PreprintPDF Available

Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus Eine kommentierte Fallsammlung

Authors:
Preprints and early-stage research may not have been peer reviewed yet.

Abstract

Dieses medienjournalistische Paper basiert auf einer umfangreichen Sammlung journalistischer Qualitätsmängel in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie in den General Interest Medien, die zunächst für einen Beitrag in der Zeitschrift "Journalistik" (EN: "Journalism Research") begonnen wurde (Rieg 2020b). Die kommentierenden Ausführungen zu ca. 600 journalistischen Beiträgen basieren größtenteils auf bereits veröffentlichten Artikeln von mir. Das meiste referenzierte Material stammt aus den ersten beiden Pandemiejahren, nur weniges aus den Folgejahren; entsprechend sind Einordnungen ggf. auch nur auf den Pandemiebeginn zu beziehen. Seit Veröffentlichung der ersten Version am 6. Februar 2023 wurde die Sammlung drei Mal aktualisiert und erweitert, zuletzt am 26. Juli 2024. Weitere Updates sind nicht geplant. Englische Version: https://www.researchgate.net/publication/385292484_Quality_Deficits_in_German_Corona_Journalism
1
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus
1
Eine kommentierte Fallsammlung
Von Timo Rieg
2
= Inhaltsübersicht =
Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus .............................................................................................. 1
1 Vorbemerkungen .................................................................................................................................. 4
2 Forschungsstand ................................................................................................................................... 6
3 Richtigkeit ........................................................................................................................................... 14
4 Vollständigkeit .................................................................................................................................... 31
5 Meinungsvielfalt ................................................................................................................................. 43
6 Repräsentativität ................................................................................................................................ 57
7 Objektivität ......................................................................................................................................... 68
8 Relevanz ............................................................................................................................................. 94
9 Recherche ........................................................................................................................................... 99
10 Zwischenfazit .................................................................................................................................. 115
11 Ergänzungen & Updates ................................................................................................................. 131
12 Resümee & Ausblick ....................................................................................................................... 182
Literatur ............................................................................................................................................... 187
Anhang ................................................................................................................................................ 194
Register ................................................................................................................................................ 206
Durch das Vorblatt von Researchgate in der pdf-Zählung jeweils +1.
= Ausführlichere Gliederung =
1 Vorbemerkungen ................................................................................................................................................. 4
= Technische Hinweise = ................................................................................................................................ 5
= Methodik = .................................................................................................................................................. 5
= Qualitätsmessung = ..................................................................................................................................... 5
2 Forschungsstand .................................................................................................................................................. 6
2.1 fög-Studie...................................................................................................................................................... 7
2.2 Augstein-Studie ........................................................................................................................................... 11
= Vielfalt =..................................................................................................................................................... 12
= Ausgewogenheit = ..................................................................................................................................... 13
3 Richtigkeit ........................................................................................................................................................... 14
= Exkurs: Meinungen und Tatsachen = ......................................................................................................... 15
= Tatsachen und Meinungen zu Corona = .................................................................................................... 17
= Aus Meinungsquellen sprudeln keine Tatsachen = ................................................................................... 21
= Sehen, was man sehen will = ..................................................................................................................... 22
= Kleine Fehler, große Verständnislücken = ................................................................................................. 24
= Unbelegte Behauptungen = ....................................................................................................................... 26
= Auch falsche Prognosen sind falsch = ........................................................................................................ 27
= Fehler werden nicht korrigiert = ................................................................................................................ 27
= Fehler werden nicht eingestanden = ......................................................................................................... 28
= Fehler werden nicht verstanden = ............................................................................................................ 29
= Ungenaue Behauptungen = ....................................................................................................................... 30
1
Publiziert unter https://www.researchgate.net/publication/368289947
2
Dipl.-Journ. Dipl.-Biol. Timo Rieg, Journalistenbüro Bochum-Berlin, https://www.journalistenbuero.com
2
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
4 Vollständigkeit .................................................................................................................................................... 31
= Formale Aspekte der Vollständigkeit = ...................................................................................................... 32
= Unvollständige Beiträge = ......................................................................................................................... 33
= Fehlende Einordnung = ............................................................................................................................. 35
= Vergleichswerte und Wertungsskalen = .................................................................................................... 36
= Whataboutism ist Pflicht = ........................................................................................................................ 37
= Pars pro Toto = .......................................................................................................................................... 40
= Unvollständige Medien = ........................................................................................................................... 41
5 Meinungsvielfalt ................................................................................................................................................. 43
= Meinungen sind weder richtig noch falsch = ............................................................................................. 44
= Sinn der Meinungsvielfalt = ....................................................................................................................... 45
= Erforderliches Meinungsspektrum = ......................................................................................................... 46
= Die typischen Protagonisten = ................................................................................................................... 48
= Die gesellschaftliche Meinungsvielfalt = ................................................................................................... 50
= Label Verschwörungstheoretiker = ........................................................................................................... 51
= Die reale Meinungseinfalt = ...................................................................................................................... 52
= Schroeder und die Meinungsfreiheit = ...................................................................................................... 54
= Kritikfunktion der Medien = ...................................................................................................................... 55
= Meinungseinfalt aus gutem Grund? = ....................................................................................................... 56
6 Repräsentativität ................................................................................................................................................ 57
= Themenauswahl = ..................................................................................................................................... 58
= Stimmenauswahl = .................................................................................................................................... 61
= Skandalisierung = ....................................................................................................................................... 62
= Bebilderung = ............................................................................................................................................ 65
= Ebene Mediensystem = ............................................................................................................................. 66
7 Objektivität ......................................................................................................................................................... 68
= Kein objektiver Standpunkt = .................................................................................................................... 69
= Expertenauswahl = .................................................................................................................................... 71
= Narrative = ................................................................................................................................................. 71
= Framing = ................................................................................................................................................... 73
= Gut und Böse = .......................................................................................................................................... 75
= Interpretationen statt Tatsachen = ........................................................................................................... 77
= Der Zweck heiligt die Kommentierung = ................................................................................................... 78
= Gleiches wird ungleich behandelt = .......................................................................................................... 79
= Faktenchecks nach Belieben = ................................................................................................................... 81
= Härtefall: Medienkritik = ........................................................................................................................... 82
= Vom journalistischen Umgang mit Kritik = ................................................................................................ 85
= Rezeption der Medienkritik von Precht und Welzer = .............................................................................. 87
= Nachfrage kein Qualitätsbeweis = ............................................................................................................. 88
= Journalismusforschung = ........................................................................................................................... 90
= Fazit zur Objektivität = ............................................................................................................................... 93
8 Relevanz ............................................................................................................................................................. 94
= Nachrichtenwert = ..................................................................................................................................... 95
= Skandalisierung = ....................................................................................................................................... 96
= Demokratischer Prozess unmöglich = ....................................................................................................... 97
= Relevante Auswahl = ................................................................................................................................. 98
= Das Problem der (boulevardesken) Einzelfälle = ....................................................................................... 98
= Desorientierung durch Irrelevanz = ........................................................................................................... 99
9 Recherche .......................................................................................................................................................... 99
= Recherche: die Verfassungs-Grundfragen = ............................................................................................ 101
= Alles infrage stellen = .............................................................................................................................. 102
= Fragen statt Framen = ............................................................................................................................. 105
= Absurditäten als Rechercheaufträge = .................................................................................................... 106
= Wirkungen und Nebenwirkungen = ........................................................................................................ 107
= Gerichtsverfahren und -entscheidungen = .............................................................................................. 109
= Einzelfälle als Recherchegrundlage = ...................................................................................................... 111
= Fragefehler = ........................................................................................................................................... 112
= Widersprüchliche Informationen = ......................................................................................................... 113
3
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
10 Zwischenfazit .................................................................................................................................................. 115
= Markante Medienereignisse = ................................................................................................................. 117
= Systematische Fehler im Corona-Journalismus = .................................................................................... 122
= Interpretation der Qualitätsdefizite = ..................................................................................................... 125
= Fragen an die Medienforschung und Kommunikationswissenschaft = ................................................... 127
11 Ergänzungen & Updates ................................................................................................................................. 131
11.1 Weitere Qualitätsaspekte ....................................................................................................................... 131
= Argumentation = ..................................................................................................................................... 131
= Genauigkeit = ........................................................................................................................................... 136
= Rezipientendialog (Kommunikativität) = ................................................................................................. 137
= Transparenz = .......................................................................................................................................... 138
= Unparteilichkeit = .................................................................................................................................... 138
= Informationsleistung = ............................................................................................................................ 141
= Maßstabsgerechtigkeit = ......................................................................................................................... 141
11.2 Ergänzungen (nachgereichte Fallbeispiele) ............................................................................................ 144
= Journalisten als Regierungs-Botschafter = .............................................................................................. 144
= Tatsachen und Meinungen = ................................................................................................................... 146
= Recherche statt Ignoranz = ...................................................................................................................... 149
= Recherche statt blindes Vertrauen = ....................................................................................................... 153
= Journalistische Ethik = ............................................................................................................................. 154
= Leserbriefe als Stimmungsbarometer = .................................................................................................. 155
= Politikkritik = ............................................................................................................................................ 155
= Fehlende Aufarbeitung = ......................................................................................................................... 156
= Faktenchecks = ........................................................................................................................................ 163
11.3 Journalistische Journalismuskritik .......................................................................................................... 166
11.4 Wissenschaftliche Journalismuskritik ..................................................................................................... 170
= Fehlende Differenzierung der Kritik = ..................................................................................................... 172
= Journalistische Kritik an der Wissenschaft = ........................................................................................... 173
11.5 Medienkritik von Kunden und Betroffenen ............................................................................................ 175
11.6 Forschungsstand 2024 ............................................................................................................................ 176
11.7 Resonanz ................................................................................................................................................. 179
12 Resümee & Ausblick ....................................................................................................................................... 182
= Journalismus-Verständnis = ..................................................................................................................... 182
= Journalismus-Schwächen = ...................................................................................................................... 184
= Ursachen = ............................................................................................................................................... 185
Literatur .............................................................................................................................................................. 187
Anhang ................................................................................................................................................................ 194
Essay: Desinfektionsjournalismus (uncut) Die Corona-Berichterstattung war kein Leuchtturm der
Orientierung | Juni 2020................................................................................................................................. 194
Literatur zum Anhang "Desinfektionsjournalismus" ...................................................................................... 201
Belege zum Anhang ........................................................................................................................................ 202
Register ............................................................................................................................................................... 206
4
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
1 Vorbemerkungen
Dieses medienjournalistische Working-Paper basiert auf einer umfangreichen Sammlung journalisti-
scher Qualitätsmängel in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie, die zunächst für einen Beitrag
in der Zeitschrift "journalistik" begonnen wurde (Rieg 2020b
3
). Die kommentierenden Ausführungen
basieren zum Teil auf bereits veröffentlichten Artikeln von mir. Das meiste referenzierte Material der
Kapitel 2 bis 9 stammt aus den ersten beiden Pandemiejahren 2020/21, entsprechend sind Einord-
nungen ggf. auch nur darauf zu beziehen, das Präsens ist in Teilen nicht mehr korrekt. Auf dieser
Grundlage wurde am 5. Februar 2023 eine erste Version dieses Papers veröffentlicht (94 Seiten). Da
noch viele Fälle archiviert waren und Notizen zu weiteren Aspekten existierten, wurde die Sammlung
bis zum 1. Mai 2023 mehrmals erweitert (auf zuletzt, ohne Anhang, 144 Seiten) und erreichte bis
Ende des Jahres bei Researchgate knapp 25.000 Abrufe (siehe auch Kap 11.7 Resonanz). Nach der
heutigen Bearbeitung (26.07.2024) ist kein weiteres Update mehr geplant.
4
Neu gegenüber der vo-
rangegangenen Version sind, neben einzelnen kleinen Ergänzungen, Link-Aktualisierungen und neuen
Formatierungen, folgende Abschnitte: die Abschnitte "Informationsleistung" und "Maßstabsgerech-
tigkeit" in Kap. 11.1; "Leserbriefe als Stimmungsbarometer", "Politikkritik", "Fehlende Aufarbeitung"
und "Faktenchecks" in Kap. 11.2; Kap 11.4, 11.5, 11.6, Kap 12 und das Register am Ende. Kap. 11.7
"Resonanz" war in der vorherigen Fassung Kap. 11.4.
Die ab Kapitel 11 nachgereichten Fälle und Aspekte würden eigentlich eine Neugliederung nötig ma-
chen. So habe ich Aspekte des Kriteriums "Maßstabsgerechtigkeit" zuvor unter "Objektivität" gefasst
(die selbst kein operationalisierbares Qualitätskriterium ist, sondern verschiedene Eigenschaften
zusammenfasst). Auch in dieser letzten Fassung verzichte ich jedoch auf eine Neugliederung, in ers-
ter Linie, um denjenigen, die bereits eine frühere Version gelesen haben, das Auffinden der Ergän-
zungen zu erleichtern.
Das Paper ist als Diskussionsbeitrag zur journalistischen Qualität und der Operationalisierbarkeit ihrer
Messung gedacht. Alles, was hier an Fällen aus dem Corona-Kontext aufgeführt wird, lässt sich auch
an völlig anderen Themenfeldern zeigen. Alle Beleg-Referenzen sind beispielhaft zu verstehen; um
den Fußnotenapparat noch übersichtlich zu halten, habe ich nur vereinzelt mehrere Belege für einen
Sachverhalt angegeben. Zur Vertiefung wird daher an mehreren Stellen auf andere Beiträge verwie-
sen, u.a. aus dem von mir herausgegebenen medienjournalistischen Blog "Spiegelkritik" (z.B. für
ausführliche Text-Autopsien).
Die Literatur am Ende ist bewusst schmal gehalten. Es können und sollen hier keinesfalls die wissen-
schaftlichen Grundlagen zu den einzelnen Qualitätskriterien erörtert werden.
Es wird im Folgenden nicht um Corona-Politik gehen, sondern ausschließlich um die Darstellung der
Pandemie in den Medien. Dieser Hinweis ist auch deshalb wichtig, weil bis heute Kritik am "Corona-
Journalismus" von einigen mit "Corona-Skepsis" oder gar "Corona-Leugnung" gleichgesetzt wird. Wie
sich hoffentlich auf den folgenden Seiten zeigen wird, gründet diese Verwechslung einer Wertung
mit einer Tatsache gerade in den Unzulänglichkeiten der Berichterstattung und ist ein Zirkelschluss.
Der Fokus liegt auf den General Interest Media wie Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Nachrichten-
sendungen im Rundfunk und entsprechenden Internet-Angeboten. Special Interest Media und reine
Kommentarmedien kommen nur ganz am Rande vor. Deshalb wäre etwa die gelegentlich schon
3
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/desinfektionsjournalismus/ mit einer Entgegnung von Tanjev
Schultz https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/ungerechte-medienkritik/ und meiner Replik
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/vernachlaessigte-medienkritik/
4
Ggf. werden weitere Reaktionen und Updates unter https://www.spiegelkritik.de/2024/04/06/updates-zu-
qualitaetsdefizite-im-corona-journalismus/ dokumentiert.
5
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
angetroffene Schlussfolgerung, in wie auch immer definierten 'Alternativmedien' seien die hier
aufgeführten Probleme nicht anzutreffen, völlig unhaltbar. Ich habe mich mit diesen schlicht nicht
beschäftigt. Quantitative Aussagen lassen sich ohnehin mit meinem Material nicht treffen (auch
wenn danach immer wieder gefragt wird). Nicht nur, weil ich es nicht in dieser Weise ausgewertet
habe, sondern weil die Datengrundlage völlig willkürlich ist: In der Sammlung landete, was mir aufge-
fallen ist.
= Technische Hinweise =
Um (populäre) Fälle oder Themen zu finden, empfiehlt sich die Suchfunktion des von Ihnen verwen-
deten pdf-Readers. Da es exakte Übereinstimmung braucht, sollte man nur ein relevantes Schlagwort
oder einen Teil davon verwenden. Manches lässt sich nun wohl auch über das Register am Ende fin-
den (Namen wurden z.B. nicht aufgenommen, diese bitte im Dokument suchen; das Register ist auf
einige wesentliche Schlagworte beschränkt). Einige Links lassen sich nicht direkt aus dem pdf öffnen.
In diesen Fällen müssen diese manuell kopiert und in einen Browser eingegeben werden. Dabei kön-
nen Bindestriche wegfallen, die als Trennstrich interpretiert werden, in solchen Fällen müssen sie
nachgetragen werden (Bsp:
https://web.archive.org/web/20200319112557/https://www.tagesschau.de/kommentar/kommenta
r-merkel-corona-rede-101.html wurde bei Tests fälschlich zu ... merkelcorona-rede-101.html).
Z.T. sind verlinkte Beiträge inzwischen nicht mehr verfügbar. Wie in der Wikipedia bleiben die Links
dann dennoch stehen, da sie Informationen zum Beleg und für die weitere Suche enthalten können.
= Methodik =
In die Fallsammlung aufgenommen wurde, was mir beim täglichen, privaten wie beruflichen Medien-
konsum begegnet ist. Viele Hinweise dazu stammen von Twitter (heute: X). Zu einzelnen interessan-
ten Fällen habe ich dann gezielt nach weiteren Veröffentlichungen gesucht. Dabei ist einzuschränken,
dass ich nicht für alle Medien geeignete Archivzugänge hatte und dass die Suchfunktion in einigen
Archiven mangelhaft ist, konkret also tatsächlich vorhandene Beiträge trotz korrekter Abfrage nicht
ausgewiesen werden. Hier erwies sich oftmals eine spezifizierte Google-Suche als erfolgreicher, so-
fern Beiträge eben (teilweise) online standen. Wo ich nachfolgend behaupte, zu einem Thema finde
sich nichts in einem bestimmten Medium, fußt diese Aussage auf entsprechenden Archivabfragen.
Die Fälle sind überwiegend nach einigen in der Literatur besonders einschlägigen Qualitätskriterien
sortiert, weshalb es Überschneidungen und Unschärfen gibt. So ist "Recherche" kein Qualitätskriteri-
um, sondern eine Arbeitstechnik, deren Output u.a. an den Qualitätskriterien Meinungsvielfalt, Ar-
gumentativität und Einordnung (Kontext) gemessen werden kann (a.A. Arnold 2009: 232). Für die
hiesige Sammlung von Material aus der journalistischen Praxis ist das jedoch unerheblich.
= Qualitätsmessung =
Die Qualität (Eigenschaften) journalistischer Werke wird am sinnvollsten anhand einzelner Aussagen
bestimmt. Dabei kann eine Aussage explizit dem Beitrag direkt entnommen werden (Zitat) oder aus
ihm implizit gelesen werden. So ist eine Text-Bild-Schere eines Filmbeitrags nur in eigenen Worten
beschreibbar, während ein falsch geschriebener Name direkt zitierbar ist.
Implizite journalistische Aussagen lassen sich auf vier Publikationsebenen erheben:
(1.) Die Basiseinheit ist der journalistische Beitrag (Artikel, Film etc.), welcher aus zahlreichen einzel-
nen Aussagen besteht (die jedoch meist im Kontext des Beitrags gesehen werden müssen).
(2.) Mehrere Beiträge werden als Publikationseinheit gebündelt und verbreitet (Tageszeitungsaus-
6
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
gabe, Magazinsendung, Tagesschau).
(3.) Als Ebene Medium werden mehrere oder alle Publikationseinheiten im Zeitverlauf erfasst (zwei
Monate Zeit, ein Woche Spiegel-Online, alle Montagsausgaben der taz nach einer Bundestagswahl).
(4.) Alle Medien gemeinsam bzw. das Portfolio der von einzelnen Menschen genutzten Medien bil-
den die Medienlandschaft (ein mediales Ökosystem).
Abb. Ebenen der Qualitätsmessung 1 bis 3
Die Eigenschaften auf diesen verschiedenen Ebenen unterscheiden sich, mithin sind auch die Quali-
tätskriterien unterschiedlich zu definieren. So wird die Richtigkeit von Aussagen auf der Beitragsebe-
ne (1) gemessen, wozu wie immer der Kontext des gesamten Beitrags zu berücksichtigen ist (hierzu
gehören auch Metadaten, bspw. das Publikationsdatum "1. April" für einen Aprilscherz). Der Befund
"Gegenseite kommt nicht zu Wort" als Vollständigkeits-Eigenschaft kann ebenfalls auf Ebene 1 erho-
ben werden, und zwar als implizite Aussage. Das Fehlen einer erwarteten Nachricht kann auf den
Ebenen Publikationseinheit (2), Medium (3) oder Medienlandschaft (4) festgestellt werden.
Manche Qualitätsbefunde lassen sich nur beim Vergleich zweier oder mehrerer individuell ausge-
wählter Beiträge erheben, z.B. die Maßstabsgerechtigkeit; dies bildet jedoch keine neue Ebene, denn
untersucht werden jeweils Einzelbeiträge (1). Beim Vergleich zweier oder mehrere Beiträge handelt
es sich mithin nicht um eine neue Publikationsebene, sondern um eine Forschungsperspektive (vgl.
Geuß 2018: 42f).
Da sich journalistische Eigenschaften auf den Ebenen über dem einzelnen Beitrag meist nur mit
quantitativer Forschung messen lassen, es jedenfalls eine Vollerhebung braucht, soll es hier überwie-
gend um journalistische Einzelleistungen gehen (denen bei den heutigen Rezipientengewohnheiten
wohl auch die größte Bedeutung zukommt, da Beiträge zunehmend einzeln, losgelöst von ihrer Pub-
likationseinheit, rezipiert werden). Eine Ausnahme bildet u.a. die Maßstabsgerechtigkeit.
2 Forschungsstand
Bisher gibt es m.W. nur eine Studie, die sich an eine Gesamtbewertung des deutschen Corona-
Journalismus wagt: "Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der
7
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie" (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski
2021; s.a. Reinemann/ Maurer/ Kruschinski/ Jost 2024). Sie untersucht, "wie etablierte Nachrichten-
medien zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 30. April 2021 über die COVID-19-Pandemie in
Deutschland berichteten" (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 5).
Bereits über ein Jahr zuvor hat für die Schweiz die Forschungsgruppe um Mark Eisenegger, die das
Jahrbuch Qualität der Medien
5
erstellt, eine Sonderauswertung veröffentlicht für den Zeitraum
01.01.2020 bis 30.06.2020 (Eisenegger/ Oehmer/ Udris/ Vogler 2020). Es gab frühzeitig Untersu-
chungen einzelner Kommunikationsfelder (z.B. Quandt/ Boberg/ Schatto-Eckrodt/ Frischlich 2020),
die aber nicht zum hiesigen Fokus passen.
Einen guten Überblick zur Gemengelage der Medienkritik und Medienforschung zu Beginn der Pan-
demie geben Kramp/ Weichert (2021: 6-15), die mit denen im Anschluss vorgelegten Fallanalysen
kursorisch auf die (konstruktiven) Journalismusleistungen von zehn Medien schauen, von der Apo-
theken-Umschau bis zur Zeit.
6
2.1 fög-Studie
Einige der Kritikpunkte, die im Folgenden ausgeführt werden, finden sich schon in der ersten großen
Qualitätsstudie allerdings nur für die Schweiz. Am "Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesell-
schaft" (fög) wird seit 2010 die Qualität der Schweizer Medien gemessen
7
und in einem Jahrbuch
veröffentlicht. Mit ähnlicher Methodik hat das Forschungszentrum der Uni Zürich Ende Juli 2020
Befunde zur "Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie" (Eisenegger et al. 2020)
vorgelegt. Die Inhaltsanalysen erfassen dabei stets nur allgemeine Ausprägungen der Berichterstat-
tung, etwa wie viele verschiedene Akteure zu Wort kommen. Nicht gemessen werden u.a. so wichti-
ge Qualitätskriterien wie die Richtigkeit oder Vollständigkeit von Berichten. Die Studie misst die Me-
dienleistung in den Dimensionen Vielfalt, Relevanz und Deliberationsqualität.
Erster auffälliger Befund: Corona hat in der Berichterstattung nicht nur dem Eindruck nach alles be-
herrscht. Bis zu 75 % aller Artikel in den Zeitungen und aller Rundfunknachrichten der Stichprobe
beschäftigten sich mit der Pandemie. Eine vergleichbare Themendominanz hat es wohl lange nicht
gegeben. Zum Vergleich: Das dominante Thema Klimawandel erreicht im Schweizer Parlamentswahl-
jahr 2019 zur Spitze kaum mehr als 10 % der Gesamtberichterstattung. Für die manuelle Inhaltsana-
lyse wurde eine repräsentative Stichprobe aus 28.695 Beiträgen zum Thema COVID-19 gezogen, die
zwischen 1. Januar und 30. April in 22 deutsch- und französischsprachigen Schweizer Nachrichten-
medien erschienen waren (darunter NZZ, Tagesanzeiger, Blick, 10vor10 und Tagesschau des SRF
8
).
Zusätzlich gab es eine automatische Vollerhebung des Themas COVID-19 in 34 deutsch-, französisch-
und italienischsprachigen Schweizer Nachrichtenmedien mit insgesamt 100.612 Beiträgen aus der
Zeit 1. Januar bis 30. Juni 2020.
Nachdem der Bundesrat (Schweizer Regierung) am 28. Februar 2020 die "besondere Lage" erklärt
hatte (mit Ziel und Folge einiger Kompetenzverschiebungen), stieg in den deutschsprachigen Schwei-
zer Medien der Veröffentlichungsanteil mit Coronabezug von etwa 30 % auf über 60 % und blieb bis
Mitte Mai stets über 50 %.
5
https://www.foeg.uzh.ch/de/jahrbuch-qdm.html
6
Die Autoren knüpfen damit an ihr Arbeitsheft "Nachrichten mit Perspektive" an (Kramp/ Weichert 2020).
7
https://www.foeg.uzh.ch/de/jahrbuch-qualit%C3%A4t-der-medien.html
8
https://www.srf.ch/play/tv/sendung/tagesschau?id=ff969c14-c5a7-44ab-ab72-14d4c9e427a9
8
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Damit ist die Dominanz überdeutlich und zugleich zwangsläufig belegt, dass der Raum für alle
anderen Themen sehr begrenzt war. Haarkötter beklagte schon Anfang April 2020 im Gewerk-
schaftsmagazin "Menschen Machen Medien"
9
:
>Die Sendezeit und die bedruckte und im Internet beflimmerte Fläche, die auf die Corona-
Pandemie verwandt wird, verdrängt andere Sachverhalte und Ereignisse aus dem Sichtfeld.
Dabei ist die Welt, entgegen dem weitläufigen Eindruck, nicht stehen geblieben. Die Krisen-
gebiete, die es vor der Corona-Krise gab, bestehen immer noch, die Bürgerkriege, die Heu-
schreckenplagen und die Hungersnöte grassieren weiterhin völlig unbeschadet eines Virus,
das auch den Journalismus beträchtlich infiziert hat.<
Während die Themenvielfalt insgesamt also stark sank, war sie laut Schweizer Studie innerhalb des
Corona-Feldes jedoch nah am Maximum. Dazu wurden die journalistischen Stücke zum einen nach
ihrem Ressort klassifiziert, nach gesellschaftlich-öffentlicher Sphäre (Politik, Wirtschaft, Kultur) und
gemeinschaftlich-privater Sphäre (Sport, Bevölkerung/Human Interest). Zum anderen
>wurde das Thema identifiziert, über das zentral im Beitrag berichtet wurde. Unterschieden
wurde dabei zwischen den Themen 'Grundlagenwissen über Corona und Pandemie', 'Umgang
mit der Pandemie', 'Maßnahmen gegen Corona/Pandemie auf individueller (Mikro), organisa-
tionaler (Meso), oder gesamtgesellschaftlicher Ebene (Makro)', 'Schäden (Mikro, Meso, Mak-
ro)', 'Nutzen (Mikro, Meso, Makro)', 'Hilfen zur Bewältigung der Corona-Folgen' und 'Exit(-
strategien) aus dem Lockdown und Lockerung der Maßnahmen'.< (Eisenegger et al. 2020: 8)
Eine solche Vielfaltsberechnung erfasst also nicht alle tatsächlichen Themen, sondern nur ein sehr
grobes Raster. Ob alle möglicherweise für relevant gehaltenen Aspekte behandelt wurden, sagt die
Auswertung nicht so wie sie auch nicht berücksichtigt, ob die einzelnen Themen journalistisch
"gut" behandelt wurden; die Richtigkeit von Aussagen z.B. wird nicht überprüft, ob jeweils "die Ge-
genseite" zu Wort kommt ebenfalls nicht. Die Themenvielfalt hat über die Zeit zugenommen. Zu
Beginn der Pandemie erfolgte die Berichterstattung "zu insgesamt knapp 70 % aus der Perspektive
der Medizin (42,2 %) und der Wirtschaft (26 %)". Die Autoren resümieren:
>Zusammenfassend wird die Berichterstattung den sich ändernden Informationsbedürfnissen
der Bevölkerung im Laufe eines Krisenzyklus weitgehend gerecht. Zunächst erfolgt die Ver-
mittlung von Grundlagenwissen, dann stehen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise
deutlich im Vordergrund, gefolgt von der gemeinsamen Fokussierung auf die Maßnahmen
und den Umgang mit der Krise sowie abschließend der Darstellung von Umgang, Maßnahmen
und verursachten Schäden.< (Eisenegger et al.: 10)
Separat untersucht wurde die Vielfalt an Experten, die in den Medien zu Wort kommen. Experten
sind dabei "alle Akteure, die wegen ihres privilegierten Wissens schwerpunktmäßig im Beitrag ihre
Position, Ansicht, Entscheidung oder auch Forderung vermitteln (können)". 83 % aller Beiträge wer-
den auch von Experten getragen, und mit der Berücksichtigung verschiedener Professionen (wie
Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Politik, Justiz und Polizei) zeigen sich die Forscher erneut zufrie-
den:
>Dass die Corona-Pandemie ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, zu dem sich auch
verschiedene Expertengruppen äußern und ihre Perspektive einbringen sollten, wird somit in
den Medien ab Mitte März 2020 weitgehend Rechnung getragen.< (Eisenegger et al.: 11)
Dennoch gibt es natürlich Experten, die besonders häufig zu Wort kommen. "Unter den 30 resonanz-
stärksten Experten waren fast nur Mediziner", sagt Linards Udris auf Anfrage. So belegt der deutsche
9
https://mmm.verdi.de/beruf/gehts-auch-mal-wieder-kritisch-65457
9
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Virologe Christian Drosten bei den Internetangeboten von Blick, NZZ, Watson, Aargauer Zeitung,
Berner Zeitung, 20minuten und Tagesanzeiger jeweils einen der ersten drei Plätze der am häufigsten
zitierten Experten. Die "TOP-3-Experten" zusammen vereinen gemeinsam je nach Medium 31 bis
75 % der Resonanz auf sich.
Untersucht wurde auch die "Deliberationsqualität", und zwar unter drei Aspekten: "Behördendis-
tanz", "Einordnungsleistung" und "Umgang mit Zahlen und Statistiken". Zum spannenden ersten
Aspekt konstatieren die Autoren:
>Die Befunde [zeigen], dass es leicht mehr kritische Stimmen gegenüber der nationalen Regie-
rung und den nationalen Behörden (7 %) gibt als explizit unterstützende Stimmen (6 %). 14 %
aller Beiträge thematisieren Regierungs- und Behördenhandeln neutral oder ambivalent. Es
lässt sich also nicht behaupten, dass die Medien generell unkritisch über Behörden und die
Regierung berichtet haben.< (Eisenegger et al.: 18)
Allerdings haben die Forscher auf eine sehr hilfreiche Differenzierung verzichtet und als "Kritik" so-
wohl die Warnung vor als auch die Forderung nach mehr oder härteren staatlichen Maßnahmen
zusammengefasst (was auch nachfolgende Studien so beibehielten). Doch mit einer qualitativ-
hermeneutischen Betrachtung der Daten kommt Linards Udris zu folgendem Eindruck:
>Kurz vor dem Lockdown war es in der Schweiz so: Kritik an Regierung und Behörden war e-
her, dass diese bisher zu langsam reagiert hätten. Von dem her gab es damals (noch) keine
Kritik, dass Maßnahmen wie der Lockdown übertrieben wären. Eine solche Kritik setzt erst ca.
