks" waren, da sich Meinungen jederzeit ändern können
und Politiker niemals sagen müssen, was sie wirklich denken, geschweige denn, was sie irgendwann
in der Zukunft als Meinung vertreten werden.
Bsp.: Auch eine nachträgliche Distanzierung mit dem 16 Monate später
52
erfolgten Einschub:
>Dieser Beitrag gibt den Faktenstand vom 06.05.2020 wieder.<
53
ändert nichts an der Unrichtigkeit.
= Sehen, was man sehen will =
Wer war am 1. August 2020 bei der Demonstration "Das Ende der Pandemie Der Tag der Freiheit”
auf der Straße? Laut Medien: "Corona-Leugner".
Bsp.: Von Tagesschau
54
bis FAZ
55
ergaben alle investigativen Recherchen diese Tatsachenbehaup-
tung. Manche Medien wie der Spiegel packten die "Corona-Leugner" nur in die URL
56
. Und hellsehe-
risch begabte Journalisten wussten sogar schon vor dem Ereignis, wer demonstriert, in den lyrischen
Worten des RBB-Reporters: "Wanderzirkus der Corona-Leugner kommt in die Stadt"
57
.
50
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/vereinbarung-zwischen-der-bundesregierung-und-den-
regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-bundeslaender-angesichts-der-corona-epidemie-in-deutschland-
1730934
51
Faktencheck Impfpflicht
https://web.archive.org/web/20210909230713/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus
-kein-impfzwang-spahn-faktencheck-100.html
52
Bis 04.09.2021 gab es diesen Hinweis nicht
https://web.archive.org/web/20210904183833/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-kein-
impfzwang-spahn-faktencheck-100.html
53
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-kein-impfzwang-spahn-faktencheck-100.html
54
https://web.archive.org/web/20200806041415/https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/corona-
leugner-101.html
55
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/corona-leugner-demonstrieren-in-berlin-tag-der-
wutbuerger-16887060.html
56
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-leugner-demonstrieren-in-berlin-zehntausend-
menschen-gegen-auflagen-auf-der-strasse-a-0454fc84-6c4c-4204-903e-cb21f33cff89
57
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/07/berlin-demos-querdenker-
verschwoerungsmythen-corona.html
23
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Am Framing aller Kritiker der Corona-Politik als "Corona-Leugner" und damit der Etikettierung als
Realitätsverweigerer und Lügner haben viele, wenn nicht die meisten Journalisten von Anfang an
einen Narren gefressen. Das Problem daran ist nur: die Etikettierung ist schlicht falsch. Sie mag auf
einige zutreffen, aber keineswegs auf das Gros, jedenfalls ausweislich ihrer Forderungen, ihrer Plaka-
te, ihres Demo-Aufrufs, der Gespräche mit einzelnen von ihnen. Ein Leugner streitet Tatsachen ab,
mit ihm kann man nicht diskutieren. Ein Kritiker hingegen beurteilt Tatsachen (und seine Wahrneh-
mungen dieser). Doch die Erzählung von den Corona-Leugnern beherrscht die gesamte Berichterstat-
tung, Proteste mit diskutierbaren Positionen gibt es praktisch nicht. Wer wollte korrekte Infos über
Details erwarten, wenn der Journalismus bereits scheitert an der einfachen Beschreibung, was zu
sehen ist? (Einen entsprechenden Bericht auf Telepolis von der zweiten Großdemo vier Wochen
später
58
, bei dem sich die Berichterstattung nicht verbessert hatte, kann ich aus eigener Beobachtung
im Wesentlichen bestätigen.)
Mit einem falschen Begriff wird der komplette Diskurs vergiftet, ja unmöglich gemacht. Dabei wäre
es so einfach, sachlich zu bleiben, wenn Journalisten ihre Behauptungen belegen würden. Da könn-
ten sich die Medien ein Beispiel nehmen an der gerade derzeit so hochgelobten Wissenschaft, deren
ganze Glaubwürdigkeit davon abhängt, dass ihre Behauptungen von jedem (mit den notwendigen
Fähigkeiten) überprüft werden können.
Bsp.: Einen Tag nach der ersten Berliner Großdemonstration titelte der Spiegel "Mehrere Polizisten
bei Auflösung von Berliner Kundgebung verletzt“
59
und behauptete:
"Bei der Auflösung der Kundgebung von Gegnern staatlicher Corona-Auflagen in Berlin sind
am Samstag mehrere Polizeibeamte verletzt worden. Drei Polizisten mussten im Krankenhaus
behandelt werden."
Als Quelle diente folgender Tweet der Polizei selbst:
“Ca. 1100 Kolleg. waren an diesem herausfordernden #b0108 im Einsatz. Stand jetzt wurden
18 von ihnen verletzt, 3 werden im Krankenhaus behandelt.”
60
Aus dem Hashtag "#b0108", den die Polizei für alle Veranstaltungen an diesem Tag in Berlin nutzte,
machte der Spiegel (bzw. dpa, deren ebenso falsche Meldung
61
die Grundlage bildete) einen einzel-
nen Zeitabschnitt einer einzelnen Veranstaltung ohne jede Grundlage. Das war nicht nur gewagt
spekulativ, sondern schlicht falsch.
62
Doch zu einer eigenen Meldung aufgebauscht, lieferte diese
Falschinformation den Demo-Kritikern nun einen Beleg, dass die "Covidioten" auch noch gewalttätig
waren.
63
58
https://www.heise.de/tp/features/Corona-Proteste-Polizei-verhindert-Umzug-muss-Kundgebung-aber-
zulassen-4881936.html
59
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/protest-gegen-corona-auflagen-18-polizisten-bei-aufloesung-
von-berliner-kundgebung-verletzt-a-9d675086-f337-4af2-b20d-a170a8d741d5
60
https://twitter.com/PolizeiBerlin_E/status/1289687255544500224
61
https://www.krankenkassen.de/dpa/341403.html
62
https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.968142.php
63
Auch wenn es hier nicht um sog. "Alternativmedien" gehen soll sei erwähnt, dass "RT Deutsch" nicht nur
ebenso falsch berichtet hat, sondern sogar den Polizei-Tweet von den Krawallen bei einem "Aufzug in Neu-
kölln" (vor der linken Szenekneipe "Syndikat") eingebunden hat. Spätestens dabei sollte jedem auffallen, dass
sich die Mitteilung zu verletzten Polizisten wohl zumindest auch auf diesen Einsatz bezog.
https://web.archive.org/web/20210126181954/https://de.rt.com/inland/105073-18-polizisten-bei-aufloesung-
von-berliner-kundgebung-gegen-corona-auflagen-verletzt/
24
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Die Allgegenwart des journalistischen "Sehen, was man sehen will" sei an Merkels bekannter
Rede vom 18. März 2020 aufgezeigt. Die Kanzlerin sprach:
"Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung
an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln an-
kommt."
64
Daraus wurde allerhand, was sie nicht gesagt hat: "Corona-Krise größte Herausforderung seit dem
Zweiten Weltkrieg" (Neue Westfälische
65
). "Deutschland steht nach den Worten von Kanzlerin Angela
Merkel in der Coronakrise vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Es habe
seither nichts gegeben, 'bei dem es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt',
sagte Merkel in einer TV-Ansprache." (Spiegel
66
). Es passt einfach zu gut zum Daueralarm der Medien
(eindrücklich visualisiert von Christian Laesser für die ZEIT
67
): die größte Herausforderung seit dem
zweiten Weltkrieg rechtfertigt die mediale Monothematik. Dass die Darstellung, was Angela Merkel
gesagt habe, schlicht falsch ist, spielte im Applaus der Medien von FAZ bis taz keine Rolle.
68
= Kleine Fehler, große Verständnislücken =
Viele Unrichtigkeiten bleiben unterhalb des Radars. Durch die allgegenwärtigen Kommentar- und
Response-Funktionen wird zwar alles Mögliche bekrittelt, zu einer wahrnehmbaren Medienkritik
gereicht es hingegen nicht. Sicherlich oft zurecht: Hier ein Rechtschreibfehler (auch in diesem Paper
sicherlich noch reichlich zu finden), dort ein missverständlicher Begriff. Durch viele der kleinen Fehler
(im Blog "Spiegelkritik" daher, wenn auch oft augenzwinkernd, "Korinthen" genannt
69
) entsteht keine
Fehlorientierung, der Journalismus büßt also nicht seine Funktion ein. Bei manch kleinen Fehlern
aber eben doch. Vor allem ist bei einigen der vermeintlich kleinen Unrichtigkeiten zu fragen, ob
ihnen nicht ein tiefgreifendes Unverständnis der Dinge zugrunde liegt, über die gerade berichtet
wird. Dann nämlich geht es nicht mehr um den kleinen Fehler. Wer nicht vollständig verstanden hat,
worüber er berichtet, wird womöglich wichtige Fragen nicht gestellt (also recherchiert) haben, kann
Tatsachenbehauptungen nicht auf ihre Tatsächlichkeit hin geprüft haben, vermag vielleicht Tatsa-
chen und Meinungen nicht auseinanderzuhalten, hat eventuell den Gegenstand seines journalisti-
schen Stücks selbst gar nicht begriffen?
70
64
https://web.archive.org/web/20200319170459/https://www.bundesregierung.de/breg-
de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-1732108
65
https://www.nw.de/nachrichten/politik/22728344_Merkel-Corona-Krise-groesste-Herausforderung-seit-
dem-Zweiten-Weltkrieg.html (nicht mehr online)
66
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-sieht-corona-krise-als-groesste-
herausforderung-seit-dem-zweiten-weltkrieg-a-bd56dc3f-2436-4a03-b2cf-5e44e06ffb49
67
https://lab.laesser.net/coronazeit/
68
https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/merkel-rede-in-der-presse-das-wort-ausgangssperre-zu-
vermeiden-ist-falsch-69482082.bild.html
69
https://www.spiegelkritik.de/?s=Korinthe
70
Zwei Beispiele außerhalb des Corona-Kontextes seien dazu erlaubt: a) "Getreidebestäubung durch Bienen"
https://www.spiegelkritik.de/2023/03/20/zdf-weizenbiene/ b) Faktor 1000 bei Bericht über Geldverschwen-
dung übersehen https://www.spiegelkritik.de/2014/10/14/investigative-ahnungslosigkeit/
25
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: "BVG-Kontrolleure verhängten 470 Bußgelder wegen Masken-Verstößen" schrieb die BZ am 24.
September 2020
71
und wandte sich auch im weiteren Text nicht von diesem offenkundigen Unsinn
ab. Die BVG ("Berliner Verkehrsbetriebe") ist in Berlin für den ÖPNV ohne S-Bahn zuständig, also für
Busse, Straßenbahn, U-Bahn, ein paar Fähren. Auch wenn es sich bei der BVG um eine Anstalt des
öffentlichen Rechts handelt (wie bei den Landesrundfunkanstalten), so ist sie nicht in der Lage, "Buß-
gelder" zu verhängen, die eine Angelegenheit des Ordnungsrechts sind. Grundlage für das, was die
BVG kassiert hat, ist daher auch nicht das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, sondern eine von der
BVG selbst gesetzte Regelung, wie dies jede Firma machen kann, daher hier korrekt "Vertragsstrafe"
zu nennen. Für die reine Info, dass Menschen ohne Mund-Nasen-Bedeckung Geld zahlen mussten,
mag diese Differenzierung egal sein. Aber die Fakten zu kennen bedeutet eben auch zu verstehen,
wer hier welche "Bußgelder" anordnet und wer sie verwenden darf. Die "BVG-Bußgelder" landen
eben nicht bei der Kommune bzw. dem Bundesland Berlin, sondern bei dem Unternehmen BVG.
Bsp.: "2.000 Menschen haben sich zu einer unerlaubten Kundgebung getroffen" und "die Ansamm-
lung an der Siegessäule war keine genehmigte Kundgebung", behauptete die ZEIT am 30. August
2020. Dass sie diese falsche Darstellung der Rechtslage von der Polizei übernommen hat, macht den
Fehler nicht kleiner: Demonstrationen müssen in Deutschland niemals genehmigt werden. Demonst-
rationen müssen nur angemeldet werden, Spontanversammlungen nicht mal das, und für Eilver-
sammlungen gilt die gesetzliche 48-Stunden-Frist nicht (Art. 8, 125a GG; §§ 14, 15 Versammlungsge-
setz; BVerfGE 69, 315), und das gilt auch für Berlin
72
. Ist es zu viel verlangt, dass ein Journalist, der
über einen Fall des Versammlungsrechts berichtet, dieses wenigstens in den binnen zwei Minuten
per Internet erschließbaren Grundzügen kennt, um keine Falschmeldungen zu verbreiten?
73
Zahlreiche Fehler finden sich bei Darstellung und Interpretation statistischer Daten.
Bsp.: Eine Impfstoff-Effizienz von 90 Prozent bedeutet nicht, >dass 9 von 10 Menschen durch die
Impfung vor Covid-19 geschützt werden können<
74
, sondern dass die Zahl Erkrankter in der Impf-
gruppe 90 % kleiner war als in der Placebo-Gruppe.
75
Der Vergleich von Inzidenzwerten ohne Berück-
sichtigung der positiven Testrate ist stets irreführend; um eine Veränderung beim Corona-
Infektionsgeschehen einschätzen zu können, braucht es stets das Verhältnis von Tests insgesamt zu
positiven Testergebnissen.
76
Diese Angabe fehlte jedoch regelmäßig, auch bei der daraus ermittelten
7-Tage-Inzidenz.
71
https://www.bz-berlin.de/berlin/bvg-kontrolleure-verhaengten-470-bussgelder-wegen-masken-verstoessen
72
https://www.berlin.de/polizei/service/versammlung-anmelden/
73
Auf eine allgegenwärtige falsche Gleichsetzung sei in dem Zusammenhang verwiesen: Festnahme und Ver-
haftung sind grundverschiedene Angelegenheiten, erläutert z.B. hier: https://www.focus.de/politik/justiz-
abc/justiz-abc-verhaftung_id_10377170.html
74
https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/corona-impfstoff-was-der-biontech-erfolg-bedeutet-
li.117783
75
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/archiv/2020/detail/der-
impfstoff-ist-zu-90-prozent-wirksam
76
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/archiv/2020/detail/anti-corona-
massnahmen-nicht-nur-auf-neuinfektionen-schauen; anderer Ansicht:
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-testzahlen-inzidenz-101.html
26
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Unbelegte Behauptungen =
Viele Fehler ließen sich vermeiden, wenn Journalisten für wirklich jede Tatsachenbehauptung einen
Beweis suchen würden. Der sarkastische Aphorismus dazu lautet: Recherche macht die schönsten
Geschichten kaputt. Ein Stichwortgeber ist dabei allerdings kein Beweis, allenfalls ein Indiz.
Bsp.: In zahlreichen Radiogesprächen haben Ärzte gewarnt, Rauchen erhöhe das Risiko einer schwe-
ren Covid-19-Erkrankung, aufzuhören sei daher gerade jetzt richtig und wichtig. Was soll ein Arzt
auch sonst sagen, zumal wenn er Lobbyist und es Weltnichtrauchertag
77
ist? Allein: Zum Zeitpunkt
vieler dieser Tatsachenbehauptungen wusste man noch gar nichts, es gab schlicht keine Daten, spä-
ter sogar welche, die die gegenteilige Annahme stützten. Es waren stets nur Meinungen (genauer:
Glaubenssätze), die von Experten geäußert fälschlich als Tatsachen behandelt wurden. Aktuell spricht
das RKI von "schwacher Evidenz".
78
Bsp.: In der Sendung "Forschung aktuell" des Deutschlandfunks riet ein Wissenschaftsjournalist noch
Ende März, beim Einkaufen Handschuhe zu tragen.
79
Hier hätte die fehlende Evidenz schon auffallen
können, wenn er noch dazu gesagt hätte, wie genau das schützen soll.
Falsch ist eine Behauptung natürlich auch dann, wenn sich dies erst zu einem späteren Zeitpunkt
herausstellt sie war dann auch nicht 'bis dahin' richtig.
Bsp.: Der Präsident der Universität Hamburg, Prof. Dieter Lenzen, rechtfertigte in einem Beitrag die
widersprüchlichen Aussagen zur Schutzwirkung von Gesichtsmasken mit der Sentenz: "Wissenschaft-
liche Erkenntnisse sind immer vorläufig."
80
Eine Erkenntnis, die nur "vorläufig" war, weil sie sich als
falsch herausgestellt hat, war schlicht nie eine Erkenntnis, sondern eine Fehlinterpretation der Wirk-
lichkeit. Die vielen Revisionen in der fachlichen Beurteilung von Corona liegen nicht am großen For-
schungsfortschritt, sondern an falschen Tatsachenbehauptungen und als Tatsachen ausgegebenen
Meinungen bzw. Glaubenssätzen. Falsch sein dürfen in der Wissenschaft Hypothesen, Annahmen,
und dazu gehören immer auch Interpretationen bisher zutage geförderter Tatsachen.
Bsp.: Das Gesundheitssystem sei "kaputt gespart" worden, wurde
81
und wird
82
immer wieder be-
hauptet. Tatsächlich sind die Ausgaben jedoch kontinuierlich gestiegen - wie auch einige Medien
zutreffend während Corona berichtet haben.