Anfang April ein. Schon relativ zu Beginn der Lockdown-Phase aber gab es Kritik an Regie-
rung/ Behörden, dass diese die aktuelle Situation zu wenig professionell angehen würden
u.a. sei das Zusammentragen der Infektionsdaten aus den Kantonen zu langsam und zu feh-
leranfällig.< (Udris, persönliche Mitteilung)
In der Studie heißt es dazu:
>Eine systematische Auseinandersetzung mit der drastischsten Maßnahme, nämlich einem
möglichen Lockdown, zum Beispiel durch einordnende Vergleiche mit unterschiedlich be-
troffenen Ländern, findet in den untersuchten Medienbeiträgen allerdings nur am Rande
statt.< (Eisenegger et al.: 18)
Im Fazit ihrer Untersuchung der Corona-Berichterstattung, die ein "Stresstest für die Medien" gewe-
sen sei, heißt es:
>Insgesamt kann die Berichterstattungsleistung trotz klarer Mängel tendenziell positiv beur-
teilt werden. [...]
Die Medien haben vor und während der Corona-Pandemie in mehreren Bereichen eine gute
Qualität geleistet. Das bestätigt die früheren Resultate aus dem Jahrbuch Qualität der Medi-
en, wonach die Qualität der Medien in der Schweiz im Allgemeinen relativ gut ist. [...]
In nur rund 6 % aller Beiträge lässt sich eine fundierte, einordnende Hintergrundberichterstat-
tung beobachten. Die Deliberationsqualität ist ambivalent, weil die Medien zwar insgesamt
eine kritische Distanz gegenüber Regierung und Behörden wahren, diese Distanz aber in der
sensiblen Phase kurz vor dem Lockdown gering ausfällt.< (Eisenegger et al.: 21)
In der Schweiz ist eine ganze Reihe (kurzer) Nachrichten zu dieser Studie erschienen, Tenor: "Schwei-
zer Medien haben sachlich und vielfältig über Corona berichtet"
10
. In Deutschland gab es hingegen
10
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/studie-zeigt-schweizer-medien-haben-sachlich-und-vielfaeltig-
ueber-corona-berichtet-138595389
10
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
kaum Interesse an den Erkenntnissen (Ausnahmen u.a. das Branchenblatt Horizont
11
). Im Medienma-
gazin des Bayerischen Rundfunks kommentierte Studienleiter Mark Eisenegger die Ergebnisse, sein
deutscher Kollege und gern gefragter Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen kommentierte den
Bezug zu Deutschland
12
. Pörksen sieht nur eine sehr kurze defizitäre Phase in der deutschen Bericht-
erstattung von zehn bis 14 Tagen:
>Journalistische gesprochen gab es sehr viele gute, herausragende, reflektierte Leistungen
mit Ausnahme dieser Phase Ende März. Da hätte man aus meiner Sicht viel stärker auf eine
Debatte über die Folgen und Nebenfolgen des Lockdowns drängen können.<
Aber war nicht genau das die entscheidende Phase, in der kritische Stimmen für die Meinungsbildung
des demokratischen Souveräns notwendig gewesen wären? Begann nicht genau dort die Phase, in
der die Weichen gestellt wurden, was künftig noch als denkbar, sagbar, diskutierbar gelten würde?
Kann man sagen, es war quasi ein 'kurzer Aussetzer', geschuldet der persönlichen Verunsicherung
der Journalisten und ihrem Glauben an die Institutionen, die uns durch die Krise führen werden, auch
und gerade ohne kritischen, umfassend informierenden Journalismus? Darum wird es im Weiteren
noch ausführlich gehen und nein, das ist kein "hindsight bias“ (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski
2021: 57).
Bereits am 9. April 2020 hatten Vinzenz Wyss und Klaus Meier in Meedia "die fünf Defizite der
Corona-Berichterstattung"
13
ausgemacht. In der Schweizer Studie sahen sie später ihre "erste grobe
Analyse" bestätigt. Meier resümiert
14
mit Bezug auf die fög-Studie:
>Zentraler Kritikpunkt war, dass die Maßnahmen von Politik und Behörden nicht frühzeitig in
der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Nicht vielfältige Recherche, kritische Distanz und Diskurs
prägten demnach den Journalismus, sondern die Verlautbarungen 'starker Anführer' und so-
gar Rufe nach noch mehr und schnelleren drakonischen Einschränkungen unserer Grundrech-
te.
Die weitreichenden, bislang in der Demokratie nie dagewesenen Eingriffe waren zwischen
einzelnen Experten und der Exekutive im Hinterzimmer verhandelt und anschließend lediglich
verlautbart worden insgesamt rund drei Dutzend Notverordnungen des Bundesrats. Ob sie
im Detail notwendig, zielführend oder nicht auch willkürlich und widersprüchlich waren, wur-
de kaum recherchiert und thematisiert.<
Auch die kritisierte "Zahlenfixierung", die "teilweise wie Tabellenstände im Sport vermittelt wurde",
weise die Schweizer Studie nach. Denn dort heißt es: "In 27,1 Prozent aller Beiträge machen Zahlen
und Statistiken den Schwerpunkt der Berichterstattung aus."
Obwohl aus professioneller Sicht Zahlen meist nicht für sich allein sprechen können, "sondern kritisch
interpretiert und eingeordnet werden" müssen, geschah dies in der Mehrzahl der Fälle nicht. In der
fög-Studie heißt es:
11
https://www.horizont.net/schweiz/nachrichten/universitaet-zuerich-relativ-hohe-qualitaet-der-
berichterstattung-zur-corona-pandemie-184658
12
https://www.br.de/radio/b5-aktuell/sendungen/medienmagazin/medien-schweiz-deutschland-corona-
berichterstattung-100.html
13
https://meedia.de/2020/04/09/journalismus-in-der-krise-die-fuenf-defizite-der-corona-berichterstattung/
14
https://medienwoche.ch/2020/07/31/halb-voll-ist-eben-auch-halb-leer-studie-zur-corona-
berichterstattung/
11
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Es wird längst nicht immer begründet, was diese Zahlen aussagen und warum diese verwen-
det wurden. Der Anteil an Beiträgen ohne Einordnung von Zahlen und Statistiken (14,8 %) ist
höher als der Anteil an Beiträgen, die Zahlen und Statistiken einordnen (12,4 %).< (Eisenegger
et al. 2020: 21)
Klaus Meier:
"Ein weiterer Kritikpunkt von uns war, dass Virologen zu Medienstars aufgebaut wurden und
Stimmen aus anderen Wissenschaften fehlten. [...] Zudem bemängelten wir die Darstellung
wissenschaftlicher Statements als eindeutig, unfehlbar und als Maßstab, nach denen sich Po-
litik und Gesellschaft zu richten hätten. Dies läuft der Logik wissenschaftlicher Forschung zu-
wider, nach der sich Wissenschaftler irren dürfen Wissenschaftler erzielen sogar durch den
Beweis von Irrtümern Fortschritte."
15
Mangelnde Vielfalt wissenschaftlicher Expertise in der journalistischen Berichterstattung kritisiert
nun auch die fög-Studie. Ob die Wissenschaft tatsächlich als unfehlbar dargestellt wurde, wie Meier
und Wyss es annehmen, haben die Schweizer hingegen nicht untersucht.
Meier sieht zudem Indizien für mangelnde Transparenz im Journalismus. Weil Journalismus Medien-
realität konstruiere und die Definition und Wahrnehmung von Krisen und Risiken durch die Men-
schen beeinflusse, müsste "immer wieder transparent darüber aufgeklärt werden, wie Journalismus
dies tut." Doch unter den zahlreich zu Wort gekommenen Experten fehlten unter anderem Kommu-
nikationswissenschaftler.
Der fünfte Kritikpunkt von Wyss und Meier bezog sich auf die Fokussierung und Dramatisierung des
Einzelfalls, zulasten von Kontext und Gesamtstruktur. Dazu zählt vor allem die endlose Wiederholung
dramatischer Bilder, beispielsweise von den Särgen in Bergamo
16
, die in Deutschland zum Sinn- und
Schreckensbild mindestens für gesamt Italien, wenn nicht für die globale Corona-Krise wurden, ob-
wohl dies der realen Situation überhaupt nicht gerecht wurde (Beispiel: Tagesspiegel
17
). Bildsprache
hat die fög-Studie allerdings komplett ausgeklammert, auch Fernsehnachrichten wurden nur auf ihre
Texte hin untersucht, so dass zu repräsentativen oder verzerrenden Abbildungen der Corona-
Pandemie die Journalismusforschung noch gefordert ist.
2.2 Augstein-Studie
Im Oktober 2021 erschien eine deutsche Untersuchung zur Qualität des Corona-Journalismus von
Marcus Maurer (IfP, Uni Mainz), Carsten Reinemann (IfKW, Uni München) und Simon Kruschinski (IfP,
Uni Mainz), herausgegeben von der Rudolf-Augstein-Stiftung.
Das Sample umfasst die Berichterstattung "in elf Leitmedien mit unterschiedlichen redaktionellen
Linien" zwischen 01.01.2020 und 30.04.2021, nämlich in den sieben Online-Angebote faz.net, sued-
deutsche.de, welt.de, bild.de, spiegel.de, focus.de und t-online.de, in den drei Fernsehnachrichten-
formaten Tagesschau (ARD), heute (ZDF) und RTL aktuell sowie der zeitweilig täglich ausgestrahlten
15
https://medienwoche.ch/2020/07/31/halb-voll-ist-eben-auch-halb-leer-studie-zur-corona-
berichterstattung/
16
Bsp. für die Berichterstattung: https://www.bild.de/news/ausland/news-ausland/schockierende-bilder-aus-
italien-armee-transportiert-corona-tote-69489308.bild.html Kritisch zum Narrativ:
https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-
movie-theatre/
17
https://www.tagesspiegel.de/politik/italien-mit-hoechstzahl-an-corona-toten-armee-transportiert-leichen-
mit-lkw-ab-ausnahmezustand-im-land-verlaengert/25660522.html
12
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Sondersendung "ARD Extra" zur Corona-Pandemie, ab 17.03.2020 unter dem Titel "Die Corona-
Lage"
18
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 4). Die Qualität der Medienberichterstattung wurde
dabei "an frühere Studien anknüpfend auf sechs Dimensionen [gemessen]: 1) Relevanz, 2) Vielfalt, 3)
Sachlichkeit/ Neutralität, 4) Richtigkeit/ Sachgerechtigkeit, 5) Ausgewogenheit und 6) Einordnung/
Kontextualisierung." (ebd.) In die quantitative Inhaltsanalyse eingeflossen sind wegen der großen
Menge aus den Nachrichtensendungen und Online-Medien nur die Beiträge jedes zweiten Tages. Von
den Online-Angeboten wurde codiert, was "auf den Startseiten im Hauptnachrichtenbereich erschie-
nen" ist sowie alle Beiträge aus den "Ressortbereichen News, Politik, Corona(virus) oder Wis-
sen(schaft) unterhalb des Hauptnachrichtenbereichs" (Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 19).
Die Qualitätsdimension Relevanz wurde im Intra-Extra-Media-Vergleich bestimmt, als Kennzeichen
realer Relevanz wurden "offizielle Statistiken zur Entwicklung der Pandemie (z. B. Zahl der Neuinfek-
tionen, Sterbefälle) sowie Informationen über die Verkündung wichtiger politischer Entscheidungen
(z. B. zu Eindämmungsmaßnahmen)" herangezogen (ebd: 21). Je größer das Infektionsgeschehen und
damit "dramatischer" die Pandemie, um so relevanter ist das Thema (ebd. 23f). Beispiel-Befund:
>Stärkere Zusammenhänge zwischen der Berichterstattungsmenge und den Indikatoren für
das Infektionsgeschehen zeigen sich, wenn man die Berichterstattung etwas detaillierter be-
trachtet. So können wir z. B. auch dezidiert die Häufigkeit der Erwähnung von Todesfällen in
den Medien mit der tatsächlichen Zahl von Todesfällen vergleichen. Hierbei zeigt sich, dass die
Medien während der zweiten Pandemie-Welle zumindest etwas häufiger über Todesfälle be-
richtet haben als während der ersten Welle. Den massiven Anstieg der Todesfälle in der zwei-
ten Welle spiegelt sie allerdings nicht wider. Umgekehrt blieb die Berichterstattung über To-
desfälle auch dann noch, als diese durch die zunehmende Impfung von Risikogruppen deutlich
zurückgingen [...].<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 25f).
= Vielfalt =
Der "Grad an Emotionalität vs. Sachlichkeit" wird "als Indikator für Neutralität" erhoben. Zur Be-
stimmung der Sachlichkeit der Berichterstattung wird analysiert, "in welchem Ausmaß die Darstel-
lung der Pandemie durch Statistiken und andere summarische Informationen (thematisches Framing)
oder durch die Darstellung von Einzelfällen (episodisches Framing) geprägt war." (ebd.: 21)
Als eine gemeinsame Qualitätsdimension werden Richtigkeit und Sachgerechtigkeit aufgefasst und
anhand von drei Benchmarks erfasst: "den Vergleich des Corona- mit dem saisonalen Influenza-Virus,
die Darstellung des Meinungsklimas zu den Corona-Maßnahmen und die Frage, ob die Berichterstat-
tung den Eindruck vermittelte, in der Wissenschaft herrsche ein Konsens über die Pandemie." (ebd.:
21) Da im Zuge der Studie kein Factchecking betrieben wurde, gibt es "drei exemplarische Indikato-
ren, um einen Eindruck von der Richtigkeit bzw. Sachgerechtigkeit der Berichterstattung zu bekom-
men" (ebd.: 35): 1. Vergleiche zwischen Corona-Virus und Influenza-Virus (sachgerecht ist die Dar-
stellung hier, wenn die Gefährlichkeit von Corona "als deutlich höher eingeschätzt" wird), 2. Darstel-
lung von Konsens oder Dissens "in den unmittelbar mit den medizinischen Aspekten der Pandemie
beschäftigten wissenschaftlichen Disziplinen" (sachgerecht: Konsens im Laufe des Jahres 2020), 3.
wird untersucht, "ob das auf die Corona-Maßnahmen bezogene Meinungsklima als die Maßnahmen
befürwortend oder gegen die Maßnahmen gerichtet dargestellt wurde." (ebd.: 35)
18
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_ARD-Extra-Sendungen
13
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Zur Beurteilung der Ausgewogenheit der Berichterstattung wird ermittelt, "inwieweit auch kritische
Positionen zur Pandemie, den Maßnahmen und Akteuren in der Berichterstattung vorkamen und
inwiefern die Medien dabei unterschiedliche redaktionelle Linien vertraten." (ebd.: 22)
Die Auswertung der sog. Akteursvielfalt ergab u.a.:
> Zählt man die Bundesregierung, die daran beteiligten Parteien sowie deren Politiker auf
Bundesebene zusammen, machten Regierungsakteure über 20 Prozent aller Akteursnennun-
gen aus, während Oppositionsakteure gerade einmal auf 3 Prozent kamen.<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 27).<
Unter Einbeziehung der Landespolitik vergrößert sich der Abstand zwischen CDU/ CSU und den ande-
ren Parteien weiter "trotz unterschiedlicher Regierungskonstellationen", "weil [die] Ministerpräsi-
denten Söder und Laschet deutlich häufiger erwähnt wurden als deren Amtskollegen aus anderen
Bundesländern" (ebd.: 29).
Bei der Virologen-Präsenz sticht Drosten "als engster Regierungsberater" hervor, der "mit 513 Medi-
ennennungen mehr mediale Aufmerksamkeit erhielt, als alle anderen Virologen zusammen" (ebd.:
31).
>Drosten blieb bis Herbst 2020 der deutlich dominierende Pandemie-Erklärer in den Medien,
wurde aber während der zweiten Pandemiewelle partiell und während der dritten Pandemie-
welle schließlich vollständig von einem „Kollegen“ abgelöst [...] [:] Karl Lauterbach [...].<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 31)
Bei der Bewertung der Maßnahmen gab es zunächst, während der 'ersten Welle', noch einen Wider-
streit zwischen positiven und negativen Folgen, danach dominierten "die positiven Folgen für die
Gesundheit" den medialen Diskussion eindeutig. "Negative gesundheitliche Folgen der Maßnahmen
wurden im gesamten Untersuchungszeitraum praktisch nicht thematisiert." (ebd.: 33)
Das Meinungsklima in der Bevölkerung wurde laut Studie "insbesondere im Oktober und November
2020 sowie im Januar 2021" verzerrt dargestellt: "sehr viel häufiger als zuvor [vermittelten Medien]
den Eindruck eines die Maßnahmen ablehnenden Meinungsklimas [...], obwohl sich an der grund-
sätzlichen Haltung der großen Mehrheit der Bevölkerung, die Maßnahmen seien nicht übertrieben,
nichts Wesentliches geändert hatte." (ebd.: 39)
= Ausgewogenheit =
Zu Beginn der Pandemie-Berichterstattung war der Tenor zu politischen Maßnahmen überwiegend
positiv. "Hier hatten die politischen und wissenschaftlichen Akteure tatsächlich eine deutliche media-
le Unterstützung, was nicht bedeutet, dass es nicht auch Kritik in der Berichterstattung gegeben hät-
te." (ebd.: 43) In der Gesamtstichprobe thematisierten knapp 90 Prozent der analysierten Beiträge
eine oder mehrere Maßnahmen mit insgesamt mehr als 35.000 Nennungen. Im Gesamttenor bewer-
teten 44 % der Beiträge (N= 5.295) die politischen Maßnahmen als angemessen, 31 % als nicht aus-
reichend und 26 % als zu weit gehend. (ebd.: 44) Die Betrachtung einzelner Medien zeigt deutliche
Unterschiede in den 'Blattlinien' bzw. redaktionellen Haltungen wenn es darum geht, ob die Maß-
nahmen zu milde oder zu drastisch waren:
>Die stärkste Positionierung für strengere oder mehr Maßnahmen ist bei t-online zu erkennen
(Saldo = +19 %), etwas schwächer auch bei heute (+14 %), dem ARD Corona Extra (+13 %),
RTL aktuell (+11 %), spiegel. de (+11 %) und welt.de (+10 %). Eine zweite Gruppe von Medien
weist nur einen kleinen Überhang von Beiträgen auf, in denen strengere Maßnahmen als
14
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
notwendig erschienen. Zu dieser Gruppe zählen die Tagesschau (+5 %), focus.de (+4 %) und
sueddeutsche.de (+4 %). Zwei Medien schließlich lassen über den gesamten Untersuchungs-
zeitraum einen Überhang von Beiträgen erkennen, in denen die Maßnahmen als zu weitrei-
chend erschienen. Dies sind mit einer leichten Tendenz faz.net (-4 %) und mit dem deutlichs-
ten Tenor bild.de (-13 %) [...].<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 47)
Abwägungen von Folgen der Pandemie und Folgen ihrer Bekämpfung kamen "tatsächlich in der ers-
ten Phase der Pandemie im April 2020 am seltensten" vor (ebd.: 55)
In der Zusammenfassung am Ende heißt es:
>Ein sehr klares Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass die untersuchten Nachrichtenmedi-
en nicht völlig unkritisch insbesondere gegenüber den Regierungen in Bund und den Ländern
waren. Denn Kritik war in den Medien sehr deutlich vorhanden, sowohl an den amtierenden
Regierungen und ihren Repräsentanten als auch an den Corona-Maßnahmen. In dieser Hin-
sicht war die Berichterstattung folglich zugleich regierungsnah und regierungskritisch. Sie war
regierungsnah, weil die Medien, ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen
plädierten. Sie war zugleich aber auch regierungskritisch, weil den Medien diese Maßnahmen
oft gar nicht hart genug erschienen oder zu spät kamen.<
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 55)
In der abschließenden Bewertung heißt es:
>Insgesamt nahmen die Medien gegenüber der Pandemie folglich eine eindeutig warnende
Haltung ein, die man durchaus als einseitig betrachten kann. Betrachtet man diese Einseitig-
keit als Problem, dann kann man dies allerdings nur aus einer Position tun, die die Pandemie
als eher ungefährlich oder die Maßnahmen als eher übertrieben wahrnimmt. Stellt man da-
gegen in den Mittelpunkt, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bislang auch im
Hinblick auf die Zahl von Todesfällen vergleichsweise gut durch die Pandemie kam und führt
man dies nicht nur auf das gute Gesundheitssystem und die vielen Intensivbetten, sondern
auch auf die Maßnahmen zurück, dann kann man diese mediale Mitgliedschaft im „Team
Vorsicht“ als Ausweis von Rationalität, Wissenschaftsorientierung und hoher Qualität der Be-
richterstattung betrachten.<
19
(Maurer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 58)
3 Richtigkeit
Ein grundlegendes Qualitätskriterium im Journalismus ist die Richtigkeit. Für die Orientierungsleis-
tung der Medien sind zwar weitere Kriterien unabdingbar und manche deutlich spannender als die
Richtigkeit, doch ohne das strikte Bemühen um Faktizität haben wir es erst gar nicht mit Journalis-
mus zu tun. Umso erstaunlicher ist, wie viele Fehler sich im Journalismus finden. Neben Fragen zur
Ethik fokussieren daher Medienwatchblogs vor allem auf Patzer bei der Richtigkeit, von denen es
keineswegs nur bei der 'Bild' reichlich gibt. Über die Tragweite einzelner Fehler in der Berichterstat-
tung mag man streiten, letztlich kann aber jede Unrichtigkeit zu Fehlorientierungen führen, also ge-
nau zum Gegenteil dessen, was Journalismus zu leisten für sich beansprucht. Zudem beeinträchtigt
jede Unrichtigkeit das Vertrauen in Medien und kann damit die öffentliche Aufgabe des Journalismus
19
Um diese Interpretation geht es später noch unter "Medienkritik" im Kap. 7 (Objektivität) sowie im Resü-
mee.
15
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
insgesamt beschädigen. Besonders tragisch wird es daher auch, wenn Unrichtigkeiten keine Ent-
schuldigung mehr auslösen. Leider begleiten uns Unrichtigkeiten vom ersten Tag der Corona-
Berichterstattung.
Unrichtig ist eine Aussage, sobald sie falsifiziert ist. Ansonsten kann sie bestritten bzw. bezweifelt
sein. Fehlende Belege oder auch widersprechende Informationen in anderen Veröffentlichungen sind
Indizien, aber keine Beweise für Unrichtigkeit.
Das Qualitätskriterium Richtigkeit ist der eindrücklichste Vertreter nur negativ messbarer Eigen-
schaftsausprägungen. Es gibt außerhalb der Rhetorik kein "sehr richtig", aber es gibt natürlich unter-
schiedliche Bedeutungsgrade von Unrichtigkeit, die zu sehr verschiedenen Bewertungen führen kön-
nen.
= Exkurs: Meinungen und Tatsachen =
Tatsachen sind immer richtig, Meinungen nie. Falsch bzw. unwahr können Tatsachenbehauptungen
sein (ausf. Rieg 2024
20
). Das macht für die Richtigkeitsprüfung erforderlich, diese drei grundverschie-
denen Aussagetypen strikt zu trennen und vor allem Meinungen deutlich als solche auszuweisen,
wozu zwingend gehört, sie zu personalisieren, weil nur natürliche Personen Meinungen haben kön-
nen. Das klingt vermutlich banal empirisch betrachtet liegt hier aber eines der größten Probleme
des Corona-Journalismus (und wohl des Journalismus insgesamt). Bevor wir daher zu Beispielen un-
richtiger Behauptungen kommen, muss der Unterschied zwischen Tatsachen einerseits und Meinun-
gen über Tatsachen andererseits klar sein. Gerade weil ich aus vielen Diskussionen weiß, an dieser
Stelle bereits Leserschaft zu verlieren, sobald ein dieser unpassend scheinendes Beispiel erwähnt
wird: Schreiben Sie mir bitte, wenn Sie es anders sehen! Ich bin gerne bereit zu widerrufen; aber
solange dieser Punkt als ungeklärt gilt, erübrigt sich jede Forschung über und Diskussion um Qualität
im Journalismus. Wenn Sie dem ersten Beispiel nicht widersprechen, können Sie diesen Abschnitt
allerdings überspringen.
Um mit einem Lehrbuchbeispiel zu beginnen (Esslinger/ Schneider 2015: 25):
Bsp.: Die Überschrift "Schmidt will nicht Bundeskanzler werden” zu einer Aussage des damaligen
Hamburger Bürgermeisters Helmut Schmidt wurde nicht erst falsch, als dieser doch als Kanzlerkandi-
dat zur Wahl antrat, sie war zu jedem Zeitpunkt reine Spekulation, die falsche Darstellung einer Mei-
nungsbekundung als Tatsache. Fakt war allein, dass Schmidt gesagt hatte, nicht Kanzler werden zu
wollen. Was er aber wirklich wollte, konnte außer ihm niemand wissen. Dieser Unterschied ist keine
Petitesse
21
, sondern essentiell, um über Richtigkeit im Journalismus diskutieren zu können.
Tatsachen sind intersubjektiv nachprüfbar. Verschiedene Betrachter kommen Mittel und Vermögen
vorausgesetzt zur gleichen Feststellung. Das sind wir gewohnt von Gerichten, wir erwarten es bei
der Bewertung von Prüfungsleistungen ebenso wie beim Wetterbericht. Tatsachen (Fakten) sind da,
und sie sind immer richtig (denn andernfalls sind sie eben keine Tatsachen, sondern unwahre Tatsa-
chenbehauptungen und damit nein, nicht Meinungen, sondern: Fiktionen).
Helmut Schmidt, um zum Lehrbuchbeispiel zurückzukommen, hatte damals eine Meinung. Diese
wäre eine Tatsache gewesen, hätten wir sie valide prüfen können; da sie außer ihm selbst aber na-
turgemäß niemand als solche sehen konnte, blieb für die Kommunikation nur seine Behauptung die-
ser Meinung. Diese Behauptung war eine Tatsache aber eben nur als Behauptung. Wenn Schmidt in
20
https://www.spiegelkritik.de/2024/07/10/tatsachen-und-meinungen-ein-differenzierungsvorschlag/
21
https://www.spiegelkritik.de/2017/06/11/fragen-stellen-und-antworten-verstehen/
16
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
einem Interview sagt: "Ich will nicht Bundeskanzler werden", dann ist es eine Tatsache, dass er dies
gesagt hat. Es ist aber keine Tatsache, dass er nicht Bundeskanzler werden will. Da wir Meinungen
anderer nur durch ihre (auch nonverbale) Äußerung zur Kenntnis nehmen können, dürfen wir den
korrekten Begriff "Meinungsbehauptung" schlicht auf "Meinung" verkürzen.
Jedes Gesetz, jede Verordnung und alles, was wir so an Regeln haben, sind Meinungen. Es sind gera-
de keine "Naturgesetze", sie können keinem Wahrheitsbeweis unterzogen werden. Homosexualität
kann bestraft oder steuerlich begünstigt werden. Cannabis kann verboten oder erlaubt sein, der
Handel damit kann bußgeld- oder mehrwertsteuerpflichtig sein. Tatsache ist jeweils nur die aktuelle
Kodifizierung einer Meinung. Tatsache ist, dass man für Vergehen oder Verbrechen nach den ent-
sprechenden Gesetzen bestraft werden soll (sog. Rechtstatsachen, vgl. Branahl 2019: 106). Keine
Tatsache ist hingegen, dass dies so sein muss. Eine mehrheitliche Meinungsänderung im Parlament
genügt, und die Welt sieht ganz anders aus.
Regelmäßig befasst mit der Unterscheidung von Meinungen (Werturteilen) und Tatsachenbehaup-
tungen sind Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bezeichnet etwa die Meinungsäuße-
rungsfreiheit als für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend (BVerfGE 5, 85 (134 f.) =
1 BvB 2/51 vom 17.08.1956
22
; BVerfGE 7, 198 (208) = 1 BvR 400/51 vom 15.01.1958
23
), wohingegen
unwahre Tatsachenbehauptungen keinen Schutz bei der "Abwägung mit anderen Grundrechten oder
einfachgesetzlich geschützten subjektiven Rechten" genießen (Di Fabio 2010: 373).
24
Eine Tatsache ist nicht diskutierbar und nicht falsifiziert, aber technisch falsifizierbar
25
. Eine Meinung
ist nicht falsifizierbar und die Aussage kann stets auch anders formuliert werden, ohne unrichtig zu
sein, denn sie ist ein Werturteil über Tatsachen. Tatsachenbehauptungen, die nicht falsifizierbar sind,
gehören zum Glauben.
Für die Richtigkeitsprüfung von Aussagen kommt es natürlich stets auf den Kontext an. "Die Erde ist
eine Kugel" werden wir im Alltag für richtig halten, weil wir selbst als Freunde wissenschaftlicher
Exaktheit verstehen, was gemeint ist, und das ist keine spezielle Leistung, sondern Grundlage aller
Kommunikation. In einem physikalischen Kontext hingegen wird man die Behauptung einer Erdkugel
als falsch bezeichnen müssen, da eine Vermessung eben die Unrichtigkeit belegt (während die Bestä-
tigung der Kugelform weitere Fragen aufwerfen würde, etwa warum die Fliehkraft der Erdrotation
keine Auswirkungen auf den Körper hätte). Bei der Richtigkeitsprüfung journalistischer Aussagen soll
daher keine Pedanterie betrieben werden. Alle nachfolgend genannten Fälle zu allen Qualitätsaspek-
22
Für unsere Thematik durchaus relevant etwa folgendes Zitat aus dem Urteil: "Für den politisch-sozialen
Bereich bedeutet das, dass es nicht genügt, wenn eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von
'Untertanen' zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange verantwortlich auch an den
Entscheidungen für die Gesamtheit mitwirken. Der Staat hat ihm dazu den Weg zu öffnen; das geschieht in
erster Linie dadurch, dass der geistige Kampf, die Auseinandersetzung der Ideen frei ist, dass mit anderen Wor-
ten geistige Freiheit gewährleistet wird. Die Geistesfreiheit ist für das System der freiheitlichen Demokratie
entscheidend wichtig, sie ist geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Ordnung; sie bewahrt
es insbesondere vor Erstarrung und zeigt die Fülle der Lösungsmöglichkeiten für die Sachprobleme auf."
https://openjur.de/u/335396.html
23
https://openjur.de/u/183740.html
24
siehe https://www.spiegelkritik.de/2024/07/10/tatsachen-und-meinungen-ein-differenzierungsvorschlag/#d
25
d.h. sie ist der Überprüfung zugänglich; sollte eine Tatsachenbehauptung irgendwann falsifiziert werden,
dann war sie natürlich auch davor schon falsch. Dass sich unsere gesamte Wahrnehmung im Rahmen unserer
Erkenntnismöglichkeiten bewegt, kann man auch ohne Konstruktivismus-Theorie einsehen.
17
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ten eint, dass sie den Orientierungsauftrag des Journalismus unzureichend erfüllen oder ihm sogar
zuwiderlaufen.
Dass mit jeder Tatsachenbeschreibung auch Meinungen verbunden sein können, gehört zu den
Grundkonflikten in der Kommunikationswissenschaft. Für die nachfolgenden Betrachtungen des
Corona-Journalismus ist diesbezüglich jedoch nur wichtig, sich des Unterschieds zwischen Tatsachen
und Meinungen bewusst zu sein. Sofern dies klar ist, müssen wir nicht ständig umständlich berechtig-
te Vorbehalte formulieren. Aber wenn es darauf ankommt, sollten wir eben nicht unsere Meinung als
Tatsache zu tarnen versuchen.
Bsp.: Zoonose. Man kann Zoonose als einen medizinischen Begriff verwenden, um simpel Krankhei-
ten zu bezeichnen, die sowohl Menschen als auch Tiere treffen können bzw. die vom Tier auf den
Menschen übertragen werden können (wie auch umgekehrt).