83
77
https://web.archive.org/web/20200922020202/https://www.aerztekammer-bw.de/news/2020/2020-
05/pm-rauchen/index.html
78
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText15
79
https://web.archive.org/web/20201001213833/https://www.deutschlandfunk.de/forschung-
aktuell.675.de.html?cal:month=3&drbm:date=2020-03-31
80
https://www.tagesspiegel.de/wissen/widersprueche-die-wir-aushalten-muessen-was-wissenschaft-politik-
und-oeffentlichkeit-aus-der-coronakrise-lernen-koennen/25894334.html
81
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-
Umwelt/Gesundheit/_Grafik/_Interaktiv/gesundheitsausgaben-nominal.html
82
https://www.telepolis.de/features/Post-Corona-Gesellschaft-Wo-soll-die-Resilienz-herkommen-
9671086.html
83
https://www.spiegel.de/wirtschaft/gesundheit-umwelt-bildung-das-schauermaerchen-vom-kaputtsparen-
kolumne-a-34913cd8-6a2e-4c3f-9510-fbcf6c0df832; Deutsches Gesundheitssystem nicht kaputt gespart (aerz-
tezeitung.de)
27
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Auch falsche Prognosen sind falsch =
Das gilt selbstverständlich auch für Prognosen. Dass sie zum Zeitpunkt ihrer Äußerung noch nicht
verifiziert werden können, schützt sie nicht vor späterer Prüfung.
Bsp.:
"Zwischen Juli und August [2020] werden wir Bilder sehen, die wir sonst nur aus Kinofilmen
kennen. Da wird es [in Afrika] Szenen geben, die wir uns heute noch nicht vorstellen können."
Mit dieser Prognose lag Christian Drosten im März 2020 kolossal daneben, wie wir seit August 2020
wissen. Der Journalismus, der über diese im Podcast "Fest & Flauschig" aufgestellte Prognose berich-
tet, hätte nachfragen müssen, auf welche Fakten Drosten seine Annahme stützt. Nur so wären die
zugrundeliegenden Fehlinterpretationen des Corona-Geschehens sichtbar und medial korrigierbar
geworden. Prognosen sind, wie oben schon gesagt, Tatsachenvermutungen. Wer sie als Tatsachen
ausgibt, liegt immer falsch, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Äußerung nicht belegbar sind. Die sechs Rich-
tigen im Lotto sind nie eine wahre Tatsachenvorhersage, sondern ein später sich zufällig als richtig
erweisendes Raten. Selbst die simple Aussage "Morgen früh wird wieder die Sonne aufgehen" ist
zum Zeitpunkt der Äußerung nur eine Tatsachenbehauptung, eine Vermutung. Juristen sprechen in
diesem Zusammenhang gerne von "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" es bleibt aber
eine "Wahrscheinlichkeit" und damit eine naturgemäß unsichere Prognose.
Prognosen zur konkreten Entwicklung des Corona-Geschehens, gemessen an Infektionszahlen, Er-
krankungen und ITS-Auslastungen, waren immer wieder falsch.
= Fehler werden nicht korrigiert =
Bsp,: Auf den fatalen Fehler in der Spiegel-Meldung über verletzte Polizisten (s.o.) hatten zahlreiche
Twitter-Nutzer hingewiesen, vom Social-Media-Team erfolgte jedoch keine Reaktion. Auf eine Pres-
seanfrage teilte der Spiegel nach drei Tagen Bearbeitungszeit mit:
"Wir möchten Ihnen versichern, dass die SPIEGEL-Redaktion auch in diesem Fall sorgfältig re-
cherchiert hat. An unserer Berichterstattung halten wir fest; sie fußt auf mehreren, offiziellen
Quellen."
Erst eine Eingabe bei der neu eingerichteten Ombudsstelle führte schließlich zu einer Korrektur. In
einem Hinweis am Ende des geänderten Artikels wird allerdings keine Verantwortung für die eigene
Fehlleistung übernommen, eine aktive Korrektur auf Social Media gab es nicht (ausführlich dokumen-
tiert auf Spiegelkritik
84
).
Der Umgang des Journalismus mit seiner Fehlerproduktion ist eine lange, traurige Geschichte.
85
Bsp.: Jakob Buhre hat sein wochenlanges Bemühen dokumentiert, in einzelnen Medien die Falschbe-
hauptung korrigieren zu lassen, die Anmelder der Berliner Demonstration vom 29. August 2020 hät-
ten sich nicht von gewalttätigen beziehungsweise rechtsextremem Demonstranten distanziert.
86
Das
84
https://www.spiegelkritik.de/2020/08/05/corona-journalismus-zerrspiegel-einer-demo/
85
https://www.spiegelkritik.de/tag/richtigkeit/
86
https://bildblog.de/124618/ueber-den-versuch-falsche-behauptungen-ueber-querdenken-korrigieren-zu-
lassen
28
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
falsche Narrativ ging schon bei der ersten Berliner Großdemonstration durch die Medien, obwohl
bereits im Aufruf
87
die Ablehnung jeglicher Gewalt stand.
Bsp.: An der Erzählung vom "Sturm auf den Reichstag" am 29. August 2020 (dazu mehr in Kap. 4 und
7) war sehr vieles falsch. Besonders relevant für das öffentliche Meinungsbild ist die wahrheitswidri-
ge Verknüpfung der Kundgebung auf der Wiese vor dem Bundestag, von der aus dann am Abend
etwa 400 Menschen auf die Außentreppen des Gebäudes liefen, mit der Großdemonstration von
Querdenken 711 und anderen Gruppen.
>Missachtung der Hygieneregeln, Gewalt gegen Polizisten und ein versuchter Sturm auf den
Reichstag. Die Berliner Corona-Demo hat die Sorgen der vergangenen Wochen eindrucksvoll
bestätigt. Unter den 38.000 Demonstranten waren erneut zahlreiche Rechtsextreme und
Reichsbürger.<
88
Es waren getrennte Veranstaltungen, mit verschiedenen Anmeldern und verschiedenen Themen.
Auch wenn einzelne Teilnehmer von der Großdemonstration laut Videoaufnahmen von Aktivisten
der angemeldeten Kundgebung vorm Bundestag aktiv zur Teilnahme angeworben wurden, hatte der
Protest gegen die Corona-Politik nichts mit dem angeblichen "Sturm auf den Reichstag" zu tun. Dies
ist recht leicht zu recherchieren, selbst der Verfassungsschutz weist darauf hin.
89
In meiner umfang-
reichen Sammlung ist allerdings keine einzige Korrektur dazu.
= Fehler werden nicht eingestanden =
Eine transparente Korrektur setzt freilich voraus, Korrigierenswertes im eigenen Beitrag zu sehen.
Bsp.: Das ZDF hat mit seiner Sendung "Magazin Royale" vom 6. Mai 2022 einen Skandal um den Mu-
siker, Youtuber und "DIY"-Künstler Fynn Kliemann inszeniert.
90
Davon blieb am Ende nicht viel übrig
strafrechtlich gar nichts. Seine eigene Rolle fasst der Sender dabei so zusammen:
>Im Kern des Beitrags wurde die Frage aufgeworfen, ob bei Geschäften der Textilfirma mit ei-
nem Großhändler im Jahr 2020 ganz bewusst das Produktionsland verschwiegen wurde Die
Masken zum Schutz gegen Corona kamen aus Asien statt aus Europa.<
Da ist natürlich keine Korrektur notwendig, wenn man nur eine Frage aufgeworfen hat. Was aller-
dings eine falsche Tatsachenbehauptung ist.
91
Denn die gesamte Sendung bestand aus konkreten
Vorwürfen, hergeleitet aus internen Geschäftsunterlagen, und die zugehörige Website unter dem
wenig nachrichtlichen und keine Fragen aufwerfenden Akronym für "Leck mich am Arsch, Fynn Klie-
mann"
92
titelt bis heute:
87
https://web.archive.org/web/20210425154739/https://moien.lu/wp-content/uploads/2020/08/Programm-
querdenken-711.pdf
88
https://www.rnd.de/politik/sorgen-wurden-wahr-corona-demo-mit-sturm-auf-den-reichstag-
QF6VWMMHHJA7ZPXRNG4KORCKWA.html ähnlich in unzähligen Veröffentlichungen.
89
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-
gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Seite 116)
90
Zur Verzerrung in der Darstellung siehe u.a. https://www.spiegelkritik.de/2022/06/28/wozu-recherche-
wenn-man-von-verschwoerung-schwurbeln-kann/
91
ausführlicher: https://www.spiegelkritik.de/2023/03/04/eine-behauptung-ist-keine-frage/
92
https://lmaafk.de/ [letzter Abruf 31.03.2023]
29
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Fynn Kliemanns Maskenbetrug<
Juristisch klären ließe sich dies nur, wenn Kliemann zivilrechtlich gegen die anhaltende Darstellung
vorgegangen wäre. Doch wie öffentlich vermutet: Nachdem er eingesehen hat, zu Beginn des Ganzen
die 'Spielregeln' des Journalismus nicht gut verstanden zu haben
93
, hat er davon Abstand genom-
men.
94
Richtig werden damit falsche Tatsachenbehauptungen allerdings nicht. Es gilt: Wo kein Kläger,
da kein Richter. Und die medienjournalistische Karawane ist längst weitergezogen.
Auf transparente Korrekturen verzichtet das ZDF auch außerhalb der Corona-Berichterstattung (Rieg
2022).
95
= Fehler werden nicht verstanden =
Bei mancher verweigerten oder unzutreffenden Korrektur fragt man sich, ob es am Willen oder am
Können liegt. Aus über drei Jahrzehnten Medienjournalismus kann ich berichten: Nicht selten er-
reicht mich auf eine Rückfrage eine Antwort der Art: "Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen."
Bsp.: Ein kleines, einfaches Beispiel aus dem Medienjournalismus. Für den MDR führte Steffen Grim-
berg ein Interview
96
mit der taz-Chefredakteurin Barbara Junge. (Grimberg leitete das taz-
Medienressort von 2000 bis 2012.
97
) Zitate daraus erschienen in einem Textbeitrag. Darin hieß es:
>"Ich sage nicht, dass es in jedem Fall richtig war. Natürlich haben wir Fehler gemacht." Dabei
müsse aber unterschieden werden, ob diese Fehler aus Unkenntnis entstanden sind, oder be-
wusst Fehler in Kauf genommen wurden. "Wir haben bewusst einfach nur der Bundesregie-
rung zugehört und zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um selbst recherchie-
ren und einordnen zu können."<
98
Die Aussage, die taz habe bewusst nur auf die Bundesregierung gehört, klingt befremdlich und hätte
mindestens zu einer Nachfrage im Interview und einer Einordnung in der Textdarstellung führen
müssen. Tatsächlich entpuppt sich die Passage als Zitatfehler. Denn Barbara Junge sagte laut dem
verfügbaren Video-Interview:
>Natürlich haben wir Fehler gemacht. Ich würde aber unterscheiden zwischen 'wir haben Feh-
ler gemacht' oder 'wir haben bewusst Fehler gemacht', 'wir haben bewusst einfach nur der
Bundesregierung zugehört'. Wir haben zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um
selbst recherchieren zu können, um selbst einordnen zu können das würde ich sagen: ja."<
Die Chefredakteurin sagt also genau das Gegenteil, nämlich dass die taz nicht bewusste Fehler ge-
macht habe, wie dies der Fall wäre, wenn man absichtlich nur Regierungspositionen kolportiert hätte
(was sie im Interview weiter ausführt). Auf diesen Fehler angesprochen, korrigiert der MDR nach
einigen Tagen und freundlichem Dank an das "Argusauge" (die Veränderung ist hier bold gesetzt):
93
https://uebermedien.de/71077/wer-fynn-kliemann-als-fan-hat-braucht-keine-feinde/
94
https://www.youtube.com/watch?v=m9glEB9BnLg
95
Siehe beispielhaft inkl. formaler Programmbeschwerde und mit weiteren Nachweisen:
https://www.spiegelkritik.de/2022/12/01/zdf-intendant-raeumt-fehler-ein-korrigiert-aber-nicht-transparent/
96
https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/interview-barbara-junge-taz-100.html
97
https://www.new-business.de/_rubric/detail.php?rubric=K%D6PFE&nr=797341
98
https://web.archive.org/web/20231129152653/https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/corona-
meinung-fakten-100.html
30
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>"Ich sage nicht, dass es in jedem Fall richtig war. Natürlich haben wir Fehler gemacht." Dabei
müsse aber unterschieden werden, ob diese Fehler aus Unkenntnis entstanden sind, oder be-
wusst Fehler in Kauf genommen wurden. "Wir haben bewusst einfach nur der Bundesregie-
rung zugehört. Wir haben zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um selbst re-
cherchieren zu können, um selbst einordnen zu können."<
Der entscheidende Fehler, eine von Junge fiktiv zitierte Position zur taz-Position zu machen, blieb
also bestehen, obwohl die korrekt transkribierte Passage von mir mit der Anfrage verschickt wurde.
Die kleine Veränderung wurde nicht ausgewiesen, stattdessen änderte sich nun das Publikationsda-
tum von ursprünglich 24. Mai 2022 auf 5. Dezember 2023 (was als Änderungsdatum zu benennen
wäre). Weshalb der Fehler zuvor schon anderthalb Jahre unbemerkt bzw. jedenfalls unkorrigiert
blieb, darf man an dieser Stelle auch fragen.
= Ungenaue Behauptungen =
In vielen Fällen lassen sich Aussagen nicht eindeutig als falsch bezeichnen, obwohl sie bei einigen
Rezipienten sicherlich ein falsches Bild zeichnen, also eines, das relevant verschieden ist von dem,
das bei eigenem Augenschein der Geschehnisse entstünde.
Bsp.: So beginnt noch Ende August 2020 ein Teaser zur Entwicklung der Pandemie bei Spiegel.de mit
dem Satz: "Auf den Covid-Stationen der Krankenhäuser hat sich die Lage entspannt, auch die Todes-
zahlen stagnieren."
99
Das behauptet zunächst einmal, "auf den Covid-Stationen" sei die Lage irgendwann zuvor ange-
spannt gewesen. Man möchte nach den Belegen fragen, oder schlicht den validen Zahlen: in wie
vielen Krankenhäusern war von wann bis wann die Lage angespannt (was ja nur bedeuten kann: hart
an der Kapazitätsgrenze)? Und die nächste Frage betrifft die Aktualität: wann genau hat sich die Lage
entspannt? Selbst nach der im Artikel veröffentlichten Statistik hat sich da seit drei Monaten nur
wenig verändert, die Zahlen waren konstant sehr niedrig (das "sehr" sei angesichts der explizit nur
für Covid-19-Patienten zur Verfügung gestellten Kapazitäten eine erlaubte Wertung).
Letztlich kann man auch viele Irreführungen durch unpassende Zusammenhänge unter dem Ge-
sichtspunkt fehlender Richtigkeit bemängeln.
Bsp.: Etwa wenn die ZEIT ein Interview zur "Berliner Clubszene" mit einem Foto aus den USA
100
illus-
triert, dessen Botschaft völlig im Kontrast zu den Aussagen im Text steht
101
. Denn darin wird erläu-
tert, dass aufgrund der Corona-Auflagen nicht in Innenräumen getanzt werden darf was aber das
Bild zeigt.
Darauf hingewiesen, antwortet die ZEIT-Redaktion laut Jakob Buhre (persönliche Mitteilung), wie es
beispielhaft für das "Korrekturverhalten" vieler Redaktionen ist:
"In der aktuellen Berichterstattung müssen wir immer wieder auf Agenturmaterial und lizenz-
freie Bilder zurückgreifen. Vor wenigen Wochen hatten wir bereits versucht, zum selben The-
ma einen Fotografen zu beauftragen. Das hat aber nicht geklappt, da viele Berliner Clubs ein
sehr strenges Fotoverbot haben (was natürlich auch ihr Recht ist). Deshalb konnten wir keine
99
https://www.spiegel.de/wissenschaft/corona-stagnierende-todeszahlen-trotz-steigender-infektionen-das-
deutsche-paradox-a-1c86a930-45c1-4b8e-b9f2-08716b57f630
100
https://twitter.com/planetinterview/status/1313068078360670211
101
https://www.zeit.de/campus/2020-10/berlin-clubszene-coronavirus-katharin-ahrend-clubkommission-
neuinfektionen-massnahmen
31
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
eigenen Bilder verwenden, sondern mussten wie auch in diesem Fall auf ein Symbolbild zu-
rückgreifen. Wir haben ein Bild gesucht, bei dem keine Menschen identifizierbar sind. Es sollte
kein nachrichtliches, sondern eher ein stimmungsvolles Bild sein. Es sollte keine dichtgedräng-
te tanzende Menge ohne Masken zu sehen sein und einen Ort zeigen, der zumindest Berlin
sein könnte. So eine Bildersuche ist immer ein Kompromiss. In diesem Fall ist er vielleicht nicht
zu 100 Prozent geglückt, wir stehen aber weiter hinter der Entscheidung."