26
Aber in vielen realen Kommunikati-
onszusammenhängen ist mit "Zoonose" eine Meinung verbunden, die für ein wissenschaftliches
Weltbild steht: nämlich die grundlegende Unterscheidung zwischen Menschen und Tieren, etwas,
das es für Human- und Veterinärmediziner qua Definition gibt, was aber kaum ein Biologe, insbeson-
dere kein Zoologe und schon gar kein Primatologe teilen wird. Die Verwendung des Begriffs setzt
bereits eine Differenzierung zwischen Mensch und Tier voraus, ohne dass diese genau benannt wür-
de (was für zahlreiche darauf bauende Meinungen aber essentiell ist).
= Tatsachen und Meinungen zu Corona =
Corona ist eine Tatsache, politische Entscheidungen dazu basieren auf Meinungen, die neue Tatsa-
chen schaffen. Das gälte es fortwährend zu trennen, doch genau hier kam der Corona-Journalismus
komplett aufs falsche Gleis. Denn er machte einige Meinungen und Tatsachenvermutungen zu Tatsa-
chen, von denen alles Weitere abhing und bis heute abhängt: Die zentrale Hypothese war, das
Corona-Virus sei deutlich gefährlicher als das Grippe-Virus. Und deshalb, so die zentrale Meinung, die
als Tatsache betrachtet wurde, müsse die Politik in noch nie dagewesenem Umfang in die Freiheit
der Bürger eingreifen und das Leben jedes Einzelnen so lange beherrschen, bis die Pandemie wie
auch immer r beendet erklärt werden kann. So entstand ein Jahrhundertereignis.
27
Beides war am Anfang legitim. Aber beides konnten eben keine Tatsachenaussagen sein. Entspre-
chend hätte der Journalismus beide Dogmen behandeln müssen. Eine besondere Gefährlichkeit
konnten am Anfang noch gar nicht bescheinigt werden, weil die Fallzahlen dafür viel zu gering waren.
Es ließ sich nur spekulieren, wie der weitere Verlauf unter welchen Bedingungen sein könnte. Man
konnte Worst-Case-Szenarien modellieren, aber man konnte damit nicht in die Zukunft schauen.
Was Wissenschaftler der Politik zu tun rieten, waren ausschließlich Meinungen. Die konnte man
überzeugend oder nicht überzeugend finden, aber sie waren nie alternativlos (denn das ist, siehe
oben, Wesensmerkmal von Meinungen), zumal die Grundlagen eben stets Prognosen waren, die
naturgemäß nicht beanspruchen können, wahr zu sein. Tatsachen waren (unter Berücksichtigung der
Datenerhebungen!) Infektionszahlen, Krankenstände, Todesraten, R-Werte etc., alles, was eben fak-
tisch da war.
Bitte vergegenwärtigen Sie sich für die Betrachtung aller folgenden Qualitätsaspekte, dass die gesam-
te Corona-Politik und wie auch immer miteinander in Wechselwirkung stehend ein großer Teil der
26
https://www.zoonosen.net/zoonosenforschung/was-sind-zoonosen
27
Bundeskanzler Scholz: „Wir werden alles tun, was notwendig, ist, es gibt da für die Bundesregierung keine
roten Linien.“ https://www.wz.de/politik/inland/bundeskanzler-olaf-scholz-gibt-keine-roten-linien-im-kampf-
gegen-corona_aid-64638659
18
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
journalistischen Corona-Kommentierung auf einer im Februar, spätestens März 2020 gefassten Mei-
nung basiert. Fast alles, was in den folgenden drei Jahren berichtet wurde, hängt von dieser einen
Meinung ab. Demonstrationsverbote (mit gewaltsamen Auflösungen, mit Schlagstöcken, Pfeffer-
spray, Reiterstaffeln, Wasserwerfern) und die ganze mediale Erregung dazu basieren auf der Mei-
nung, zum Infektionsschutz Unbeteiligter müssten solche Aufzüge und Kundgebungen unbedingt und
mit allen Mitteln verhindert werden. Besuchsverbote, nicht nur im Privaten, auch in Krankenhäusern,
Pflegeheimen, Wohngruppen für Behinderte, teilweise wochenlange Isolation: sie basieren auf einer
Meinung. Reiseverbote, geschlossene Universitäten, neue Sperrstunden: die Grundlage für all das
waren Werturteile. Dass Verstorbene ohne Angehörige beerdigt wurden: eine Tatsache. Dass es so
kam: Resultat einer Meinung. Dass es nicht anders ging: eine falsche Tatsachenbehauptung. Dass
auch nach 24 Monaten Corona Menschen einsam im Krankenhaus starben, weil sie keinen Besuch
bekommen durften: eine Tatsache; die Grundlage für die entsprechenden Verfügungen: Meinungen
(oft von örtlichen Krankenhaus- und Pflegedienstleitungen, also ohne verpflichtende Anordnung, die
wiederum eine Tatsache wäre, aber auf einer gesetzgeberischen bzw. verordnungsgeberischen Mei-
nung basierend). Dass es "richtig" war, ungeimpfte Menschen in ihren Rechten drastisch einzu-
schränken (sie durften unter 2G
28
nicht einmal in einem Imbiss etwas zu Essen abholen): eine Mei-
nung.
Der Inzidenz-Wert von 50 pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen ist eine rechnerische Tatsache
(soweit die Berechnung stimmt). Wenn Politik und Behörden bei entsprechenden Werten handeln,
sind das natürlich so wie die Infektionen selbst Tatsachen, ihre Interpretation aber eben etwas, wo-
rüber man streiten
29
kann (und zwar aus allerlei Gründen). Dass Gesetze Gültigkeit haben und Ver-
stöße gegen sie harte Sanktionen nach sich ziehen können, ist eine Tatsache, der Inhalt der Gesetze
bleibt aber Meinung: Man kann eben wahlweise männliche Homosexualität unter Strafe stellen oder
deren Diskriminierung.
Ein Standardfehler in der Berichterstattung ist daher die Verwechslung der Tatsache Corona mit der
Meinung Corona-Politik. Und so lesen wir dann etwa:
Bsp.: >Viele Prostituierte sind wegen Corona in existentieller Not<
30
Falsch. Die existentielle Not hat nicht "Fräulein Corona"
31
verursacht, sondern das von der Politik
verhängte Prostitutionsverbot. Ob die Nachfrage auch ohne ein Verbot zurückgegangen wäre, ist
reine Spekulation.
Bsp.: Die Wirtschaft leidet auch nicht "unter Corona"
32
, sondern unter dem globalen Shutdown.
Bsp.: Ob Dunja Hayali ihre Filmarbeiten bei der ersten Berliner 'Corona-Demo' tatsächlich abbrechen
musste, wie es viele Medien behaupteten
33
, wissen wir nicht. Tatsache ist allein, dass sie ihn abge-
28
https://de.wikipedia.org/wiki/2G-Regel
29
https://web.archive.org/web/20200508143625/https://www.tagesschau.de/inland/corona-obergrenze-
kritik-101.html
30
https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/prostituierte-ulm-wegen-corona-in-not-sex-bordell-und-
puff-geschlossen-hure-leben-bei-freier-ausstieg-schwer-51835158.html
31
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Fraeulein-Corona-tut-was-sie-will,audio656658.html (nicht mehr
online); Ersatz: https://www.podchaser.com/podcasts/mdr-kultur-peter-zudeicks-woch-
147749/episodes/wehmutiger-abschied-von-fraule-91783977
32
https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/Historischer-Export-Einbruch-So-leidet-die-Wirtschaft-
unter-Corona-id57526586.html
19
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
brochen hat (und, nebenbei bemerkt, natürlich zu keinem Zeitpunkt neutrale, sondern stets teilneh-
mende Beobachterin war, Akteurin, Partei). Hayalis Bodyguard ist Fakt, die Notwendigkeit eine Mei-
nung.
Bsp.: Covid-19-Patienten auf Intensivstationen "müssen" auch nicht beatmet werden, was ein Fak-
tum wäre, sondern sie "werden künstlich beatmet", aufgrund der Meinung behandelnder Ärzte.
34
Falsch ist die Behauptung daher regelmäßig bei der Angabe exakter Zahlen bzw. der Beschreibung
einer konkreten Personengruppe.
Bsp.: "618 Covid-19-Patienten werden intensivmedizinisch behandelt, 319 davon müssen beatmet
werden".
35
Nicht zu beanstanden ist hingegen die Formulierung: "Manche Kleinkinder müssen sogar beatmet
werden."
36
Zwar fehlt hier ebenso der Beleg, aber dass es für "manche" gleich "irgendwelche" Klein-
kinder zutrifft, ist anzunehmen; widerlegbar wäre die Aussage nur, wenn für alle beatmeten Kinder
eine ihrem Interesse entsprechende Alternativbehandlung aufgezeigt werden könnte.
Bsp.: Die weit verbreitete Behauptung eines Faktums, wo es nur um eine Mutmaßung geht, ist be-
sonders auffällig in Beiträgen, die sich gerade der Faktentreue widmen, wie eine ZEIT-Analyse des
Lauterbach'schen "Freestyling": "Denn viele haben den vergangenen Herbst wohl vergessen. Als noch
Delta grassierte, mussten schwer kranke Intensivpatienten mit Flugzeugen quer durchs Land geflogen
werden, weil mancherorts die Intensivstationen voll waren."
37
Für das Müssen gab es keinerlei Beleg,
aber die Medien-PR dazu wird bis heute selbstreflexiv als Beleg herangezogen.
Den Hinweis auf solch völlig falsches "Müssen" findet Schultz (2020) sophistisch und entgegnet in der
"journalistik":
"Als mündiger Leser verstehe ich, wenn ich die kritisierte Formulierung lese, dass die Beat-
mung im Urteil der Mediziner, die das entschieden haben, notwendig war."
Aber versteht der mündige Leser auch, dass es parallel andere Meinungen gab, etwa die des Pallia-
tivmediziners
38
, der zur Sterbebegleitung geraten hat? Entnimmt der mündige Leser diesem kurzen
"Müssen" auch das Geschäftsmodell des Krankenhauses? Liest er die unabhängig von Corona große
Zahl medizinischer Fehlentscheidungen mit, die täglich getroffen werden? Weiß der mündige Leser,
wie viele der künstlich beatmeten Patienten in die Behandlung eingewilligt haben, noch einwilligen
konnten oder dies per Patientenverfügung vorab geregelt haben, und bei wie vielen Ärzte und ggf.
33
https://www.deutschlandfunkkultur.de/demonstration-gegen-corona-massnahmen-zdf-
journalistin.1013.de.html?dram:article_id=481654
34
Aus der unendlich langen Liste: Express: https://www.express.de/bonn/mehr-corona-faelle-kreis-spd-
kritisiert--geheimniskraemerei--um-ausbruchsorte-37394302 ; FAZ: https://www.faz.net/aktuell/rhein-
main/kein-kreis-mehr-ohne-neuinfektionen-binnen-sieben-tagen-16969031.html ; BILD:
https://www.bild.de/regional/hannover/hannover-aktuell/fruehestens-im-oktober-land-wartet-mit-
lockerungen-der-corona-regeln-72706982.bild.html ; Nordwest-Zeitung:
https://www.nwzonline.de/sande/sanderbusch-varel-zwei-corona-patienten-auf-
intensivstation_a_50,10,3859185806.html
35
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/antworten-zu-covid
36
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/synzytial-virus-kinder-muessen-erneut-ausbaden-was-
erwachsene-verbockt-haben
37
https://www.zeit.de/gesundheit/2022-09/karl-lauterbach-stiko-corona-impfung-kommunikation
38
https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-falsche-100.html
20
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Angehörige an ihrer statt entscheiden haben? Das Müssen gehört zur Arztsprache, aber es ist fast
immer falsch. Man muss keine Tabletten nehmen, man muss nicht unters Messer, man muss sich
nicht untersuchen lassen. Es kann Wenn-Dann-Konstellationen geben: "Wenn ich als Arzt Sie behan-
deln soll, dann erfordert dies von Ihnen dies und das und jenes." Oder: "Wenn wir eine Antibiotika-
Behandlung beginnen, dann müssen Sie sich verpflichten, diese auch bis zum Ende durchzuhalten,
weil Sie sonst durch die Möglichkeit einer Resistenzbildung andere Patienten gefährden könnten."
Aber viel Leid wird verursacht, weil Menschen glauben, sie müssten tun, lassen oder ertragen, was
Ärzte verlangen. Es ist daher keine Petitesse, eine Zwangsläufigkeit zu behaupten, wo nur eine Mei-
nung, eine Gepflogenheit oder gar ein Geschäftsmodell existiert (vgl. hierzu 2023 die Diskussion um
Tote durch zu frühe Intubation/ invasive Beatmung
39
).
(Update: Eine ebenso falsche und wirkmächtige Fehl-Kausalität erleben wir seit dem 24. Februar
2022: Alle wirtschaftlichen Veränderungen gibt es nun "wegen [des russischen] Ukraine-Kriegs"
40
.
Das ist allerdings eine desorientierende Simplifizierung. Auch wenn es etwas Mühsal bereiten und
ggf. sogar Recherche erfordern sollte: Grund für vieles ist nicht der russische Krieg, sondern die Reak-
tion darauf. "Wegen der Sanktionen", "wegen der Weigerung, in Rubel statt Euro zu zahlen" etc.
Wem auch das sophistisch erscheint, der kann gleich alles von der eigenen schlechten Laune bis
zum globalen Artensterben begründen mit: "wegen dem Urknall".)
Über einen Beitrag "Kommentar" zu schreiben macht die Unterscheidung von Ansichten und Fakten
noch nicht obsolet. Sicherlich wird "der mündige Leser" dort an vielen Stellen ein nicht geschriebenes
oder nicht gesprochenes "Ich bin der Ansicht" selbst gedanklich korrekt ergänzen.
Bsp.: Dass Prof. Christian Drosten versuche, "nach bestem Wissen und Gewissen über das neuartige
und noch immer weitgehend unbekannte Virus, dessen Eigenheiten und die davon ausgehenden
Gefahren für die Menschheit zu informieren"
41
, kann der Autor dieser Aussage natürlich gar nicht
wissen, aber es darf sein Eindruck sein, und genau so werden es wohl die allermeisten lesen (auch
dies ist eine Meinung, hoffentlich hinreichend durch "wohl" gekennzeichnet). Aber was ist mit einer
Agenturmeldung zur ersten Berliner Großdemo, in der es (vielfach kolportiert) heißt:
Bsp.: >Trotz steigender Infektionszahlen hatten Tausende Menschen gegen die staatlichen Maßnah-
men zur Eindämmung der Corona-Pandemie protestiert.<
42
43
Ist dieses "trotz" als Meinung erkennbar, und wenn ja: wer äußert sie? Die Deutsche Presseagentur
als Unternehmen? Dies zu fragen ist ebenso wenig sophistisch wie das Verb "müssen" beim Beatmen
zu kritisieren. Denn es wird ein Konflikt oder Widerspruch ohne jeden Beleg behauptet. Ist es
zwangsläufig, also eine Tatsache, dass bei "steigenden Infektionszahlen" Proteste gegen die Politik
unterbleiben müssten, dass sie unsinnig sind, sich selbst ad absurdum führen? Vermutlich (Meinung!)
steht hinter diesem simplen "trotz" ein Weltbild, eine Haltung, eine Meinung, jedenfalls vermittelt es
so etwas. Welche nachrichtliche Aussage bekämen wir, wenn das "trotz" durch ein "wegen" ersetzt
würde? Das entspräche ggf. einigem, was auf der Veranstaltung selbst proklamiert wurde: 'Weil auch
39
https://www.telepolis.de/features/Covid-Schwere-Vorwuerfe-wegen-massenhafter-kuenstlicher-Beatmung-
9048800.html
40
https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-03/ukraine-krieg-energiepreise-aengste-konsum-kautlaune-leidet-gfk
41
https://www.merkur.de/welt/coronavirus-christian-drosten-deutschland-virologe-covid-19-china-experte-
labor-podcast-studie-zr-13761655.html
42
https://www.krankenkassen.de/dpa/341403.html
43
https://www.welt.de/vermischtes/article212680885/Berlin-Protest-gegen-Corona-Massnahmen-Politiker-
kritisieren-Verhalten-der-Teilnehmer-scharf.html
21
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
schärfste Eingriffe in die Grundrechte die Ausbreitung des Corona-Virus nicht komplett gestoppt
haben, halten wir sie für unverhältnismäßig'. Dieses simple "trotz" kommuniziert einen "Trotz", eine
Tatsachen gegenüber ignorante Haltung, ohne Beweise oder wenigstens Belege dafür zu nennen. Mit
diesem simplen "trotz" scheitert die dpa als größte Nachrichtenagentur des Landes an der Heraus-
forderung, einen Sachverhalt korrekt darzustellen. (Und da sprechen wir noch nicht über die Frage,
was "der mündige Leser" unter "steigenden Fallzahlen"
44
am 1. August 2020 verstanden haben mag,
so ohne jede Einordnung.)
= Aus Meinungsquellen sprudeln keine Tatsachen =
Sich des grundlegenden Unterschieds von Meinungen und Tatsachen bewusst zu sein, könnte schon
bei der Quellenauswahl helfen. Warum fokussierten Journalisten gerade zu Beginn der Pandemie so
auf Merkel und Spahn, warum war Lauterbach Dauergast in den Talkshows? Sie geben politische
Meinungen zum Besten. Die Tatsachen, die sie dabei einstreuen und je nach Belieben für ihre Argu-
mentationen nutzen
45
, stammen regelmäßig nicht von ihnen, sind nicht Ergebnis ihrer eigenen For-
schung. Es ist geradezu Rechercheverweigerung, sich von Politikern ein Naturereignis erklären zu
lassen, zumal man bei ihnen nie weiß, ob das Geäußerte wenigstens wirklich ihre Meinung ist oder
nur eine opportune Meinungsbehauptung. Im März hatte Bundeskanzlerin Merkel, die für ihre Wis-
senschaftlichkeit von Journalisten gefeierte "Physikerin der Macht"
46
, noch prognostiziert, 60 bis 70
Prozent der Bevölkerung werden sich mit dem Corona-Virus infizieren und schloss sich dem globalen
Mantra "Flatten the Curve" an.
47
Dass wir dann eine ganz andere Politik zu spüren bekamen, ist un-
strittig. Im Dunkeln bleiben wird, wann welche Meinungsbekundungen so sehr vom Gedachten abwi-
chen, dass man von Lügen sprechen würde.
Bsp.: Nur selten lässt sich das so schön dokumentieren wie mit jenem denkwürdigen Tweet des Bun-
desministeriums für Gesundheit vom 14. März 2020: "Achtung Fake News" stand da zwischen zwei
dicken roten Ausrufezeichen, gefolgt von:
"Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundes-
regierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen.
Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen."
48
Viele Medien, allen voran der ARD-Faktenfinder
49
, nahmen die politische PR als Tatsache und verbrei-
teten sie so. Zwei Tage später wurden die "Fake News" Wirklichkeit, die Politik verhängte den Shut-
44
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1100739/umfrage/entwicklung-der-taeglichen-fallzahl-des-
coronavirus-in-deutschland/
45
http://www.tagesschau.de/mehr/faktenfinder/lauterbach-twitter-101.html
46
Georg Schwarte,
https://web.archive.org/web/20200319112557/https://www.tagesschau.de/kommentar/kommentar-merkel-
corona-rede-101.html
47
https://www.volksstimme.de/deutschland-welt/deutschland/corona-krise-merkel-60-bis-70-prozent-
infizierte
48
https://twitter.com/BMG_Bund/status/1238780849652465664?s=20
49
https://web.archive.org/web/20200314180325/https://www.tagesschau.de/faktenfinder/panikmache-
coronavirus-101.html
22
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
down.
50
Die oft vernachlässigte Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen (über Tatsachen) wird beim
Qualitätskriterium "Vollständigkeit" noch eine wichtige Rolle spielen.
Weil Meinungen weder richtig noch falsch sein können, ist es methodischer Nonsens, ihnen mit Fak-
tenchecks zu begegnen, wie das in der Pandemie üblich geworden ist. Auf Fakten prüfen kann man
nur die Tatsachenbehauptungen, die Meinungen zugrunde liegen. Und man kann Prognosen (also
Tatsachenannahmen) auf ihre Plausibilität hin prüfen, nicht aber auf ihre Richtigkeit.
Bsp.: Erstaunlich früh tauchte in den Medien das Stichwort "Impfpflicht" auf, lange bevor überhaupt
ein Impfstoff auf dem Markt war. Immer wieder wurde eine anstehende Impfpflicht per Faktencheck
zu wiederlegen versucht,
51
was eine Irreführung des Publikums war. Der weitere Verlauf hat ja dann
gezeigt, wie untauglich all solche "Faktenchecks" waren, da sich Meinungen jederzeit ändern können
und Politiker niemals sagen müssen, was sie wirklich denken, geschweige denn, was sie irgendwann
in der Zukunft als Meinung vertreten werden.
Bsp.: Auch eine nachträgliche Distanzierung mit dem 16 Monate später
52
erfolgten Einschub:
>Dieser Beitrag gibt den Faktenstand vom 06.05.2020 wieder.<
53
ändert nichts an der Unrichtigkeit.
= Sehen, was man sehen will =
Wer war am 1. August 2020 bei der Demonstration "Das Ende der Pandemie Der Tag der Freiheit”
auf der Straße? Laut Medien: "Corona-Leugner".
Bsp.: Von Tagesschau
54
bis FAZ
55
ergaben alle investigativen Recherchen diese Tatsachenbehaup-
tung. Manche Medien wie der Spiegel packten die "Corona-Leugner" nur in die URL
56
. Und hellsehe-
risch begabte Journalisten wussten sogar schon vor dem Ereignis, wer demonstriert, in den lyrischen
Worten des RBB-Reporters: "Wanderzirkus der Corona-Leugner kommt in die Stadt"
57
.
50
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/vereinbarung-zwischen-der-bundesregierung-und-den-
regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-bundeslaender-angesichts-der-corona-epidemie-in-deutschland-
1730934
51
Faktencheck Impfpflicht
https://web.archive.org/web/20210909230713/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus
-kein-impfzwang-spahn-faktencheck-100.html
52
Bis 04.09.2021 gab es diesen Hinweis nicht
https://web.archive.org/web/20210904183833/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-kein-
impfzwang-spahn-faktencheck-100.html
53
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-kein-impfzwang-spahn-faktencheck-100.html
54
https://web.archive.org/web/20200806041415/https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/corona-
leugner-101.html
55
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/corona-leugner-demonstrieren-in-berlin-tag-der-
wutbuerger-16887060.html
56
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-leugner-demonstrieren-in-berlin-zehntausend-
menschen-gegen-auflagen-auf-der-strasse-a-0454fc84-6c4c-4204-903e-cb21f33cff89
57
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/07/berlin-demos-querdenker-
verschwoerungsmythen-corona.html
23
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Am Framing aller Kritiker der Corona-Politik als "Corona-Leugner" und damit der Etikettierung als
Realitätsverweigerer und Lügner haben viele, wenn nicht die meisten Journalisten von Anfang an
einen Narren gefressen. Das Problem daran ist nur: die Etikettierung ist schlicht falsch. Sie mag auf
einige zutreffen, aber keineswegs auf das Gros, jedenfalls ausweislich ihrer Forderungen, ihrer Plaka-
te, ihres Demo-Aufrufs, der Gespräche mit einzelnen von ihnen. Ein Leugner streitet Tatsachen ab,
mit ihm kann man nicht diskutieren. Ein Kritiker hingegen beurteilt Tatsachen (und seine Wahrneh-
mungen dieser). Doch die Erzählung von den Corona-Leugnern beherrscht die gesamte Berichterstat-
tung, Proteste mit diskutierbaren Positionen gibt es praktisch nicht. Wer wollte korrekte Infos über
Details erwarten, wenn der Journalismus bereits scheitert an der einfachen Beschreibung, was zu
sehen ist? (Einen entsprechenden Bericht auf Telepolis von der zweiten Großdemo vier Wochen
später
58
, bei dem sich die Berichterstattung nicht verbessert hatte, kann ich aus eigener Beobachtung
im Wesentlichen bestätigen.)
Mit einem falschen Begriff wird der komplette Diskurs vergiftet, ja unmöglich gemacht. Dabei wäre
es so einfach, sachlich zu bleiben, wenn Journalisten ihre Behauptungen belegen würden. Da könn-
ten sich die Medien ein Beispiel nehmen an der gerade derzeit so hochgelobten Wissenschaft, deren
ganze Glaubwürdigkeit davon abhängt, dass ihre Behauptungen von jedem (mit den notwendigen
Fähigkeiten) überprüft werden können.
Bsp.: Einen Tag nach der ersten Berliner Großdemonstration titelte der Spiegel "Mehrere Polizisten
bei Auflösung von Berliner Kundgebung verletzt“
59
und behauptete:
"Bei der Auflösung der Kundgebung von Gegnern staatlicher Corona-Auflagen in Berlin sind
am Samstag mehrere Polizeibeamte verletzt worden. Drei Polizisten mussten im Krankenhaus
behandelt werden."
Als Quelle diente folgender Tweet der Polizei selbst:
“Ca. 1100 Kolleg. waren an diesem herausfordernden #b0108 im Einsatz. Stand jetzt wurden
18 von ihnen verletzt, 3 werden im Krankenhaus behandelt.”
60
Aus dem Hashtag "#b0108", den die Polizei für alle Veranstaltungen an diesem Tag in Berlin nutzte,
machte der Spiegel (bzw. dpa, deren ebenso falsche Meldung
61
die Grundlage bildete) einen einzel-
nen Zeitabschnitt einer einzelnen Veranstaltung ohne jede Grundlage. Das war nicht nur gewagt
spekulativ, sondern schlicht falsch.
62
Doch zu einer eigenen Meldung aufgebauscht, lieferte diese
Falschinformation den Demo-Kritikern nun einen Beleg, dass die "Covidioten" auch noch gewalttätig
waren.
63
58
https://www.heise.de/tp/features/Corona-Proteste-Polizei-verhindert-Umzug-muss-Kundgebung-aber-
zulassen-4881936.html
59
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/protest-gegen-corona-auflagen-18-polizisten-bei-aufloesung-
von-berliner-kundgebung-verletzt-a-9d675086-f337-4af2-b20d-a170a8d741d5
60
https://twitter.com/PolizeiBerlin_E/status/1289687255544500224
61
https://www.krankenkassen.de/dpa/341403.html
62
https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.968142.php
63
Auch wenn es hier nicht um sog. "Alternativmedien" gehen soll sei erwähnt, dass "RT Deutsch" nicht nur
ebenso falsch berichtet hat, sondern sogar den Polizei-Tweet von den Krawallen bei einem "Aufzug in Neu-
kölln" (vor der linken Szenekneipe "Syndikat") eingebunden hat. Spätestens dabei sollte jedem auffallen, dass
sich die Mitteilung zu verletzten Polizisten wohl zumindest auch auf diesen Einsatz bezog.
https://web.archive.org/web/20210126181954/https://de.rt.com/inland/105073-18-polizisten-bei-aufloesung-
von-berliner-kundgebung-gegen-corona-auflagen-verletzt/
24
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Die Allgegenwart des journalistischen "Sehen, was man sehen will" sei an Merkels bekannter
Rede vom 18. März 2020 aufgezeigt. Die Kanzlerin sprach:
"Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung
an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln an-
kommt."
64
Daraus wurde allerhand, was sie nicht gesagt hat: "Corona-Krise größte Herausforderung seit dem
Zweiten Weltkrieg" (Neue Westfälische
65
). "Deutschland steht nach den Worten von Kanzlerin Angela
Merkel in der Coronakrise vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Es habe
seither nichts gegeben, 'bei dem es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt',
sagte Merkel in einer TV-Ansprache." (Spiegel
66
). Es passt einfach zu gut zum Daueralarm der Medien
(eindrücklich visualisiert von Christian Laesser für die ZEIT
67
): die größte Herausforderung seit dem
zweiten Weltkrieg rechtfertigt die mediale Monothematik. Dass die Darstellung, was Angela Merkel
gesagt habe, schlicht falsch ist, spielte im Applaus der Medien von FAZ bis taz keine Rolle.
68
= Kleine Fehler, große Verständnislücken =
Viele Unrichtigkeiten bleiben unterhalb des Radars. Durch die allgegenwärtigen Kommentar- und
Response-Funktionen wird zwar alles Mögliche bekrittelt, zu einer wahrnehmbaren Medienkritik
gereicht es hingegen nicht. Sicherlich oft zurecht: Hier ein Rechtschreibfehler (auch in diesem Paper
sicherlich noch reichlich zu finden), dort ein missverständlicher Begriff. Durch viele der kleinen Fehler
(im Blog "Spiegelkritik" daher, wenn auch oft augenzwinkernd, "Korinthen" genannt
69
) entsteht keine
Fehlorientierung, der Journalismus büßt also nicht seine Funktion ein. Bei manch kleinen Fehlern
aber eben doch. Vor allem ist bei einigen der vermeintlich kleinen Unrichtigkeiten zu fragen, ob
ihnen nicht ein tiefgreifendes Unverständnis der Dinge zugrunde liegt, über die gerade berichtet
wird. Dann nämlich geht es nicht mehr um den kleinen Fehler. Wer nicht vollständig verstanden hat,
worüber er berichtet, wird womöglich wichtige Fragen nicht gestellt (also recherchiert) haben, kann
Tatsachenbehauptungen nicht auf ihre Tatsächlichkeit hin geprüft haben, vermag vielleicht Tatsa-
chen und Meinungen nicht auseinanderzuhalten, hat eventuell den Gegenstand seines journalisti-
schen Stücks selbst gar nicht begriffen?
70
64
https://web.archive.org/web/20200319170459/https://www.bundesregierung.de/breg-
de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-1732108
65
https://www.nw.de/nachrichten/politik/22728344_Merkel-Corona-Krise-groesste-Herausforderung-seit-
dem-Zweiten-Weltkrieg.html (nicht mehr online)
66
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-sieht-corona-krise-als-groesste-
herausforderung-seit-dem-zweiten-weltkrieg-a-bd56dc3f-2436-4a03-b2cf-5e44e06ffb49
67
https://lab.laesser.net/coronazeit/
68
https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/merkel-rede-in-der-presse-das-wort-ausgangssperre-zu-
vermeiden-ist-falsch-69482082.bild.html
69
https://www.spiegelkritik.de/?s=Korinthe
70
Zwei Beispiele außerhalb des Corona-Kontextes seien dazu erlaubt: a) "Getreidebestäubung durch Bienen"
https://www.spiegelkritik.de/2023/03/20/zdf-weizenbiene/ b) Faktor 1000 bei Bericht über Geldverschwen-
dung übersehen https://www.spiegelkritik.de/2014/10/14/investigative-ahnungslosigkeit/
25
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: "BVG-Kontrolleure verhängten 470 Bußgelder wegen Masken-Verstößen" schrieb die BZ am 24.
September 2020
71
und wandte sich auch im weiteren Text nicht von diesem offenkundigen Unsinn
ab. Die BVG ("Berliner Verkehrsbetriebe") ist in Berlin für den ÖPNV ohne S-Bahn zuständig, also für
Busse, Straßenbahn, U-Bahn, ein paar Fähren. Auch wenn es sich bei der BVG um eine Anstalt des
öffentlichen Rechts handelt (wie bei den Landesrundfunkanstalten), so ist sie nicht in der Lage, "Buß-
gelder" zu verhängen, die eine Angelegenheit des Ordnungsrechts sind. Grundlage für das, was die
BVG kassiert hat, ist daher auch nicht das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, sondern eine von der
BVG selbst gesetzte Regelung, wie dies jede Firma machen kann, daher hier korrekt "Vertragsstrafe"
zu nennen. Für die reine Info, dass Menschen ohne Mund-Nasen-Bedeckung Geld zahlen mussten,
mag diese Differenzierung egal sein. Aber die Fakten zu kennen bedeutet eben auch zu verstehen,
wer hier welche "Bußgelder" anordnet und wer sie verwenden darf. Die "BVG-Bußgelder" landen
eben nicht bei der Kommune bzw. dem Bundesland Berlin, sondern bei dem Unternehmen BVG.
Bsp.: "2.000 Menschen haben sich zu einer unerlaubten Kundgebung getroffen" und "die Ansamm-
lung an der Siegessäule war keine genehmigte Kundgebung", behauptete die ZEIT am 30. August
2020. Dass sie diese falsche Darstellung der Rechtslage von der Polizei übernommen hat, macht den
Fehler nicht kleiner: Demonstrationen müssen in Deutschland niemals genehmigt werden. Demonst-
rationen müssen nur angemeldet werden, Spontanversammlungen nicht mal das, und für Eilver-
sammlungen gilt die gesetzliche 48-Stunden-Frist nicht (Art. 8, 125a GG; §§ 14, 15 Versammlungsge-
setz; BVerfGE 69, 315), und das gilt auch für Berlin
72
. Ist es zu viel verlangt, dass ein Journalist, der
über einen Fall des Versammlungsrechts berichtet, dieses wenigstens in den binnen zwei Minuten
per Internet erschließbaren Grundzügen kennt, um keine Falschmeldungen zu verbreiten?
73
Zahlreiche Fehler finden sich bei Darstellung und Interpretation statistischer Daten.
Bsp.: Eine Impfstoff-Effizienz von 90 Prozent bedeutet nicht, >dass 9 von 10 Menschen durch die
Impfung vor Covid-19 geschützt werden können<
74
, sondern dass die Zahl Erkrankter in der Impf-
gruppe 90 % kleiner war als in der Placebo-Gruppe.
75
Der Vergleich von Inzidenzwerten ohne Berück-
sichtigung der positiven Testrate ist stets irreführend; um eine Veränderung beim Corona-
Infektionsgeschehen einschätzen zu können, braucht es stets das Verhältnis von Tests insgesamt zu
positiven Testergebnissen.
76
Diese Angabe fehlte jedoch regelmäßig, auch bei der daraus ermittelten
7-Tage-Inzidenz.
71
https://www.bz-berlin.de/berlin/bvg-kontrolleure-verhaengten-470-bussgelder-wegen-masken-verstoessen
72
https://www.berlin.de/polizei/service/versammlung-anmelden/
73
Auf eine allgegenwärtige falsche Gleichsetzung sei in dem Zusammenhang verwiesen: Festnahme und Ver-
haftung sind grundverschiedene Angelegenheiten, erläutert z.B. hier: https://www.focus.de/politik/justiz-
abc/justiz-abc-verhaftung_id_10377170.html
74
https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/corona-impfstoff-was-der-biontech-erfolg-bedeutet-
li.117783
75
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/archiv/2020/detail/der-
impfstoff-ist-zu-90-prozent-wirksam
76
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/archiv/2020/detail/anti-corona-
massnahmen-nicht-nur-auf-neuinfektionen-schauen; anderer Ansicht:
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/corona-testzahlen-inzidenz-101.html
26
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Unbelegte Behauptungen =
Viele Fehler ließen sich vermeiden, wenn Journalisten für wirklich jede Tatsachenbehauptung einen
Beweis suchen würden. Der sarkastische Aphorismus dazu lautet: Recherche macht die schönsten
Geschichten kaputt. Ein Stichwortgeber ist dabei allerdings kein Beweis, allenfalls ein Indiz.
Bsp.: In zahlreichen Radiogesprächen haben Ärzte gewarnt, Rauchen erhöhe das Risiko einer schwe-
ren Covid-19-Erkrankung, aufzuhören sei daher gerade jetzt richtig und wichtig. Was soll ein Arzt
auch sonst sagen, zumal wenn er Lobbyist und es Weltnichtrauchertag
77
ist? Allein: Zum Zeitpunkt
vieler dieser Tatsachenbehauptungen wusste man noch gar nichts, es gab schlicht keine Daten, spä-
ter sogar welche, die die gegenteilige Annahme stützten. Es waren stets nur Meinungen (genauer:
Glaubenssätze), die von Experten geäußert fälschlich als Tatsachen behandelt wurden. Aktuell spricht
das RKI von "schwacher Evidenz".
78
Bsp.: In der Sendung "Forschung aktuell" des Deutschlandfunks riet ein Wissenschaftsjournalist noch
Ende März, beim Einkaufen Handschuhe zu tragen.
79
Hier hätte die fehlende Evidenz schon auffallen
können, wenn er noch dazu gesagt hätte, wie genau das schützen soll.
Falsch ist eine Behauptung natürlich auch dann, wenn sich dies erst zu einem späteren Zeitpunkt
herausstellt sie war dann auch nicht 'bis dahin' richtig.
Bsp.: Der Präsident der Universität Hamburg, Prof. Dieter Lenzen, rechtfertigte in einem Beitrag die
widersprüchlichen Aussagen zur Schutzwirkung von Gesichtsmasken mit der Sentenz: "Wissenschaft-
liche Erkenntnisse sind immer vorläufig."
80
Eine Erkenntnis, die nur "vorläufig" war, weil sie sich als
falsch herausgestellt hat, war schlicht nie eine Erkenntnis, sondern eine Fehlinterpretation der Wirk-
lichkeit. Die vielen Revisionen in der fachlichen Beurteilung von Corona liegen nicht am großen For-
schungsfortschritt, sondern an falschen Tatsachenbehauptungen und als Tatsachen ausgegebenen
Meinungen bzw. Glaubenssätzen. Falsch sein dürfen in der Wissenschaft Hypothesen, Annahmen,
und dazu gehören immer auch Interpretationen bisher zutage geförderter Tatsachen.
Bsp.: Das Gesundheitssystem sei "kaputt gespart" worden, wurde
81
und wird
82
immer wieder be-
hauptet. Tatsächlich sind die Ausgaben jedoch kontinuierlich gestiegen - wie auch einige Medien
zutreffend während Corona berichtet haben.
83
77
https://web.archive.org/web/20200922020202/https://www.aerztekammer-bw.de/news/2020/2020-
05/pm-rauchen/index.html
78
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText15
79
https://web.archive.org/web/20201001213833/https://www.deutschlandfunk.de/forschung-
aktuell.675.de.html?cal:month=3&drbm:date=2020-03-31
80
https://www.tagesspiegel.de/wissen/widersprueche-die-wir-aushalten-muessen-was-wissenschaft-politik-
und-oeffentlichkeit-aus-der-coronakrise-lernen-koennen/25894334.html
81
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-
Umwelt/Gesundheit/_Grafik/_Interaktiv/gesundheitsausgaben-nominal.html
82
https://www.telepolis.de/features/Post-Corona-Gesellschaft-Wo-soll-die-Resilienz-herkommen-
9671086.html
83
https://www.spiegel.de/wirtschaft/gesundheit-umwelt-bildung-das-schauermaerchen-vom-kaputtsparen-
kolumne-a-34913cd8-6a2e-4c3f-9510-fbcf6c0df832; Deutsches Gesundheitssystem nicht kaputt gespart (aerz-
tezeitung.de)
27
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Auch falsche Prognosen sind falsch =
Das gilt selbstverständlich auch für Prognosen. Dass sie zum Zeitpunkt ihrer Äußerung noch nicht
verifiziert werden können, schützt sie nicht vor späterer Prüfung.
Bsp.:
"Zwischen Juli und August [2020] werden wir Bilder sehen, die wir sonst nur aus Kinofilmen
kennen. Da wird es [in Afrika] Szenen geben, die wir uns heute noch nicht vorstellen können."
Mit dieser Prognose lag Christian Drosten im März 2020 kolossal daneben, wie wir seit August 2020
wissen. Der Journalismus, der über diese im Podcast "Fest & Flauschig" aufgestellte Prognose berich-
tet, hätte nachfragen müssen, auf welche Fakten Drosten seine Annahme stützt. Nur so wären die
zugrundeliegenden Fehlinterpretationen des Corona-Geschehens sichtbar und medial korrigierbar
geworden. Prognosen sind, wie oben schon gesagt, Tatsachenvermutungen. Wer sie als Tatsachen
ausgibt, liegt immer falsch, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Äußerung nicht belegbar sind. Die sechs Rich-
tigen im Lotto sind nie eine wahre Tatsachenvorhersage, sondern ein später sich zufällig als richtig
erweisendes Raten. Selbst die simple Aussage "Morgen früh wird wieder die Sonne aufgehen" ist
zum Zeitpunkt der Äußerung nur eine Tatsachenbehauptung, eine Vermutung. Juristen sprechen in
diesem Zusammenhang gerne von "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" es bleibt aber
eine "Wahrscheinlichkeit" und damit eine naturgemäß unsichere Prognose.
Prognosen zur konkreten Entwicklung des Corona-Geschehens, gemessen an Infektionszahlen, Er-
krankungen und ITS-Auslastungen, waren immer wieder falsch.
= Fehler werden nicht korrigiert =
Bsp,: Auf den fatalen Fehler in der Spiegel-Meldung über verletzte Polizisten (s.o.) hatten zahlreiche
Twitter-Nutzer hingewiesen, vom Social-Media-Team erfolgte jedoch keine Reaktion. Auf eine Pres-
seanfrage teilte der Spiegel nach drei Tagen Bearbeitungszeit mit:
"Wir möchten Ihnen versichern, dass die SPIEGEL-Redaktion auch in diesem Fall sorgfältig re-
cherchiert hat. An unserer Berichterstattung halten wir fest; sie fußt auf mehreren, offiziellen
Quellen."
Erst eine Eingabe bei der neu eingerichteten Ombudsstelle führte schließlich zu einer Korrektur. In
einem Hinweis am Ende des geänderten Artikels wird allerdings keine Verantwortung für die eigene
Fehlleistung übernommen, eine aktive Korrektur auf Social Media gab es nicht (ausführlich dokumen-
tiert auf Spiegelkritik
84
).
Der Umgang des Journalismus mit seiner Fehlerproduktion ist eine lange, traurige Geschichte.
85
Bsp.: Jakob Buhre hat sein wochenlanges Bemühen dokumentiert, in einzelnen Medien die Falschbe-
hauptung korrigieren zu lassen, die Anmelder der Berliner Demonstration vom 29. August 2020 hät-
ten sich nicht von gewalttätigen beziehungsweise rechtsextremem Demonstranten distanziert.
86
Das
84
https://www.spiegelkritik.de/2020/08/05/corona-journalismus-zerrspiegel-einer-demo/
85
https://www.spiegelkritik.de/tag/richtigkeit/
86
https://bildblog.de/124618/ueber-den-versuch-falsche-behauptungen-ueber-querdenken-korrigieren-zu-
lassen
28
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
falsche Narrativ ging schon bei der ersten Berliner Großdemonstration durch die Medien, obwohl
bereits im Aufruf
87
die Ablehnung jeglicher Gewalt stand.
Bsp.: An der Erzählung vom "Sturm auf den Reichstag" am 29. August 2020 (dazu mehr in Kap. 4 und
7) war sehr vieles falsch. Besonders relevant für das öffentliche Meinungsbild ist die wahrheitswidri-
ge Verknüpfung der Kundgebung auf der Wiese vor dem Bundestag, von der aus dann am Abend
etwa 400 Menschen auf die Außentreppen des Gebäudes liefen, mit der Großdemonstration von
Querdenken 711 und anderen Gruppen.
>Missachtung der Hygieneregeln, Gewalt gegen Polizisten und ein versuchter Sturm auf den
Reichstag. Die Berliner Corona-Demo hat die Sorgen der vergangenen Wochen eindrucksvoll
bestätigt. Unter den 38.000 Demonstranten waren erneut zahlreiche Rechtsextreme und
Reichsbürger.<
88
Es waren getrennte Veranstaltungen, mit verschiedenen Anmeldern und verschiedenen Themen.
Auch wenn einzelne Teilnehmer von der Großdemonstration laut Videoaufnahmen von Aktivisten
der angemeldeten Kundgebung vorm Bundestag aktiv zur Teilnahme angeworben wurden, hatte der
Protest gegen die Corona-Politik nichts mit dem angeblichen "Sturm auf den Reichstag" zu tun. Dies
ist recht leicht zu recherchieren, selbst der Verfassungsschutz weist darauf hin.
89
In meiner umfang-
reichen Sammlung ist allerdings keine einzige Korrektur dazu.
= Fehler werden nicht eingestanden =
Eine transparente Korrektur setzt freilich voraus, Korrigierenswertes im eigenen Beitrag zu sehen.
Bsp.: Das ZDF hat mit seiner Sendung "Magazin Royale" vom 6. Mai 2022 einen Skandal um den Mu-
siker, Youtuber und "DIY"-Künstler Fynn Kliemann inszeniert.
90
Davon blieb am Ende nicht viel übrig
strafrechtlich gar nichts. Seine eigene Rolle fasst der Sender dabei so zusammen:
>Im Kern des Beitrags wurde die Frage aufgeworfen, ob bei Geschäften der Textilfirma mit ei-
nem Großhändler im Jahr 2020 ganz bewusst das Produktionsland verschwiegen wurde Die
Masken zum Schutz gegen Corona kamen aus Asien statt aus Europa.<
Da ist natürlich keine Korrektur notwendig, wenn man nur eine Frage aufgeworfen hat. Was aller-
dings eine falsche Tatsachenbehauptung ist.
91
Denn die gesamte Sendung bestand aus konkreten
Vorwürfen, hergeleitet aus internen Geschäftsunterlagen, und die zugehörige Website unter dem
wenig nachrichtlichen und keine Fragen aufwerfenden Akronym für "Leck mich am Arsch, Fynn Klie-
mann"
92
titelt bis heute:
87
https://web.archive.org/web/20210425154739/https://moien.lu/wp-content/uploads/2020/08/Programm-
querdenken-711.pdf
88
https://www.rnd.de/politik/sorgen-wurden-wahr-corona-demo-mit-sturm-auf-den-reichstag-
QF6VWMMHHJA7ZPXRNG4KORCKWA.html ähnlich in unzähligen Veröffentlichungen.
89
https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/sicherheit/vsb-2021-
gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Seite 116)
90
Zur Verzerrung in der Darstellung siehe u.a. https://www.spiegelkritik.de/2022/06/28/wozu-recherche-
wenn-man-von-verschwoerung-schwurbeln-kann/
91
ausführlicher: https://www.spiegelkritik.de/2023/03/04/eine-behauptung-ist-keine-frage/
92
https://lmaafk.de/ [letzter Abruf 31.03.2023]
29
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Fynn Kliemanns Maskenbetrug<
Juristisch klären ließe sich dies nur, wenn Kliemann zivilrechtlich gegen die anhaltende Darstellung
vorgegangen wäre. Doch wie öffentlich vermutet: Nachdem er eingesehen hat, zu Beginn des Ganzen
die 'Spielregeln' des Journalismus nicht gut verstanden zu haben
93
, hat er davon Abstand genom-
men.
94
Richtig werden damit falsche Tatsachenbehauptungen allerdings nicht. Es gilt: Wo kein Kläger,
da kein Richter. Und die medienjournalistische Karawane ist längst weitergezogen.
Auf transparente Korrekturen verzichtet das ZDF auch außerhalb der Corona-Berichterstattung (Rieg
2022).
95
= Fehler werden nicht verstanden =
Bei mancher verweigerten oder unzutreffenden Korrektur fragt man sich, ob es am Willen oder am
Können liegt. Aus über drei Jahrzehnten Medienjournalismus kann ich berichten: Nicht selten er-
reicht mich auf eine Rückfrage eine Antwort der Art: "Ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen."
Bsp.: Ein kleines, einfaches Beispiel aus dem Medienjournalismus. Für den MDR führte Steffen Grim-
berg ein Interview
96
mit der taz-Chefredakteurin Barbara Junge. (Grimberg leitete das taz-
Medienressort von 2000 bis 2012.
97
) Zitate daraus erschienen in einem Textbeitrag. Darin hieß es:
>"Ich sage nicht, dass es in jedem Fall richtig war. Natürlich haben wir Fehler gemacht." Dabei
müsse aber unterschieden werden, ob diese Fehler aus Unkenntnis entstanden sind, oder be-
wusst Fehler in Kauf genommen wurden. "Wir haben bewusst einfach nur der Bundesregie-
rung zugehört und zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um selbst recherchie-
ren und einordnen zu können."<
98
Die Aussage, die taz habe bewusst nur auf die Bundesregierung gehört, klingt befremdlich und hätte
mindestens zu einer Nachfrage im Interview und einer Einordnung in der Textdarstellung führen
müssen. Tatsächlich entpuppt sich die Passage als Zitatfehler. Denn Barbara Junge sagte laut dem
verfügbaren Video-Interview:
>Natürlich haben wir Fehler gemacht. Ich würde aber unterscheiden zwischen 'wir haben Feh-
ler gemacht' oder 'wir haben bewusst Fehler gemacht', 'wir haben bewusst einfach nur der
Bundesregierung zugehört'. Wir haben zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um
selbst recherchieren zu können, um selbst einordnen zu können das würde ich sagen: ja."<
Die Chefredakteurin sagt also genau das Gegenteil, nämlich dass die taz nicht bewusste Fehler ge-
macht habe, wie dies der Fall wäre, wenn man absichtlich nur Regierungspositionen kolportiert hätte
(was sie im Interview weiter ausführt). Auf diesen Fehler angesprochen, korrigiert der MDR nach
einigen Tagen und freundlichem Dank an das "Argusauge" (die Veränderung ist hier bold gesetzt):
93
https://uebermedien.de/71077/wer-fynn-kliemann-als-fan-hat-braucht-keine-feinde/
94
https://www.youtube.com/watch?v=m9glEB9BnLg
95
Siehe beispielhaft inkl. formaler Programmbeschwerde und mit weiteren Nachweisen:
https://www.spiegelkritik.de/2022/12/01/zdf-intendant-raeumt-fehler-ein-korrigiert-aber-nicht-transparent/
96
https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/interview-barbara-junge-taz-100.html
97
https://www.new-business.de/_rubric/detail.php?rubric=K%D6PFE&nr=797341
98
https://web.archive.org/web/20231129152653/https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/corona-
meinung-fakten-100.html
30
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>"Ich sage nicht, dass es in jedem Fall richtig war. Natürlich haben wir Fehler gemacht." Dabei
müsse aber unterschieden werden, ob diese Fehler aus Unkenntnis entstanden sind, oder be-
wusst Fehler in Kauf genommen wurden. "Wir haben bewusst einfach nur der Bundesregie-
rung zugehört. Wir haben zu lange gebraucht, um uns selbst zu ermächtigen, um selbst re-
cherchieren zu können, um selbst einordnen zu können."<
Der entscheidende Fehler, eine von Junge fiktiv zitierte Position zur taz-Position zu machen, blieb
also bestehen, obwohl die korrekt transkribierte Passage von mir mit der Anfrage verschickt wurde.
Die kleine Veränderung wurde nicht ausgewiesen, stattdessen änderte sich nun das Publikationsda-
tum von ursprünglich 24. Mai 2022 auf 5. Dezember 2023 (was als Änderungsdatum zu benennen
wäre). Weshalb der Fehler zuvor schon anderthalb Jahre unbemerkt bzw. jedenfalls unkorrigiert
blieb, darf man an dieser Stelle auch fragen.
= Ungenaue Behauptungen =
In vielen Fällen lassen sich Aussagen nicht eindeutig als falsch bezeichnen, obwohl sie bei einigen
Rezipienten sicherlich ein falsches Bild zeichnen, also eines, das relevant verschieden ist von dem,
das bei eigenem Augenschein der Geschehnisse entstünde.
Bsp.: So beginnt noch Ende August 2020 ein Teaser zur Entwicklung der Pandemie bei Spiegel.de mit
dem Satz: "Auf den Covid-Stationen der Krankenhäuser hat sich die Lage entspannt, auch die Todes-
zahlen stagnieren."
99
Das behauptet zunächst einmal, "auf den Covid-Stationen" sei die Lage irgendwann zuvor ange-
spannt gewesen. Man möchte nach den Belegen fragen, oder schlicht den validen Zahlen: in wie
vielen Krankenhäusern war von wann bis wann die Lage angespannt (was ja nur bedeuten kann: hart
an der Kapazitätsgrenze)? Und die nächste Frage betrifft die Aktualität: wann genau hat sich die Lage
entspannt? Selbst nach der im Artikel veröffentlichten Statistik hat sich da seit drei Monaten nur
wenig verändert, die Zahlen waren konstant sehr niedrig (das "sehr" sei angesichts der explizit nur
für Covid-19-Patienten zur Verfügung gestellten Kapazitäten eine erlaubte Wertung).
Letztlich kann man auch viele Irreführungen durch unpassende Zusammenhänge unter dem Ge-
sichtspunkt fehlender Richtigkeit bemängeln.
Bsp.: Etwa wenn die ZEIT ein Interview zur "Berliner Clubszene" mit einem Foto aus den USA
100
illus-
triert, dessen Botschaft völlig im Kontrast zu den Aussagen im Text steht
101
. Denn darin wird erläu-
tert, dass aufgrund der Corona-Auflagen nicht in Innenräumen getanzt werden darf was aber das
Bild zeigt.
Darauf hingewiesen, antwortet die ZEIT-Redaktion laut Jakob Buhre (persönliche Mitteilung), wie es
beispielhaft für das "Korrekturverhalten" vieler Redaktionen ist:
"In der aktuellen Berichterstattung müssen wir immer wieder auf Agenturmaterial und lizenz-
freie Bilder zurückgreifen. Vor wenigen Wochen hatten wir bereits versucht, zum selben The-
ma einen Fotografen zu beauftragen. Das hat aber nicht geklappt, da viele Berliner Clubs ein
sehr strenges Fotoverbot haben (was natürlich auch ihr Recht ist). Deshalb konnten wir keine
99
https://www.spiegel.de/wissenschaft/corona-stagnierende-todeszahlen-trotz-steigender-infektionen-das-
deutsche-paradox-a-1c86a930-45c1-4b8e-b9f2-08716b57f630
100
https://twitter.com/planetinterview/status/1313068078360670211
101
https://www.zeit.de/campus/2020-10/berlin-clubszene-coronavirus-katharin-ahrend-clubkommission-
neuinfektionen-massnahmen
31
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
eigenen Bilder verwenden, sondern mussten wie auch in diesem Fall auf ein Symbolbild zu-
rückgreifen. Wir haben ein Bild gesucht, bei dem keine Menschen identifizierbar sind. Es sollte
kein nachrichtliches, sondern eher ein stimmungsvolles Bild sein. Es sollte keine dichtgedräng-
te tanzende Menge ohne Masken zu sehen sein und einen Ort zeigen, der zumindest Berlin
sein könnte. So eine Bildersuche ist immer ein Kompromiss. In diesem Fall ist er vielleicht nicht
zu 100 Prozent geglückt, wir stehen aber weiter hinter der Entscheidung."
4 Vollständigkeit
Eine journalistische Berichterstattung, die faktisch richtig ist, muss noch lange nicht gut sein. "Gut"
als Qualitätsurteil meint hier: Orientierung bietend. Denn jede einzelne Aussage eines Beitrags kann
richtig sein und doch ein völlig falsches Bild ergeben. Vollständig ist eine journalistische Darstellung,
wenn nicht durch weitere Informationen ein relevant anderes Bild entsteht. Wer mag, darf das Quali-
tätskriterium Vollständigkeit (kurz bei Handstein 2016) auch als Teil der Richtigkeit sehen (weil "die
halbe Wahrheit" eben gerade keine Wahrheit ist und auch juristische Konsequenzen haben kann). In
jedem Fall ist Vollständigkeit ein eigener Prüfaspekt in der Medienkritik. Die Bedeutung der Vollstän-
digkeit eines Beitrags hat Brigitte Fehrle als ein Fazit ihrer Arbeit in der Relotius-Kommission
102
des
Spiegel auf den Punkt gebracht:
"Die am weitesten verbreitete Manipulation ist im Übrigen nicht das Hinzuerfinden, sondern
das Weglassen." (Fehrle zu Kornfeld 2019)
Allerdings verlangt Manipulation Vorsatz. Wo es diesen in der Corona-Berichterstattung gegeben
haben mag, soll hier nicht untersucht werden. Lücken in der medialen Darstellung sind jedoch weit
verbreitet. Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden: der einzelne Beitrag und das publizierende
Medium (Zeitung, Sender, Website). Ein Beitrag muss so vollständig sein, dass er alle für die Orientie-
rung notwendigen Informationen zum konkreten Ereignis bzw. behandelten Problem enthält. Dazu
gehört auch, nicht zu schließende Lücken aktiv zu benennen, anstatt sie schweigend zu übergehen.
Für die Berichterstattung eines Mediums verlangt Vollständigkeit, den weiteren Verlauf im Blick zu
behalten, Reaktionen und Entwicklungen aufzugreifen und stets zu prüfen, ob insgesamt, in der
Summe der eigenen Beiträge, ein für die individuellen Nutzer hilfreiches Angebot besteht. Die alte
Denksportdisziplin von den Erkenntnisbegrenzungen des Menschen können wir dabei ignorieren:
Dass kein Lebewesen 'die Realität' erfasst, sondern aus einigen wenigen Informationen eine 'eigene
Wirklichkeit konstruiert', ist geradezu banal, auch wenn etwa das "Funkkolleg Medien und Kommuni-
kation"
103
diese Selbstverständlichkeit vor 30 Jahren auf Romanlänge ausgebreitet hat (jedenfalls in
meiner Erinnerung). Regalmetern Konstruktivismustheorie zum Trotz klappt Verständigung in der
Praxis immerhin evolutionsstabil, sogar über Artgrenzen hinweg, was schon weit mehr ist, als der
Journalismus leisten muss. Die pragmatische Feststellung, dass eine Berichterstattung unvollständig
ist, wenn durch weitere Informationen ein relevant anderes Bild entsteht, kann dabei selbstverständ-
lich weiteren Qualitätsaspekten widersprechen. Die Nachricht von einem Fahrradunfall kann beim
Rezipienten zu unterschiedlichen Emotionen führen, je nachdem, ob sie die Info enthält "Der Radler
trug keinen Helm" oder nicht. Oder den Hinweis, es handele sich beim Unfallopfer um einen geflohe-
nen Vergewaltiger. Deshalb sagt die Feststellung einzelner Qualitätsdefizite natürlich noch gar nichts
102
https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-abschlussbericht-der-
aufklaerungskommission-a-1269110.html
103
https://de.wikipedia.org/wiki/Funkkolleg
32
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
darüber aus, wie "gut" oder "schlecht" eine Berichterstattung ist, so wie sich die Qualität eines Medi-
kaments nicht mit Blick auf die Nebenwirkungen beurteilen lässt.
= Formale Aspekte der Vollständigkeit =
Im Zuge einer Beitrags-Autopsie könnte man die Vollständigkeit eines Beitrags nach rein formalen
Kriterien prüfen, also werkimmanent. Dazu gehören Einzelpunkte wie Quellenangaben für Aussagen,
die Präsentation gegenteiliger Meinung(en), die Angabe eigener Betroffenheit oder Beziehung zu
Protagonisten bzw. Thema. In der Journalistik wird einiges davon unter dem Stichwort "Transparenz"
verhandelt, die ich als Teil der Vollständigkeit sehe. Die Transparenz-Punkte sind im nachgereichten
Unterkapitel 11.1 zu finden.
In jedem Handbuch zum Journalismus ist beschrieben, was eine Nachricht enthalten muss: Antwor-
ten auf die sechs bis sieben W-Fragen Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum? Woher?
104
Man kann
dies dem Qualitätskriterium "Vollständigkeit" zuschlagen; man kann die Beantwortung dieser Fragen
aber auch separat fassen, weil es ohne die entsprechenden Antworten mitunter gar nicht möglich ist,
das Thema des Beitrags zu erkennen und mithin überhaupt Vollständigkeit und anderes zu prüfen.
Bsp.: "Thesen vom Amtsarzt" ist ein Beitrag der Süddeutschen überschrieben, der Teaser kündigt an:
>Der ehemalige Leiter des Gesundheitsamts Aichach-Friedberg hat nun ein Buch geschrieben. Da-
für bekommt Friedrich Pürner Beifall von Querdenkern und der AfD. Verharmlost er Corona?<
105
Doch der SZ-Autor schafft es, im Beitrag nicht ein einziges Mal das Buch
106
zu nennen; entsprechend
wird daraus auch nichts zitiert, nichts besprochen. Stattdessen werden einige Zitate aus einem Tele-
fongespräch des Journalisten mit dem "ehemaligen Leiter des Gesundheitsamtes" Friedrich Pürner
von zwei anderen Medizinern kommentiert.
Bsp.: Die siebte W-Frage "woher" steht für die Quellennennung: Woher stammt die Information?
Woher weiß der Berichterstatter das? Diese W-Frage hätte man gerne beantwortet, wenn es im
selben Text heißt:
>Im Gespräch gibt sich Pürner betont sachlich und bemüht, nicht als Querdenker dazustehen.<
Vermutlich handelt es sich bei dieser Tatsachenbehauptung um eine Interpretation des SZ-
Journalisten? Auch dann wüsste man gerne, was zu dieser Einschätzung führt: wie bemüht sich je-
mand, "nicht als Querdenker dazustehen"?
Bsp.: Der Beitrag endet wie folgt:
>Mit seiner Impfkritik macht Pürner aus Perspektive der Staatsregierung eine Rückkehr
schwer. Sein Posten ist übrigens unbesetzt, die kommissarische Leitung pausiert gerade.<
Woher stammt die "Perspektive der Staatsregierung"? Zitiert ist niemand, auch nicht anonym, so
dass es sich durchaus um eine imaginierte Aussage handeln könnte. Ein "Woher" hätte hier sehr
geholfen.
104
z.B. Walther von La Roche: Einführung in den praktischen Journalismus, 15. Auflage von 1975, List Verlag
München, S. 85; Siegfried Weischenberg: Nachrichten-Journalismus, Westdeutscher Verlag Wiesbaden, 2001,
S. 117-123 https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-322-80407-5
105
https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-corona-amtsarzt-friedrich-puerner-buch-1.5466845
106
https://www.langenmueller.de/verlage/langenmueller/produktdetails-
buch/product/3217/Diagnose%20Pan%28ik%29demie/
33
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Immer eine Quelle anzugeben und dieser auch die ihr entnommene Information zuzuordnen bewahrt
den Journalismus vor vielen Falschbehauptungen der Art "das ist so". Kein Journalist hatte während
der Pandemie berichten können: "Die Impfung ist sicher." Denn keiner konnte dies überhaupt beur-
teilen. Wer hingegen fremde Behauptungen nicht als eigenes Wissen ausgegeben hat, kam in diesem
Punkt auch nie in die Verlegenheit, sich später korrigieren zu müssen.
= Unvollständige Beiträge =
Die Unvollständigkeit beginnt oft schon mit dem Gebrauch einzelner Schlagworte. Als im Frühjahr an
vielen Stellen mehr Obduktionen gefordert wurden
107
, gab es allenfalls pragmatisch begründeten
Widerspruch. Ethische Bedenken hingegen blieben wohl auch deshalb aus, weil schlicht nicht dar-
über gesprochen wird, was die Obduktion eines Leichnams bedeutet. Natürlich hängt das u.a. davon
ab, nach was gesucht wird und wie modern die Pathologie ausgestattet ist; aber in vielen Fällen ist
die Prozedur weit entfernt von der Harmlosigkeit im Fernseh-Krimi. Bei vollständiger Berichterstat-
tung dürften sich wohl einige Angehörige sowie ante mortem Patienten selbst wenig begeistert
zeigen vom staatlichen Anspruch, zur Aufklärung eines Epidemiegeschehens Verstorbene sehr gründ-
lich auseinanderzunehmen.
Bsp.: Im Videobeitrag "Coronaleugner demonstrieren in Berlin"
108
schreibt der Tagesspiegel ("sic"-
Hinweis von mir):
"Gegendemonstranten protestierten entlang der Route zur Siegessäule. Beide Lager be-
schimpfen sich gegenseitig als Nazi. 'Ihr maschiert [sic] mit Faschisten' skandieren die Gegen-
demonstranten".