4 Vollständigkeit
Eine journalistische Berichterstattung, die faktisch richtig ist, muss noch lange nicht gut sein. "Gut"
als Qualitätsurteil meint hier: Orientierung bietend. Denn jede einzelne Aussage eines Beitrags kann
richtig sein und doch ein völlig falsches Bild ergeben. Vollständig ist eine journalistische Darstellung,
wenn nicht durch weitere Informationen ein relevant anderes Bild entsteht. Wer mag, darf das Quali-
tätskriterium Vollständigkeit (kurz bei Handstein 2016) auch als Teil der Richtigkeit sehen (weil "die
halbe Wahrheit" eben gerade keine Wahrheit ist und auch juristische Konsequenzen haben kann). In
jedem Fall ist Vollständigkeit ein eigener Prüfaspekt in der Medienkritik. Die Bedeutung der Vollstän-
digkeit eines Beitrags hat Brigitte Fehrle als ein Fazit ihrer Arbeit in der Relotius-Kommission
102
des
Spiegel auf den Punkt gebracht:
"Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern
das Weglassen." (Fehrle zu Kornfeld 2019)
Allerdings verlangt Manipulation Vorsatz. Wo es diesen in der Corona-Berichterstattung gegeben
haben mag, soll hier nicht untersucht werden. Lücken in der medialen Darstellung sind jedoch weit
verbreitet. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: der einzelne Beitrag und das publizierende
Medium (Zeitung, Sender, Website). Ein Beitrag muss so vollständig sein, dass er alle für die Orientie-
rung notwendigen Informationen zum konkreten Ereignis bzw. behandelten Problem enthält. Dazu
gehört auch, nicht zu schließende Lücken aktiv zu benennen, anstatt sie schweigend zu übergehen.
Für die Berichterstattung eines Mediums verlangt Vollständigkeit, den weiteren Verlauf im Blick zu
behalten, Reaktionen und Entwicklungen aufzugreifen und stets zu prüfen, ob insgesamt, in der
Summe der eigenen Beiträge, ein für die individuellen Nutzer hilfreiches Angebot besteht. Die alte
Denksportdisziplin von den Erkenntnisbegrenzungen des Menschen können wir dabei ignorieren:
Dass kein Lebewesen 'die Realität' erfasst, sondern aus einigen wenigen Informationen eine 'eigene
Wirklichkeit konstruiert', ist geradezu banal, auch wenn etwa das "Funkkolleg Medien und Kommuni-
kation"
103
diese Selbstverständlichkeit vor 30 Jahren auf Romanlänge ausgebreitet hat (jedenfalls in
meiner Erinnerung). Regalmetern Konstruktivismustheorie zum Trotz klappt Verständigung in der
Praxis immerhin evolutionsstabil, sogar über Artgrenzen hinweg, was schon weit mehr ist, als der
Journalismus leisten muss. Die pragmatische Feststellung, dass eine Berichterstattung unvollständig
ist, wenn durch weitere Informationen ein relevant anderes Bild entsteht, kann dabei selbstverständ-
lich weiteren Qualitätsaspekten widersprechen. Die Nachricht von einem Fahrradunfall kann beim
Rezipienten zu unterschiedlichen Emotionen führen, je nachdem, ob sie die Info enthält "Der Radler
trug keinen Helm" oder nicht. Oder den Hinweis, es handele sich beim Unfallopfer um einen geflohe-
nen Vergewaltiger. Deshalb sagt die Feststellung einzelner Qualitätsdefizite natürlich noch gar nichts
102
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-abschlussbericht-der-
aufklaerungskommission-a-1269110.html
103
https://de.wikipedia.org/wiki/Funkkolleg
32
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
darüber aus, wie "gut" oder "schlecht" eine Berichterstattung ist, so wie sich die Qualität eines Medi-
kaments nicht mit Blick auf die Nebenwirkungen beurteilen lässt.
= Formale Aspekte der Vollständigkeit =
Im Zuge einer Beitrags-Autopsie könnte man die Vollständigkeit eines Beitrags nach rein formalen
Kriterien prüfen, also werkimmanent. Dazu gehören Einzelpunkte wie Quellenangaben für Aussagen,
die Präsentation gegenteiliger Meinung(en), die Angabe eigener Betroffenheit oder Beziehung zu
Protagonisten bzw. Thema. In der Journalistik wird einiges davon unter dem Stichwort "Transparenz"
verhandelt, die ich als Teil der Vollständigkeit sehe. Die Transparenz-Punkte sind im nachgereichten
Unterkapitel 11.1 zu finden.
In jedem Handbuch zum Journalismus ist beschrieben, was eine Nachricht enthalten muss: Antwor-
ten auf die sechs bis sieben W-Fragen Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Woher?
104
Man kann
dies dem Qualitätskriterium "Vollständigkeit" zuschlagen; man kann die Beantwortung dieser Fragen
aber auch separat fassen, weil es ohne die entsprechenden Antworten mitunter gar nicht möglich ist,
das Thema des Beitrags zu erkennen und mithin überhaupt Vollständigkeit und anderes zu prüfen.
Bsp.: "Thesen vom Amtsarzt" ist ein Beitrag der Süddeutschen überschrieben, der Teaser kündigt an:
>Der ehemalige Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg hat nun ein Buch geschrieben. Da-
für bekommt Friedrich Pürner Beifall von Querdenkern und der AfD. Verharmlost er Corona?<
105
Doch der SZ-Autor schafft es, im Beitrag nicht ein einziges Mal das Buch
106
zu nennen; entsprechend
wird daraus auch nichts zitiert, nichts besprochen. Stattdessen werden einige Zitate aus einem Tele-
fongespräch des Journalisten mit dem "ehemaligen Leiter des Gesundheitsamtes" Friedrich Pürner
von zwei anderen Medizinern kommentiert.
Bsp.: Die siebte W-Frage "woher" steht für die Quellennennung: Woher stammt die Information?
Woher weiß der Berichterstatter das? Diese W-Frage hätte man gerne beantwortet, wenn es im
selben Text heißt:
>Im Gespräch gibt sich Pürner betont sachlich und bemüht, nicht als Querdenker dazustehen.<
Vermutlich handelt es sich bei dieser Tatsachenbehauptung um eine Interpretation des SZ-
Journalisten? Auch dann wüsste man gerne, was zu dieser Einschätzung führt: wie bemüht sich je-
mand, "nicht als Querdenker dazustehen"?
Bsp.: Der Beitrag endet wie folgt:
>Mit seiner Impfkritik macht Pürner aus Perspektive der Staatsregierung eine Rückkehr
schwer. Sein Posten ist übrigens unbesetzt, die kommissarische Leitung pausiert gerade.<
Woher stammt die "Perspektive der Staatsregierung"? Zitiert ist niemand, auch nicht anonym, so
dass es sich durchaus um eine imaginierte Aussage handeln könnte. Ein "Woher" hätte hier sehr
geholfen.
104
z.B. Walther von La Roche: Einführung in den praktischen Journalismus, 15. Auflage von 1975, List Verlag
München, S. 85; Siegfried Weischenberg: Nachrichten-Journalismus, Westdeutscher Verlag Wiesbaden, 2001,
S. 117-123 https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-322-80407-5
105
https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-corona-amtsarzt-friedrich-puerner-buch-1.5466845
106
https://www.langenmueller.de/verlage/langenmueller/produktdetails-
buch/product/3217/Diagnose%20Pan%28ik%29demie/
33
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Immer eine Quelle anzugeben und dieser auch die ihr entnommene Information zuzuordnen bewahrt
den Journalismus vor vielen Falschbehauptungen der Art "das ist so". Kein Journalist hatte während
der Pandemie berichten können: "Die Impfung ist sicher." Denn keiner konnte dies überhaupt beur-
teilen. Wer hingegen fremde Behauptungen nicht als eigenes Wissen ausgegeben hat, kam in diesem
Punkt auch nie in die Verlegenheit, sich später korrigieren zu müssen.
= Unvollständige Beiträge =
Die Unvollständigkeit beginnt oft schon mit dem Gebrauch einzelner Schlagworte. Als im Frühjahr an
vielen Stellen mehr Obduktionen gefordert wurden
107
, gab es allenfalls pragmatisch begründeten
Widerspruch. Ethische Bedenken hingegen blieben wohl auch deshalb aus, weil schlicht nicht dar-
über gesprochen wird, was die Obduktion eines Leichnams bedeutet. Natürlich hängt das u.a. davon
ab, nach was gesucht wird und wie modern die Pathologie ausgestattet ist; aber in vielen Fällen ist
die Prozedur weit entfernt von der Harmlosigkeit im Fernseh-Krimi. Bei vollständiger Berichterstat-
tung dürften sich wohl einige Angehörige sowie ante mortem Patienten selbst wenig begeistert
zeigen vom staatlichen Anspruch, zur Aufklärung eines Epidemiegeschehens Verstorbene sehr gründ-
lich auseinanderzunehmen.
Bsp.: Im Videobeitrag "Coronaleugner demonstrieren in Berlin"
108
schreibt der Tagesspiegel ("sic"-
Hinweis von mir):
"Gegendemonstranten protestierten entlang der Route zur Siegessäule. Beide Lager be-
schimpfen sich gegenseitig als Nazi. 'Ihr maschiert [sic] mit Faschisten' skandieren die Gegen-
demonstranten".
Demonstranten und Gegendemonstranten sind dabei nie gemeinsam im Bild zu sehen, weil die
Polizei sie wie üblich auf großem Abstand zueinander hielt. Mindestens an vielen Stellen ("an allen"
kann ich nicht belegen) war es gar nicht möglich, das andere "Lager" zu sehen. Dass Demonstranten
ihre Plakate vorbereiten und deren Aussagen nur schwer den realen Geschehnissen anpassen kön-
nen, mag sich der "mündige Leser" (vgl. Schultz 2020) denken, aber dass die Ihr-marschiert-mit-
Faschisten-Rufer gar nicht sehen konnten, wer da mit wem demonstriert, wäre für ein vollständiges
Bild relevant gewesen. Ebenso wie natürlich irgendwelche Informationen zum Anliegen der De-
monstranten, die beim Tagesspiegel schlicht "Corona-Leugner" sind, was einzig mit der Aussage be-
legt wird: "Verschwörungstheorien werden ausgetauscht"
109
, bebildert mit zwei Aluhut tragenden
Männern.
Wem das Beispiel zu klein ist, hier eines mit dem Gewicht von "1.400 Milliarden Euro".
Bsp.: Unter dem nachrichtlich-nüchternen Titel "Bundestag beschließt Rettungspaket: 156 Milliarden
gegen die Corona-Krise"
110
schildert die politische Reporterin der Berliner Zeitung diesen "nicht nor-
malen Sitzungstag" des Parlaments, im Verlauf dessen u.a. 156 Milliarden Euro neue Schulden be-
schlossen werden. Der Artikel wirkt wie eine Hommage an Kischs "Die Schittkauer Mühlen in Flam-
men" (ab Seite 381
111
; zum Hintergrund siehe: "Debüt beim Mühlenfeuer"
112
). Von Standing Ovation
107
https://www.dnn.de/Dresden/Lokales/Coronavirus-Dresdner-Pathologe-fordert-mehr-Obduktionen
108
https://m.tagesspiegel.de/videos/berlin/video-zur-corona-demo-in-berlin-coronaleugner-demonstrieren-in-
berlin/26058326.html (nicht mehr online)
109
siehe zum Begriff "Verschwörungstheorie" hier im Paper Kap 5
110
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bundestag-beschliesst-rettungspaket-
schuldenbremse-ausgesetzt-li.79512
111
https://archive.org/stream/KischGW1112/Kisch%20GW%2011%3D12_djvu.txt
34
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
für das Gesundheitspersonal und der Erregung einer grünen Abgeordneten über zu geringen physi-
schen Abstand zwischen zwei AfD-lern bis zu Altmeiers hastig eingenommenem Mittagessen aus der
hygienischen Pappschachtel erfahren wir allerhand zur Kulisse, in der ein "Rettungsprogramm für die
Wirtschaft von nie gekanntem Ausmaß" beschlossen wurde. Aber was nun genau mit dem Geld ge-
schehen soll, woher es kommt, was bei dieser Prioritätensetzung künftig nicht mehr wie geplant
möglich sein wird, ob irgendein Abgeordneter noch etwas Erhellendes beizutragen hatte (oder we-
gen der guten Regierungsarbeit die Legislative nur noch eine Formsache ist), wir erfahren nichts
dazu, wofür die Autorin auch eine Begründung hat, die in sehr vielen Fällen von Unvollständigkeit
trägt:
"Die Reden unterscheiden sich auch sonst nur wenig. Wie auch, es ist in dieser Situation alter-
nativlos, die Wirtschaft mit Krediten und Zuschüssen zu unterstützen und die Bürger soweit
es geht in ihren Existenzen zu sichern."
113
Anstatt so vollständig zu informieren, dass der "mündige Leser" selbst zu einer Meinung kommen
kann, liefert der Journalismus direkt die Meinung ("Rettungspaket"), ohne sich mit dem mühsamen
Geschäft des Recherchierens und Erläuterns aufzuhalten. Es ist alternativlos, was Legislative und
Exekutive da gemeinsam machen, Punkt, aus, fertig. Es gibt keine anderen Möglichkeiten, keine wei-
teren Ideen, keine Kritik.
Diese weit gebräuchliche Unvollständigkeit durch Meinung statt Fakten kommt oft sehr subtil daher.
Bsp.: Für Heribert Prantl ist die Rede von einem "Corona-Regime" wahrheitsfernes Fabulieren
114
,
wiewohl seine eigene Zeitung intensiv den Begriff "Corona-Kabinett"
115
nutzt. Da wäre eine Erläute-
rung, warum das eine mehr oder weniger absurd, das andere nachrichtlich korrekt ist, doch sehr
hilfreich. Vollständigkeit wird durch Meinung ersetzt. Permanent lesen und hören wir von "umstrit-
tenen" Aussagen
116
, ohne dass berichtet würde, wer genau was mit welchen Belegen bestreitet oder
attackiert, und ob die Vorwürfe (noch) Substanz haben.
Das ewig zitierte SPIEGEL-Motto "Sagen, was ist" verlangt eben Tatsachen statt Autorenmeinungen.
Die dürfen gerne noch als Interpretationsangebot dazu kommen, können aber Informationen nicht
ersetzen. "Es war ein heißer Tag" ist eine Meinung, die ohne weitere Angaben nur die Belanglosigkeit
vermittelt, wie der Autor empfunden hat oder gar weit verbreitet mutmaßt, wie ein Protagonist
empfunden haben wird, ohne dies wenigstens als Meinungsbehauptung belegen zu können. Nicht
selten werden Bauern 'schönes Wetter' als Katastrophe empfinden, angeblich 'triste', weil regneri-
sche Herbsttage lassen die Herzen von Pilzsammlern höher schlagen. Ob eine bestimmte Zahl an
Corona-Neuinfektionen einen "dramatischen Anstieg"
117
darstellt, ist eine Interpretation, zu der
selbst zu kommen "mündigen Lesern" offen stehen sollte, was weit mehr Informationen als die Zah-
len an sich verlangt.
112
https://www.projekt-gutenberg.org/kisch/sensatio/chap009.html
113
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bundestag-beschliesst-rettungspaket-
schuldenbremse-ausgesetzt-li.79512
114
https://heribertprantl.de/prantls-blick/corona-und-die-wahrheit/
115
https://www.sueddeutsche.de/politik/aktuelles-lexikon-coronakabinett-1.4911230
116
zu diesem Attribut gibt es inzwischen ein eigenes Buch: https://www.buchkomplizen.de/umstritten.html
117
https://www.thueringer-allgemeine.de/regionen/erfurt/dramatischer-anstieg-40-neue-corona-faelle-in-
erfurt-id230748702.html
35
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Fehlende Einordnung =
Früh schon wurde in der Medienkritik darauf hingewiesen, dass Zahlen zur Pandemie ohne Einord-
nung keinerlei Orientierung bieten (so bspw. Stephan Russ-Mohl
118
oder Roland Schatz
119
; für eine
Übersicht siehe "Spiegelkritik"
120
). Es hat lange gedauert, bis wenigstens die täglichen "Corona-
Zahlen" in Relation zur Zeit und Fallzahlen in Bezug zur Einwohnerschaft ausgewiesen wurden.
Bsp.: Irreführende Angaben wie die Addition aller jemals Infizierten
121
hingegen haben sich bis heute
gehalten. Und Vergleiche mit anderen Erkrankungen oder Unfällen bleiben weiterhin Marginalien,
was zur schon lange bekannten unrealistischen Risikoeinschätzung in der Bevölkerung beiträgt, hier
also zu einer Überschätzung des Risikos einer Covid-19-Erkrankung gegenüber anderen Gesundheits-
gefahren.
122
Einzelne Todeszahlen und Krankheitsdaten ohne Einordnung können keine Orientierung
bieten.
Aber nicht nur Zahlen benötigen eine Einordnung, um Informationen vollständig zu vermitteln. Jedes
mediale Spotlight auf Einzelereignisse ist geeignet, eine hilfreiche Sichtweise auf die Welt zu verhin-
dern. So wurden im Fernsehen Intensivstationen gezeigt, Lokalzeitungen brachten Reportagen aus
ihren Krankenhäusern. Doch eine Verortung des aktuellen Corona-Geschehens in der sonstigen Ar-
beit der Stationen unterblieb meist. Personal in Schutzausrüstung wurde als Corona-Katastrophenfall
wahrgenommen, obwohl es auf Infektionsstationen Alltag ist.
Bsp.: Bilder von Militärfahrzeugen, die im italienischen Bergamo Särge abtransportierten
123
, waren
prägend für die Pandemiewahrnehmung und wurden rund um den Globus gesendet, obwohl es nur
um 60 Tote in einer Großstadt ging.
124
Natürlich waren dort Menschen gestorben, auch überpropor-
tional viele, doch das mediale Katastrophenszenario war mit Sicherheit keine realitätsnahe Darstel-
lung: Wie viele Tote gibt es an normalen Tagen, wie schnell kommt das lokale Bestattungswesen an
seine Grenzen, insbesondere wenn es durch politische Vorgaben und eigene Quarantänefälle nicht so
arbeiten kann wie üblich?