Demonstranten und Gegendemonstranten sind dabei nie gemeinsam im Bild zu sehen, weil die
Polizei sie wie üblich auf großem Abstand zueinander hielt. Mindestens an vielen Stellen ("an allen"
kann ich nicht belegen) war es gar nicht möglich, das andere "Lager" zu sehen. Dass Demonstranten
ihre Plakate vorbereiten und deren Aussagen nur schwer den realen Geschehnissen anpassen kön-
nen, mag sich der "mündige Leser" (vgl. Schultz 2020) denken, aber dass die Ihr-marschiert-mit-
Faschisten-Rufer gar nicht sehen konnten, wer da mit wem demonstriert, wäre für ein vollständiges
Bild relevant gewesen. Ebenso wie natürlich irgendwelche Informationen zum Anliegen der De-
monstranten, die beim Tagesspiegel schlicht "Corona-Leugner" sind, was einzig mit der Aussage be-
legt wird: "Verschwörungstheorien werden ausgetauscht"
109
, bebildert mit zwei Aluhut tragenden
Männern.
Wem das Beispiel zu klein ist, hier eines mit dem Gewicht von "1.400 Milliarden Euro".
Bsp.: Unter dem nachrichtlich-nüchternen Titel "Bundestag beschließt Rettungspaket: 156 Milliarden
gegen die Corona-Krise"
110
schildert die politische Reporterin der Berliner Zeitung diesen "nicht nor-
malen Sitzungstag" des Parlaments, im Verlauf dessen u.a. 156 Milliarden Euro neue Schulden be-
schlossen werden. Der Artikel wirkt wie eine Hommage an Kischs "Die Schittkauer Mühlen in Flam-
men" (ab Seite 381
111
; zum Hintergrund siehe: "Debüt beim Mühlenfeuer"
112
). Von Standing Ovation
107
https://www.dnn.de/Dresden/Lokales/Coronavirus-Dresdner-Pathologe-fordert-mehr-Obduktionen
108
https://m.tagesspiegel.de/videos/berlin/video-zur-corona-demo-in-berlin-coronaleugner-demonstrieren-in-
berlin/26058326.html (nicht mehr online)
109
siehe zum Begriff "Verschwörungstheorie" hier im Paper Kap 5
110
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bundestag-beschliesst-rettungspaket-
schuldenbremse-ausgesetzt-li.79512
111
https://archive.org/stream/KischGW1112/Kisch%20GW%2011%3D12_djvu.txt
34
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
für das Gesundheitspersonal und der Erregung einer grünen Abgeordneten über zu geringen physi-
schen Abstand zwischen zwei AfD-lern bis zu Altmeiers hastig eingenommenem Mittagessen aus der
hygienischen Pappschachtel erfahren wir allerhand zur Kulisse, in der ein "Rettungsprogramm für die
Wirtschaft von nie gekanntem Ausmaß" beschlossen wurde. Aber was nun genau mit dem Geld ge-
schehen soll, woher es kommt, was bei dieser Prioritätensetzung künftig nicht mehr wie geplant
möglich sein wird, ob irgendein Abgeordneter noch etwas Erhellendes beizutragen hatte (oder we-
gen der guten Regierungsarbeit die Legislative nur noch eine Formsache ist), wir erfahren nichts
dazu, wofür die Autorin auch eine Begründung hat, die in sehr vielen Fällen von Unvollständigkeit
trägt:
"Die Reden unterscheiden sich auch sonst nur wenig. Wie auch, es ist in dieser Situation alter-
nativlos, die Wirtschaft mit Krediten und Zuschüssen zu unterstützen und die Bürger soweit
es geht in ihren Existenzen zu sichern."
113
Anstatt so vollständig zu informieren, dass der "mündige Leser" selbst zu einer Meinung kommen
kann, liefert der Journalismus direkt die Meinung ("Rettungspaket"), ohne sich mit dem mühsamen
Geschäft des Recherchierens und Erläuterns aufzuhalten. Es ist alternativlos, was Legislative und
Exekutive da gemeinsam machen, Punkt, aus, fertig. Es gibt keine anderen Möglichkeiten, keine wei-
teren Ideen, keine Kritik.
Diese weit gebräuchliche Unvollständigkeit durch Meinung statt Fakten kommt oft sehr subtil daher.
Bsp.: Für Heribert Prantl ist die Rede von einem "Corona-Regime" wahrheitsfernes Fabulieren
114
,
wiewohl seine eigene Zeitung intensiv den Begriff "Corona-Kabinett"
115
nutzt. Da wäre eine Erläute-
rung, warum das eine mehr oder weniger absurd, das andere nachrichtlich korrekt ist, doch sehr
hilfreich. Vollständigkeit wird durch Meinung ersetzt. Permanent lesen und hören wir von "umstrit-
tenen" Aussagen
116
, ohne dass berichtet würde, wer genau was mit welchen Belegen bestreitet oder
attackiert, und ob die Vorwürfe (noch) Substanz haben.
Das ewig zitierte SPIEGEL-Motto "Sagen, was ist" verlangt eben Tatsachen statt Autorenmeinungen.
Die dürfen gerne noch als Interpretationsangebot dazu kommen, können aber Informationen nicht
ersetzen. "Es war ein heißer Tag" ist eine Meinung, die ohne weitere Angaben nur die Belanglosigkeit
vermittelt, wie der Autor empfunden hat oder gar weit verbreitet mutmaßt, wie ein Protagonist
empfunden haben wird, ohne dies wenigstens als Meinungsbehauptung belegen zu können. Nicht
selten werden Bauern 'schönes Wetter' als Katastrophe empfinden, angeblich 'triste', weil regneri-
sche Herbsttage lassen die Herzen von Pilzsammlern höher schlagen. Ob eine bestimmte Zahl an
Corona-Neuinfektionen einen "dramatischen Anstieg"
117
darstellt, ist eine Interpretation, zu der
selbst zu kommen "mündigen Lesern" offen stehen sollte, was weit mehr Informationen als die Zah-
len an sich verlangt.
112
https://www.projekt-gutenberg.org/kisch/sensatio/chap009.html
113
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bundestag-beschliesst-rettungspaket-
schuldenbremse-ausgesetzt-li.79512
114
https://heribertprantl.de/prantls-blick/corona-und-die-wahrheit/
115
https://www.sueddeutsche.de/politik/aktuelles-lexikon-coronakabinett-1.4911230
116
zu diesem Attribut gibt es inzwischen ein eigenes Buch: https://www.buchkomplizen.de/umstritten.html
117
https://www.thueringer-allgemeine.de/regionen/erfurt/dramatischer-anstieg-40-neue-corona-faelle-in-
erfurt-id230748702.html
35
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Fehlende Einordnung =
Früh schon wurde in der Medienkritik darauf hingewiesen, dass Zahlen zur Pandemie ohne Einord-
nung keinerlei Orientierung bieten (so bspw. Stephan Russ-Mohl
118
oder Roland Schatz
119
; für eine
Übersicht siehe "Spiegelkritik"
120
). Es hat lange gedauert, bis wenigstens die täglichen "Corona-
Zahlen" in Relation zur Zeit und Fallzahlen in Bezug zur Einwohnerschaft ausgewiesen wurden.
Bsp.: Irreführende Angaben wie die Addition aller jemals Infizierten
121
hingegen haben sich bis heute
gehalten. Und Vergleiche mit anderen Erkrankungen oder Unfällen bleiben weiterhin Marginalien,
was zur schon lange bekannten unrealistischen Risikoeinschätzung in der Bevölkerung beiträgt, hier
also zu einer Überschätzung des Risikos einer Covid-19-Erkrankung gegenüber anderen Gesundheits-
gefahren.
122
Einzelne Todeszahlen und Krankheitsdaten ohne Einordnung können keine Orientierung
bieten.
Aber nicht nur Zahlen benötigen eine Einordnung, um Informationen vollständig zu vermitteln. Jedes
mediale Spotlight auf Einzelereignisse ist geeignet, eine hilfreiche Sichtweise auf die Welt zu verhin-
dern. So wurden im Fernsehen Intensivstationen gezeigt, Lokalzeitungen brachten Reportagen aus
ihren Krankenhäusern. Doch eine Verortung des aktuellen Corona-Geschehens in der sonstigen Ar-
beit der Stationen unterblieb meist. Personal in Schutzausrüstung wurde als Corona-Katastrophenfall
wahrgenommen, obwohl es auf Infektionsstationen Alltag ist.
Bsp.: Bilder von Militärfahrzeugen, die im italienischen Bergamo Särge abtransportierten
123
, waren
prägend für die Pandemiewahrnehmung und wurden rund um den Globus gesendet, obwohl es nur
um 60 Tote in einer Großstadt ging.
124
Natürlich waren dort Menschen gestorben, auch überpropor-
tional viele, doch das mediale Katastrophenszenario war mit Sicherheit keine realitätsnahe Darstel-
lung: Wie viele Tote gibt es an normalen Tagen, wie schnell kommt das lokale Bestattungswesen an
seine Grenzen, insbesondere wenn es durch politische Vorgaben und eigene Quarantänefälle nicht so
arbeiten kann wie üblich?
125
Wo nur Ausschnitte berichtet werden, kann kein Gesamtbild entstehen
wie im Gleichnis von der punktuellen Betrachtung eines Elefanten.
126
Bsp.: Kommunikationswissenschaftler Thomas Hanitzsch sagte in einem Interview mit der Öffentli-
ckeitsarbeit seiner Universität im April 2020:
>Die Medien sind nicht nur zahm, sie folgen sehr bereitwillig der politischen Rhetorik. Das
macht mir schon ein bisschen Bauchschmerzen. Da würde ich mir schon ein paar kritische
118
https://medienwoche.ch/2020/04/23/bei-solchem-journalismus-bin-ich-etwas-ratlos/ Da sich Russ-Mohl
seit Jahren vor allem im Hinblick auf internationale Zitierungen nicht mehr mit "ß" schreibt, soll dem hier
gefolgt werden (pers. Mitteilung vom 3. April 2023)
119
https://kress.de/news/detail/beitrag/144784-7-tipps-fuer-einen-besseren-corona-journalismus.html
120
https://www.spiegelkritik.de/2020/10/20/medienkritik-zum-corona-journalismus-sammlung/
121
https://datawrapper.dwcdn.net/gmlUF/42/
122
https://www.diw.de/de/diw_01.c.795735.de/publikationen/diw_aktuell/2020_0052/menschen_ueberschae
tzen_risiko_einer_covid-19-erkrankung__beruecksichtigen_aber_individuelle_risikofaktoren.html
123
https://www.bild.de/news/ausland/news-ausland/schockierende-bilder-aus-italien-armee-transportiert-
corona-tote-69489308.bild.html
124
https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-
movie-theatre/
125
https://www.vice.com/de/article/3a8ymy/coronavirus-italien-wohin-mit-den-toten
126
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_blinden_M%C3%A4nner_und_der_Elefant
36
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Nachfragen mehr in den Medien wünschen, ein bisschen mehr kritische Distanz. [...] Von An-
beginn an hat mir beispielsweise die Diskussion über soziale Ungleichheiten, die sich im Lock-
down verstärken, und die Lage der Familien gefehlt. Es ging um die Rettung von Unterneh-
men, um große Rettungsschirme, die die Regierung aufspannt. Aber der Blick auf die anderen
Facetten des Themas fehlte mir: Was bedeutet es für Arbeitnehmer, wenn gut die Hälfte aller
Unternehmen in Kurzarbeit geht? Was für die Familien, die Kinder haben, die nicht in die
Schule oder die Kita können? Was ist mit den sozialen Ungleichheiten, die dadurch entstehen,
dass die Kinder jetzt zuhause bleiben müssen und eben nicht alle Familien gleich gut mit den
Coronafolgen zurechtkommen? Das alles ist so ein bisschen unter die Räder geraten. Ich hätte
mir da von den Journalistinnen und Journalisten mehr kritische Kontrolle gewünscht, wo doch
der Journalismus ein Korrektiv der Politik sein sollte. Stattdessen haben die Medien sehr stark
im Gleichklang mit der Politik agiert.<
127
Bsp.: Wer Ungeimpfte nach ihren Beweggründen fragt, sich nicht impfen zu lassen
128
, muss mit dem-
selben Erkenntnisinteresse auch Geimpfte befragen. Anders lassen sich die Ergebnisse gar nicht ein-
ordnen (vielleicht treibt einen Großteil in beiden Gruppen die Sorge um die eigene Gesundheit um?) -
zumal, wenn Menschen mit wie ohne (Corona-)Schutzimpfung als Rezipienten in Betracht kommen
sollen und nicht für eine 'Spezies' eine andere, fremde (journalistisch) erforscht wird. Dass die Um-
frage im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführt wurde
129
und sich dieses offenbar
nicht für die Motivlage Geimpfter interessierte, steht dem nicht entgegen. Zur Not muss wenigstens
auf die Datenlücke hingewiesen werden, zumindest große Pressehäuser und Sender sollten aber
auch eigene Befragungen beauftragen können.
= Vergleichswerte und Wertungsskalen =
Journalistische Einordnung bedeutet, "in einen Kontext setzen, nachfragen, einordnen" (Holger
Wormer
130
). Zur Vollständigkeit gehört auch, die Kriterien jeder "Einordnung" zu benennen. Wenn
Journalisten reklamieren, sie würden zunehmend über- oder umgangen
131
, weil sich heute jeder
direkt an ein großes Publikum wenden kann, meinen sie nicht selten, es fehle ihr wertender Kom-
mentar. Doch dieser ist nur dann eine Einordnungsleistung, ja überhaupt nur ein Orientierungsange-
bot, wenn deutlich wird, was wie gemessen und mit welchem Maßstab bewertet wird. Chiffren wie
"Schwurbler", "Populist" oder "selbsternannt" sind 'wertlose Wertungen', solange nicht ihre Daten-
grundlage deutlich wird, die den Journalisten zu dieser Bewertung führt.
Bsp.: Täglich gemeldete Infektions-, Hospitalisierungs- und Sterbezahlen können zwar auf langen
Zeitreihen eine Entwicklung anzeigen und damit einen Wert an sich haben, benötigen aber ansonsten
und zur Einschätzung ihrer Relevanz immer einen Kontext. Zur Angabe der an und mit Corona Ver-
127
https://web.archive.org/web/20200521051242/https://www.uni-
muenchen.de/forschung/news/2020/hanitzsch_medien_corona.html
128
https://www.zeit.de/gesundheit/2021-10/forsa-umfrage-corona-ungeimpften-impfbereitschaft-
massnahmen-auswirkungen-ablehnung
129
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Befragung
_Nichtgeimpfte_-_Forsa-Umfrage_Okt_21.pdf
130
https://www.wissenschaftskommunikation.de/mehr-einordnung-und-kritische-nachfragen-was-der-
journalismus-in-der-coronakrise-besser-machen-koennte-41981/
131
"unter Umgehung von Medien" https://www.tagesschau.de/faktenfinder/trump-wahlbetrug-107.html
37
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
storbenen gehört der Vollständigkeit halber die Gesamtzahl der (im angegebenen Zeitraum und Ge-
biet) Verstorbenen.
132
Wenn einige Dutzend bis Hundert Menschen an einem Tag an Corona verster-
ben, sterben weit über 2.000 aus anderen Gründen.
>"Sieben Corona-Tote im Kreis Unna im Januar. Allein in einer Stadt starben drei Menschen"<
So titelt beispielsweise der Hellweger Anzeiger.
133
Zum Drama gehört aber auch, dass geschätzt 350
Menschen mit anderen Krankheiten und Unfällen gestorben sind.
Bsp.: Ausführlich widmete sich Übermedien mit Hendrik Streeck dem "Mann, der dauernd falsch
liegt, aber immer wieder als Corona-Experte gebucht wird".
134
Ausführlich wird seziert, wo der Bon-
ner Virologe (angeblich) überall falsch lag, sich widersprach, seine Meinung plötzlich geändert habe.
Nur: Das ist wertlos, solange wir nicht wissen, was ein "Normalwert" für die vorgehaltenen Verfeh-
lungen ist. Wie oft lag Drosten daneben (sein Podcast "Coronavirus Update"
135
bietet da leicht zu-
gängliches Material)?
Wer behauptet, Deutschland sei "verhältnismäßig gut" durch die Corona-Pandemie gekommen
136
,
muss zunächst benennen, was dafür gemessen wurde und welche Bewertungsskala dann an dieses
Messergebnis angelegt wird. De facto entstehen die meisten solcher Wertungen freihändig, "ge-
fühlt", wie es heute allgegenwärtig heißt. Solche unvollständigen Angaben bieten aber keine Orien-
tierung.
Bsp.: Auf Auslassungen hinzuweisen kann ungenügend sein, wenn mit dem dann präsentierten Bild
dennoch ein falscher Eindruck entsteht. Dies ist häufig bei statistischen Grafiken anzutreffen, die nur
einen Ausschnitt einer Achse zeigen, ohne die damit falschen Proportionen auch zu visualisieren
(hier: Süddeutsche Zeitung
137
).
= Whataboutism ist Pflicht =
Versuche der Einordnung werden häufig, insbesondere online, als "Whataboutism" geschmäht. Tat-
sächlich aber ist es eine der W-Fragen, die zu jedem Vollständigkeitsbemühen gehört: What about...?
Was ist mit diesem und jenem? Im Zusammenhang mit der alles dominierenden Corona-Politik nach
Klimaschutz zu fragen ist kein rhetorischer Trick
138
, sondern eine Notwendigkeit. Wenn über den
Schutz Alter und Kranker in Deutschland gesprochen wird, gehört die Frage nach den Nebenwirkun-
gen jeder möglichen Maßnahme zur vollständigen Problembetrachtung dazu. Es ist gerade die Auf-
132
beliebiges Bsp: https://web.archive.org/web/20230203063758/https://www.swp.de/panorama/corona-
zahlen-deutschland-heute-aktuell-rki-dashboard-3-2-2023-68880353.html
133
https://www.hellwegeranzeiger.de/kreis-und-region/corona-virus-pandemie-todesfaelle-kreis-unna-
gesundheitsamt-januar-2023-w689591-1000728434/
134
https://uebermedien.de/57343/hendrik-streeck-der-mann-der-dauernd-falsch-liegt-aber-immer-wieder-
als-corona-experte-gebucht-wird/
135
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Die-Podcast-Folgen-als-
Skript,podcastcoronavirus102.html
136
z.B. Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Blog-
Die-Lage-am-Dienstag-17-Januar-2023,coronaliveticker2262.html ; so auch Schultz 2020, Maurer/ Reinemann/
Kruschinski 2021
137
https://www.spiegelkritik.de/2021/01/30/einaeugige-medienkritik/
138
https://klimareporter.in/what-about-whataboutism-und-warum-ist-das-wichtig/
38
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
gabe des Journalismus, auch das nicht auf den ersten Blick Sichtbare sichtbar zu machen spätes-
tens, wenn es ihm auf dem Silbertablett serviert wird. Ohne "What about" lassen sich u.a. gar nicht
sinnvoll Prioritäten setzen. Am einfachsten lässt sich dies an den jährlichen Verhandlungen über die
Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen aufzeigen: In den Medien wird dann regelmäßig Streit
um einzelne Posten referiert, nie aber wird das Gesamtbudget in den Blick genommen (außer unter
dem Stichwort Schulden bzw. Austerität). So wird dann eine Anhebung des Kindergelds um 5 Euro
vermeldet
139
- bei einem (im Bsp. nicht erwähnten) Gesamtetat von knapp einer halben Billion Euro
(481.000.000.000).
140
Bsp.: Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat genau dies Ende April 2020 angeboten: über
die Nebenwirkungen der gewünschten Wirkungen zu sprechen, konkret über die durch Shutdowns
verursachten Todesfälle. Doch anstatt spätestens nun dieser Frage nachzugehen und zu recherchie-
ren, erzählten die Medien durchgängig die viel einfachere, kundenfreundlichere Boulevardgeschichte
vom menschenverachtenden Wichtigtuer und dem Bemühen seiner grünen Partei, ihn vor die Tür zu
setzen.
141
Fünf Monate später wies Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) ebenfalls auf das
Problem hin: "An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr sterben als am Virus", sagte er in
einem Interview
142
, und führte als einen der Gründe dafür an: "Weil wir Industrieländer uns so sehr
auf die Coronabekämpfung zu Hause fokussieren, dass wir andere Probleme aus dem Blick verlieren."
Und Hans Peter Vikoler vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen sagte in einem Inter-
view
143
: "Wenn man die Folgen der Lockdowns im globalen Maßstab betrachtet, dann kann es einen
nur ratlos machen, dass solche Maßnahmen überhaupt ergriffen wurden. Die wirtschaftlichen und
sozialen Schäden, die durch die Bekämpfung des Virus verursacht wurden, übersteigen die gesund-
heitlichen Schäden durch das Virus um ein Vielfaches. [...] Unser Umgang mit dem Virus war kleinka-
riert und absolut unverantwortlich."
Um sich überhaupt eine Meinung zu Sinn, Zweck und Umfang von staatlichen Maßnahmen gegen die
Corona-Pandemie bilden zu können, müssen solche "What about?"-Fragen gestellt und beantwortet
werden. Demokratie verlangt, dass den Bürgern alle entscheidungsrelevanten Informationen zur
Verfügung stehen, auch wenn gerade nicht gewählt wird.
Bsp.: Ein Musterbeispiel der Vollständigkeitsverweigerung ist die SPIEGEL-Titelgeschichte "Albtraum
Lockdown"
144
im Heft vom 17. Oktober 2020, die auch sonst Anschauungsmaterial für viele andere
Qualitätsdefizite bietet. Der Untertitel auf dem Cover: "Warum jetzt doch droht, was alle ausge-
schlossen haben". 26 Autoren werden für diese Geschichte aufgeboten, doch sie verlieren nicht ein
139
https://www.morgenpost.de/politik/article406728547/koalition-einigt-sich-auf-haushalt-und-
wachstumspaket.html
140
Zu einer Veranschaulichung der Unterschiede zwischen Millionen, Milliarden und Billionen siehe "Geld in der
Politik": https://www.deutschlandfunkkultur.de/geld-in-der-politik-nachfragen-ist-buergerpflicht-100.html
141
https://www.heise.de/tp/features/Wir-retten-Menschenleben-mit-Menschenleben-ohne-darueber-zu-
verhandeln-4715085.html?seite=all
142
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronakrise-entwicklungsminister-mueller-an-den-
folgen-der-lockdowns-werden-weit-mehr-menschen-sterben-als-am-virus/26209144.html?
143
https://www.heise.de/tp/features/Hunger-ist-gewollt-4930450.html
144
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-albtraum-lockdown-warum-jetzt-droht-was-alle-
ausgeschlossen-haben-a-00000000-0002-0001-0000-000173548904
39
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
einziges Wort über die Nebenwirkungen eines Lockdowns.
145
Stattdessen bietet der SPIEGEL folgende
Engführung:
"Es heißt, in der Krise zeige sich, wie gut Deutschland regiert werde, da die Zahlen besser sind
als in fast allen anderen europäischen Staaten. Das stimmt grundsätzlich, heißt aber nicht,
dass hier alles glatt läuft. Dass Reiserückkehrer im Sommer das Virus nach Deutschland
brachten, schien die Politik zu überraschen, es dauerte lange, bis Jungen und Mädchen zum
Präsenzunterricht an die Schule zurückkehren konnten, es fehlte an Masken, um nur einige
Beispiele zu nennen."
Nicht-quarantänisierte Urlauber, Schulausfall und fehlende Masken, das sind die Probleme, die 26
SPIEGEL-Journalisten recherchiert haben. "Die Zahlen" in, aus oder für Deutschland sind besser als
anderswo. Kein Wort über schädliche Nebenwirkungen
146
in Deutschland, keine Wort über tödliche
Nebenwirkungen weltweit. Und, Gipfel der Unvollständigkeit, nicht einmal ein Wort darüber, warum
der erneute Lockdown droht wie eine Naturgewalt, gegen die der Mensch machtlos ist, oder wie eine
Falle, die plötzlich zuschnappt, aufgebaut von einer fremden Macht.
Nicht nur der Journalismus stellt häufig keine What-about-Fragen, auch die Journalismusforschung.
Denn gerade Forschung schaut sich gerne losgelöst von der Welt nur kleinste Teilbereiche an: über-
schaubar, handhabbar, berufsdienlich. Das ist nicht nur legitim, sondern auch unproblematisch, so-
lange diese Detailbetrachtungen nicht ohne Einordnung auf den Marktplatz getragen werden. Weil
es ausgerechnet um journalistische Qualität geht, ein ausnahmsweise Corona-freies Beispiel, aber
immerhin zur Gesundheit:
Bsp.: Patrick Rössler, Kommunikationsforscher an der Uni Erfurt, hat "Die Qualität der Berichterstat-
tung über Ernährung"
147
untersucht. Seinen Beitrag für das nicht gerade tiefstapelnde Kompendium
"Bericht zur Lage der Informations-Qualität in Deutschland"
148
leitet er damit ein, ungesunde Ernäh-
rung als gesellschaftliches Finanzproblem zu sehen.
"Die enormen gesellschaftlichen Belastungen aufgrund der direkten Behandlungskosten und
der indirekten volkswirtschaftlichen Verluste durch krankheitsbedingte Ausfälle sind ebenso
allseits bekannt wie die so genannten intangiblen Kosten für die Betroffenen."
Oder kürzer, statt seiner vielen Zahlen: 'Fette kosten die Dünnen verdammt viel Geld.' Die Richtigkeit
aller Berechnungen und Schätzungen unterstellt, ist das Problematisieren individuellen Verhaltens
allerdings solange applausheischend statt aufklärerisch, wie es unvollständig bleibt. Wenn es wirklich
ums Geld gehen soll, müsste schon das gesamte Sozialsystem betrachtet werden (eben: What about
...?). Was kosten uns die gesunden, pensionierten Medienforscher, die dank eines Privilegs nie in die
gesetzliche Krankenversicherung oder Rente eingezahlt haben? Wie viel länger als fettleibige Früh-
rentner können sie leben und damit von der Allgemeinheit Vollversorgung beanspruchen, bis die
Kosten ihre höheren Steuerzahlungen verbraucht haben und sie als Problem benannt werden dür-
fen? Ab wann ist die Demenz des gesund uralt gewordenen Sportlers gesellschaftlich teurer als der
145
https://www.thelancet.com/article/s0140-6736(20)30460-8/fulltext#%20
146
Auch die Leopoldina kam in ihren Empfehlungen ohne jedes Wort zu Nebenwirkungen aus:
https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/coronavirus-pandemie-die-feiertage-und-
den-jahreswechsel-fuer-einen-harten-lockdown-nutzen-2020/
147
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-qualitaet-der-berichterstattung-ueber-ernaehrung
148
http://www.mediatenor.com/images/library/reports/InformationsQualit%C3%A4t%20Deutschland_Weissbuch
_Druck.pdf
40
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Herzinfarkt des Hartz-IV-Beziehers? Die Provokation muss wohl nicht weiter ausgeführt werden:
Selbst wenn alles richtig ist, kann publizistische Unvollständigkeit zu einer katastrophalen Fehlorien-
tierung führen. In manchen Themenbereichen ist das im journalistischen Mainstream auch völlig
unbestritten: Keine Einzelmeldungen über bestimmte Verbrechen, kein Problematisieren bestimmter
Minderheiten oder "Randgruppen" etc. aber eben immer nur für bestimmte Themenfelder oder
sogar nur für bestimmte Aspekte eines Themenfelds, was unter "Objektivität" diskutiert werden
kann. Ohne "What about...?" jedenfalls ist Journalismus in vielen Fällen gefährlich unvollständig.
Bsp.: Wenn irgendjemand abschätzt, wie viele Tote durch getroffene Maßnahmen verhindert wor-
den seien muss selbstverständlich gefragt werden: 'what about' Todesopfer durch oder wegen der
Maßnahmen? Drosten sprach mutig von bis zu 100.000 verhinderten Sterbefällen allein durchs frühe
Testen.
149
Der Journalismus wenigstens hätte dem die Zahlen von erzeugten bzw. verfrühten Sterbe-
fällen gegenüberstellen müssen.
= Pars pro Toto =
Bildausschnitte oder sogar selbst zusammengepuzzelte Konstrukte als 'die ganze Wahrheit' auszuge-
ben ist im Journalismus weit verbreitet. Euphemistisch wird das oft als Reduktion von Komplexität
dargestellt, als notwendige Vereinfachung.
Quer durch die Medienlandschaft hat sich das Schlagwort von den "Corona-Leugnern"
150
etabliert,
mit dem jeder Kritiker der Corona-Politik belegt wird, der keine inhaltliche Auseinandersetzung ver-
dient. Dass es sich dabei überwiegend gar nicht um Leugner handelt, war schon unter dem Aspekt
der "Richtigkeit" Thema. Bedeutsamer aber ist, dass diese Vereinfachungen vieles weglassen. "Was
siehst du auf diesem Bild?" möchte man wie in der Schule fragen, um eine möglichst exakte Be-
schreibung zu erwirken.
Bsp.: Die "CDU fordert"
151
irgendwas, lesen wir permanent, oder "SPD empört über..."
152
. Dass dabei
niemals die ganze CDU, die ganze SPD, die ganze Arbeitnehmerschaft, eine Stadt, ein Land oder sonst
wer etwas tut, fordert, kritisiert, gehört in die Kategorie "Richtigkeit". Aber selbst, wenn solche Aus-
sagen formal richtig sind (weil sie sich z.B. auf Mehrheitsbeschlüsse stützen): sie unterschlagen die
vorhandene Vielfalt. Einzelstimmen werden zur 'ganzen Wahrheit' aufgebauscht, davon Abweichen-
des wird unterschlagen. Diese Darstellungsform hat u.a. Hans Matthias Kepplinger in vielen Studien
zur Skandalisierung nachgewiesen.
153
Weit verbreitet ist die Darstellung von Einzelheiten als angeblich Ganzes bei der Vermittlung von
Diskussionen oder Reden.
Bsp.: Die Berliner Demonstrations-Rede von Robert Kennedy (den ein Mitglied der Tagesspiegel-
149
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/christian-drosten-in-meinem-alltag-kommt-die-bild-zeitung-
nicht-vor-a-00000000-0002-0001-0000-000171168292
150
selbst in Recherchen (Spiegel TV) und Faktenchecks (Correctiv) verwendet:
https://correctiv.org/faktencheck/2022/01/18/statisten-stellen-szene-fuer-zdf-sendung-nach-und-nehmen-
nicht-an-echtem-protest-gegen-corona-leugner-teil/
151
https://web.archive.org/web/20201010074049/https://www.berlin.de/aktuelles/berlin/6317656-958092-
cdu-fordert-konsequentere-durchsetzung-d.html
152
https://www.rheinpfalz.de/lokal/ludwigshafen_artikel,-quarant%C3%A4ne-app-und-fu%C3%9Ffessel-spd-
emp%C3%B6rt-%C3%BCber-pl%C3%A4ne-der-cdu-landtagsfraktion-_arid,5062037.html [nicht mehr online]
153
https://www.kepplinger.de/content/publikationen
41
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Chefredaktion offenbar für tot hält
154
) wurde, wo es über das Schlagwort "Verschwörungstheoreti-
ker" hinausging, als Warnung vor Bill Gates und dem Mobilfunknetz 5 G zusammengefasst.
155
Begon-
nen hatte er allerdings mit der Information, amerikanische Zeitungen hätten bereits im Vorfeld ge-
schrieben, er werde in Berlin vor 5.000 Nazis sprechen
156
, was für die Einordnung der gesamten Be-
richterstattung nicht irrelevant ist. Zehn Minuten in ein oder zwei Sätze zu bekommen ist immer eine
Herausforderung. Aber sie danach zu schmieden, dass sie in die vorhandene Erzählung passen, ist
unredlich.
= Unvollständige Medien =
Die Forderung nach Vollständigkeit stößt bei einem einzelnen Beitrag natürlich schnell an Grenzen,
u.a. von Zeit und Raum und Geld. Für die Beurteilung dieses Qualitätskriteriums müssen Orientie-
rungsanspruch und Orientierungsmöglichkeiten gemeinsam betrachtet werden. Gleichwohl rechtfer-
tigt keinerlei Ressourcenmangel, wider besseres Wissen unvollständig zu berichten. Das Mindestge-
bot lautet, auf bekannte Lücken hinzuweisen: "Weitere Positionen dazu in den nächsten Tagen",
"Informationen zu XY liegen uns noch nicht vor", "die soeben erschienenen Studie haben wir selbst
noch nicht gelesen" oder auch ein offenbarendes: "Wir wissen eigentlich nichts."
Das hat insbesondere in der Anfangsberichterstattung zu Corona gefehlt. Was die Politik gemacht
hat, war ein riesiges Experiment, in welchem den Bürgern "durch politische Anweisungen das Verhal-
ten im Experiment zugewiesen" wurde, wie es der emeritierte Journalistik-Professor Ulrich Pätzold
beschrieb
157
und aus diesem Setting für den Journalismus folgerte: "Alle Nachrichten [...] müssen
ihren Aussagewert an der Offenheit der experimentellen Anordnungen ausrichten." Aber wo wurde
dieses Nichtwissen deutlich artikuliert? Zu den schiefen Sprachbildern dieser Anfangsphase gehörte
das "Fahren auf Sicht", was korrekt bedeutet: so langsam zu fahren, dass man jederzeit auf das Un-
vorhergesehene reagieren kann, tatsächlich aber meint: 'Wir stochern mit allerlei Instrumenten im
Nebel und schauen, wen wir treffen und was passiert.' Eine kontinuierliche, vollständige Berichter-
stattung hätte diese schiefen Bilder durch Nachrichten ersetzt.
Zur vollständigen Berichterstattung eines Mediums gehört am Ball zu bleiben, wichtige Veränderun-
gen mitzuteilen, vor allem Korrekturen, Widersprüche, neue Entwicklungen. Aber Redaktionen be-
trachten den Wert einzelner Nachrichten: was wird gerade interessieren, was bringt Quote, womit
werden die Kunden gehalten?
Bsp.: Nachdem Virologe Hendrik Streeck am 9. April 2020 erste vorläufige Ergebnisse der "Heinsberg-
Studie" vorgestellt hatte
158
, überboten sich die Medien in Kritik und vermischten dabei alles: Wissen-
schaft, Politik und persönlich-berufsständischen Animositäten (weil die PR-Agentur von Ex-BILD-
Chefredakteur Kai Diekmann für die Heinsberg-Studie aktiv geworden war). Als dann später die voll-
ständigen Ergebnisse vorlagen, gab es kein Medieninteresse mehr. Stattdessen wird der Studie bis
154
https:/www.tagesspiegel.de/berlin/corona-demonstration-in-berlin-unertraeglich-bizarr-aber-auch-
legitim/26140676.html
155
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/08/demonstrationen-
samstag-corona-querdenken-gegendemos.html
156
https://www.youtube.com/watch?v=GHBzjfS3PdU
157
https://web.archive.org/web/20200803092805/https://www.uli-paetzold.de/beitrag-lesen-
11/items/corona-und-journalismus.html
158
https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/zwischenergebnis_covid19_case_study_gangelt_
0.pdf
42
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
heute, wie Streeck beklagt
159
, nach dem oben genannten Muster ein simples "umstritten" vorange-
stellt, anstatt die eigene Berichterstattung einmal upzudaten.
Bsp.: "Sturm auf den Reichstag". Die Berichterstattung zu einem kleinen und tatsächlich belanglosen
Ereignis am 29. August 2020 war beherrscht von Interpretationen und falschen Zuordnungen (siehe
Kap. 7). Dies hätten die Medien wenigstens im Nachhinein durch nüchterne Informationen korrigie-
ren können und müssen. Denn wenn "300 bis 400 Demonstranten" etwas Schreckliches getan haben
sollen, gehört zum Follow-up das Ergebnis der Justiz: zwei Jahre nach dem Vorfall gibt es drei Verur-
teilungen, "zwei Mal wegen Landfriedensbruch nach § 125 Strafgesetzbuch (StGB) und einmal wegen
Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen nach § 86a
StGB".
160
Wenn eine solche Tatdichte immer für eine bundesweite Empörung genügen sollte, hätten
wir Daueralarm. Vor allem aber: Den bis heute unverändert behaupteten "Sturm auf den Reichstag"
hat es jedenfalls von Seiten der ermittelten Beteiligten nach Auffassung von Staatsanwaltschaft bzw.
Gericht nicht gegeben. Die Tagesschau ließ, anstatt über diese juristische Bewertung zu berichten
und damit die eigene frühere Darstellung zu korrigieren, einen fehlerhaften Faktencheck einfach
verschwinden.
161
Eine umfangreiche Aufarbeitung der Abläufe in Text und Film hat im Dezember
2022 die freie Journalistin Aya Velázquez vorgelegt.
162
Bsp.: Die Welt berichtete über zunächst 30
163
und später 272 "Ermittlungsverfahren nach versuchtem
Sturm auf den Reichstag"
164
, ließ aber das Endergebnis (s.o.) aus. Nach einer Stichprobe ist davon
auszugehen, dass es bei den meisten Medien ähnlich aussieht.
Ausgerechnet das juristische Magazin LTO gibt der Sache dabei einen interessanten Spin: Der Chefre-
dakteur vertraut nicht etwa dem Rechtsstaat mit der dann notwendigen Erkenntnis, dass es eben
gar keinen "Sturm auf den Reichstag" gegeben hat , er kritisiert die geringe "Verurteilungsquote"
nach der Logik: wo ermittelt wird, da sind auch strafwürdige Täter.
165
Solche stark verzerrende Unvollständigkeit ist gang und gäbe bei Vorwürfen: Strafanzeigen gegen
(von den Medien wenig geschätzte) Prominente finden regelmäßig große Aufmerksamkeit, die Ein-
stellung der Ermittlungen und damit die juristische Bedeutungs- oder Haltlosigkeit Monate später
hingegen nicht.
166
159
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/hendrik-streeck-anti-drosten-missverstandener-medien-
star-wer-ist-er-wirklich-a-00000000-0002-0001-0000-000173654768
160
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reichsbuerger-stuermen-reichstag-viel-ermittlungsaufwand-
wenige-verurteilungen-landfriedensbruch/
161
https://www.spiegelkritik.de/2022/09/06/faktenfinder-zum-sturm-auf-den-reichstag-vom-gesetzgeber-
offline-genommen/
162
https://www.velazquez.press/p/der-sturm-auf-den-reichstag
163
https://www.welt.de/regionales/berlin/article224469922/Nach-Krawall-am-Reichstag-rund-30-
Ermittlungsverfahren.html?icid=search.product.onsitesearch
164
https://www.welt.de/politik/deutschland/article233360633/272-Ermittlungsverfahren-nach-versuchtem-
Sturm-auf-den-Reichstag.html
165
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/reichsbuerger-stuermen-reichstag-viel-ermittlungsaufwand-
wenige-verurteilungen-landfriedensbruch/
166
https://www.spiegelkritik.de/2015/06/06/strafanzeigen-haben-keine-journalistische-relevanz/
43
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Im September 2020 wussten viele Medien von einer "Superspreaderin" in Garmisch-
Patenkirchen zu berichten.
167
Sogar der 20-Uhr-Tagesschau war dies eine Meldung wert.
168
Dass da-
bei mal wieder viel Wind um wenig gemacht
169
und allerhand Gemutmaßtes als Tatsachen verkauft
worden war, fanden dieselben Medien später weniger interessant, die Superspreaderin darf im Ge-
dächtnis bleiben, immerhin hatte auch schon Ministerpräsident Söder höchstselbst ein Urteil dazu
gesprochen. Zur Vollständigkeit der dankenswerten, aber zu späten Recherche des "Faktenfinders"
hätte auch gehört, statt allgemein vom fragwürdigen Verhalten "einiger Medien" darüber zu spre-
chen, was eine solche Einzelfallmeldung ohne Beweise in der Hauptsendung der Tagesschau zu su-
chen hatte.
170
Zur Vollständigkeit der Corona-Berichterstattung eines Mediums gehört, aus anderen Ländern nicht
nur Infektionszahlen und politische Ge- und Verbote zu kolportieren, sondern auch kontroverse De-
batten, Bürgerproteste und vieles mehr, das zu einem vollständigen Lagebild notwendig ist. Eine der
vielen spannenden und wichtigen Fragen für die Medienforschung lautet daher: Was wissen wir Re-
zipienten eigentlich über die Corona-Pandemie? Wie gut decken sich unsere medial geprägten Bilder
mit der Realität? Wie zum Beispiel hat US-Präsident Donald Trump auf die Corona-Pandemie rea-
giert? Was fällt uns ein, außer dass Trump angeblich geraten habe, Desinfektionsmittel zu trinken?
171
Mit Trump sind wir mitten in einem eigenen großen Bereich von Vollständigkeit: der Meinungsviel-
falt.
5 Meinungsvielfalt
Zur Vollständigkeit einer Berichterstattung gehört die Vielfalt an Meinungen. Meinungsvielfalt ist ein
wichtiger Teil der demokratischen Begründung für Pressefreiheit, und wo möglich, ist sie sogar expli-
zit vorgeschrieben (z.B. im Medienstaatsvertrag
172
, §§ 59 ff).
Der deutsche Journalismus hat ein massives Problem mit der Meinungsvielfalt. Unabhängig vom
konkreten Thema ist in der Branche völlig unklar, wozu es Meinungsvielfalt braucht und wie sie aus-
sehen sollte. Deutlich artikuliert der Journalismus dies selbst, wenn er sich alle paar Wochen mit den
Grenzen des Sagbaren beschäftigt, eine irgendwo vertretene Meinung skandalisiert, als Sittenpolizei
Halbsätze und Tweets investigativ untersucht oder zum hunderttausendsten Mal fragt: Was darf die
Satire? Dabei ist Meinungsvielfalt mit das Wichtigste, das Journalismus bieten muss, wenn er der
Orientierung dienen will.
Schließlich gibt es Orientierung nicht mit einer Einzelmeinung. Im Interesse der eigenen Erkenntnis
braucht es die verschiedenen Perspektiven. Und im Sinne eines demokratischen Prozesses müssen
167
https://www.rnd.de/panorama/33-neue-falle-an-einem-tag-reiseruckkehrerin-als-superspreaderin-in-
garmisch-N64DXQ2JRYKVBWVRU6FTO3GXEQ.html
168
https://web.archive.org/web/20200917091537/https://www.tagesschau.de/faktenfinder/superspreaderin-
garmisch-corona-101.html
169
https://www.welt.de/vermischtes/article215637196/Garmisch-Partenkirchen-Corona-Ermittlungen-gegen-
Superspreaderin.html
170
https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-756207.html
171
https://www.tagesschau.de/ausland/trump-desinfektionsmittel-101.html
172
https://www.die-
medienanstal-
ten.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/Medienstaatsvertrag_MStV.pdf
44
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
alle Stimmen Raum finden und Zustimmung wie Widerspruch erfahren. Meinungen, die keinen
Widerspruch vertragen, sind Dogmen. Sie bleiben zwar Meinungen, werden aber dem Diskurs entzo-
gen. Das ist, was in den viel zitierten 'Blasen' tagtäglich geschieht: die eigene Weltsicht wird fortwäh-
rend bestätigt, jede Abweichung wird niedergemacht und als Podest für die eigene Erhöhung ge-
nutzt. Eine sehr normale Machtstrategie aber gerade kein Vorbild für den Journalismus.
In der Corona-Berichterstattung hat der Journalismus jedoch selbst zahlreiche Dogmen geschaffen:
Glaubenssätze, die zumindest von Laien nicht infrage gestellt werden dürfen. Ein Dogma lautet, in
den Worten der Virologin Sandra Ciesek: es "zählt jedes einzelne Leben"
173
, koste es, was es wolle
(denn alles andere wäre "menschenverachtend").
= Meinungen sind weder richtig noch falsch =
Meinungen können nie richtig sein (und entsprechend auch nie falsch). Sie können ob ihrer schwa-
chen, fehlenden oder unlogischen Begründung absurd erscheinen, sie können sehr abseitig sein (im
Sinne von einzigartig), sie mögen mit allen möglichen Werten und Normen kollidieren oder aber im
Gegenteil von fast jedem Menschen geteilt werden richtig oder falsch sind sie nie. Deshalb kann es
für Meinungen auch keine "Faktenchecks" geben. Prüfen lassen sich nur Tatsachenbehauptungen
(die selbstverständlich regelmäßig als Begründung in Meinungsbekundungen auftauchen).
Bsp.: Doch im Journalismus werden ständig Meinungen für Tatsachenbehauptungen gehalten, was
zu nichts Gutem führen kann.
"Es fing schon mit einer Lüge an. Einen Tag vor seiner Rede an der Berliner Siegessäule twit-
terte Robert F. Kennedy Jr.: 'Morgen werde ich vor der größten Menschenmenge der deut-
schen Geschichte sprechen. Wir erwarten mehr als eine Million Menschen.'"
(Der Spiegel
174
)
Solange der Spiegel Kennedy nicht der Hellseherei überführt, ist seine Aussage über die Zukunft eine
Annahme, eine Prognose, eine Tatsachenvermutung, aber eben keine falsche Tatsachenbehauptung
und mithin keine Lüge. Unwahrscheinlich konnte die Prognose natürlich sein.
Bsp.: Auch wenn mancher Experte seine (fachfremden) Meinungen gerne als unerschütterliche
Weisheiten präsentiert, muss der Journalismus sie kategorisch als Meinungen behandeln, also auch
den Widerspruch dazu suchen. In der ZEIT
175
etwa sagte der meinungsführende deutsche Virologe:
"Auch wenn wir sehen würden, dass aus einem völlig unerfindlichen Grund die Entwicklung
eines Impfstoffs nicht gelingt, würde man auf Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen set-
zen. Das Virus würde andernfalls wieder harte Gegenmaßnahmen erzwingen, einfach weil es
nicht tragbar ist, in einer Gesellschaft mit unserem Altersprofil diese Krankheit durchlaufen zu
lassen. Die vergangenen und derzeitigen Maßnahmen stehen daher nicht infrage."
(Christian Drosten)
Bsp.: Wenn in einer Allensbach-Befragung
176
knapp zwei Drittel der Bürger sagen, man müsse heute
"sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert", dann ist das wohl ihre Meinung, ihr Ge-
173
https://magazin.spiegel.de/SP/2020/43/173548967/index.html
174
https://www.spiegel.de/politik/ausland/robert-f-kennedy-jr-nach-anti-corona-demo-ich-habe-angela-
merkel-nie-kritisiert-a-b1788c7e-ea28-4af0-9a7b-d1685dcdf092
175
https://www.zeit.de/wissen/2020-10/christian-drosten-corona-massnahmen-neuinfektionen-herbst-
winter-covid-19/komplettansicht
45
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
fühl (in einigen Fällen sicherlich wie immer nur eine "Meinungsbehauptung"). Diese Meinung kann
auch ein Bundespräsident nicht vom Tisch fegen, indem er macht, was Faktenchecker Patrick Gensing
als Trick kritisiert
177
, "die eigene Weltsicht als Tatsache zu verkaufen", und sagt
178
:
"Die Behauptung, man dürfe in Deutschland seine Meinung nicht (mehr) frei aussprechen, ist ein
längst ausgeleiertes Klischee aus der reaktionären Mottenkiste."
(Frank-Walter Steinmeier)
Bsp.: Ein letztes Beispiel, wie Verständigung nicht gelingen kann, wenn Meinungen, Tatsachen und
'gefühlte Fakten' durcheinandergeworfen werden. In den Blättern des Schleswig-Holsteinischen Zei-
tungsverlags stand am 24. Oktober 2020 über ein Streitgespräch unter dem Titel "Das Virus wirkt wie
ein Beschleuniger"
179
:
"Eine Gewerkschaftsumfrage habe ergeben, dass sich 48 Prozent der Lehrer in Schleswig-
Holstein nicht genügend auf digitalen Unterricht vorbereitet fühlen. Dem widersprach die Mi-
nisterin. Das Ministerium habe 380 von 800 Schulen im Land angefragt und laut der Antwor-
ten seien 70 Prozent gut vorbereitet [...]."
(Norddeutsche Rundschau)
= Sinn der Meinungsvielfalt =
Zur parlamentarischen Parteiendemokratie gehört zwingend die Opposition. Man darf diesen Dua-
lismus für inadäquat halten, um komplexe Probleme zu lösen und Millionen-Gesellschaften gerecht
zu werden, man darf sich eine Demokratiereform wünschen
180
, aber einstweilen geht es nicht ohne
Opposition. Diese Opposition ist keinesfalls aufs Parlament beschränkt. Gerade wenn die Berufspoli-
tiker eine Arbeitspause einlegen (die etwa Demokratieforscher Wolfgang Merkel in einem Podcast
von n-tv für sehr bedenklich hielt
181
), muss Widerspruch der Zivilgesellschaft in den Medien vorkom-
men.
Ein beliebtes Argumentationsmuster gegen publizistische Meinungsvielfalt lautet: Meinungsäuße-
rungsfreiheit bedeute weder, dass es keinen Widerspruch geben dürfe noch, dass es überhaupt ei-
nen Anspruch auf Wahrnehmung gebe. Das ist für den Informationsjournalismus jedoch schlicht
falsch.
182
Zur Information gehört, die verschiedenen Sichtweisen auf Tatsachen abzubilden. Meinungsvielfalt in
den öffentlichen (und privaten) Diskurs zu tragen ist in einer Demokratie zwingend Aufgabe des
Journalismus, und zwar keinesfalls nur als Beitrag zum Minderheitenschutz, sondern auch als Chance
für die jeweilige Mehrheit, die eigene Position zu überdenken, den Horizont zu erweitern, bislang
Unbedachtes zu bedenken, kurz: informierter zu sein und damit verantwortlicher handeln zu können.
176
https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/user_upload/FAZ_Mai2019_Meinungsfreiheit.pdf
177
https://www.bpb.de/apuz/306450/faktum-meinung
178
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-
Steinmeier/Reden/2019/11/191118-Hochschulrektorenkonferenz-HH.html
179
https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/politik/schule-in-zeiten-von-corona-karin-prien-und-
astrid-henke-im-shz-streitgespraech-id30036592.html
180
https://fordemocracy.hypotheses.org/1596
181
https://open.spotify.com/episode/7LQtJSwoZYyG0UyqQtc9Jq
182
https://www.heise.de/tp/features/Meinungsfreiheit-verlangt-journalistisches-Gehoer-4623597.html
46
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Die Notwendigkeit für Meinungsvielfalt im Journalismus kann nur negieren, wer an die gute Herr-
schaft und damit eindeutig richtige politische Entscheidungen glaubt. Für diesen Glauben ist die De-
mokratie allerdings die falsche Kirche, für ihn braucht es den 'guten Diktator', von alters her 'Philoso-
phenkönig' genannt. In einer Demokratie aber sind nicht richtige Entscheidungen das Ziel, sondern
solche mit der größten Zustimmung und zugleich geringsten Beeinträchtigung (ausführlich Rieg
2020a
183
).
Mit der Corona-Politik wurden dann Billionen Euro verschoben, Regierungen bestimmten das Leben
der Bürger über Verordnungen, die weit in die Grundrechte eingreifen, Parlamente stimmten Geset-
zen in Windeseile zu, die nur für den Einzelfall Corona-Pandemie gemacht wurden, föderalistische
Herrschaftsschranken wurden mit Bund-Länder-Absprachen ausgehebelt da sollte man mehr Mei-
nungsvielfalt in den Medien als zu jeder anderen Zeit erwarten.
= Erforderliches Meinungsspektrum =
Für den Journalismus ist selbstverständlich nicht jede Meinung relevant. Wie auch bei der Berichter-
stattung über Tatsachen ist das Selektionskriterium, ob eine bestimmte Position für die Orientierung
hilfreich sein kann. Welche Kriterien für die erste Meinung zu einem Thema gelten, soll hier nicht
theoretisch erörtert werden; wichtiger ist, dass dieser Entscheidung unbedingt die Suche nach der
Gegenposition folgen muss und verschiedenen Positionen dazwischen oder anderswo. Denn ist
eine Meinung publizistisch interessant, dann braucht es für die Orientierung den Widerspruch und
Alternativen; andernfalls ist die Meinung journalistisch belanglos (weil banal, schon lange durchdis-
kutiert oder aus anderen Grünen ohne Informationswert). Während Tanjev Schultz (2020
184
) die
Selektionsaufgabe der Medien auch bei der Meinungsvielfalt betont und mahnt,
"angesichts von Populismus, Desinformation und Verschwörungslegenden müssen die Medien um-
so mehr darauf achten, jene Stimmen zu Gehör zu bringen, die etwas Substanzielles beizutragen
haben",
halte ich die immerwährende Suche nach anderen Meinungen für essentiell. Für eine Meinung ist
konstitutiv, dass es Widerspruch gibt, andere Ansichten, andere Erlebnisse, Sichtweisen der Welt,
andere Prioritäten. Die Orientierungsleistung einer einzelnen publizierten Meinung kann nur im Kon-
trast zur eigenen Meinung bestehen (die freilich bereits fast immer das Ergebnis der Auseinanderset-
zung mit zig anderen Interpretationen, Wünschen und Empfindungen ist). Das kann ausreichend sein,
doch der Journalismus selbst, der hier natürlich stets nur General-Interest-Medien meint, also
News-Medien, die ein Vollprogramm bieten muss Informationsangebote machen, die eine für die
Orientierung notwendige Auseinandersetzung mit dem Thema jedem regelmäßigen Kunden ermögli-
chen. Es genügt nicht, dass irgendwo auch noch andere Ansichten publiziert werden, in 'alternativen
Medien', auf Blogs und in Communitys. Wer journalistisch informieren will, muss die Meinungsviel-
falt abbilden.
Bsp.: Ein Beispiel aus dem von Nachrichtenmedien gerne als konstruktive Ergänzung referierten Ma-
gazin "Perspective Daily", außerhalb von Corona. Im Beitrag "Wie die Schwarze Null unsere Zukunft
zerstört"
185
wird anlässlich der durch die Corona-Politik stark steigenden Staatsschulden die "Modern
Monetary Theory" (MMT) vorgestellt. Tenor: "Staatsschulden? Kein Problem! Im Gegenteil, je mehr
183
https://fordemocracy.hypotheses.org/2765
184
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/ungerechte-medienkritik
185
https://perspective-daily.de/article/1450/wePLraaQ
47
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
wir machen, desto besser geht es uns allen!" Die Gegenposition dazu wird auf zwei Sätze zusammen-
gestaucht, ohne einen Protagonisten, und liest sich so:
"Eine derart revolutionäre Denkweise wie die der MMT ruft natürlich Kritiker:innen auf den
Plan. Sie werfen den Verfechter:innen der Theorie insbesondere vor, die Gefahr einer zu locke-
ren Geldpolitik und der aus ihrer Sicht zwangsläufig folgenden steigenden Inflationsrate zu
verharmlosen. Im schlimmsten Fall könne daraus eine Negativspirale aus Preissteigerungen
und steigendender Arbeitslosigkeit folgen, die schwere Wirtschaftskrisen zur Folge hätte. Dirk
Ehnts [einer der einflussreichsten Verfechter der MMT] hält die möglichen Folgen, die bei der
Anwendung der MMT ins Haus stehen könnten, jedoch für ein grundlegendes Missverständnis
[...]."
(Perspective Daily)
Bsp.: Dass die koordinierte Corona-Politik von Bund und Ländern in den Medien ganz überwiegend
gelobt wird, ist nicht zu beanstanden. Wenn allerdings der Widerspruch fehlt, recherchiert der Jour-
nalismus nicht genug. Wenn dann noch der Widerspruch auf dem Silbertablett u.a. in Form mehrerer
Buch-Bestseller serviert wird, darf man sich über das komplette Ignorieren dieser Sichtweise doch
sehr wundern.
186
(Das Buch zur Metaebene, Wolfgang Kubickis "Meinungsunfreiheit"
187
, sucht man in
den meisten Leitmedien ebenso vergebens.)
Selbst wenn eine bestimmte Meinung sehr, sehr weit verbreitet ist, entbindet das den Journalismus
nicht davon, Widerspruch zu recherchieren. Es geht nicht um Abstimmungen mit Fünf-Prozent-
Hürde, sondern um wechselseitige Erkenntnis.
Bsp.: Einen dogmatischen Klassiker gab es im DLF-Podcast "Nach Redaktionsschluss".
188
Als Grenze
der Meinungsäußerungsfreiheit und damit Gedanke jenseits der im Journalismus abzubildenden
Meinungsvielfalt sahen Redakteurin, Redakteur und Hörer gemeinsam die Forderung nach Wieder-
einführung der Todesstrafe. Das Beispiel ist sattsam bekannt aus jeder Debatte über Plebiszite und es
soll hier keinesfalls diskutiert werden. Aber dass es zurecht ein Tabuthema ist, das verlangt wie dar-
gelegt die Gegenrede.
Dem Diskursverbot liegt die Haltung zugrunde, aus unseren zivilisatorischen Errungenschaften und
ihren Kodifizierungen etwa im Grundgesetz und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
ergebe sich als Tatsache und nicht als verhandelbare Meinung, dass der Staat (als Justiz) einen Men-
schen nicht zur Strafe (oder Prävention) töten dürfe. Klar, sagt der Kriegsdienstverweigerer, deshalb
muss auch die Bundeswehr aufgelöst und die Polizei entwaffnet werden (was übrigens noch bei
"Black Lives Matter" eine legitime Meinung war: defund the police
189
). Deshalb sind Soldaten Mör-
der
190
, sagt der Kriegsdienstverweigerer, insbesondere wenn sie per ferngesteuerter Drohnen, ohne
Gerichtsverfahren mit Todesurteil, Menschen hinrichten.
Klar, sagt auch der Globalisierungskritiker, deshalb verstoßen Teile der Corona-Politik genau gegen
dieses Tötungsverbot, weil sie Leben in unterschiedliche Wertigkeitsgruppen sortieren und der Ge-
sundheit in der 'Ersten Welt' das Sterben in der 'Dritten Welt' unterordnen. Allgemeine Menschen-
186
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/trotzdem-ein-erfolg
187
https://www.westendverlag.de/buch/meinungsunfreiheit/
188
https://castbox.fm/episode/Extreme-Meinungen-auf-dem-Sender---Aushalten-oder-abdrehen--id3241342-
id335317110?country=de
189
https://web.archive.org/web/20200609163249/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/usa-proteste-
polizei-defund-police-100.html
190
https://de.wikisource.org/wiki/Der_bewachte_Kriegsschauplatz
48
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
würde, Gleichheit aller Menschen? Pustekuchen.
Um es wieder abzukürzen: Existierende Meinungen zu ignorieren, die der eigenen Grundüberzeu-
gung zuwiderlaufen, verhindert Orientierung. Die Welt ist meist etwas komplexer, als es Dogmen
glauben machen wollen.
= Die typischen Protagonisten =
Bei politischen Themen begnügt sich der Journalismus in seinem Vielfaltsbemühen meist in der Ver-
lautbarung von Parteien-PR. Zur Regierungspolitik werden dann pflichtschuldig ein, zwei Stimmen
aus der Opposition zitiert. Zu einzelnen Fachthemen kommt auch der jeweilige Lobbyverband als
Vielfaltsgenerator in Betracht. Fragen der inneren Sicherheit darf regelmäßig eine der beiden Polizei-
gewerkschaften kommentieren, für alle Wirtschaftsthemen gibt es Gewerkschaften und Arbeitgeber-
verbände journalistische Meinungshorizonte sind meist gut zu überschauen. Aber schon diese sehr
schematische Vielfalt wird oft genug nicht hergestellt.
Bsp.: Eine Zählung der Corona-Talkshow-Besetzungen vom 26. Februar bis 4. Mai 2020 ergab für
Markus Lanz, Maybrit Illner, Frank Plasberg (Hart aber Fair), Anne Will und Sandra Maischberger bei
insgesamt 59 Sendungen
191
:
"97 Auftritte von Politikern
SPD 42, CDU/CSU 35, FDP 10, Bündnis90/Die Grünen 8, Die Linke 2, AFD 0
Auftritte Regierungsparteien: 77
Auftritte Opposition: 20
Hart aber Fair verzichtet in acht Corona-Sendungen vollständig auf Politiker der Oppositi-
onsparteien im Bundestag."
Unter 97 Politikerauftritten nicht einen einzigen der damals größten Oppositionspartei im Bundestag
zu haben, wird man bei aller Achtung inhaltlicher Auswahlkriterien
192
nicht für Meinungsvielfalt hal-
ten können.
Eine professorale Auswertung kam übrigens zum gleichen Ergebnis (Faas/ Krewel 2021
193
). Von Janu-
ar 2020 bis Juli 2021 wurden 112 Talk-Sendungen mit 611 Gästepositionen ausgewertet. 308 ver-
schiedene Personen kamen zu Wort, davon 208 nur in einer Sendung, die übrigen häufiger:
"Absoluter Spitzenreiter ist dabei Karl Lauterbach, der in 22 Sendungen zu Gast war. Christian
Lindner, Helge Braun, Markus Söder und Olaf Scholz waren in 12 Sendungen zu Gast, Manuela
Schwesig in 11. Mit Christian Lindner kommt dabei nur ein Oppositionspolitiker auf eine zweistelli-
ge Präsenz."
(Faas/ Krewel 2021: 5)
60 % waren Männer, 40 % Frauen. 77 der 308 Gäste waren Wissenschaftler, 67 Politiker und 58 Jour-
nalisten. Die Politiker nahmen über die 112 Sendungen 236 Gästepositionen ein. Davon entfielen 87
auf die SPD (Stichwort: Lauterbach, 79 auf CDU/ CSU, 32 auf die FDP, 23 auf die Grünen und 7 auf die
Linke. Aber wieder nicht ein einziges Mal jemand von der größten Oppositionsfraktion im Bundestag
(AfD). Erstaunlicherweise ist dies der Studie (bzw. der Darstellung erster Ergebnisse) keine Erwäh-
191
http://www.planet-interview.de/blog/analyse-von-talkshows-zu-corona-in-das-erste-und-zdf/51488/
192
http://www.planet-interview.de/blog/antworten-der-redaktionen-maischberger-anne-will-und-hart-fair-
zur-talkshow-analyse/51527/
193
https://www.polsoz.fu-
berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/forschung/Projekte/covid_talkshows/index.html
49
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
nung wert, vielmehr wurde eine Stelle dazu getilgt, nur die dazu gedachte Fußnote blieb erhalten.
194
Auch in einer erweiterten Auswertung der Daten verlieren die Autoren kein Wort darüber (Faas/
Krewel 2022): von 238 Politikerauftritten
195
in den drei Talkshows entfiel kein einziger auf einen AfD-
Politiker, obwohl die Partei mit 12,6 % als drittstärkste Fraktion nach Union (32,9 %) und SPD (20,5 %)
aus der Wahl 2017 herausgegangen war.
Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl beklagt: "Es sind im Übrigen weithin dieselben Exper-
ten, die vor die Kamera geholt werden."
196
Ja, es sind nur wenige Virologen, die als Experten in den
Medien gehandelt werden. Der SPD-Politiker Karl Lauterbach dominierte als Politikvertreter bis zu
seiner Ernennung zum Bundesgesundheitsminister am 8. Dezember 2021 ohne jedes exekutive Man-
dat alles (Markus Lanz räumte ihm gar ein "Weekly Update" ein
197
). Allerdings: zu diesen immer
selben Experten, die Russ-Mohl beklagt, gehören auch die immer selben Medienwissenschaftler, und
auch sie genügen sich wie andere Experten gerne selbst, verzichten weitestgehend auf Verweise zu
und Auseinandersetzungen mit Kollegen. Motto: Experten verkünden Wahrheiten, da gibt es keine
alternativen Meinungen.