125
Wo nur Ausschnitte berichtet werden, kann kein Gesamtbild entstehen
wie im Gleichnis von der punktuellen Betrachtung eines Elefanten.
126
Bsp.: Kommunikationswissenschaftler Thomas Hanitzsch sagte in einem Interview mit der Öffentli-
ckeitsarbeit seiner Universität im April 2020:
>Die Medien sind nicht nur zahm, sie folgen sehr bereitwillig der politischen Rhetorik. Das
macht mir schon ein bisschen Bauchschmerzen. Da würde ich mir schon ein paar kritische
118
https://medienwoche.ch/2020/04/23/bei-solchem-journalismus-bin-ich-etwas-ratlos/ Da sich Russ-Mohl
seit Jahren vor allem im Hinblick auf internationale Zitierungen nicht mehr mit "ß" schreibt, soll dem hier
gefolgt werden (pers. Mitteilung vom 3. April 2023)
119
https://kress.de/news/detail/beitrag/144784-7-tipps-fuer-einen-besseren-corona-journalismus.html
120
https://www.spiegelkritik.de/2020/10/20/medienkritik-zum-corona-journalismus-sammlung/
121
https://datawrapper.dwcdn.net/gmlUF/42/
122
https://www.diw.de/de/diw_01.c.795735.de/publikationen/diw_aktuell/2020_0052/menschen_ueberschae
tzen_risiko_einer_covid-19-erkrankung__beruecksichtigen_aber_individuelle_risikofaktoren.html
123
https://www.bild.de/news/ausland/news-ausland/schockierende-bilder-aus-italien-armee-transportiert-
corona-tote-69489308.bild.html
124
https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-
movie-theatre/
125
https://www.vice.com/de/article/3a8ymy/coronavirus-italien-wohin-mit-den-toten
126
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_blinden_M%C3%A4nner_und_der_Elefant
36
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Nachfragen mehr in den Medien wünschen, ein bisschen mehr kritische Distanz. [...] Von An-
beginn an hat mir beispielsweise die Diskussion über soziale Ungleichheiten, die sich im Lock-
down verstärken, und die Lage der Familien gefehlt. Es ging um die Rettung von Unterneh-
men, um große Rettungsschirme, die die Regierung aufspannt. Aber der Blick auf die anderen
Facetten des Themas fehlte mir: Was bedeutet es für Arbeitnehmer, wenn gut die Hälfte aller
Unternehmen in Kurzarbeit geht? Was für die Familien, die Kinder haben, die nicht in die
Schule oder die Kita können? Was ist mit den sozialen Ungleichheiten, die dadurch entstehen,
dass die Kinder jetzt zuhause bleiben müssen und eben nicht alle Familien gleich gut mit den
Coronafolgen zurechtkommen? Das alles ist so ein bisschen unter die Räder geraten. Ich hätte
mir da von den Journalistinnen und Journalisten mehr kritische Kontrolle gewünscht, wo doch
der Journalismus ein Korrektiv der Politik sein sollte. Stattdessen haben die Medien sehr stark
im Gleichklang mit der Politik agiert.<
127
Bsp.: Wer Ungeimpfte nach ihren Beweggründen fragt, sich nicht impfen zu lassen
128
, muss mit dem-
selben Erkenntnisinteresse auch Geimpfte befragen. Anders lassen sich die Ergebnisse gar nicht ein-
ordnen (vielleicht treibt einen Großteil in beiden Gruppen die Sorge um die eigene Gesundheit um?) -
zumal, wenn Menschen mit wie ohne (Corona-)Schutzimpfung als Rezipienten in Betracht kommen
sollen und nicht für eine 'Spezies' eine andere, fremde (journalistisch) erforscht wird. Dass die Um-
frage im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführt wurde
129
und sich dieses offenbar
nicht für die Motivlage Geimpfter interessierte, steht dem nicht entgegen. Zur Not muss wenigstens
auf die Datenlücke hingewiesen werden, zumindest große Pressehäuser und Sender sollten aber
auch eigene Befragungen beauftragen können.
= Vergleichswerte und Wertungsskalen =
Journalistische Einordnung bedeutet, "in einen Kontext setzen, nachfragen, einordnen" (Holger
Wormer
130
). Zur Vollständigkeit gehört auch, die Kriterien jeder "Einordnung" zu benennen. Wenn
Journalisten reklamieren, sie würden zunehmend über- oder umgangen
131
, weil sich heute jeder
direkt an ein großes Publikum wenden kann, meinen sie nicht selten, es fehle ihr wertender Kom-
mentar. Doch dieser ist nur dann eine Einordnungsleistung, ja überhaupt nur ein Orientierungsange-
bot, wenn deutlich wird, was wie gemessen und mit welchem Maßstab bewertet wird. Chiffren wie
"Schwurbler", "Populist" oder "selbsternannt" sind 'wertlose Wertungen', solange nicht ihre Daten-
grundlage deutlich wird, die den Journalisten zu dieser Bewertung führt.
Bsp.: Täglich gemeldete Infektions-, Hospitalisierungs- und Sterbezahlen können zwar auf langen
Zeitreihen eine Entwicklung anzeigen und damit einen Wert an sich haben, benötigen aber ansonsten
und zur Einschätzung ihrer Relevanz immer einen Kontext. Zur Angabe der an und mit Corona Ver-
127
https://web.archive.org/web/20200521051242/https://www.uni-
muenchen.de/forschung/news/2020/hanitzsch_medien_corona.html
128
https://www.zeit.de/gesundheit/2021-10/forsa-umfrage-corona-ungeimpften-impfbereitschaft-
massnahmen-auswirkungen-ablehnung
129
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Befragung
_Nichtgeimpfte_-_Forsa-Umfrage_Okt_21.pdf
130
https://www.wissenschaftskommunikation.de/mehr-einordnung-und-kritische-nachfragen-was-der-
journalismus-in-der-coronakrise-besser-machen-koennte-41981/
131
"unter Umgehung von Medien" https://www.tagesschau.de/faktenfinder/trump-wahlbetrug-107.html
37
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
storbenen gehört der Vollständigkeit halber die Gesamtzahl der (im angegebenen Zeitraum und Ge-
biet) Verstorbenen.
132
Wenn einige Dutzend bis Hundert Menschen an einem Tag an Corona verster-
ben, sterben weit über 2.000 aus anderen Gründen.
>"Sieben Corona-Tote im Kreis Unna im Januar. Allein in einer Stadt starben drei Menschen"<
So titelt beispielsweise der Hellweger Anzeiger.
133
Zum Drama gehört aber auch, dass geschätzt 350
Menschen mit anderen Krankheiten und Unfällen gestorben sind.
Bsp.: Ausführlich widmete sich Übermedien mit Hendrik Streeck dem "Mann, der dauernd falsch
liegt, aber immer wieder als Corona-Experte gebucht wird".
134
Ausführlich wird seziert, wo der Bon-
ner Virologe (angeblich) überall falsch lag, sich widersprach, seine Meinung plötzlich geändert habe.
Nur: Das ist wertlos, solange wir nicht wissen, was ein "Normalwert" für die vorgehaltenen Verfeh-
lungen ist. Wie oft lag Drosten daneben (sein Podcast "Coronavirus Update"
135
bietet da leicht zu-
gängliches Material)?
Wer behauptet, Deutschland sei "verhältnismäßig gut" durch die Corona-Pandemie gekommen
136
,
muss zunächst benennen, was dafür gemessen wurde und welche Bewertungsskala dann an dieses
Messergebnis angelegt wird. De facto entstehen die meisten solcher Wertungen freihändig, "ge-
fühlt", wie es heute allgegenwärtig heißt. Solche unvollständigen Angaben bieten aber keine Orien-
tierung.
Bsp.: Auf Auslassungen hinzuweisen kann ungenügend sein, wenn mit dem dann präsentierten Bild
dennoch ein falscher Eindruck entsteht. Dies ist häufig bei statistischen Grafiken anzutreffen, die nur
einen Ausschnitt einer Achse zeigen, ohne die damit falschen Proportionen auch zu visualisieren
(hier: Süddeutsche Zeitung
137
).
= Whataboutism ist Pflicht =
Versuche der Einordnung werden häufig, insbesondere online, als "Whataboutism" geschmäht. Tat-
sächlich aber ist es eine der W-Fragen, die zu jedem Vollständigkeitsbemühen gehört: What about...?
Was ist mit diesem und jenem? Im Zusammenhang mit der alles dominierenden Corona-Politik nach
Klimaschutz zu fragen ist kein rhetorischer Trick
138
, sondern eine Notwendigkeit. Wenn über den
Schutz Alter und Kranker in Deutschland gesprochen wird, gehört die Frage nach den Nebenwirkun-
gen jeder möglichen Maßnahme zur vollständigen Problembetrachtung dazu. Es ist gerade die Auf-
132
beliebiges Bsp: https://web.archive.org/web/20230203063758/https://www.swp.de/panorama/corona-
zahlen-deutschland-heute-aktuell-rki-dashboard-3-2-2023-68880353.html
133
https://www.hellwegeranzeiger.de/kreis-und-region/corona-virus-pandemie-todesfaelle-kreis-unna-
gesundheitsamt-januar-2023-w689591-1000728434/
134
https://uebermedien.de/57343/hendrik-streeck-der-mann-der-dauernd-falsch-liegt-aber-immer-wieder-
als-corona-experte-gebucht-wird/
135
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Die-Podcast-Folgen-als-
Skript,podcastcoronavirus102.html
136
z.B. Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Blog-
Die-Lage-am-Dienstag-17-Januar-2023,coronaliveticker2262.html ; so auch Schultz 2020, Maurer/ Reinemann/
Kruschinski 2021
137
https://www.spiegelkritik.de/2021/01/30/einaeugige-medienkritik/
138
https://klimareporter.in/what-about-whataboutism-und-warum-ist-das-wichtig/
38
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
gabe des Journalismus, auch das nicht auf den ersten Blick Sichtbare sichtbar zu machen spätes-
tens, wenn es ihm auf dem Silbertablett serviert wird. Ohne "What about" lassen sich u.a. gar nicht
sinnvoll Prioritäten setzen. Am einfachsten lässt sich dies an den jährlichen Verhandlungen über die
Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen aufzeigen: In den Medien wird dann regelmäßig Streit
um einzelne Posten referiert, nie aber wird das Gesamtbudget in den Blick genommen (außer unter
dem Stichwort Schulden bzw. Austerität). So wird dann eine Anhebung des Kindergelds um 5 Euro
vermeldet
139
- bei einem (im Bsp. nicht erwähnten) Gesamtetat von knapp einer halben Billion Euro
(481.000.000.000).
140
Bsp.: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat genau dies Ende April 2020 angeboten: über
die Nebenwirkungen der gewünschten Wirkungen zu sprechen, konkret über die durch Shutdowns
verursachten Todesfälle. Doch anstatt spätestens nun dieser Frage nachzugehen und zu recherchie-
ren, erzählten die Medien durchgängig die viel einfachere, kundenfreundlichere Boulevardgeschichte
vom menschenverachtenden Wichtigtuer und dem Bemühen seiner grünen Partei, ihn vor die Tür zu
setzen.
141
Fünf Monate später wies Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) ebenfalls auf das
Problem hin: "An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr sterben als am Virus", sagte er in
einem Interview
142
, und führte als einen der Gründe dafür an: "Weil wir Industrieländer uns so sehr
auf die Coronabekämpfung zu Hause fokussieren, dass wir andere Probleme aus dem Blick verlieren."
Und Hans Peter Vikoler vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen sagte in einem Inter-
view
143
: "Wenn man die Folgen der Lockdowns im globalen Maßstab betrachtet, dann kann es einen
nur ratlos machen, dass solche Maßnahmen überhaupt ergriffen wurden. Die wirtschaftlichen und
sozialen Schäden, die durch die Bekämpfung des Virus verursacht wurden, übersteigen die gesund-
heitlichen Schäden durch das Virus um ein Vielfaches. [...] Unser Umgang mit dem Virus war kleinka-
riert und absolut unverantwortlich."
Um sich überhaupt eine Meinung zu Sinn, Zweck und Umfang von staatlichen Maßnahmen gegen die
Corona-Pandemie bilden zu können, müssen solche "What about?"-Fragen gestellt und beantwortet
werden. Demokratie verlangt, dass den Bürgern alle entscheidungsrelevanten Informationen zur
Verfügung stehen, auch wenn gerade nicht gewählt wird.
Bsp.: Ein Musterbeispiel der Vollständigkeitsverweigerung ist die SPIEGEL-Titelgeschichte "Albtraum
Lockdown"
144
im Heft vom 17. Oktober 2020, die auch sonst Anschauungsmaterial für viele andere
Qualitätsdefizite bietet. Der Untertitel auf dem Cover: "Warum jetzt doch droht, was alle ausge-
schlossen haben". 26 Autoren werden für diese Geschichte aufgeboten, doch sie verlieren nicht ein
139
https://www.morgenpost.de/politik/article406728547/koalition-einigt-sich-auf-haushalt-und-
wachstumspaket.html
140
Zu einer Veranschaulichung der Unterschiede zwischen Millionen, Milliarden und Billionen siehe "Geld in der
Politik": https://www.deutschlandfunkkultur.de/geld-in-der-politik-nachfragen-ist-buergerpflicht-100.html
141
https://www.heise.de/tp/features/Wir-retten-Menschenleben-mit-Menschenleben-ohne-darueber-zu-
verhandeln-4715085.html?seite=all
142
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronakrise-entwicklungsminister-mueller-an-den-
folgen-der-lockdowns-werden-weit-mehr-menschen-sterben-als-am-virus/26209144.html?
143
https://www.heise.de/tp/features/Hunger-ist-gewollt-4930450.html
144
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-albtraum-lockdown-warum-jetzt-droht-was-alle-
ausgeschlossen-haben-a-00000000-0002-0001-0000-000173548904
39
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
einziges Wort über die Nebenwirkungen eines Lockdowns.
145
Stattdessen bietet der SPIEGEL folgende
Engführung:
"Es heißt, in der Krise zeige sich, wie gut Deutschland regiert werde, da die Zahlen besser sind
als in fast allen anderen europäischen Staaten. Das stimmt grundsätzlich, heißt aber nicht,
dass hier alles glatt läuft. Dass Reiserückkehrer im Sommer das Virus nach Deutschland
brachten, schien die Politik zu überraschen, es dauerte lange, bis Jungen und Mädchen zum
Präsenzunterricht an die Schule zurückkehren konnten, es fehlte an Masken, um nur einige
Beispiele zu nennen."
Nicht-quarantänisierte Urlauber, Schulausfall und fehlende Masken, das sind die Probleme, die 26
SPIEGEL-Journalisten recherchiert haben. "Die Zahlen" in, aus oder für Deutschland sind besser als
anderswo. Kein Wort über schädliche Nebenwirkungen
146
in Deutschland, keine Wort über tödliche
Nebenwirkungen weltweit. Und, Gipfel der Unvollständigkeit, nicht einmal ein Wort darüber, warum
der erneute Lockdown droht wie eine Naturgewalt, gegen die der Mensch machtlos ist, oder wie eine
Falle, die plötzlich zuschnappt, aufgebaut von einer fremden Macht.
Nicht nur der Journalismus stellt häufig keine What-about-Fragen, auch die Journalismusforschung.
Denn gerade Forschung schaut sich gerne losgelöst von der Welt nur kleinste Teilbereiche an: über-
schaubar, handhabbar, berufsdienlich. Das ist nicht nur legitim, sondern auch unproblematisch, so-
lange diese Detailbetrachtungen nicht ohne Einordnung auf den Marktplatz getragen werden. Weil
es ausgerechnet um journalistische Qualität geht, ein ausnahmsweise Corona-freies Beispiel, aber
immerhin zur Gesundheit:
Bsp.: Patrick Rössler, Kommunikationsforscher an der Uni Erfurt, hat "Die Qualität der Berichterstat-
tung über Ernährung"
147
untersucht. Seinen Beitrag für das nicht gerade tiefstapelnde Kompendium
"Bericht zur Lage der Informations-Qualität in Deutschland"
148
leitet er damit ein, ungesunde Ernäh-
rung als gesellschaftliches Finanzproblem zu sehen.
"Die enormen gesellschaftlichen Belastungen aufgrund der direkten Behandlungskosten und
der indirekten volkswirtschaftlichen Verluste durch krankheitsbedingte Ausfälle sind ebenso
allseits bekannt wie die so genannten intangiblen Kosten für die Betroffenen."