Die verschiedenen Parteien, Lobbyverbände oder Wissenschaftsdisziplinen nach irgendeinem Pro-
porz zu berücksichtigen, macht Berichterstattung noch nicht im notwendigen Maße meinungsvielfäl-
tig.
Bsp.: Demonstrationsverbot in Berlin: Der RBB berichtete über den Beginn der gerichtlichen Ausei-
nandersetzung mit einem Statement des Demonstrationsanmelders und acht Kommentaren von
Politikern, bis auf die Linke kommen alle Parteien des Berliner Abgeordnetenhauses zu Wort, die AfD
sogar gleich mit vier Zitatgebern.
198
Da aber ansonsten keine Experten zu Wort kommen, etwa für
Verfassungsrecht und Demokratie, und da auch aus der Zivilgesellschaft niemand etwas beitragen
darf, wird die Kritik am Demonstrationsverbot ausschließlich mit der AfD verknüpft. Mit der realen
Meinungsvielfalt hatte dieser Beitrag nichts zu tun, stattdessen wurde geradezu lehrbuchmäßig Par-
teien-PR publiziert und eine parteipolitische Auseinandersetzung inszeniert (obwohl Demonstratio-
nen nun gerade ein zivilgesellschaftliches Thema sind).
Wenn es derzeit um den Schulbetrieb geht, dann kommen in den Medien Politiker und Lehrer-
Lobbyisten zu Wort
199
, manchmal auch die schwer zu umgehenden Virologen und gelegentlich Eltern-
Lobbyisten. Was aber immer fehlt, sind die vielfältigen Meinungen der Schüler. Die abzubilden wäre
mit einem Halbsatzzitat eines Schülervertreters natürlich längst noch nicht getan.
Der Journalismus handelt Meinungsvielfalt regelmäßig mit einem Pro und Contra beruflicher Mei-
nungsbekunder ab, die so verlässlich ihre Rolle spielen, dass sich jeder mit etwas Erfahrung ihre
194
Sie lautet: "Tino Chrupalla von der AfD war in der Illner-Sendung „Rechts, links, quer – wer profitiert von
Angst und Spaltung?“ vom 3.12.2020, in der es aber um gesellschaftliche Spaltungen im Allgemeinen ging,
weniger um spezifische Corona-Aspekte, weshalb diese Sendung nicht Gegenstand der hier vorliegenden Ana-
lyse ist."
195
Diese absolute Zahl ist im Beitrag nicht angegeben, aber darin werden 39 % der 611 Gästepositionen als mit
Politikern besetzt ausgegeben (Faas/ Krewel 2022: 543).
196
https://www.sueddeutsche.de/medien/russ-mohl-gastbeitrag-corona-panikorchester-1.5075025?
197
https://www.dwdl.de/magazin/77377/karl_lauterbach_bei_lanz_eine_fortsetzungsgeschichte/
198
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/08/reaktionen-verbot-
corona-demonstration-berlin-senat.html
199
https://web.archive.org/web/20201023091225/https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Lehrerverb
aende-fordern-Maskenpflicht-im-Unterricht,corona4914.html
50
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Kommentare auch selbst ausdenken könnte. Was sie sagen, ist immer erwartbar, nie überraschend.
Es sind verlässliche Satzbausteinlieferanten und Talkschauspieler, mit ihnen bekommt man jede Seite
und jede Sendung zu jeder Uhrzeit voll. Nur mit der Meinungsvielfalt in der realen Welt haben diese
Medieninszenierungen nichts zu tun.
Bsp.: Dass es neben den im Bundestag und ggf. noch einzelnen Landtagen vertretenen Parteien wei-
tere Wählergruppierungen gibt, kann man den Medien allenfalls mal kurz vor einer Wahl in Parteien-
checks entnehmen. Aber wer hat zu einem Tierschutzproblem schon mal ein Statement einer der
(mindestens zwei relevanten) Tierschutzparteien in den Hauptnachrichten gesehen? Eine Auswer-
tung der Sendungen Tagesschau (ARD) und heute (ZDF) für das Jahr 2020 fand unter insgesamt 5.032
Politikerauftritten keinen einzigen einer unter "Sonstige" zu rubrizierenden Partei: 38 % kamen von
der CDU, 22 % von der SPD, 9 % von der CSU, 8 % von B90/Grüne, 7 % von der Linken, je 6 % von FDP
und AfD und 3 % galten als parteilos (Krüger/ Müller 2023: 143). Wozu stehen auf Wahlzetteln 20 bis
30 Parteien und Wählervereinigungen, wenn nur sieben davon binnen eines Jahres in den Haupt-
nachrichten mit einer Position vorkommen? (Art. 21 Abs. 1 GG beschränkt sich nicht auf Parlaments-
parteien.)
= Die gesellschaftliche Meinungsvielfalt =
Man darf schon den Grundannahmen in der Corona-Politik widersprechen, und jeder engagierte
Vertreter dieser Politik müsste sich genau dies in den Medien wünschen, weil nur mit der daran an-
schließenden Auseinandersetzung überhaupt eine verantwortungsvolle Meinungsbildung möglich ist.
Wenn die Meinung publiziert wird, für den Schutz vor Covid-19 müsse alles, was irgendwie möglich
ist, getan werden, dann braucht es u.a. die Gegenposition, dass staatlicherseits gar nichts zu tun ist,
eine Naturgewalt quasi zu akzeptieren sei. Eine solche Meinungsvielfalt wurde als "menschenverach-
tend" verbannt, sie soll hier wie alle Meinungen nicht diskutiert werden. Aber das 'gute Argu-
ment' fürchtet die Gegenrede nicht. Nur wenn die gesamte Spannweite der Möglichkeiten diskutiert
wird, sind verantwortungsvolle Entscheidungen bzw. beim zuschauenden Bürger: Meinungen
möglich. Schließlich hat jede geplante Wirkung auch Nebenwirkungen
200
, und erst die Sicht auf die
gesamte mögliche Palette von Handlungsoptionen ermöglicht es, auch die vielen Positionen dazwi-
schen in die Debatte zu bringen. Deshalb im Folgenden nur stichworthaft:
201
Man darf (und durfte vor allem in der Anfangszeit großer Ungewissheit) der Ansicht sein und der
Journalismus hat diese Positionen abzubilden,
- dass es auf der Welt bedrohlichere Probleme gibt als Sars-CoV-2;
- dass einzelne Regelungen undurchdacht, kontraproduktiv, willkürlich, ungerecht sind;
- dass Wirkungen und Nebenwirkungen der Pandemiebekämpfung in keinem guten Verhältnis ste-
hen.
Man darf fragen und darüber öffentlich sinnieren,
- welche Eigeninteressen Regierungen, Parteien, Wissenschaftler, Ärzteverbände, Krankenkassen,
Versicherungen, Pharmaunternehmen etc. in einer solchen Pandemie haben;
- welche Eigeninteressen Medien in ihrer Berichterstattung verfolgen (immerhin arbeiten auch dort
die Menschen nur selten zum Spaß allein);
- wie ein Leben ohne wirksamen Impfstoff aussähe;
200
https://www.vfa-patientenportal.de/arzneimittel/nutzen-und-risiken/kein-medikament-ohne-
nebenwirkungen.html-1
201
Dieser Abschnitt wurde erstmals am 22.11.2020 veröffentlicht.
51
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
- wie ein Leben mit wirksamem Impfstoff aussähe (Selektion zwischen Geimpften und Nichtgeimpf-
ten, Impfpflicht etc.);
- was all die Krisenstäbe den lieben langen Tag tun und wer das Gegengewicht zu diesem katastro-
phischen Eigenleben bildet;
- ob die Verteilung von Sozialleistungen (im weitesten Sinne) zwischen Jungen und Alten gerecht ist;
- welchen Einfluss die sog. 'Eliten'
202
gerade in einer Krisenzeit haben?
Zur Meinungsvielfalt in den Medien gehört, Positionen zu benennen,
- die Maskenkontrollen bedrohlich finden,
- denen private Sicherheitsleute an allen Ecken kein Gefühl von Sicherheit geben;
- die keine Bundeswehr in Gesundheitsämtern wollen.
Es braucht Diskussionen,
- um die Verhältnismäßigkeit aller Detailregelungen und Befugnisse, um Bußgelder und Polizeikom-
petenzen;
- um Grundfragen der Demokratie, der Gewaltenteilung, des Föderalismus;
- um Bürgerbeteiligung, Selbstverantwortung und lokale Entscheidungskompetenzen;
- um einzelfallbezogene Gesetzgebungen.
Es ist nicht gleich Verschwörungsgeschwurbel, wenn jemand darüber nachdenkt,
- ob bei der immensen Genom-Sammlung durch Corona-Tests ein strikter Datenschutz gewährleistet
ist;
- dass Regierungen Fehlentscheidungen vielleicht nicht eingestehen, stattdessen zur Bestätigung
ihrer Sicht in die falsche Richtung weiterlaufen (Stichwort: "Kampf gegen den Terror");
In den Medien müssen auch Menschen vorkommen,
- denen der 'Corona-Gehorsam' Angst macht;
- die eine 'Blockwart-Mentalität' sehen;
- die sich durch die nun seit Monaten allgegenwärtigen Hygienehinweise gehirngewaschen fühlen.
= Label Verschwörungstheoretiker =
Zum in den Medien weit verbreiteten Label von Personen(gruppen) als "Verschwörungstheoretiker"
sei Andreas Anton zitiert, u.a. Mit-Herausgeber des Sammelbands "Konspiration Soziologie des
Verschwörungsdenkens" (2024):
>Der Begriff 'Verschwörungstheorie' (oder wie es heute gerne heißt: 'Verschwörungserzäh-
lung' oder 'Verschwörungsmythos') ist mehr denn je ein Kampfbegriff, der häufig genutzt
wird, um Meinungen oder Personen zu diskreditieren. Angesichts der Tatsache, dass es reale
Verschwörungen gibt und Verschwörungstheorien damit selbstverständlich auch wahr sein
können, ist der Vorwurf, dass jemand ein 'Verschwörungstheoretiker' sei, an sich vollkommen
inhaltsleer. Verschwörungstheorien können plausibel sein oder eben nicht. Pauschalurteile
verbieten sich hier. Wir verwenden in unseren soziologischen Analysen zu Verschwörungsthe-
orien eine neutrale Begriffsdefinition. Eine Verschwörungstheorie ist für uns schlicht ein Erklä-
rungsansatz, der aktuelle oder historische Zustände oder Ereignisse als Ergebnis einer Ver-
schwörung interpretiert. Nicht mehr und nicht weniger. Wir setzen der landläufigen negativen
Konnotation des Begriffs für die wissenschaftliche Diskussion also ein neutrales Begriffsver-
ständnis gegenüber, das keine generellen Aussagen über die Plausibilität oder den Wahr-
heitsgehalt verschwörungstheoretischer Deutungen macht. Das wird leider oft missverstan-
202
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Elitesoziologie&oldid=231623030
52
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
den. Jemanden mit Bezug auf unsere Arbeiten als 'Verschwörungstheoretiker' zu bezeichnen
und damit für unseriös erklären zu wollen, ist also einigermaßen absurd.<
203
= Die reale Meinungseinfalt =
Es gibt viele Meinungen, die es nicht in die Medien schaffen. Oder die zumindest nicht aktiv von je-
mandem vertreten werden dürfen, sondern die allenfalls in einem Nebensatz als "abstruse The-
sen"
204
, als "Geschwurbel"
205
o.ä. abgetan werden. Schon bei der Diskussion um Grenzen der Mei-
nungsvielfalt fehlt die Vielfalt.
Bsp.: In der Deutschlandradio-Sendung "Breitband" wird die staatliche wie private Regulierung von
Meinungsäußerungen im Netz insofern unkritisch behandelt, als die grundsätzliche Notwendigkeit
von Grenzen mit keinem Wort, mit keinem Zitat, mit keiner referierten Position in Frage gestellt wird,
obwohl es diese Antipode zwingend für den Diskurs braucht.
206
Bsp.: Der WDR hat zusammen mit der Ärztekammer Nordrhein zu Corona "hochgefährliche" Aussa-
gen identifiziert. 17 Fälle seien der Ärztekammer bekannt, "in denen Mediziner das Coronavirus ver-
harmlosen oder gar leugnen."
207
Wenn "der (Haus-)Arzt die Gefahr durch das Coronavirus herunter-
spielt oder gar leugnet", sollte es der Ärztebehörde gemeldet werden. Denn Leugnen wie Herunter-
spielen sind wahrheitswidriger Umgang mit Tatsachen. Dafür droht laut WDR-Bericht "eine Rüge [...]
oder etwa eine empfindliche Geldstrafe". Da möchte man als Freund der Aufklärung doch wissen,
was die faktische, unbestreitbare, wertungsfreie Gefahr von Sars-Cov-2 ist. Mit welcher Äußerung
über Corona verstößt ein Arzt gegen den "anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse"? Bei
welchem Rat an den Ratsuchenden muss der Mediziner, der ohne jegliche Beanstandung die Quack-
salberei
208
der Homöopathie betreiben darf, mit einer Inquisition seiner eigenen Standesvertretung
rechnen? Die Ärztekammer Nordrhein verweist auf Anfrage nach den konkreten Werten, ab denen
ein "Herunterspielen" gegeben sei, schmallippig auf einen Artikel in der Medical Tribune.
209
Und
"geleugnet" habe Corona kein Arzt, "das haben wir auch nicht kommuniziert", teilt Sabine Schindler-
Marlow von der Pressestelle mit woher auch immer der WDR das Leugnen dann hat.
Und wie definiert der WDR kraft seiner Recherchen sanktionswürdiges Verharmlosen? Wo liegt die
203
https://multipolar-magazin.de/artikel/rki-protokolle-4
204
https://www.deutschlandfunkkultur.de/covid-19-verschwoerungsfilm-hold-up-abstruse-thesen-in-100.html
205
https://taz.de/Hamburger-Musikklub-steuert-um/!5872100/
206
https://www.deutschlandfunkkultur.de/breitband-sendungsueberblick-monopole-in-der-tech-
branche.1264.de.html?dram:article_id=486716
207
https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/aerzte-coronavirus-verharmlosen-leugnen-folgen-
102.html
208
Erwartungsgemäß haben mich zu diesem Begriff Protestnoten erreicht. Homöopathie wirkt natürlich im
Rahmen des Placebo-Effekts und damit soll jeder, der kann und mag, glücklich werden. Meine Bezeichnung
sei als Wertung gelesen. Vgl. aktuell z.B. Gerald Gartlehner et. al.: Assessing the magnitude of reporting bias in
trials of homeopathy A cross-sectional study and metaanalysis. In: BMJ Evidence Based Medicine.
https://doi.org/10.1136//bmjebm-2021-111846 Zum "Nocebo"-Effekt von Impfungen wie der gegen Covid-19
siehe Julia W. Haas/ Friederike L. Bender/ Sarah Ballou et al.: Frequency of Adverse Events in the Placebo Arms
of COVID-19 Vaccine Trials A Systematic Review and Meta-analysis, in: JAMA Netw Open.
2022;5(1):e2143955, https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2021.43955
209
https://www.medical-tribune.de/meinung-und-dialog/artikel/wenn-aerzte-von-der-coronakrise-als-einer-
kriminellen-inszenierung-sprechen/
53
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
objektiv messbare und damit nicht der Meinungsvielfalt anheimgestellte Gefahrenstufe, die im Arti-
kel nicht erwähnt wird? Mit welcher Meinung ist man noch im grünen Bereich, wo wird's kritisch?
Nicolas Parman vom "Pressedesk" antwortet ähnlich engagiert wie die Ärztekammer: "Wir haben mit
der Redaktion gesprochen. Die Begrifflichkeiten 'verharmlosen' bzw. 'leugnen' sind Bestandteil des
allgemeinen Sprachgebrauchs."
Einschätzungen der Corona-Gefahr, die keine Meinungen sind, sondern falsche Tatsachenbehaup-
tungen, wobei die wahren Tatsachen im Verborgenen bleiben? Oder doch schlicht Diskriminierung
Andersdenkender? Mit etwas Interesse hätte der WDR das wohl (er-)klären können.
Bsp.: Ein Bericht der Berliner Zeitung vom 12. November 2020 zum gleichen Thema macht es nicht
besser.
210
Die populäre Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat kurz nach Verleihung des Bundes-
verdienstkreuzes eine "Qualitätskontrolle der Wissenschaftskommunikation" gefordert und als Me-
dienkritik formuliert: "Wir Journalisten müssen besser darin werden, vernünftigen Stimmen mehr
Aufmerksamkeit zu geben."
211
Bsp.: Wie es aussieht, wenn irgendwo eine 'unvernünftige' Stimme zu Wort kam, zeigt ein Hinweis im
Bildblog sehr exemplarisch:
>Vergangene Woche hatten MDR und hr-Info den emeritierten Epidemiologen Sucharit Bhak-
di unhinterfragt in einem Interview zur Corona-Pandemie zu Wort kommen lassen, obwohl
hinlänglich bekannt ist, dass sich Bhakdi außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses be-
wegt.<
212
Bsp.: Abweichende Meinungen können sogar von Behörden geahndet werden
213
und der Aufschrei
des Journalismus bleibt aus. Die Bayerische Landeszentrale für Neue Medien schrieb an Radio Mün-
chen (Auszug, die Echtheit wurde von Pressesprecherin Stefanie Reger bestätigt):
"[...] am 27. und 30. März 2020 erreichten die Landeszentrale mehrere Beschwerden zum Pro-
gramm von Radio München. Darin kritisieren die Beschwerdeführer das von Ihnen geführte Inter-
view mit Dr. Wodarg am 26.03.2020 über das Thema Covid 19. Die Landeszentrale hat das bean-
standete Interview sowie zusätzlich die beiden der „Corona-Reihe“ zugehörigen Interviews mit
Prof. Karin Mölling und Prof. Stefan W. Hockertz geprüft.
Die Landeszentrale kommt zu dem Ergebnis, dass das Interview zwar keine Verletzung der Pro-
grammgrundsätze nach § 5 BayMG und 41 RStV darstellt, es aber den notwendigen Umgang mit
der journalistischen Sorgfaltspflicht stark vermissen lässt.
Begründet wird diese Einschätzung zum einen mit der Auswahl der Talkgäste der „Corona-Reihe“,
die als kritisch gegenüber den aktuellen Entscheidungen der Bunderegierung aufgefasst werden
kann. Zwar ist die Auswahl der Interviewgeber eine eigenverantwortliche redaktionelle Entschei-
dung, allerdings ist gerade bei medizinischen Themen die journalistische Sorgfaltspflicht besonders
zu beachten. [...]
Die Landeszentrale sieht von einer förmlichen Beanstandung ab, aber weist abschließend jedoch
210
https://web.archive.org/web/20201113073354/https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/mit-
attest-gegen-maskenpflicht-li.118431
211
https://youtu.be/Nn2rJrKwENI
212
https://bildblog.de/124784/reizdarm-pro-reagiert-gereizt-wenig-reizende-fragen-grosse-gereiztheit/
213
https://mmm.verdi.de/medienpolitik/radio-muenchen-wegen-kritik-gemassregelt-65941
54
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ausdrücklich auf eine nachhaltige Beachtung der Programmgrundsätze hin, insbesondere der Ein-
haltung der journalistischen Sorgfaltspflicht, damit derartige problematische Sendungen zukünftig
ausbleiben."
(Bayerische Landeszentrale für Neue Medien, BLM)
= Schroeder und die Meinungsfreiheit =
Bsp.: Ein Lehrbuchbeispiel für mangelnde Meinungsvielfalt ist der Fall "Schroeder und Querden-
ken".
214
Der Kabarettist, Moderator, Autor, Redner
215
Florian Schroeder hatte am 8. August 2020 eine
zehnminütige Rede auf einer Stuttgarter "Querdenken"-Demonstration gehalten. In den Nachrich-
tenmedien fand diese Nummer großen Beifall. So schrieb etwa ZEIT nicht nur parteiisch, sondern
schlicht falsch:
>Der Kabarettist Florian Schroeder hat in Stuttgart versucht, mit Anti-Corona-
Demonstrierenden über Meinungsfreiheit zu diskutieren. Mit bescheidenem Erfolg.<
216
Wie beim Qualitätskriterium Richtigkeit ausgeführt, könnte schon eine Quellenangabe solche Fehler
vermeiden, hier also das Video vom Auftritt
217
mit der exakten Stelle, an der Schroeder versucht
haben soll, mit den Demonstranten zu diskutieren (wozu es schon technisch eines großen Künstlers
bedurft hätte). Statt einer Diskussion gab es einen Monolog, in dem Schroeder nicht nur die Mei-
nungsäußerungsfreiheit hochhielt, sondern auch Wohlwollen für seinen aus Teilnehmersicht natür-
lich deplatzierten Auftritt verlangte:
>Wenn ihr für Meinungsfreiheit seid, müsst ihr meine Meinung aushalten. Wenn ihr Demokraten
seid, haltet ihr meine Meinung aus, ohne zu buhen, liebe Freundinnen und Freunde.<
(Florian Schroeder)
Die Medien goutierten diesen Auftritt Schroeders mit reichlich Aufmerksamkeit. Flächendeckend war
er wenigstens eine Meldung wert. In zahlreichen Interviews durfte Schroeder seine 10-Minuten-Rede
weiter erläutern, quer durch die ARD-Anstalten wurde Hochachtung gezollt (z.B. ZAPP
218
, Extra3
219
,
SWR
220
). Die "Diskussion" verlief dabei weiterhin ohne Diskussionspartner, Kritiker der Corona-Politik
kamen nicht zu Wort, es genügte, über sie zu sprechen.
Zweieinhalb Monate später, anderes Setting, aber exakt gleiches Medienverhalten: Michael Ballweg,
Initiator von "Querdenken 711" in Stuttgart, ist Gast bei Florian Schroeder, auch für 10 Minuten wie
zuvor Schroeder in Stuttgart, mit dem Unterschied, dass Ballweg nicht monologisieren darf, sondern
scharfe Vorwürfe von Schroeder parieren muss.
221
Um den Sinn der Corona-Politik oder das Anliegen
214
Extra3 Hintergrund https://youtu.be/dN84ruI0Yx8
215
https://www.florian-schroeder.com
216
https://www.zeit.de/kultur/film/2020-08/florian-schroeder-auftritt-querdenken-demo-stuttgart
217
https://web.archive.org/web/20200809075642/https://www.youtube.com/watch?v=Ldsj0_bmWpg
218
https://www.ardmediathek.de/video/zapp/florian-schroeder-bei-querdenken/ndr-
fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS9iMzAxNDZhZi0wNGJkLTRjMTMtYTVlMS0yMzgyZmI0YjI2ZDU
219
https://www.facebook.com/watch/?v=586734741975889
220
https://web.archive.org/web/20200902235247/https://www.swr3.de/aktuell/nachrichten/florian-
schroeder-bei-querdenken-demo-in-stuttgart-100.html
221
https://youtu.be/NgLk_ghWGlo?t=1105
55
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
der Protestbewegung ging es dabei gar nicht. Auch dieser Auftritt fand ein gewisses mediales Inte-
resse, und wieder galt es Schroeder, der sich in Interviews über Ballweg äußern durfte.
222
Schroeder
über Corona-Politik, Schroeder über Corona-Politik-Gegner, Schroeder über alles das ist die Mei-
nungsvielfalt.
Dass so viel Schroeder pur auch dem Schroeder nicht guttut, zeigte sich, als dieser bei einer De-
monstration der Kulturbranche mit etwa 4.000 Teilnehmern witzelte, Politik und ARD-Brennpunkt
interessierten sich erst, wenn drei Leute von Querdenken versuchen, eine Menschenkette um den
Bodensee zu bilden
223
(wo laut Polizei aber 11.000 Demonstranten waren und wozu es natürlich
keinen Brennpunkt gab).
224
= Kritikfunktion der Medien =
Der Presse kommt in demokratischen Konzepten wesentlich die Aufgabe der Politikkritik zu. Dabei
liegt der Fokus verständlicherweise auf denen, die Macht über die Mitglieder des Souveräns haben,
da sie diese nach demokratischem Verständnis nur im Auftrag der Bürger und maximal bis auf Wider-
ruf ausüben dürfen. Grundsätzlich muss öffentliche Kritik aber alle gesellschaftlich relevanten Akteu-
re begleiten, bspw. auch Oppositionsparteien, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Ein unter Journa-
listen weit verbreitetes und gut gepflegtes Missverständnis ist dabei, demokratisch relevante Kritik
müsse ausschließlich oder wenigstens überwiegend aus dem Journalismus selbst kommen. Journalis-
ten als die für die öffentliche Kritik Zuständigen, dem entspricht der irritierend falsche Begriff von der
Presse als "Vierte Gewalt" (neben Parlament, Regierung und Gerichtswesen).
225
Die eigene Meinung ist das gratis gelieferte Werkzeug, Anstoß an anderslautenden Positionen zu
nehmen; damit kann jeder kritisieren. Journalistische Arbeit wird es aber erst, wenn man nach Wi-
derspruch zu dem sucht, was einem selbst gefällt und einleuchtet. Die Kritikfunktion der Medien
erschöpft sich nicht darin, dem Weltgeschehen stets die eigene Meinung hinzuzugesellen. Journalis-
mus wird es, wenn der Widerspruch recherchiert und publiziert wird. Die Selbstkritik mangelnder
Diversität in den Redaktionen wird nicht obsolet, wenn diese ethnisch der Bevölkerung entsprechen.
Denn Journalisten gleich welcher Herkunft, sexuellen Orientierung o.ä. werden immer eine bestimm-
te soziale Schicht bilden, mit einem bestimmten Bildungsniveau, Einkommen, Lebensstil etc. Journa-
listen können auf keinen Fall die demokratisch notwendige Meinungsvielfalt aus sich selbst heraus
bilden, sie müssen Meinungen, die nicht ihre eigenen sind, recherchieren und in ihre publizistischen
Auseinandersetzungen eintragen.
Wer für das medizinische Personal klatscht und PR-Begriffe wie "Alltagshelden" übernimmt, ist auf
dem kritischen Auge für den Moment eben blind, sieht nicht, was alles schief läuft in den Kranken-
häusern, wie viel Leid täglich durch Fehldiagnosen, Gewinninteresse, fachliche und soziale Unfähig-
keiten an diesen Orten des Kampfes für das Leben verursacht wird. Im Krankenhaus starben 2020
222
https://www.welt.de/vermischtes/plus218376474/Florian-Schroeder-Warum-Querdenken-Gruender-
Ballweg-zu-Gast-im-Ersten-ist.html
223
https://web.archive.org/web/20201003070855/https://www.swr.de/swraktuell/baden-
wuerttemberg/friedrichshafen/anti-corona-demos-und-gegendemos-in-konstanz-100.html
224
https://youtu.be/lVYu3jF8BSQ?t=76
225
beispielhaft für das große Missverständnis eine Folge von "Medien Cross und Quer"
https://web.archive.org/web/20201128112131/https://www.sr.de/sr/sr2/sendungen_a-
z/uebersicht/medienwelt/20201107_medien_cross_und_quer_sendung_100.html oder
https://castbox.fm/vb/323306451 Siehe zur Kritik am Begriff "Vierte Gewalt" auch schon Glotz/ Langenbucher
1969: 30.
56
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
deutlich mehr Menschen durch Behandlungen (nur eines der vielen Stichworte: Nosokomiale Infekti-
onen
226
) als an Covid-19.
227
Aber Journalisten vertrauen Ärzten und Pflegern, so wie sie bis auf weni-
ge Ausnahmen (z.B. Rassismus) der Polizei vertrauen und deren Sichtweisen ungeprüft verbreiten.
228
r wie wichtig in den Medien publizierte Kritik gehalten wird, zeigen zahlreiche Personeneinträge
auf Wikipedia. Wer in der Enzyklopädie vertreten ist und auch nur einmal zu einem einzigen Thema
medienvermittelter Kritik ausgesetzt war, bekommt dort einen eigenen Abschnitt, der schnell alles
andere dominiert. Kritik wird wie ein absolutes Urteil behandelt, unbescholten ist demnach nur, wer
unkritisiert bleibt eine fatale Verengung.
= Meinungseinfalt aus gutem Grund? =
Es dürfte im Moment hinreichend belegt sein, dass es um die Meinungsvielfalt in der Corona-
Berichterstattung nicht optimal bestellt ist (Eisenegger/ Oehmer/ Udris/ Vogler 2020; Maurer/ Rei-
nemann/ Kruschinski 2021: 57; Faas/ Krewel 2021). Und es gibt von verschiedenen Seiten und Diszip-
linen auch Begründungen, die keine Entschuldigungen sind, sondern Rechtfertigungen. Die stärkste
und grundlegendste geht davon aus, dass es eine faktisch richtige Politik gibt, über die die Politik
selbst entscheidet. Dann muss jede Alternative falsch sein, mindestens weniger gut, und es ist über-
flüssig, dass sich die Bürger als Regierte den Kopf über Regierungspolitik zerbrechen. In diese Rich-
tung haben zu Beginn der Corona-Pandemie Medienwissenschaftler argumentiert. Vinzenz Wyss
sagte in einem Interview:
>Die eher unkritische Berichterstattung der ersten Phase halte ich für angebracht. Es ging ja
primär darum, angesichts der Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus in kurzer Zeit einen Kol-
laps des Gesundheitssystems zu vermeiden. Stimmen von Skeptikern verwirren da nur und
tragen in dieser Phase nichts zur Lösung dieses Problems bei.<
229
Medienethikerin Marlis Prinzing schrieb:
>Die Anfangsphase der Berichterstattung über Corona in Deutschland lässt sich verantwor-
tungsethisch rechtfertigen. Man kann argumentieren, dass die sie prägende Zurückhaltung
bis hin zu einer Art Hofberichterstattung den Zweck haben konnte, nicht verantwortlich zu
sein für die Folgen (mehr Infizierte!), die es auslösen könnte, z.B. Maßnahmen zur Sozialdis-
tanz anzuzweifeln. Die gesinnungsethische Selbstverpflichtung auf eine kritische Haltung ist
übrigens nicht gleichzusetzen damit, allem und jedem einfach aus Prinzip zu widerspre-
chen.<
230
Eine andere Begründung für begrenzte Meinungsvielfalt geht davon aus, dass es zwar Streitpunkte
für die Demokratie gibt, der Diskursraum jedoch (im Hinblick auf eine gute Politik) von Journalisten
bestimmt werden sollte. Dann wird Abweichendes schlicht als "Kokolores" (David Schraven, Correc-
tiv
231
) abqualifiziert. Für die Frankfurter Rundschau erklärte Wissenschaftsredakteurin Pamela Dörhö-
226
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/IfSG/Nosokomiale_Infektionen/nosokomiale_infektionen_node.html
227
Wobei Behandlungsfehler bei Covid-19 bisher gar nicht verlässlich abgeschätzt sind.
228
siehe https://www.spiegelkritik.de/2019/06/14/recherche-bei-polizeimeldungen/
229
https://blog.zhaw.ch/languagematters/2020/04/02/die-rolle-des-journalismus-in-der-corona-krise/
230
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-krisenbeobachter-journalismus-waehrend-der-corona-
pandemie
231
http://www.planet-interview.de/interviews/david-schraven/51884/
57
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
fer, Menschen könnten sich mit ihren Meinungen als Gesprächspartner diskreditieren, "weil sie in
bestimmten 'alternativen Medien' auftreten und Leuten Interviews geben, die Verschwörungsmy-
then verbreiten", sie also gegen eine ungeschriebene Etikette als Zutrittsschwelle verstoßen.
232
Bsp.: Journalistin Carolin Emcke vertrat auf der Konferenz re:publica 2024 die Position, es dürfe im
öffentlichen Raum nicht zu allem ein Pro oder Contra geben.
>Ich würde wirklich dazu aufrufen, dass niemand, der eingeladen wird in einer Rahmung, die 'Pro
und Contra' heißt, teilzunehmen. Ich würde wirklich inständig darum bitten. Es muss aufhören.