Oder kürzer, statt seiner vielen Zahlen: 'Fette kosten die Dünnen verdammt viel Geld.' Die Richtigkeit
aller Berechnungen und Schätzungen unterstellt, ist das Problematisieren individuellen Verhaltens
allerdings solange applausheischend statt aufklärerisch, wie es unvollständig bleibt. Wenn es wirklich
ums Geld gehen soll, müsste schon das gesamte Sozialsystem betrachtet werden (eben: What about
...?). Was kosten uns die gesunden, pensionierten Medienforscher, die dank eines Privilegs nie in die
gesetzliche Krankenversicherung oder Rente eingezahlt haben? Wie viel länger als fettleibige Früh-
rentner können sie leben und damit von der Allgemeinheit Vollversorgung beanspruchen, bis die
Kosten ihre höheren Steuerzahlungen verbraucht haben und sie als Problem benannt werden dür-
fen? Ab wann ist die Demenz des gesund uralt gewordenen Sportlers gesellschaftlich teurer als der
145
https://www.thelancet.com/article/s0140-6736(20)30460-8/fulltext#%20
146
Auch die Leopoldina kam in ihren Empfehlungen ohne jedes Wort zu Nebenwirkungen aus:
https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemie-die-feiertage-und-
den-jahreswechsel-fuer-einen-harten-lockdown-nutzen-2020/
147
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-qualitaet-der-berichterstattung-ueber-ernaehrung
148
http://www.mediatenor.com/images/library/reports/InformationsQualit%C3%A4t%20Deutschland_Weissbuch
_Druck.pdf
40
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Herzinfarkt des Hartz-IV-Beziehers? Die Provokation muss wohl nicht weiter ausgeführt werden:
Selbst wenn alles richtig ist, kann publizistische Unvollständigkeit zu einer katastrophalen Fehlorien-
tierung führen. In manchen Themenbereichen ist das im journalistischen Mainstream auch völlig
unbestritten: Keine Einzelmeldungen über bestimmte Verbrechen, kein Problematisieren bestimmter
Minderheiten oder "Randgruppen" etc. aber eben immer nur für bestimmte Themenfelder oder
sogar nur für bestimmte Aspekte eines Themenfelds, was unter "Objektivität" diskutiert werden
kann. Ohne "What about...?" jedenfalls ist Journalismus in vielen Fällen gefährlich unvollständig.
Bsp.: Wenn irgendjemand abschätzt, wie viele Tote durch getroffene Maßnahmen verhindert wor-
den seien muss selbstverständlich gefragt werden: 'what about' Todesopfer durch oder wegen der
Maßnahmen? Drosten sprach mutig von bis zu 100.000 verhinderten Sterbefällen allein durchs frühe
Testen.
149
Der Journalismus wenigstens hätte dem die Zahlen von erzeugten bzw. verfrühten Sterbe-
fällen gegenüberstellen müssen.
= Pars pro Toto =
Bildausschnitte oder sogar selbst zusammengepuzzelte Konstrukte als 'die ganze Wahrheit' auszuge-
ben ist im Journalismus weit verbreitet. Euphemistisch wird das oft als Reduktion von Komplexität
dargestellt, als notwendige Vereinfachung.
Quer durch die Medienlandschaft hat sich das Schlagwort von den "Corona-Leugnern"
150
etabliert,
mit dem jeder Kritiker der Corona-Politik belegt wird, der keine inhaltliche Auseinandersetzung ver-
dient. Dass es sich dabei überwiegend gar nicht um Leugner handelt, war schon unter dem Aspekt
der "Richtigkeit" Thema. Bedeutsamer aber ist, dass diese Vereinfachungen vieles weglassen. "Was
siehst du auf diesem Bild?" möchte man wie in der Schule fragen, um eine möglichst exakte Be-
schreibung zu erwirken.
Bsp.: Die "CDU fordert"
151
irgendwas, lesen wir permanent, oder "SPD empört über..."
152
. Dass dabei
niemals die ganze CDU, die ganze SPD, die ganze Arbeitnehmerschaft, eine Stadt, ein Land oder sonst
wer etwas tut, fordert, kritisiert, gehört in die Kategorie "Richtigkeit". Aber selbst, wenn solche Aus-
sagen formal richtig sind (weil sie sich z.B. auf Mehrheitsbeschlüsse stützen): sie unterschlagen die
vorhandene Vielfalt. Einzelstimmen werden zur 'ganzen Wahrheit' aufgebauscht, davon Abweichen-
des wird unterschlagen. Diese Darstellungsform hat u.a. Hans Matthias Kepplinger in vielen Studien
zur Skandalisierung nachgewiesen.
153
Weit verbreitet ist die Darstellung von Einzelheiten als angeblich Ganzes bei der Vermittlung von
Diskussionen oder Reden.
Bsp.: Die Berliner Demonstrations-Rede von Robert Kennedy (den ein Mitglied der Tagesspiegel-
149
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/christian-drosten-in-meinem-alltag-kommt-die-bild-zeitung-
nicht-vor-a-00000000-0002-0001-0000-000171168292
150
selbst in Recherchen (Spiegel TV) und Faktenchecks (Correctiv) verwendet:
https://correctiv.org/faktencheck/2022/01/18/statisten-stellen-szene-fuer-zdf-sendung-nach-und-nehmen-
nicht-an-echtem-protest-gegen-corona-leugner-teil/
151
https://web.archive.org/web/20201010074049/https://www.berlin.de/aktuelles/berlin/6317656-958092-
cdu-fordert-konsequentere-durchsetzung-d.html
152
https://www.rheinpfalz.de/lokal/ludwigshafen_artikel,-quarant%C3%A4ne-app-und-fu%C3%9Ffessel-spd-
emp%C3%B6rt-%C3%BCber-pl%C3%A4ne-der-cdu-landtagsfraktion-_arid,5062037.html [nicht mehr online]
153
https://www.kepplinger.de/content/publikationen
41
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Chefredaktion offenbar für tot hält
154
) wurde, wo es über das Schlagwort "Verschwörungstheoreti-
ker" hinausging, als Warnung vor Bill Gates und dem Mobilfunknetz 5 G zusammengefasst.
155
Begon-
nen hatte er allerdings mit der Information, amerikanische Zeitungen hätten bereits im Vorfeld ge-
schrieben, er werde in Berlin vor 5.000 Nazis sprechen
156
, was für die Einordnung der gesamten Be-
richterstattung nicht irrelevant ist. Zehn Minuten in ein oder zwei Sätze zu bekommen ist immer eine
Herausforderung. Aber sie danach zu schmieden, dass sie in die vorhandene Erzählung passen, ist
unredlich.
= Unvollständige Medien =
Die Forderung nach Vollständigkeit stößt bei einem einzelnen Beitrag natürlich schnell an Grenzen,
u.a. von Zeit und Raum und Geld. Für die Beurteilung dieses Qualitätskriteriums müssen Orientie-
rungsanspruch und Orientierungsmöglichkeiten gemeinsam betrachtet werden. Gleichwohl rechtfer-
tigt keinerlei Ressourcenmangel, wider besseres Wissen unvollständig zu berichten. Das Mindestge-
bot lautet, auf bekannte Lücken hinzuweisen: "Weitere Positionen dazu in den nächsten Tagen",
"Informationen zu XY liegen uns noch nicht vor", "die soeben erschienenen Studie haben wir selbst
noch nicht gelesen" oder auch ein offenbarendes: "Wir wissen eigentlich nichts."
Das hat insbesondere in der Anfangsberichterstattung zu Corona gefehlt. Was die Politik gemacht
hat, war ein riesiges Experiment, in welchem den Bürgern "durch politische Anweisungen das Verhal-
ten im Experiment zugewiesen" wurde, wie es der emeritierte Journalistik-Professor Ulrich Pätzold
beschrieb
157
und aus diesem Setting für den Journalismus folgerte: "Alle Nachrichten [...] müssen
ihren Aussagewert an der Offenheit der experimentellen Anordnungen ausrichten." Aber wo wurde
dieses Nichtwissen deutlich artikuliert? Zu den schiefen Sprachbildern dieser Anfangsphase gehörte
das "Fahren auf Sicht", was korrekt bedeutet: so langsam zu fahren, dass man jederzeit auf das Un-
vorhergesehene reagieren kann, tatsächlich aber meint: 'Wir stochern mit allerlei Instrumenten im
Nebel und schauen, wen wir treffen und was passiert.' Eine kontinuierliche, vollständige Berichter-
stattung hätte diese schiefen Bilder durch Nachrichten ersetzt.
Zur vollständigen Berichterstattung eines Mediums gehört am Ball zu bleiben, wichtige Veränderun-
gen mitzuteilen, vor allem Korrekturen, Widersprüche, neue Entwicklungen. Aber Redaktionen be-
trachten den Wert einzelner Nachrichten: was wird gerade interessieren, was bringt Quote, womit
werden die Kunden gehalten?
Bsp.: Nachdem Virologe Hendrik Streeck am 9. April 2020 erste vorläufige Ergebnisse der "Heinsberg-
Studie" vorgestellt hatte
158
, überboten sich die Medien in Kritik und vermischten dabei alles: Wissen-
schaft, Politik und persönlich-berufsständischen Animositäten (weil die PR-Agentur von Ex-BILD-
Chefredakteur Kai Diekmann für die Heinsberg-Studie aktiv geworden war). Als dann später die voll-
ständigen Ergebnisse vorlagen, gab es kein Medieninteresse mehr. Stattdessen wird der Studie bis
154
https:/www.tagesspiegel.de/berlin/corona-demonstration-in-berlin-unertraeglich-bizarr-aber-auch-
legitim/26140676.html
155
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/08/demonstrationen-
samstag-corona-querdenken-gegendemos.html
156
https://www.youtube.com/watch?v=GHBzjfS3PdU
157
https://web.archive.org/web/20200803092805/https://www.uli-paetzold.de/beitrag-lesen-
11/items/corona-und-journalismus.html
158
https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/zwischenergebnis_covid19_case_study_gangelt_
0.pdf
42
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
heute, wie Streeck beklagt
159
, nach dem oben genannten Muster ein simples "umstritten" vorange-
stellt, anstatt die eigene Berichterstattung einmal upzudaten.
Bsp.: "Sturm auf den Reichstag". Die Berichterstattung zu einem kleinen und tatsächlich belanglosen
Ereignis am 29. August 2020 war beherrscht von Interpretationen und falschen Zuordnungen (siehe
Kap. 7). Dies hätten die Medien wenigstens im Nachhinein durch nüchterne Informationen korrigie-
ren können und müssen. Denn wenn "300 bis 400 Demonstranten" etwas Schreckliches getan haben
sollen, gehört zum Follow-up das Ergebnis der Justiz: zwei Jahre nach dem Vorfall gibt es drei Verur-
teilungen, "zwei Mal wegen Landfriedensbruch nach § 125 Strafgesetzbuch (StGB) und einmal wegen
Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen nach § 86a
StGB".
160
Wenn eine solche Tatdichte immer für eine bundesweite Empörung genügen sollte, hätten
wir Daueralarm. Vor allem aber: Den bis heute unverändert behaupteten "Sturm auf den Reichstag"
hat es jedenfalls von Seiten der ermittelten Beteiligten nach Auffassung von Staatsanwaltschaft bzw.
Gericht nicht gegeben. Die Tagesschau ließ, anstatt über diese juristische Bewertung zu berichten
und damit die eigene frühere Darstellung zu korrigieren, einen fehlerhaften Faktencheck einfach
verschwinden.
161
Eine umfangreiche Aufarbeitung der Abläufe in Text und Film hat im Dezember
2022 die freie Journalistin Aya Velázquez vorgelegt.
162
Bsp.: Die Welt berichtete über zunächst 30
163
und später 272 "Ermittlungsverfahren nach versuchtem
Sturm auf den Reichstag"
164
, ließ aber das Endergebnis (s.o.) aus. Nach einer Stichprobe ist davon
auszugehen, dass es bei den meisten Medien ähnlich aussieht.
Ausgerechnet das juristische Magazin LTO gibt der Sache dabei einen interessanten Spin: Der Chefre-
dakteur vertraut nicht etwa dem Rechtsstaat mit der dann notwendigen Erkenntnis, dass es eben
gar keinen "Sturm auf den Reichstag" gegeben hat , er kritisiert die geringe "Verurteilungsquote"
nach der Logik: wo ermittelt wird, da sind auch strafwürdige Täter.
165
Solche stark verzerrende Unvollständigkeit ist gang und gäbe bei Vorwürfen: Strafanzeigen gegen
(von den Medien wenig geschätzte) Prominente finden regelmäßig große Aufmerksamkeit, die Ein-
stellung der Ermittlungen und damit die juristische Bedeutungs- oder Haltlosigkeit Monate später
hingegen nicht.
166
159
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/hendrik-streeck-anti-drosten-missverstandener-medien-
star-wer-ist-er-wirklich-a-00000000-0002-0001-0000-000173654768
160
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reichsbuerger-stuermen-reichstag-viel-ermittlungsaufwand-
wenige-verurteilungen-landfriedensbruch/
161
https://www.spiegelkritik.de/2022/09/06/faktenfinder-zum-sturm-auf-den-reichstag-vom-gesetzgeber-
offline-genommen/
162
https://www.velazquez.press/p/der-sturm-auf-den-reichstag
163
https://www.welt.de/regionales/berlin/article224469922/Nach-Krawall-am-Reichstag-rund-30-
Ermittlungsverfahren.html?icid=search.product.onsitesearch
164
https://www.welt.de/politik/deutschland/article233360633/272-Ermittlungsverfahren-nach-versuchtem-
Sturm-auf-den-Reichstag.html
165
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reichsbuerger-stuermen-reichstag-viel-ermittlungsaufwand-
wenige-verurteilungen-landfriedensbruch/
166
https://www.spiegelkritik.de/2015/06/06/strafanzeigen-haben-keine-journalistische-relevanz/
43
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Im September 2020 wussten viele Medien von einer "Superspreaderin" in Garmisch-
Patenkirchen zu berichten.
167
Sogar der 20-Uhr-Tagesschau war dies eine Meldung wert.
168
Dass da-
bei mal wieder viel Wind um wenig gemacht
169
und allerhand Gemutmaßtes als Tatsachen verkauft
worden war, fanden dieselben Medien später weniger interessant, die Superspreaderin darf im Ge-
dächtnis bleiben, immerhin hatte auch schon Ministerpräsident Söder höchstselbst ein Urteil dazu
gesprochen. Zur Vollständigkeit der dankenswerten, aber zu späten Recherche des "Faktenfinders"
hätte auch gehört, statt allgemein vom fragwürdigen Verhalten "einiger Medien" darüber zu spre-
chen, was eine solche Einzelfallmeldung ohne Beweise in der Hauptsendung der Tagesschau zu su-
chen hatte.
170
Zur Vollständigkeit der Corona-Berichterstattung eines Mediums gehört, aus anderen Ländern nicht
nur Infektionszahlen und politische Ge- und Verbote zu kolportieren, sondern auch kontroverse De-
batten, Bürgerproteste und vieles mehr, das zu einem vollständigen Lagebild notwendig ist. Eine der
vielen spannenden und wichtigen Fragen für die Medienforschung lautet daher: Was wissen wir Re-
zipienten eigentlich über die Corona-Pandemie? Wie gut decken sich unsere medial geprägten Bilder
mit der Realität? Wie zum Beispiel hat US-Präsident Donald Trump auf die Corona-Pandemie rea-
giert? Was fällt uns ein, außer dass Trump angeblich geraten habe, Desinfektionsmittel zu trinken?
171
Mit Trump sind wir mitten in einem eigenen großen Bereich von Vollständigkeit: der Meinungsviel-
falt.
5 Meinungsvielfalt
Zur Vollständigkeit einer Berichterstattung gehört die Vielfalt an Meinungen. Meinungsvielfalt ist ein
wichtiger Teil der demokratischen Begründung für Pressefreiheit, und wo möglich, ist sie sogar expli-
zit vorgeschrieben (z.B. im Medienstaatsvertrag
172
, §§ 59 ff).
Der deutsche Journalismus hat ein massives Problem mit der Meinungsvielfalt. Unabhängig vom
konkreten Thema ist in der Branche völlig unklar, wozu es Meinungsvielfalt braucht und wie sie aus-
sehen sollte. Deutlich artikuliert der Journalismus dies selbst, wenn er sich alle paar Wochen mit den
Grenzen des Sagbaren beschäftigt, eine irgendwo vertretene Meinung skandalisiert, als Sittenpolizei
Halbsätze und Tweets investigativ untersucht oder zum hunderttausendsten Mal fragt: Was darf die
Satire? Dabei ist Meinungsvielfalt mit das Wichtigste, das Journalismus bieten muss, wenn er der
Orientierung dienen will.
Schließlich gibt es Orientierung nicht mit einer Einzelmeinung. Im Interesse der eigenen Erkenntnis
braucht es die verschiedenen Perspektiven. Und im Sinne eines demokratischen Prozesses müssen
167
https://www.rnd.de/panorama/33-neue-falle-an-einem-tag-reiseruckkehrerin-als-superspreaderin-in-
garmisch-N64DXQ2JRYKVBWVRU6FTO3GXEQ.html
168
https://web.archive.org/web/20200917091537/https://www.tagesschau.de/faktenfinder/superspreaderin-
garmisch-corona-101.html
169
https://www.welt.de/vermischtes/article215637196/Garmisch-Partenkirchen-Corona-Ermittlungen-gegen-
Superspreaderin.html
170
https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-756207.html
171
https://www.tagesschau.de/ausland/trump-desinfektionsmittel-101.html
172
https://www.die-
medienanstal-
ten.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/Medienstaatsvertrag_MStV.pdf
44
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
alle Stimmen Raum finden und Zustimmung wie Widerspruch erfahren. Meinungen, die keinen
Widerspruch vertragen, sind Dogmen. Sie bleiben zwar Meinungen, werden aber dem Diskurs entzo-
gen. Das ist, was in den viel zitierten 'Blasen' tagtäglich geschieht: die eigene Weltsicht wird fortwäh-
rend bestätigt, jede Abweichung wird niedergemacht und als Podest für die eigene Erhöhung ge-
nutzt. Eine sehr normale Machtstrategie aber gerade kein Vorbild für den Journalismus.
In der Corona-Berichterstattung hat der Journalismus jedoch selbst zahlreiche Dogmen geschaffen:
Glaubenssätze, die zumindest von Laien nicht infrage gestellt werden dürfen. Ein Dogma lautet, in
den Worten der Virologin Sandra Ciesek: es "zählt jedes einzelne Leben"
173
, koste es, was es wolle
(denn alles andere wäre "menschenverachtend").
= Meinungen sind weder richtig noch falsch =
Meinungen können nie richtig sein (und entsprechend auch nie falsch). Sie können ob ihrer schwa-
chen, fehlenden oder unlogischen Begründung absurd erscheinen, sie können sehr abseitig sein (im
Sinne von einzigartig), sie mögen mit allen möglichen Werten und Normen kollidieren oder aber im
Gegenteil von fast jedem Menschen geteilt werden richtig oder falsch sind sie nie. Deshalb kann es
für Meinungen auch keine "Faktenchecks" geben. Prüfen lassen sich nur Tatsachenbehauptungen
(die selbstverständlich regelmäßig als Begründung in Meinungsbekundungen auftauchen).
Bsp.: Doch im Journalismus werden ständig Meinungen für Tatsachenbehauptungen gehalten, was
zu nichts Gutem führen kann.
"Es fing schon mit einer Lüge an. Einen Tag vor seiner Rede an der Berliner Siegessäule twit-
terte Robert F. Kennedy Jr.: 'Morgen werde ich vor der größten Menschenmenge der deut-
schen Geschichte sprechen. Wir erwarten mehr als eine Million Menschen.'"
(Der Spiegel
174
)
Solange der Spiegel Kennedy nicht der Hellseherei überführt, ist seine Aussage über die Zukunft eine
Annahme, eine Prognose, eine Tatsachenvermutung, aber eben keine falsche Tatsachenbehauptung
und mithin keine Lüge. Unwahrscheinlich konnte die Prognose natürlich sein.
Bsp.: Auch wenn mancher Experte seine (fachfremden) Meinungen gerne als unerschütterliche
Weisheiten präsentiert, muss der Journalismus sie kategorisch als Meinungen behandeln, also auch
den Widerspruch dazu suchen. In der ZEIT
175
etwa sagte der meinungsführende deutsche Virologe:
"Auch wenn wir sehen würden, dass aus einem völlig unerfindlichen Grund die Entwicklung
eines Impfstoffs nicht gelingt, würde man auf Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen set-
zen. Das Virus würde andernfalls wieder harte Gegenmaßnahmen erzwingen, einfach weil es
nicht tragbar ist, in einer Gesellschaft mit unserem Altersprofil diese Krankheit durchlaufen zu
lassen. Die vergangenen und derzeitigen Maßnahmen stehen daher nicht infrage."
(Christian Drosten)
Bsp.: Wenn in einer Allensbach-Befragung
176
knapp zwei Drittel der Bürger sagen, man müsse heute
"sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert", dann ist das wohl ihre Meinung, ihr Ge-
173
https://magazin.spiegel.de/SP/2020/43/173548967/index.html
174
https://www.spiegel.de/politik/ausland/robert-f-kennedy-jr-nach-anti-corona-demo-ich-habe-angela-
merkel-nie-kritisiert-a-b1788c7e-ea28-4af0-9a7b-d1685dcdf092
175
https://www.zeit.de/wissen/2020-10/christian-drosten-corona-massnahmen-neuinfektionen-herbst-
winter-covid-19/komplettansicht
45
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
fühl (in einigen Fällen sicherlich wie immer nur eine "Meinungsbehauptung"). Diese Meinung kann
auch ein Bundespräsident nicht vom Tisch fegen, indem er macht, was Faktenchecker Patrick Gensing
als Trick kritisiert
177
, "die eigene Weltsicht als Tatsache zu verkaufen", und sagt
178
:
"Die Behauptung, man dürfe in Deutschland seine Meinung nicht (mehr) frei aussprechen, ist ein
längst ausgeleiertes Klischee aus der reaktionären Mottenkiste."
(Frank-Walter Steinmeier)
Bsp.: Ein letztes Beispiel, wie Verständigung nicht gelingen kann, wenn Meinungen, Tatsachen und
'gefühlte Fakten' durcheinandergeworfen werden. In den Blättern des Schleswig-Holsteinischen Zei-
tungsverlags stand am 24. Oktober 2020 über ein Streitgespräch unter dem Titel "Das Virus wirkt wie
ein Beschleuniger"
179
:
"Eine Gewerkschaftsumfrage habe ergeben, dass sich 48 Prozent der Lehrer in Schleswig-
Holstein nicht genügend auf digitalen Unterricht vorbereitet fühlen. Dem widersprach die Mi-
nisterin. Das Ministerium habe 380 von 800 Schulen im Land angefragt und laut der Antwor-
ten seien 70 Prozent gut vorbereitet [...]."
(Norddeutsche Rundschau)
= Sinn der Meinungsvielfalt =
Zur parlamentarischen Parteiendemokratie gehört zwingend die Opposition. Man darf diesen Dua-
lismus für inadäquat halten, um komplexe Probleme zu lösen und Millionen-Gesellschaften gerecht
zu werden, man darf sich eine Demokratiereform wünschen
180
, aber einstweilen geht es nicht ohne
Opposition. Diese Opposition ist keinesfalls aufs Parlament beschränkt. Gerade wenn die Berufspoli-
tiker eine Arbeitspause einlegen (die etwa Demokratieforscher Wolfgang Merkel in einem Podcast
von n-tv für sehr bedenklich hielt
181
), muss Widerspruch der Zivilgesellschaft in den Medien vorkom-
men.
Ein beliebtes Argumentationsmuster gegen publizistische Meinungsvielfalt lautet: Meinungsäuße-
rungsfreiheit bedeute weder, dass es keinen Widerspruch geben dürfe noch, dass es überhaupt ei-
nen Anspruch auf Wahrnehmung gebe. Das ist für den Informationsjournalismus jedoch schlicht
falsch.
182
Zur Information gehört, die verschiedenen Sichtweisen auf Tatsachen abzubilden. Meinungsvielfalt in
den öffentlichen (und privaten) Diskurs zu tragen ist in einer Demokratie zwingend Aufgabe des
Journalismus, und zwar keinesfalls nur als Beitrag zum Minderheitenschutz, sondern auch als Chance
für die jeweilige Mehrheit, die eigene Position zu überdenken, den Horizont zu erweitern, bislang
Unbedachtes zu bedenken, kurz: informierter zu sein und damit verantwortlicher handeln zu können.
176
https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/user_upload/FAZ_Mai2019_Meinungsfreiheit.pdf
177
https://www.bpb.de/apuz/306450/faktum-meinung
178
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-
Steinmeier/Reden/2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html
179
https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/politik/schule-in-zeiten-von-corona-karin-prien-und-
astrid-henke-im-shz-streitgespraech-id30036592.html
180
https://fordemocracy.hypotheses.org/1596
181
https://open.spotify.com/episode/7LQtJSwoZYyG0UyqQtc9Jq
182
https://www.heise.de/tp/features/Meinungsfreiheit-verlangt-journalistisches-Gehoer-4623597.html
46
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Die Notwendigkeit für Meinungsvielfalt im Journalismus kann nur negieren, wer an die gute Herr-
schaft und damit eindeutig richtige politische Entscheidungen glaubt. Für diesen Glauben ist die De-
mokratie allerdings die falsche Kirche, für ihn braucht es den 'guten Diktator', von alters her 'Philoso-
phenkönig' genannt. In einer Demokratie aber sind nicht richtige Entscheidungen das Ziel, sondern
solche mit der größten Zustimmung und zugleich geringsten Beeinträchtigung (ausführlich Rieg
2020a
183
).
Mit der Corona-Politik wurden dann Billionen Euro verschoben, Regierungen bestimmten das Leben
der Bürger über Verordnungen, die weit in die Grundrechte eingreifen, Parlamente stimmten Geset-
zen in Windeseile zu, die nur für den Einzelfall Corona-Pandemie gemacht wurden, föderalistische
Herrschaftsschranken wurden mit Bund-Länder-Absprachen ausgehebelt da sollte man mehr Mei-
nungsvielfalt in den Medien als zu jeder anderen Zeit erwarten.
= Erforderliches Meinungsspektrum =
Für den Journalismus ist selbstverständlich nicht jede Meinung relevant. Wie auch bei der Berichter-
stattung über Tatsachen ist das Selektionskriterium, ob eine bestimmte Position für die Orientierung
hilfreich sein kann. Welche Kriterien für die erste Meinung zu einem Thema gelten, soll hier nicht
theoretisch erörtert werden; wichtiger ist, dass dieser Entscheidung unbedingt die Suche nach der
Gegenposition folgen muss und verschiedenen Positionen dazwischen oder anderswo. Denn ist
eine Meinung publizistisch interessant, dann braucht es für die Orientierung den Widerspruch und
Alternativen; andernfalls ist die Meinung journalistisch belanglos (weil banal, schon lange durchdis-
kutiert oder aus anderen Grünen ohne Informationswert). Während Tanjev Schultz (2020
184
) die
Selektionsaufgabe der Medien auch bei der Meinungsvielfalt betont und mahnt,
"angesichts von Populismus, Desinformation und Verschwörungslegenden müssen die Medien um-
so mehr darauf achten, jene Stimmen zu Gehör zu bringen, die etwas Substanzielles beizutragen
haben",
halte ich die immerwährende Suche nach anderen Meinungen für essentiell. Für eine Meinung ist
konstitutiv, dass es Widerspruch gibt, andere Ansichten, andere Erlebnisse, Sichtweisen der Welt,
andere Prioritäten. Die Orientierungsleistung einer einzelnen publizierten Meinung kann nur im Kon-
trast zur eigenen Meinung bestehen (die freilich bereits fast immer das Ergebnis der Auseinanderset-
zung mit zig anderen Interpretationen, Wünschen und Empfindungen ist). Das kann ausreichend sein,
doch der Journalismus selbst, der hier natürlich stets nur General-Interest-Medien meint, also
News-Medien, die ein Vollprogramm bieten muss Informationsangebote machen, die eine für die
Orientierung notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema jedem regelmäßigen Kunden ermögli-
chen. Es genügt nicht, dass irgendwo auch noch andere Ansichten publiziert werden, in 'alternativen
Medien', auf Blogs und in Communitys. Wer journalistisch informieren will, muss die Meinungsviel-
falt abbilden.
Bsp.: Ein Beispiel aus dem von Nachrichtenmedien gerne als konstruktive Ergänzung referierten Ma-
gazin "Perspective Daily", außerhalb von Corona. Im Beitrag "Wie die Schwarze Null unsere Zukunft
zerstört"
185
wird anlässlich der durch die Corona-Politik stark steigenden Staatsschulden die "Modern
Monetary Theory" (MMT) vorgestellt. Tenor: "Staatsschulden? Kein Problem! Im Gegenteil, je mehr
183
https://fordemocracy.hypotheses.org/2765
184
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/ungerechte-medienkritik
185
https://perspective-daily.de/article/1450/wePLraaQ
47
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
wir machen, desto besser geht es uns allen!" Die Gegenposition dazu wird auf zwei Sätze zusammen-
gestaucht, ohne einen Protagonisten, und liest sich so:
"Eine derart revolutionäre Denkweise wie die der MMT ruft natürlich Kritiker:innen auf den
Plan. Sie werfen den Verfechter:innen der Theorie insbesondere vor, die Gefahr einer zu locke-
ren Geldpolitik und der aus ihrer Sicht zwangsläufig folgenden steigenden Inflationsrate zu
verharmlosen. Im schlimmsten Fall könne daraus eine Negativspirale aus Preissteigerungen
und steigendender Arbeitslosigkeit folgen, die schwere Wirtschaftskrisen zur Folge hätte. Dirk
Ehnts [einer der einflussreichsten Verfechter der MMT] hält die möglichen Folgen, die bei der
Anwendung der MMT ins Haus stehen könnten, jedoch für ein grundlegendes Missverständnis
[...]."
(Perspective Daily)
Bsp.: Dass die koordinierte Corona-Politik von Bund und Ländern in den Medien ganz überwiegend
gelobt wird, ist nicht zu beanstanden. Wenn allerdings der Widerspruch fehlt, recherchiert der Jour-
nalismus nicht genug. Wenn dann noch der Widerspruch auf dem Silbertablett u.a. in Form mehrerer
Buch-Bestseller serviert wird, darf man sich über das komplette Ignorieren dieser Sichtweise doch
sehr wundern.
186
(Das Buch zur Metaebene, Wolfgang Kubickis "Meinungsunfreiheit"
187
, sucht man in
den meisten Leitmedien ebenso vergebens.)
Selbst wenn eine bestimmte Meinung sehr, sehr weit verbreitet ist, entbindet das den Journalismus
nicht davon, Widerspruch zu recherchieren. Es geht nicht um Abstimmungen mit Fünf-Prozent-
Hürde, sondern um wechselseitige Erkenntnis.
Bsp.: Einen dogmatischen Klassiker gab es im DLF-Podcast "Nach Redaktionsschluss".
188
Als Grenze
der Meinungsäußerungsfreiheit und damit Gedanke jenseits der im Journalismus abzubildenden
Meinungsvielfalt sahen Redakteurin, Redakteur und Hörer gemeinsam die Forderung nach Wieder-
einführung der Todesstrafe. Das Beispiel ist sattsam bekannt aus jeder Debatte über Plebiszite und es
soll hier keinesfalls diskutiert werden. Aber dass es zurecht ein Tabuthema ist, das verlangt wie dar-
gelegt die Gegenrede.
Dem Diskursverbot liegt die Haltung zugrunde, aus unseren zivilisatorischen Errungenschaften und
ihren Kodifizierungen etwa im Grundgesetz und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
ergebe sich als Tatsache und nicht als verhandelbare Meinung, dass der Staat (als Justiz) einen Men-
schen nicht zur Strafe (oder Prävention) töten dürfe. Klar, sagt der Kriegsdienstverweigerer, deshalb
muss auch die Bundeswehr aufgelöst und die Polizei entwaffnet werden (was übrigens noch bei
"Black Lives Matter" eine legitime Meinung war: defund the police
189
). Deshalb sind Soldaten Mör-
der
190
, sagt der Kriegsdienstverweigerer, insbesondere wenn sie per ferngesteuerter Drohnen, ohne
Gerichtsverfahren mit Todesurteil, Menschen hinrichten.
Klar, sagt auch der Globalisierungskritiker, deshalb verstoßen Teile der Corona-Politik genau gegen
dieses Tötungsverbot, weil sie Leben in unterschiedliche Wertigkeitsgruppen sortieren und der Ge-
sundheit in der 'Ersten Welt' das Sterben in der 'Dritten Welt' unterordnen. Allgemeine Menschen-
186
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/trotzdem-ein-erfolg
187
https://www.westendverlag.de/buch/meinungsunfreiheit/
188
https://castbox.fm/episode/Extreme-Meinungen-auf-dem-Sender---Aushalten-oder-abdrehen--id3241342-
id335317110?country=de
189
https://web.archive.org/web/20200609163249/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/usa-proteste-
polizei-defund-police-100.html
190
https://de.wikisource.org/wiki/Der_bewachte_Kriegsschauplatz
48
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
würde, Gleichheit aller Menschen? Pustekuchen.
Um es wieder abzukürzen: Existierende Meinungen zu ignorieren, die der eigenen Grundüberzeu-
gung zuwiderlaufen, verhindert Orientierung. Die Welt ist meist etwas komplexer, als es Dogmen
glauben machen wollen.
= Die typischen Protagonisten =
Bei politischen Themen begnügt sich der Journalismus in seinem Vielfaltsbemühen meist in der Ver-
lautbarung von Parteien-PR. Zur Regierungspolitik werden dann pflichtschuldig ein, zwei Stimmen
aus der Opposition zitiert. Zu einzelnen Fachthemen kommt auch der jeweilige Lobbyverband als
Vielfaltsgenerator in Betracht. Fragen der inneren Sicherheit darf regelmäßig eine der beiden Polizei-
gewerkschaften kommentieren, für alle Wirtschaftsthemen gibt es Gewerkschaften und Arbeitgeber-
verbände journalistische Meinungshorizonte sind meist gut zu überschauen. Aber schon diese sehr
schematische Vielfalt wird oft genug nicht hergestellt.
Bsp.: Eine Zählung der Corona-Talkshow-Besetzungen vom 26. Februar bis 4. Mai 2020 ergab für
Markus Lanz, Maybrit Illner, Frank Plasberg (Hart aber Fair), Anne Will und Sandra Maischberger bei
insgesamt 59 Sendungen
191
:
"97 Auftritte von Politikern
SPD 42, CDU/CSU 35, FDP 10, Bündnis90/Die Grünen 8, Die Linke 2, AFD 0
Auftritte Regierungsparteien: 77
Auftritte Opposition: 20
Hart aber Fair verzichtet in acht Corona-Sendungen vollständig auf Politiker der Oppositi-
onsparteien im Bundestag."
Unter 97 Politikerauftritten nicht einen einzigen der damals größten Oppositionspartei im Bundestag
zu haben, wird man bei aller Achtung inhaltlicher Auswahlkriterien
192
nicht für Meinungsvielfalt hal-
ten können.
Eine professorale Auswertung kam übrigens zum gleichen Ergebnis (Faas/ Krewel 2021
193
). Von Janu-
ar 2020 bis Juli 2021 wurden 112 Talk-Sendungen mit 611 Gästepositionen ausgewertet. 308 ver-
schiedene Personen kamen zu Wort, davon 208 nur in einer Sendung, die übrigen häufiger:
"Absoluter Spitzenreiter ist dabei Karl Lauterbach, der in 22 Sendungen zu Gast war. Christian
Lindner, Helge Braun, Markus Söder und Olaf Scholz waren in 12 Sendungen zu Gast, Manuela
Schwesig in 11. Mit Christian Lindner kommt dabei nur ein Oppositionspolitiker auf eine zweistelli-
ge Präsenz."
(Faas/ Krewel 2021: 5)
60 % waren Männer, 40 % Frauen. 77 der 308 Gäste waren Wissenschaftler, 67 Politiker und 58 Jour-
nalisten. Die Politiker nahmen über die 112 Sendungen 236 Gästepositionen ein. Davon entfielen 87
auf die SPD (Stichwort: Lauterbach, 79 auf CDU/ CSU, 32 auf die FDP, 23 auf die Grünen und 7 auf die
Linke. Aber wieder nicht ein einziges Mal jemand von der größten Oppositionsfraktion im Bundestag
(AfD). Erstaunlicherweise ist dies der Studie (bzw. der Darstellung erster Ergebnisse) keine Erwäh-
191
http://www.planet-interview.de/blog/analyse-von-talkshows-zu-corona-in-das-erste-und-zdf/51488/
192
http://www.planet-interview.de/blog/antworten-der-redaktionen-maischberger-anne-will-und-hart-fair-
zur-talkshow-analyse/51527/
193
https://www.polsoz.fu-
berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/forschung/Projekte/covid_talkshows/index.html
49
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
nung wert, vielmehr wurde eine Stelle dazu getilgt, nur die dazu gedachte Fußnote blieb erhalten.
194
Auch in einer erweiterten Auswertung der Daten verlieren die Autoren kein Wort darüber (Faas/
Krewel 2022): von 238 Politikerauftritten
195
in den drei Talkshows entfiel kein einziger auf einen AfD-
Politiker, obwohl die Partei mit 12,6 % als drittstärkste Fraktion nach Union (32,9 %) und SPD (20,5 %)
aus der Wahl 2017 herausgegangen war.
Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl beklagt: "Es sind im Übrigen weithin dieselben Exper-
ten, die vor die Kamera geholt werden."
196
Ja, es sind nur wenige Virologen, die als Experten in den
Medien gehandelt werden. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach dominierte als Politikvertreter bis zu
seiner Ernennung zum Bundesgesundheitsminister am 8. Dezember 2021 ohne jedes exekutive Man-
dat alles (Markus Lanz räumte ihm gar ein "Weekly Update" ein
197
). Allerdings: zu diesen immer
selben Experten, die Russ-Mohl beklagt, gehören auch die immer selben Medienwissenschaftler, und
auch sie genügen sich wie andere Experten gerne selbst, verzichten weitestgehend auf Verweise zu
und Auseinandersetzungen mit Kollegen. Motto: Experten verkünden Wahrheiten, da gibt es keine
alternativen Meinungen.
Die verschiedenen Parteien, Lobbyverbände oder Wissenschaftsdisziplinen nach irgendeinem Pro-
porz zu berücksichtigen, macht Berichterstattung noch nicht im notwendigen Maße meinungsvielfäl-
tig.
Bsp.: Demonstrationsverbot in Berlin: Der RBB berichtete über den Beginn der gerichtlichen Ausei-
nandersetzung mit einem Statement des Demonstrationsanmelders und acht Kommentaren von
Politikern, bis auf die Linke kommen alle Parteien des Berliner Abgeordnetenhauses zu Wort, die AfD
sogar gleich mit vier Zitatgebern.
198
Da aber ansonsten keine Experten zu Wort kommen, etwa für
Verfassungsrecht und Demokratie, und da auch aus der Zivilgesellschaft niemand etwas beitragen
darf, wird die Kritik am Demonstrationsverbot ausschließlich mit der AfD verknüpft. Mit der realen
Meinungsvielfalt hatte dieser Beitrag nichts zu tun, stattdessen wurde geradezu lehrbuchmäßig Par-
teien-PR publiziert und eine parteipolitische Auseinandersetzung inszeniert (obwohl Demonstratio-
nen nun gerade ein zivilgesellschaftliches Thema sind).
Wenn es derzeit um den Schulbetrieb geht, dann kommen in den Medien Politiker und Lehrer-
Lobbyisten zu Wort
199
, manchmal auch die schwer zu umgehenden Virologen und gelegentlich Eltern-
Lobbyisten. Was aber immer fehlt, sind die vielfältigen Meinungen der Schüler. Die abzubilden wäre
mit einem Halbsatzzitat eines Schülervertreters natürlich längst noch nicht getan.
Der Journalismus handelt Meinungsvielfalt regelmäßig mit einem Pro und Contra beruflicher Mei-
nungsbekunder ab, die so verlässlich ihre Rolle spielen, dass sich jeder mit etwas Erfahrung ihre
194
Sie lautet: "Tino Chrupalla von der AfD war in der Illner-Sendung „Rechts, links, quer – wer profitiert von
Angst und Spaltung?“ vom 3.12.2020, in der es aber um gesellschaftliche Spaltungen im Allgemeinen ging,
weniger um spezifische Corona-Aspekte, weshalb diese Sendung nicht Gegenstand der hier vorliegenden Ana-
lyse ist."
195
Diese absolute Zahl ist im Beitrag nicht angegeben, aber darin werden 39 % der 611 Gästepositionen als mit
Politikern besetzt ausgegeben (Faas/ Krewel 2022: 543).
196
https://www.sueddeutsche.de/medien/russ-mohl-gastbeitrag-corona-panikorchester-1.5075025?
197
https://www.dwdl.de/magazin/77377/karl_lauterbach_bei_lanz_eine_fortsetzungsgeschichte/
198
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/08/reaktionen-verbot-
corona-demonstration-berlin-senat.html
199
https://web.archive.org/web/20201023091225/https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Lehrerverb
aende-fordern-Maskenpflicht-im-Unterricht,corona4914.html
50
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Kommentare auch selbst ausdenken könnte. Was sie sagen, ist immer erwartbar, nie überraschend.
Es sind verlässliche Satzbausteinlieferanten und Talkschauspieler, mit ihnen bekommt man jede Seite
und jede Sendung zu jeder Uhrzeit voll. Nur mit der Meinungsvielfalt in der realen Welt haben diese
Medieninszenierungen nichts zu tun.
Bsp.: Dass es neben den im Bundestag und ggf. noch einzelnen Landtagen vertretenen Parteien wei-
tere Wählergruppierungen gibt, kann man den Medien allenfalls mal kurz vor einer Wahl in Parteien-
checks entnehmen. Aber wer hat zu einem Tierschutzproblem schon mal ein Statement einer der
(mindestens zwei relevanten) Tierschutzparteien in den Hauptnachrichten gesehen? Eine Auswer-
tung der Sendungen Tagesschau (ARD) und heute (ZDF) für das Jahr 2020 fand unter insgesamt 5.032
Politikerauftritten keinen einzigen einer unter "Sonstige" zu rubrizierenden Partei: 38 % kamen von
der CDU, 22 % von der SPD, 9 % von der CSU, 8 % von B90/Grüne, 7 % von der Linken, je 6 % von FDP
und AfD und 3 % galten als parteilos (Krüger/ Müller 2023: 143). Wozu stehen auf Wahlzetteln 20 bis
30 Parteien und Wählervereinigungen, wenn nur sieben davon binnen eines Jahres in den Haupt-
nachrichten mit einer Position vorkommen? (Art. 21 Abs. 1 GG beschränkt sich nicht auf Parlaments-
parteien.)
= Die gesellschaftliche Meinungsvielfalt =
Man darf schon den Grundannahmen in der Corona-Politik widersprechen, und jeder engagierte
Vertreter dieser Politik müsste sich genau dies in den Medien wünschen, weil nur mit der daran an-
schließenden Auseinandersetzung überhaupt eine verantwortungsvolle Meinungsbildung möglich ist.
Wenn die Meinung publiziert wird, für den Schutz vor Covid-19 müsse alles, was irgendwie möglich
ist, getan werden, dann braucht es u.a. die Gegenposition, dass staatlicherseits gar nichts zu tun ist,
eine Naturgewalt quasi zu akzeptieren sei. Eine solche Meinungsvielfalt wurde als "menschenverach-
tend" verbannt, sie soll hier wie alle Meinungen nicht diskutiert werden. Aber das 'gute Argu-
ment' fürchtet die Gegenrede nicht. Nur wenn die gesamte Spannweite der Möglichkeiten diskutiert
wird, sind verantwortungsvolle Entscheidungen bzw. beim zuschauenden Bürger: Meinungen
möglich. Schließlich hat jede geplante Wirkung auch Nebenwirkungen
200
, und erst die Sicht auf die
gesamte mögliche Palette von Handlungsoptionen ermöglicht es, auch die vielen Positionen dazwi-
schen in die Debatte zu bringen. Deshalb im Folgenden nur stichworthaft:
201
Man darf (und durfte vor allem in der Anfangszeit großer Ungewissheit) der Ansicht sein und der
Journalismus hat diese Positionen abzubilden,
- dass es auf der Welt bedrohlichere Probleme gibt als Sars-CoV-2;
- dass einzelne Regelungen undurchdacht, kontraproduktiv, willkürlich, ungerecht sind;
- dass Wirkungen und Nebenwirkungen der Pandemiebekämpfung in keinem guten Verhältnis ste-
hen.
Man darf fragen und darüber öffentlich sinnieren,
- welche Eigeninteressen Regierungen, Parteien, Wissenschaftler, Ärzteverbände, Krankenkassen,
Versicherungen, Pharmaunternehmen etc. in einer solchen Pandemie haben;
- welche Eigeninteressen Medien in ihrer Berichterstattung verfolgen (immerhin arbeiten auch dort
die Menschen nur selten zum Spaß allein);
- wie ein Leben ohne wirksamen Impfstoff aussähe;
200
https://www.vfa-patientenportal.de/arzneimittel/nutzen-und-risiken/kein-medikament-ohne-
nebenwirkungen.html-1
201
Dieser Abschnitt wurde erstmals am 22.11.2020 veröffentlicht.
51
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
- wie ein Leben mit wirksamem Impfstoff aussähe (Selektion zwischen Geimpften und Nichtgeimpf-
ten, Impfpflicht etc.);
- was all die Krisenstäbe den lieben langen Tag tun und wer das Gegengewicht zu diesem katastro-
phischen Eigenleben bildet;
- ob die Verteilung von Sozialleistungen (im weitesten Sinne) zwischen Jungen und Alten gerecht ist;
- welchen Einfluss die sog. 'Eliten'
202
gerade in einer Krisenzeit haben?
Zur Meinungsvielfalt in den Medien gehört, Positionen zu benennen,
- die Maskenkontrollen bedrohlich finden,
- denen private Sicherheitsleute an allen Ecken kein Gefühl von Sicherheit geben;
- die keine Bundeswehr in Gesundheitsämtern wollen.
Es braucht Diskussionen,
- um die Verhältnismäßigkeit aller Detailregelungen und Befugnisse, um Bußgelder und Polizeikom-
petenzen;
- um Grundfragen der Demokratie, der Gewaltenteilung, des Föderalismus;
- um Bürgerbeteiligung, Selbstverantwortung und lokale Entscheidungskompetenzen;
- um einzelfallbezogene Gesetzgebungen.
Es ist nicht gleich Verschwörungsgeschwurbel, wenn jemand darüber nachdenkt,
- ob bei der immensen Genom-Sammlung durch Corona-Tests ein strikter Datenschutz gewährleistet
ist;
- dass Regierungen Fehlentscheidungen vielleicht nicht eingestehen, stattdessen zur Bestätigung
ihrer Sicht in die falsche Richtung weiterlaufen (Stichwort: "Kampf gegen den Terror");
In den Medien müssen auch Menschen vorkommen,
- denen der 'Corona-Gehorsam' Angst macht;
- die eine 'Blockwart-Mentalität' sehen;
- die sich durch die nun seit Monaten allgegenwärtigen Hygienehinweise gehirngewaschen fühlen.
= Label Verschwörungstheoretiker =
Zum in den Medien weit verbreiteten Label von Personen(gruppen) als "Verschwörungstheoretiker"
sei Andreas Anton zitiert, u.a. Mit-Herausgeber des Sammelbands "Konspiration Soziologie des
Verschwörungsdenkens" (2024):
>Der Begriff 'Verschwörungstheorie' (oder wie es heute gerne heißt: 'Verschwörungserzäh-
lung' oder 'Verschwörungsmythos') ist mehr denn je ein Kampfbegriff, der häufig genutzt
wird, um Meinungen oder Personen zu diskreditieren. Angesichts der Tatsache, dass es reale
Verschwörungen gibt und Verschwörungstheorien damit selbstverständlich auch wahr sein
können, ist der Vorwurf, dass jemand ein 'Verschwörungstheoretiker' sei, an sich vollkommen
inhaltsleer. Verschwörungstheorien können plausibel sein oder eben nicht. Pauschalurteile
verbieten sich hier. Wir verwenden in unseren soziologischen Analysen zu Verschwörungsthe-
orien eine neutrale Begriffsdefinition. Eine Verschwörungstheorie ist für uns schlicht ein Erklä-
rungsansatz, der aktuelle oder historische Zustände oder Ereignisse als Ergebnis einer Ver-
schwörung interpretiert. Nicht mehr und nicht weniger. Wir setzen der landläufigen negativen
Konnotation des Begriffs für die wissenschaftliche Diskussion also ein neutrales Begriffsver-
ständnis gegenüber, das keine generellen Aussagen über die Plausibilität oder den Wahr-
heitsgehalt verschwörungstheoretischer Deutungen macht. Das wird leider oft missverstan-
202
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Elitesoziologie&oldid=231623030
52
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
den. Jemanden mit Bezug auf unsere Arbeiten als 'Verschwörungstheoretiker' zu bezeichnen
und damit für unseriös erklären zu wollen, ist also einigermaßen absurd.<
203
= Die reale Meinungseinfalt =
Es gibt viele Meinungen, die es nicht in die Medien schaffen. Oder die zumindest nicht aktiv von je-
mandem vertreten werden dürfen, sondern die allenfalls in einem Nebensatz als "abstruse The-
sen"
204
, als "Geschwurbel"
205
o.ä. abgetan werden. Schon bei der Diskussion um Grenzen der Mei-
nungsvielfalt fehlt die Vielfalt.
Bsp.: In der Deutschlandradio-Sendung "Breitband" wird die staatliche wie private Regulierung von
Meinungsäußerungen im Netz insofern unkritisch behandelt, als die grundsätzliche Notwendigkeit
von Grenzen mit keinem Wort, mit keinem Zitat, mit keiner referierten Position in Frage gestellt wird,
obwohl es diese Antipode zwingend für den Diskurs braucht.
206
Bsp.: Der WDR hat zusammen mit der Ärztekammer Nordrhein zu Corona "hochgefährliche" Aussa-
gen identifiziert. 17 Fälle seien der Ärztekammer bekannt, "in denen Mediziner das Coronavirus ver-
harmlosen oder gar leugnen."
207
Wenn "der (Haus-)Arzt die Gefahr durch das Coronavirus herunter-
spielt oder gar leugnet", sollte es der Ärztebehörde gemeldet werden. Denn Leugnen wie Herunter-
spielen sind wahrheitswidriger Umgang mit Tatsachen. Dafür droht laut WDR-Bericht "eine Rüge [...]
oder etwa eine empfindliche Geldstrafe". Da möchte man als Freund der Aufklärung doch wissen,
was die faktische, unbestreitbare, wertungsfreie Gefahr von Sars-Cov-2 ist. Mit welcher Äußerung
über Corona verstößt ein Arzt gegen den "anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse"? Bei
welchem Rat an den Ratsuchenden muss der Mediziner, der ohne jegliche Beanstandung die Quack-
salberei
208
der Homöopathie betreiben darf, mit einer Inquisition seiner eigenen Standesvertretung
rechnen? Die Ärztekammer Nordrhein verweist auf Anfrage nach den konkreten Werten, ab denen
ein "Herunterspielen" gegeben sei, schmallippig auf einen Artikel in der Medical Tribune.
209
Und
"geleugnet" habe Corona kein Arzt, "das haben wir auch nicht kommuniziert", teilt Sabine Schindler-
Marlow von der Pressestelle mit woher auch immer der WDR das Leugnen dann hat.
Und wie definiert der WDR kraft seiner Recherchen sanktionswürdiges Verharmlosen? Wo liegt die
203
https://multipolar-magazin.de/artikel/rki-protokolle-4
204
https://www.deutschlandfunkkultur.de/covid-19-verschwoerungsfilm-hold-up-abstruse-thesen-in-100.html
205
https://taz.de/Hamburger-Musikklub-steuert-um/!5872100/
206
https://www.deutschlandfunkkultur.de/breitband-sendungsueberblick-monopole-in-der-tech-
branche.1264.de.html?dram:article_id=486716
207
https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/aerzte-coronavirus-verharmlosen-leugnen-folgen-
102.html
208
Erwartungsgemäß haben mich zu diesem Begriff Protestnoten erreicht. Homöopathie wirkt natürlich im
Rahmen des Placebo-Effekts und damit soll jeder, der kann und mag, glücklich werden. Meine Bezeichnung
sei als Wertung gelesen. Vgl. aktuell z.B. Gerald Gartlehner et. al.: Assessing the magnitude of reporting bias in
trials of homeopathy A cross-sectional study and metaanalysis. In: BMJ Evidence Based Medicine.
https://doi.org/10.1136//bmjebm-2021-111846 Zum "Nocebo"-Effekt von Impfungen wie der gegen Covid-19
siehe Julia W. Haas/ Friederike L. Bender/ Sarah Ballou et al.: Frequency of Adverse Events in the Placebo Arms
of COVID-19 Vaccine Trials A Systematic Review and Meta-analysis, in: JAMA Netw Open.
2022;5(1):e2143955, https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2021.43955
209
https://www.medical-tribune.de/meinung-und-dialog/artikel/wenn-aerzte-von-der-coronakrise-als-einer-
kriminellen-inszenierung-sprechen/
53
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
objektiv messbare und damit nicht der Meinungsvielfalt anheimgestellte Gefahrenstufe, die im Arti-
kel nicht erwähnt wird? Mit welcher Meinung ist man noch im grünen Bereich, wo wird's kritisch?
Nicolas Parman vom "Pressedesk" antwortet ähnlich engagiert wie die Ärztekammer: "Wir haben mit
der Redaktion gesprochen. Die Begrifflichkeiten 'verharmlosen' bzw. 'leugnen' sind Bestandteil des
allgemeinen Sprachgebrauchs."
Einschätzungen der Corona-Gefahr, die keine Meinungen sind, sondern falsche Tatsachenbehaup-
tungen, wobei die wahren Tatsachen im Verborgenen bleiben? Oder doch schlicht Diskriminierung
Andersdenkender? Mit etwas Interesse hätte der WDR das wohl (er-)klären können.
Bsp.: Ein Bericht der Berliner Zeitung vom 12. November 2020 zum gleichen Thema macht es nicht
besser.
210
Die populäre Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat kurz nach Verleihung des Bundes-
verdienstkreuzes eine "Qualitätskontrolle der Wissenschaftskommunikation" gefordert und als Me-
dienkritik formuliert: "Wir Journalisten müssen besser darin werden, vernünftigen Stimmen mehr
Aufmerksamkeit zu geben."
211
Bsp.: Wie es aussieht, wenn irgendwo eine 'unvernünftige' Stimme zu Wort kam, zeigt ein Hinweis im
Bildblog sehr exemplarisch:
>Vergangene Woche hatten MDR und hr-Info den emeritierten Epidemiologen Sucharit Bhak-
di unhinterfragt in einem Interview zur Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen, obwohl
hinlänglich bekannt ist, dass sich Bhakdi außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses be-
wegt.<
212
Bsp.: Abweichende Meinungen können sogar von Behörden geahndet werden
213
und der Aufschrei
des Journalismus bleibt aus. Die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien schrieb an Radio Mün-
chen (Auszug, die Echtheit wurde von Pressesprecherin Stefanie Reger bestätigt):
"[...] am 27. und 30. März 2020 erreichten die Landeszentrale mehrere Beschwerden zum Pro-
gramm von Radio München. Darin kritisieren die Beschwerdeführer das von Ihnen geführte Inter-
view mit Dr. Wodarg am 26.03.2020 über das Thema Covid 19. Die Landeszentrale hat das bean-
standete Interview sowie zusätzlich die beiden der „Corona-Reihe“ zugehörigen Interviews mit
Prof. Karin Mölling und Prof. Stefan W. Hockertz geprüft.
Die Landeszentrale kommt zu dem Ergebnis, dass das Interview zwar keine Verletzung der Pro-
grammgrundsätze nach § 5 BayMG und 41 RStV darstellt, es aber den notwendigen Umgang mit
der journalistischen Sorgfaltspflicht stark vermissen lässt.
Begründet wird diese Einschätzung zum einen mit der Auswahl der Talkgäste der „Corona-Reihe“,
die als kritisch gegenüber den aktuellen Entscheidungen der Bunderegierung aufgefasst werden
kann. Zwar ist die Auswahl der Interviewgeber eine eigenverantwortliche redaktionelle Entschei-
dung, allerdings ist gerade bei medizinischen Themen die journalistische Sorgfaltspflicht besonders
zu beachten. [...]
Die Landeszentrale sieht von einer förmlichen Beanstandung ab, aber weist abschließend jedoch
210
https://web.archive.org/web/20201113073354/https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/mit-
attest-gegen-maskenpflicht-li.118431
211
https://youtu.be/Nn2rJrKwENI
212
https://bildblog.de/124784/reizdarm-pro-reagiert-gereizt-wenig-reizende-fragen-grosse-gereiztheit/
213
https://mmm.verdi.de/medienpolitik/radio-muenchen-wegen-kritik-gemassregelt-65941
54
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ausdrücklich auf eine nachhaltige Beachtung der Programmgrundsätze hin, insbesondere der Ein-
haltung der journalistischen Sorgfaltspflicht, damit derartige problematische Sendungen zukünftig
ausbleiben."
(Bayerische Landeszentrale für Neue Medien, BLM)
= Schroeder und die Meinungsfreiheit =
Bsp.: Ein Lehrbuchbeispiel für mangelnde Meinungsvielfalt ist der Fall "Schroeder und Querden-
ken".
214
Der Kabarettist, Moderator, Autor, Redner
215
Florian Schroeder hatte am 8. August 2020 eine
zehnminütige Rede auf einer Stuttgarter "Querdenken"-Demonstration gehalten. In den Nachrich-
tenmedien fand diese Nummer großen Beifall. So schrieb etwa ZEIT nicht nur parteiisch, sondern
schlicht falsch:
>Der Kabarettist Florian Schroeder hat in Stuttgart versucht, mit Anti-Corona-
Demonstrierenden über Meinungsfreiheit zu diskutieren. Mit bescheidenem Erfolg.<
216
Wie beim Qualitätskriterium Richtigkeit ausgeführt, könnte schon eine Quellenangabe solche Fehler
vermeiden, hier also das Video vom Auftritt
217
mit der exakten Stelle, an der Schroeder versucht
haben soll, mit den Demonstranten zu diskutieren (wozu es schon technisch eines großen Künstlers
bedurft hätte). Statt einer Diskussion gab es einen Monolog, in dem Schroeder nicht nur die Mei-
nungsäußerungsfreiheit hochhielt, sondern auch Wohlwollen für seinen aus Teilnehmersicht natür-
lich deplatzierten Auftritt verlangte:
>Wenn ihr für Meinungsfreiheit seid, müsst ihr meine Meinung aushalten. Wenn ihr Demokraten
seid, haltet ihr meine Meinung aus, ohne zu buhen, liebe Freundinnen und Freunde.<
(Florian Schroeder)
Die Medien goutierten diesen Auftritt Schroeders mit reichlich Aufmerksamkeit. Flächendeckend war
er wenigstens eine Meldung wert. In zahlreichen Interviews durfte Schroeder seine 10-Minuten-Rede
weiter erläutern, quer durch die ARD-Anstalten wurde Hochachtung gezollt (z.B. ZAPP
218
, Extra3
219
,
SWR
220
). Die "Diskussion" verlief dabei weiterhin ohne Diskussionspartner, Kritiker der Corona-Politik
kamen nicht zu Wort, es genügte, über sie zu sprechen.
Zweieinhalb Monate später, anderes Setting, aber exakt gleiches Medienverhalten: Michael Ballweg,
Initiator von "Querdenken 711" in Stuttgart, ist Gast bei Florian Schroeder, auch für 10 Minuten wie
zuvor Schroeder in Stuttgart, mit dem Unterschied, dass Ballweg nicht monologisieren darf, sondern
scharfe Vorwürfe von Schroeder parieren muss.
221
Um den Sinn der Corona-Politik oder das Anliegen
214
Extra3 Hintergrund https://youtu.be/dN84ruI0Yx8
215
https://www.florian-schroeder.com
216
https://www.zeit.de/kultur/film/2020-08/florian-schroeder-auftritt-querdenken-demo-stuttgart
217
https://web.archive.org/web/20200809075642/https://www.youtube.com/watch?v=Ldsj0_bmWpg
218
https://www.ardmediathek.de/video/zapp/florian-schroeder-bei-querdenken/ndr-
fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS9iMzAxNDZhZi0wNGJkLTRjMTMtYTVlMS0yMzgyZmI0YjI2ZDU
219
https://www.facebook.com/watch/?v=586734741975889
220
https://web.archive.org/web/20200902235247/https://www.swr3.de/aktuell/nachrichten/florian-
schroeder-bei-querdenken-demo-in-stuttgart-100.html
221
https://youtu.be/NgLk_ghWGlo?t=1105
55
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
der Protestbewegung ging es dabei gar nicht. Auch dieser Auftritt fand ein gewisses mediales Inte-
resse, und wieder galt es Schroeder, der sich in Interviews über Ballweg äußern durfte.
222
Schroeder
über Corona-Politik, Schroeder über Corona-Politik-Gegner, Schroeder über alles das ist die Mei-
nungsvielfalt.
Dass so viel Schroeder pur auch dem Schroeder nicht guttut, zeigte sich, als dieser bei einer De-
monstration der Kulturbranche mit etwa 4.000 Teilnehmern witzelte, Politik und ARD-Brennpunkt
interessierten sich erst, wenn drei Leute von Querdenken versuchen, eine Menschenkette um den
Bodensee zu bilden
223
(wo laut Polizei aber 11.000 Demonstranten waren und wozu es natürlich
keinen Brennpunkt gab).
224
= Kritikfunktion der Medien =
Der Presse kommt in demokratischen Konzepten wesentlich die Aufgabe der Politikkritik zu. Dabei
liegt der Fokus verständlicherweise auf denen, die Macht über die Mitglieder des Souveräns haben,
da sie diese nach demokratischem Verständnis nur im Auftrag der Bürger und maximal bis auf Wider-
ruf ausüben dürfen. Grundsätzlich muss öffentliche Kritik aber alle gesellschaftlich relevanten Akteu-
re begleiten, bspw. auch Oppositionsparteien, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Ein unter Journa-
listen weit verbreitetes und gut gepflegtes Missverständnis ist dabei, demokratisch relevante Kritik
müsse ausschließlich oder wenigstens überwiegend aus dem Journalismus selbst kommen. Journalis-
ten als die für die öffentliche Kritik Zuständigen, dem entspricht der irritierend falsche Begriff von der
Presse als "Vierte Gewalt" (neben Parlament, Regierung und Gerichtswesen).
225
Die eigene Meinung ist das gratis gelieferte Werkzeug, Anstoß an anderslautenden Positionen zu
nehmen; damit kann jeder kritisieren. Journalistische Arbeit wird es aber erst, wenn man nach Wi-
derspruch zu dem sucht, was einem selbst gefällt und einleuchtet. Die Kritikfunktion der Medien
erschöpft sich nicht darin, dem Weltgeschehen stets die eigene Meinung hinzuzugesellen. Journalis-
mus wird es, wenn der Widerspruch recherchiert und publiziert wird. Die Selbstkritik mangelnder
Diversität in den Redaktionen wird nicht obsolet, wenn diese ethnisch der Bevölkerung entsprechen.
Denn Journalisten gleich welcher Herkunft, sexuellen Orientierung o.ä. werden immer eine bestimm-
te soziale Schicht bilden, mit einem bestimmten Bildungsniveau, Einkommen, Lebensstil etc. Journa-
listen können auf keinen Fall die demokratisch notwendige Meinungsvielfalt aus sich selbst heraus
bilden, sie müssen Meinungen, die nicht ihre eigenen sind, recherchieren und in ihre publizistischen
Auseinandersetzungen eintragen.
Wer für das medizinische Personal klatscht und PR-Begriffe wie "Alltagshelden" übernimmt, ist auf
dem kritischen Auge für den Moment eben blind, sieht nicht, was alles schief läuft in den Kranken-
häusern, wie viel Leid täglich durch Fehldiagnosen, Gewinninteresse, fachliche und soziale Unfähig-
keiten an diesen Orten des Kampfes für das Leben verursacht wird. Im Krankenhaus starben 2020
222
https://www.welt.de/vermischtes/plus218376474/Florian-Schroeder-Warum-Querdenken-Gruender-
Ballweg-zu-Gast-im-Ersten-ist.html
223
https://web.archive.org/web/20201003070855/https://www.swr.de/swraktuell/baden-
wuerttemberg/friedrichshafen/anti-corona-demos-und-gegendemos-in-konstanz-100.html
224
https://youtu.be/lVYu3jF8BSQ?t=76
225
beispielhaft für das große Missverständnis eine Folge von "Medien Cross und Quer"
https://web.archive.org/web/20201128112131/https://www.sr.de/sr/sr2/sendungen_a-
z/uebersicht/medienwelt/20201107_medien_cross_und_quer_sendung_100.html oder
https://castbox.fm/vb/323306451 Siehe zur Kritik am Begriff "Vierte Gewalt" auch schon Glotz/ Langenbucher
1969: 30.
56
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
deutlich mehr Menschen durch Behandlungen (nur eines der vielen Stichworte: Nosokomiale Infekti-
onen
226
) als an Covid-19.
227
Aber Journalisten vertrauen Ärzten und Pflegern, so wie sie bis auf weni-
ge Ausnahmen (z.B. Rassismus) der Polizei vertrauen und deren Sichtweisen ungeprüft verbreiten.
228
r wie wichtig in den Medien publizierte Kritik gehalten wird, zeigen zahlreiche Personeneinträge
auf Wikipedia. Wer in der Enzyklopädie vertreten ist und auch nur einmal zu einem einzigen Thema
medienvermittelter Kritik ausgesetzt war, bekommt dort einen eigenen Abschnitt, der schnell alles
andere dominiert. Kritik wird wie ein absolutes Urteil behandelt, unbescholten ist demnach nur, wer
unkritisiert bleibt eine fatale Verengung.
= Meinungseinfalt aus gutem Grund? =
Es dürfte im Moment hinreichend belegt sein, dass es um die Meinungsvielfalt in der Corona-
Berichterstattung nicht optimal bestellt ist (Eisenegger/ Oehmer/ Udris/ Vogler 2020; Maurer/ Rei-
nemann/ Kruschinski 2021: 57; Faas/ Krewel 2021). Und es gibt von verschiedenen Seiten und Diszip-
linen auch Begründungen, die keine Entschuldigungen sind, sondern Rechtfertigungen. Die stärkste
und grundlegendste geht davon aus, dass es eine faktisch richtige Politik gibt, über die die Politik
selbst entscheidet. Dann muss jede Alternative falsch sein, mindestens weniger gut, und es ist über-
flüssig, dass sich die Bürger als Regierte den Kopf über Regierungspolitik zerbrechen. In diese Rich-
tung haben zu Beginn der Corona-Pandemie Medienwissenschaftler argumentiert. Vinzenz Wyss
sagte in einem Interview:
>Die eher unkritische Berichterstattung der ersten Phase halte ich für angebracht. Es ging ja
primär darum, angesichts der Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus in kurzer Zeit einen Kol-
laps des Gesundheitssystems zu vermeiden. Stimmen von Skeptikern verwirren da nur und
tragen in dieser Phase nichts zur Lösung dieses Problems bei.<
229
Medienethikerin Marlis Prinzing schrieb:
>Die Anfangsphase der Berichterstattung über Corona in Deutschland lässt sich verantwor-
tungsethisch rechtfertigen. Man kann argumentieren, dass die sie prägende Zurückhaltung
bis hin zu einer Art Hofberichterstattung den Zweck haben konnte, nicht verantwortlich zu
sein für die Folgen (mehr Infizierte!), die es auslösen könnte, z.B. Maßnahmen zur Sozialdis-
tanz anzuzweifeln. Die gesinnungsethische Selbstverpflichtung auf eine kritische Haltung ist
übrigens nicht gleichzusetzen damit, allem und jedem einfach aus Prinzip zu widerspre-
chen.<
230
Eine andere Begründung für begrenzte Meinungsvielfalt geht davon aus, dass es zwar Streitpunkte
für die Demokratie gibt, der Diskursraum jedoch (im Hinblick auf eine gute Politik) von Journalisten
bestimmt werden sollte. Dann wird Abweichendes schlicht als "Kokolores" (David Schraven, Correc-
tiv
231
) abqualifiziert. Für die Frankfurter Rundschau erklärte Wissenschaftsredakteurin Pamela Dörhö-
226
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/Nosokomiale_Infektionen/nosokomiale_infektionen_node.html
227
Wobei Behandlungsfehler bei Covid-19 bisher gar nicht verlässlich abgeschätzt sind.
228
siehe https://www.spiegelkritik.de/2019/06/14/recherche-bei-polizeimeldungen/
229
https://blog.zhaw.ch/languagematters/2020/04/02/die-rolle-des-journalismus-in-der-corona-krise/
230
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-krisenbeobachter-journalismus-waehrend-der-corona-
pandemie
231
http://www.planet-interview.de/interviews/david-schraven/51884/
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Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
fer, Menschen könnten sich mit ihren Meinungen als Gesprächspartner diskreditieren, "weil sie in
bestimmten 'alternativen Medien' auftreten und Leuten Interviews geben, die Verschwörungsmy-
then verbreiten", sie also gegen eine ungeschriebene Etikette als Zutrittsschwelle verstoßen.
232
Bsp.: Journalistin Carolin Emcke vertr