[...] Es wird uns beständig vorgemacht, es gäbe zu allen Fragen gleichermaßen wertige, gleich-
ermaßen vernünftige, einander widersprechende Positionen. Das ist, mit Verlaub, einfach Bulls-
hit.<
233
6 Repräsentativität
Bei allem Bemühen um Vollständigkeit (Kap.4) muss Journalismus immer selektieren. Sowohl bei
Themen für Beiträge, als auch bei deren Inhalten ist eine deutliche Reduktion gegenüber Vielfalt und
Komplexität der Welt notwendig. Aber: Wenn die Qualität von Journalismus in seiner Orientierungs-
leistung liegen soll, dann darf die Auswahl von Themen, Gesichtspunkten, Meinungen und Protago-
nisten natürlich nicht willkürlich sein. Mit dem Bemühen um Repräsentativität soll verzerrender Zu-
fälligkeit auf der einen und (parteilicher) Einseitigkeit auf der anderen Seite entgegengewirkt werden.
Dabei sind hier wie bei zahlreichen anderen Qualitätskriterien vier Betrachtungsebenen zu unter-
scheiden (Kap 1: Qualitätsmessung). Für den einzelnen Beitrag betrifft das Qualitätskriterium Reprä-
sentativität einerseits das Thema, andererseits dessen Aufarbeitung, also die einzelnen Aussagen
dazu.
Auch wenn journalistische Repräsentativität gelegentlich als "Realitätsabbild" übersetzt wird, müssen
die Medien natürlich nicht 'die Welt, so wie sie ist' abbilden das wäre reichlich langweilig und wür-
de gerade nicht zur Orientierung beitragen, weil sehr viel Belangloses neben Wichtigem stünde. Re-
präsentativität bezieht sich auf die jeweils vom Journalismus für relevant gehaltenen Themen, also
meist Ereignisse und Probleme. Dabei sorgt der Journalismus allerdings für eine schon lange bekann-
te Verzerrung, weil er Nachrichten nicht nach ihrem Orientierungswert für die Kunden, sondern nach
ihrem Vermarktungswert auswählt. Während bspw. die Gefahr für Frauen, von ihrem (Ex-) Partner
getötet zu werden, ungleich höher ist als die, Opfer einer Amokfahrt zu werden, wird über die erste
Situation überregional äußerst selten berichtet (abgesehen von summarischen Beschreibungen
234
),
über die zweite hingegen immer, bis hin zur belanglosen Schlagzeile "Merkel zeigt sich traurig über
Tat von Trier".
235
232
https://www.fr.de/politik/wissenschaft-mit-lichtgeschwindigkeit-90076388.html
233
https://www.youtube.com/watch?v=IEbWnXIexNk (ab Minute 33); kritisch dazu Bernd Stegemann, Cicero:
https://www.cicero.de/kultur/republica-aufritt-von-carolin-emcke-predigerin-der-einzigen-wahrheit
234
https://www.morgenweb.de/mannheimer-morgen_artikel,-vermischtes-117-frauen-vom-partner-getoetet-
_arid,1714784.html
235
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/trier-reaktionen-auf-amokfahrt-es-ist-der-schwaerzeste-tag-der-
stadt-trier-nach-dem-zweiten-weltkrieg-a-504caeba-f0ac-45ee-99ba-243d75ad90fa
58
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Themenauswahl =
Bsp.: Unzählige Berichte
236
und Reportagen
237
von der Behandlung an Covid-19 Erkrankter verzerren
die Realität, weil sie keine Einordnung zur Repräsentativität leisten. Ausgewählte Einzelschicksale
238
sind nicht repräsentativ für Covid-19, eine überlastete Intensivstation ist nicht repräsentativ für die
Intensivstationen des Landes. Jeder neue "Corona-Hotspot" wird als brisante Situation vermeldet,
doch wenn die Katastrophe ausbleibt oder schlicht die kurzfristig hohen Zahlen wieder gesunken
sind, interessiert sich der Medientross nicht mehr. Die nicht-repräsentativen Einzelfälle wirken wie
Grafiken, die alle Corona-Fälle aufaddieren und daher zwangsläufig einen immer größeren 'Problem-
berg' anzeigen.
Wie es für statistische Zahlen die Einordnung gefordert wird (z.B. von Michael Meyen
239
), so müssen
selbstverständlich auch andere Informationen eingeordnet werden (vgl. Kap. 5).
SARS-CoV-2 ist nicht repräsentativ dafür, auf der Intensivstation einer Klinik zu landen. Da über das
Innenleben von Krankenhäusern in den Medien sonst praktisch nie berichtet wird, auch nicht im
Lokalen, entstehen durch solche Einzelberichte
240
unzutreffende Vorstellungen vom Alltag im Hospi-
tal, der Belastung des Personals oder vom Risiko einer schweren Erkrankung.
Das öffentliche Klatschen im März 2020 "für Pflegepersonal und Ärzte [...], die ohne Pause gegen den
Coronavirus im Einsatz sind"
241
gab Zeugnis davon. Zur Erinnerung: Statt Überlastung gab es Kurzar-
beit, in vielen Krankenhäusern musste das Personal Zeit totschlagen, weil Betten prophylaktisch frei-
gehalten wurden.
Bsp.: Entgegen aller Evidenz wurde in den Medien immer wieder betont, Kinder und Jugendliche
seien keinesfalls sicher vor schweren Covid-19-Erkrankungen. Die Botschaft: Es kann jeden treffen.
242
Diese Behauptung ist ein fester Bestandteil der Berichterstattung. Aufgrund der allgemeinen Nach-
richtenflut zu Corona insgesamt und den vielen medial aufbereiteten Einzelschicksalen
243
im Beson-
deren, hatten viele Eltern Angst um ihre Kinder, die sie in der Schule einer Erkrankungsgefahr ausge-
setzt sahen. Ein zusätzliches Risiko ist selbstverständlich nicht dadurch zu nivellieren, indem auf an-
dere, größere Risiken verwiesen wird; doch repräsentativ ist die journalistische Thematisierung des
Gefahrenorts Schule eben auch nicht (ausf. Weitze 2023: 97ff). Bis zum 1. Dezember 2020 waren in
Deutschland zehn Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren an oder mit Corona gestorben
244
, und
236
https://www.mdr.de/wissen/so-funktioniert-beatmung-intensivstation-corona-100.html
237
https://www.geo.de/wissen/gesundheit/23067-rtkl-pandemie-um-leben-und-tod-aus-dem-inneren-einer-
corona-klinik
238
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/corona-ueberlebenskampf-eines-tagesspiegel-
redakteurs-ein-zweites-mal-diese-tortur-das-wuerde-ich-nicht-schaffen/26222964.html
239
https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/kritik-an-
corona-massnahmen-muss-moeglich-sein.html#topPosition
240
https://www.oberhessen-live.de/2020/04/29/truegerische-stille
241
https://web.archive.org/web/20200319090445/https://www.tagesschau.de/inland/corona-dank-helfer-
101.html
242
https://rp-online.de/panorama/coronavirus/coronavirus-auch-junge-corona-patienten-landen-auf-der-
intensivstation_aid-49680769
243
https://www.rnd.de/politik/jugendlicher-stirbt-an-corona-usa-wegen-coronavirus-fall-in-kalifornien-
alarmiert-HGM5PPLMRRHUXGBRWUFTAHACKM.html
244
https://web.archive.org/web/20201206081748/https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1104173/umf
rage/todesfaelle-aufgrund-des-coronavirus-in-deutschland-nach-geschlecht/ Laut Survey der Deutschen Gesell-
59
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
dieses geringe Sterberisiko ist nach allem, was wir bisher wissen, keineswegs gleichverteilt (denn, um
es mal salopp zu sagen: ob jemand an einer Krankheit stirbt oder sie mehr oder weniger unbeschadet
übersteht, ist eben kein Zufall, sondern von der Konstellation abhängig, u.a. sowie entscheidend
eben der individuellen Disposition). Ungefähr ebenso viele sterben aber jedes Jahr in Kita und Schule,
etwa 30 weitere auf dem Weg von und zur Schule. Im Jahr 2017 wurden dort zudem 659 Kinder und
Jugendliche so schwer verletzt, dass ihnen eine Schülerunfallrente zustand (Quelle: Deutsche Gesetz-
liche Unfallversicherung
245
). Nehmen wir noch die allgemeine Sterbetafel
246
dazu, wird klar: Das Le-
ben ist für Kinder und Jugendliche insgesamt deutlich gefährlicher als der Spezialfall Corona. Man
kann das eine nicht mit dem anderen verrechnen, aber eine nicht-repräsentative Berichterstattung
begünstigt nicht-realistische Risikoeinschätzungen. Um ein bekanntes Beispiel zu nennen: Viele Men-
schen haben Angst, nachts allein durch einen mondhellen Wald zu laufen oder auch nur in den eige-
nen Keller zu gehen, aber sie haben keine Angst, sich in ein Auto zu setzen, auf eine Leiter zu steigen
oder Sport zu machen. Befragungen zeigen immer wieder eine völlig irrationale Angst, Opfer eines
Terroranschlags zu werden.
247
Die Berichterstattung führt hier also nicht zu einer realistischen Welt-
wahrnehmung.
Wie natürlich die gesamte Berichterstattung während der Pandemie (Ebene vier: Mediensystem)
nicht repräsentativ war für die Themen im Land. Die extreme Fokussierung
248
auf Corona ist in einem
entsprechenden Fachblatt in Ordnung, oder eben in den Spezialsendungen. Aber in General-Interest-
Medien stellt diese völlig unrepräsentative Monothematisierung eine Desorientierung dar.
249
Im
Radiomagazin "Medien Cross und Quer" empörte sich Redakteur Kai Schmieding (in seiner Rolle als
provozierender Konterpart) über die vom emeritierten Journalistik-Professor Stephan Russ-Mohl
vertretene These
250
, die Medien hätten die Regierungen mit ihrer Berichterstattung vor sich herge-
trieben.
251
Doch unabhängig von den konkreten Inhalten und Positionen kann man annehmen, dass
nach allen Regeln der öffentlichen Aufmerksamkeit allein die Gewichtung von Corona zunächst zu
politischen Stellungnahmen und dann auch zu politischen Entscheidungen beigetragen hat. Wer in
den Medien noch vorkommen wollte, musste 'was mit Corona' anbieten. Auch in außer-medialen
Bereichen wurde, wo es möglich war, auf Corona fokussiert, allen voran in der Forschung: Keine Fra-
gestellung erschien zu abseitig, um sie nicht mit Corona in Verbindung bringen zu können. Natürlich
ist die Pandemie extrem relevant; aber die Nachrichtenauswahl (bzw. ihre Entstehung, Stichwort:
Recherche) war eben auch unter dem Gesichtspunkt "news is what's different" monatelang nicht
repräsentativ, hat genau damit aber immer weiter zur tatsächlichen gesellschaftlichen Dominanz des
schaft für Pädiatrische Infektiologie gab es bis 13.02.2022 156 Kinder und Jugendliche auf Intensivstation und
21 Corona-Todesfälle (0 bis 17 Jahre): https://dgpi.de/todesfaelle-hospitalisierte-kindern-sarscov2-02-2022/
245
https://www.schulsport-nrw.de/fileadmin/user_upload/DGUV_Unfallstatistik_2017.pdf
246
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-
Lebenserwartung/_inhalt.html#sprg234180
247
https://www.ruv.de/newsroom/infocenter/ruv-aengste-der-deutschen-2017-ergebnisse hier:
https://www.n-tv.de/panorama/Terror-ist-die-groesste-Angst-der-Deutschen-article20284812.html
248
https://www.pressemonitor.de/blog/corona-in-den-medien
249
Schöne Visualisierungen zur Zunahme des Berichterstattungsanteils am Beispiel der ZEIT gibt es unter
https://lab.laesser.net/coronazeit/ (vgl. dazu Brost/ Pörksen 2020)
250
https://www.sueddeutsche.de/medien/russ-mohl-gastbeitrag-corona-panikorchester-1.5075025
251
https://web.archive.org/web/20201222120830/https://www.sr.de/sr/sr2/sendungen_a-
z/uebersicht/medienwelt/20201128_medien_cross_und_quer_sendung_100.html
60
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Themas beigetragen. Unter anderem das wichtige Thema Klimawandel bzw. Erderhitzung wurde
völlig zurückgedrängt, obwohl sich an seiner Relevanz nichts geändert hatte.
252
252
https://kress.de/news/detail/beitrag/146049-exklusiv-die-meistzitierten-medien-im-corona-jahr.html
Abb.9
61
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Auswahl von Fachinformationen =
Schon innerhalb wissenschaftlicher Communities ist die Nachrichtenauswahl nicht repräsentativ
(publication bias
253
). Forscher wie Forschungsmagazine vermelden weit lieber Erfolge als gescheiterte
Experimente, obwohl letztere für den Wissenszuwachs ebenso wichtig sind, für die Effizienz sogar
bedeutsamer sein können (Stichwort: Tierversuche
254
). Was von diesen nicht-repräsentativen Er-
kenntnissen dann den Weg in die Publikumsmedien schafft, wäre gerade zu Corona eine eigene Stu-
die wert. Vieles spricht dafür, dass auch hier Narrative bedient wurden (positiv als Verantwortungs-
ethik interpretiert
255
), die informelle Verunsicherung vermeiden möchte, also paternalistisch für den
Medienkunden entscheidet, wie widersprüchlich die Welt sein darf.
Bsp.: Die Meldung, Sars-Cov-2 könne auf glatten Flächen bis zu 28 Tage überstehen und infektiös
bleiben, fand in den Publikumsmedien breite Beachtung.
256
Doch wo waren, am besten in denselben
Beiträgen, die vielen Erkenntnisse, was das Corona-Virus alles nicht übersteht, in welchen Alltagssi-
tuationen also keine oder kaum eine Gefahr besteht (Stichwort: Mythos Schmierinfektion
257
)? Ale-
xander Kekulé jedenfalls schätzte den Laborbefund in seinem Podcast als wenig hilfreich ein.
258
= Stimmenauswahl =
Der Klassiker im Lokaljournalismus sind O-Töne von der Straße, die jeder Praktikant, jeder Volontär
mal einfangen soll. Entsprechend kenntlich gemacht, ist klar, dass es sich um keine repräsentative
Befragung handelt (vgl. Pressekodex, Richtlinie 2.1
259
). Die später publizierten Statements geben im
besten Fall einen Eindruck vom Meinungsspektrum der Passanten wieder. Unsauber wird es, wenn
intransparent ausgewählt wird, etwa bestimmte Positionen kategorisch aussortiert werden oder
nach einem redaktionellen Narrativ selektiert wird. Die Stimmen müssen für die behauptete Gruppe
stehen (Grundgesamtheit, die im Fall der journalistischen Straßenbefragung nicht mehr als jene sind,
die irgendwie geantwortet haben). Das Thema 'Die kuriosesten Schülerantworten auf die Frage, was
an Weihnachten gefeiert wird' verlangt gerade keine Repräsentativität für alle Schüler oder auch nur
die befragten. Lautet das Thema "Was sagen die Corona-Leugner"
260
, dann kommen natürlich nur die
zu Wort, die das Virus für eine Erfindung halten. Lautet das Thema aber 'Das sagen die Corona-
253
https://www.researchgate.net/publication/228390859_Unausgewogene_Berichterstattung_in_der_medizinisc
hen_Wissenschaft-publication_bias
254
https://www.deutschlandfunk.de/studie-ergebnisse-aus-tierversuchen-werden-oft-
nicht.676.de.html?dram:article_id=464947
255
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-krisenbeobachter-journalismus-waehrend-der-corona-
pandemie
256
https://rp-online.de/panorama/coronavirus/corona-studie-virus-kann-bis-zu-28-tage-auf-glatten-
oberflaechen-ueberleben_aid-53982977
257
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-schmierinfektion-warum-wir-wieder-haende-schuetteln-
koennen-17761320.html
258
https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/kekule-corona/verlaengerung-lockdown-impfstoff-zulassung-
grossbritannien-japan-gurgeln-100.html
259
https://www.presserat.de/pressekodex.html
260
https://www.apotheken-umschau.de/krankheiten-symptome/infektionskrankheiten/coronavirus/corona-
seelsorge-fuer-diese-arbeit-braucht-man-fingerspitzengefuehl-851291.html
62
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Demonstranten', müssen die ausgewählten Positionen mindestens der Vielfalt der erhaltenen Ant-
worten nahekommen, ihr Anteil muss so weit als möglich kenntlich gemacht werden, darf jedenfalls
nicht bewusst verfälscht werden. Dies gilt nicht nur für Straßeninterviews, sondern beispielsweise
auch für die Bebilderung von Beiträgen. Lässt sich aufgrund des zur Verfügung stehenden Platzes in
der Publikation oder aufgrund einer sehr heterogenen Lage keine bildliche Repräsentativität im ein-
zelnen Beitrag herstellen, so muss darauf hingewiesen werden (und, Ebene Medium, in der Gesamt-
berichterstattung Repräsentativität angestrebt werden). Es ist offensichtlich, dass dies in weiten
Teilen nicht geschieht: Wer auf einer Demonstration das verrückteste Plakat hält und dabei am bes-
ten noch selbst eine drollige Figur macht, hat die besten Chancen auf mediale Präsenz - ganz neben-
bei eine herrliche Einladung für Trolle (False Flag).
Bsp.: Ein typisches Beispiel für die mutmaßlich nicht-repräsentative Stimmenauswahl von Spiegel.de:
>Zug- und Flugbegleiterinnen erzählen: "Beschimpft, bespuckt, mit Schlägen bedroht"<.
261
Die beiden
(!) Statements sind keine Interviews, sondern "Protokolle", also von den Journalisten aufgeschrieben
und in Form gebracht. Wir wissen nicht, welche Aussagen ausgewählt und welche weggelassen wur-
den, wir wissen nicht, wie die beiden Gesprächspartnerinnen ausgewählt wurden. Nach eigenen
Beobachtungsrecherchen im Nah- und Fernverkehr ist die Schaffnerin mit ihren geschilderten Ge-
walterfahrungen und ihrem Verhalten gegenüber Fahrgästen sicherlich nicht repräsentativ für alle
Zugbegleiter (Zitat: "Ich habe die Fahrkartenkontrolle eingestellt, auch wenn wir das inzwischen wie-
der machen sollen weil mir meine Gesundheit wichtig ist."). Aber der anonymisierte Erfahrungsbe-
richt passte ins Narrativ vieler Medien, die überall "Maskenverweigerer" sahen und schärfere Kon-
trollen forderten (selbst noch zu einem Zeitpunkt, da längst massiv patrouilliert wurde). Die medial
vermittelte Wirklichkeit hatte mit der realen Welt wenig Ähnlichkeit.
Bsp.: Die in den Medien auftretenden Personen sind in vielerlei Hinsicht nicht repräsentativ, jeweils
bezogen auf die Grundgesamtheit, für die sie stellvertretend sprechen. Von allen Wissenschaftlern in
Deutschland ist nur ein ganz kleiner Teil öffentlich präsent. Dabei wird keineswegs nur nach fachli-
cher Kompetenz ausgewählt, sondern auch schlicht nach Verwertbarkeit. Gerade für Radio und Fern-
sehen müssen Protagonisten aller Art die nötige "Performance" mitbringen; "Redetalent" bzw. "die
Kunst aufzutreten" ist laut Tobias Armbrüster vom Deutschlandfunk ein "absolutes Kriterium" für die
Auswahl der Gesprächspartner.
262
Medien wenden sich mit ihren Fragen an Leitungsfiguren. Zu deren
Job (oder Ehrenamt) gehört es natürlich, für ihre Organisationen zu sprechen. Doch sie können realis-
tisch nur zu genau dieser Leitungsebene etwas sagen. Ein Bischof ist niemals repräsentativ für seine
Kirche, ein Parteivorsitzender nicht für die Parteimitglieder. Wie bei allen anderen Themen auch
dominieren in der Corona-Berichterstattung gut situierte Akademiker nicht nur die Fachdebatten
(was zum Forschungsstand zu verstehen wäre, schon bei der praktischen Umsetzung aber nicht
mehr), sondern auch die öffentliche Meinungsbildung wofür ihnen aber das demokratische Mandat
fehlt.
= Skandalisierung =
Aus langen Reden, Interviews oder Schriften wird herausgepickt, was gerade nicht repräsentativ ist:
der Versprecher, der verunglückte Satz, die nicht weiter ausgeführte Randbemerkung. Typisch für
das pandemische Skandalisierungsgeschäft waren 'Abschüsse', die Prominente ohne Maske zeigen
261
https://www.spiegel.de/reise/zug-und-flugbegleiterinnen-in-der-corona-krise-aufs-uebelste-beschimpft-a-
15f24726-943f-498a-a202-87949b17aa7c
262
https://www.ardaudiothek.de/nach-redaktionsschluss-der-medienpodcast/politische-interviews-und-
taeglich-gruesst-elmar-brok/83848044
63
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
(SPD-Vorsitzender Norbert Walter-Borjans als SPD-Vorsitzender
263
; Ministerpräsident Winfried Kre-
tschmann
264
; Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
265
; Österreichs damaliger Bundeskanzler
Sebastian Kurz
266
etc.). Ein ggf. winziger Moment wird als Beispiel für das Verhalten eines Menschen
präsentiert, prägt zumindest seine öffentliche Wahrnehmung, kann aber auch Auswirkungen auf die
große Politik haben (Stichwort: Armin Laschets Lachen
267
). So wie alle Promi-Geschichten auch in den
überregionalen Tageszeitungen leben solche Corona-Skandalisierungen von der absichtlichen Verzer-
rung; ihr Nachrichtenwert entsteht überhaupt nur so, denn dass alle Menschen Macken haben und
Fehler machen ist viel zu banal.
Bsp.: Alle Mechanismen einer Skandalisierung zeigte die mediale Erregung über einen kleinen Zwi-
schenfall bei einer Demonstration in Schweinfurt, die der Südkurier so betitelte:
>Querdenkerin soll Kind bei Corona-Demo als Schutzschild benutzt haben: Anzeige gegen Mutter
erstattet<
268
Was war geschehen? Ein Kind hatte, im Kinderwagen sitzend, Tränengas der Polizei abbekommen
und galt damit als verletzt. Es wurde (zunächst) nicht weiter recherchiert, wie es dazu kam (sondern
die Darstellung der Polizei übernommen), ein Einzelfall mit einer einzigen Person wurde stellvertre-
tend für 'die Querdenkerbewegung' geframet, ohne die ansonsten geltende Unschuldsvermutung
war den Journalisten, die sich nur aus anderen Nachrichten informiert hatten, der Ereignisablauf klar
genug, dass sie kommentieren konnten
269
, und Aufhänger der ganzen Geschichte war eine Interpre-
tation
270
('Kind als Schutzschild missbraucht').
Bsp.: Ein reichhaltiger Fundus für nicht-repräsentative Nachrichtenauswahl zu Corona ist immer wie-
der der Newsletter "Checkpoint" des Tagesspiegels. Chefredakteur Lorenz Maroldt begann diesen am
19. November 2020, dem Tag nach der Abstimmung über die Änderungen des Infektionsschutzgeset-
zes im Bundestag, so:
271
263
https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/norbert-walter-borjans-spd-chef-ohne-maske-
im-ice-erwischt-73695096,view=conversionToLogin.bild.html
264
https://web.archive.org/web/20200620154057/https://www.swr.de/swraktuell/baden-
wuerttemberg/winfried-kretschmann-ohne-corona-maske-am-flughafen-100.html
265
https://m.focus.de/politik/deutschland/wirbel-um-urlaubsfoto-steinmeier-postet-bild-aus-suedtirolurlaub-
ohne-maske-und-ohne-abstand_id_12292690.html
266
https://www.tagesspiegel.de/politik/ohne-maske-und-ohne-sicherheitsabstand-oesterreichs-kanzler-kurz-
sorgt-fuer-menschenauflauf-in-der-provinz/25829978.html
267
https://www.sueddeutsche.de/meinung/wahlkampf-laschets-lachen-hochwasser-nordrhein-westfalen-
1.5355218 und https://www.rnd.de/politik/laschet-lacht-was-war-der-grund-ursache-jetzt-bekannt-
6UH7ZXKDO5FCBNGGIOAJALFBWI.html
268
https://www.suedkurier.de/ueberregional/politik/querdenkerin-soll-kind-bei-corona-demo-als-
schutzschild-benutzt-haben-anzeige-gegen-rabiate-mutter-erstattet;art410924,11004237
269
https://www.sueddeutsche.de/meinung/schweinfurt-corona-proteste-kinder-1.5496219
270
https://www.suedkurier.de/ueberregional/politik/verantwortungsloser-geht-es-kaum;art410924,11004229
[nicht mehr online]
271
https://checkpoint.tagesspiegel.de/newsletter/6fJ8e8He8VYKOzsR6o3qpN
64
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Guten Morgen,
von allen Verschwörungstheorien
272
, die gestern rund um den Reichstag im Umlauf waren,
hat mir die mit den Impfmücken
273
am besten gefallen: Kleine, fiese Dinger, die auch bei kal-
ten 5 Grad noch flugtauglich sind, wurden im Auftrag der Bundesregierung in Skandinavien
gezüchtet und so präpariert, dass sie allen widerborstigen Bürgern mit einem kaum spürbaren
Stich eine Portion wesensveränderndes Anti-Corona verpassen. Die Antifa bekam von Dr.
Merkel dagegen vor ihrem Einsatz ein Serum verabreicht, das die Mücken abschreckt.
Auf Platz 2 kommt dann aber schon der Zugchef des ICE 373 von Berlin Ostbahnhof nach In-
terlaken, Abfahrt 14.27 Uhr: „Und hier noch ein Hinweis für alle Verschwörungstheoretiker bei
uns an Bord: Denken Sie bitte daran, dass die Bundesregierung heimlich Speichelproben
sammelt, um Klone von Ihnen zu produzieren, die Sie dann ersetzen sollen. Tragen Sie daher
dauerhaft Ihre Mund-Nase-Bedeckung, um zu verhindern, dass die Regierung an Ihre DNS
kommt.“ (Hier die Originalaufnahme
274
).
Nur zu Bronze reichte es für die Bastler, die gefälschte Polizei-Tweets
275
in Umlauf brachten
darin war von einem „Schussbefehl“ die Rede und von neuatigen [sic!] Wasserwerfern („Typ
2“), die Tetrabenzoldihydrochlorid (auch als Chemtrails bekannt) und einen neuartigen RNA-
Impfstoff versprühten. Ehrlich gesagt, ich hatte mich gleich gewundert, warum der schlappe
Strahl eher an eine verkalkte Dusche erinnerte als an die Wassergeschosse, die mich einst bei
Brokdorf über die Wilstermarsch fetzten.
(Lorenz Maroldt, Chefredakteur Tagesspiegel)
276
Das Hauptproblem an Maroldts Erzählung: Keine seiner drei "Verschwörungstheorien" war "rund um
den Reichstag" im Umlauf. Es sind Twitter-Fundstücke, von denen Platz 1 und 3 mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit von Trollen stammen. (Und dass die Idee der "Impfmücken" längst
erforscht wird, ließe sich auch recherchieren.
277
) Die Bahnansage wurde bereits am 15. Mai 2020 auf
Twitter gepostet, wie sogar beim Tagesspiegel selbst zu lesen war.
278
Repräsentativ für die Proteste
im Regierungsviertel war nichts, was Lorenz Maroldt ausgewählt hat, aber es passt exakt in die Erzäh-
lung seines Blattes.
Bsp.: Ähnlich 'schön' und nicht-repräsentativ ist die Erzählung von Impfungen aus der Kanalisation
heraus, die der österreichische Standard ein Jahr nach Maroldts Amüsement der gesamten Protest-
bewegung zuschreibt.
279
Dass sich irgendein Nonsens in irgendeinem Social-Media-Kanal findet, ist
272
siehe zum Begriff "Verschwörungstheorie" hier im Paper Kap 5.
273
https://twitter.com/nicolas_woehrl/status/1329055760492453890
274
https://twitter.com/Piratenpartei/status/1329049586862854145
275
https://twitter.com/PolizeiBerlin_E/status/1329064602588639233
276
https://checkpoint.tagesspiegel.de/newsletter/6fJ8e8He8VYKOzsR6o3qpN
277
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/j.1365-2583.2010.01000.x
278
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/bahnschaffner-an-verschwoerungstheoretiker-denken-sie-bitte-
daran-dass-die-bundesregierung-heimlich-speichelproben-sammelt/25835010.html
279
https://www.derstandard.at/story/2000131304808/impfgegner-warnen-vor-impfhubschraubern-und-
kanalimpfung-bei-wiener-demo
65
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
kein Beleg für irgendeine Haltung "der Corona-Kritiker"
280
, zumal die Urheber regelmäßig anonym
oder pseudonym sind und es sich daher auch um "Trolle"
281
handeln kann.
Kritisch zur Skandalisierung von Einzelfällen bei Demonstrationen äußerte sich bspw. Simone
Schamann im Nordkurier:
>Beschimpfungen, Pfefferspray, politisch zwielichtige Teilnehmer und Rangeleien mit der Poli-
zei beherrschen die Berichterstattung über die Demonstrationen gegen Impfpflicht und
Corona-Maßnahmen. Kommt es zu Zwischenfällen auf einer oder einzelnen von Hunderten
Demos, wie sie an Wochenenden und Montagen zurzeit regelmäßig in ganz Deutschland
stattfinden, wird vieles davon prominent in den Medien thematisiert. Berichte über kleine und
große Proteste, die vollkommen oder größtenteils friedlich verlaufen, sind im Gegensatz dazu
oft nur eine Meldung oder einen lustlosen Artikel wert.<
282
= Bebilderung =
Viele Corona-Artikel werden mit Bildern aus dem Medizinbetrieb illustriert, die nicht repräsentativ
für das berichtete Geschehen sind.
Bsp.: So wird Corona durchgängig mit medizinischer (Intensiv-)Betreuung assoziiert
283
, obwohl diese
den Ausnahmefall darstellt.
Bsp.: Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Redaktion "Symbolbild" in die Textzeile schreibt
284
:
vielmehr ist das stets Indiz dafür, dass gerade nicht gezeigt wird, was gezeigt werden müsste (oder
dass gezeigt wird, was nicht gezeigt werden sollte).
Bsp.: Nicht selten sind "Symbolbilder" geradezu grotesk, wie beim Freitag, der vier leere Betten mit
der Bildunterschrift zeigt:
> Status: rot. Auf der Intensivstation der MHH in Hannover sind keine Betten frei
(Symbolbild)<
285
Besondere Verantwortung kommt der Bildauswahl bei Personen zu. Schaut die Politikerin, der Viro-
loge, die Demonstrantengruppe freundlich oder unfreundlich, seriös oder unseriös, grimmig oder
keifend? Trifft das ausgewählte Bild die jeweilige Person generell oder in der konkreten Situation
richtig, oder ist es der Schnappschuss, der gerade nicht repräsentativ ist? Perspektive, Licht und Hin-
tergrund tragen entscheidend zur Bildaussage bei.
280
Der in den Medien populäre Begriff ist so unsinnig wie das Label "Döner-Morde". Bsp:
https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Volksverhetzung-Neuer-Prozess-gegen-Corona-Kritiker-
Bhakdi,prozess8318.html und https://www.augsburger-allgemeine.de/landsberg/landsberg-corona-kritiker-
versammeln-sich-zu-kundgebung-auf-hellmairplatz-id68313896.html Zum "Unwort des Jahres 2011" "Döner-
Morde" siehe https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/doener-mord-wie-das-unwort-des-jahres-
entstand-a-841734.html
281
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Troll_(Netzkultur)&oldid=239388871
282
https://www.nordkurier.de/politik-und-wirtschaft/radikalisierung-nicht-zu-sehen-und-alle-regen-sich-auf-
2546873701.html [nicht mehr online]
283
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.corona-gipfel-maskenpflicht-kuenftig-auch-auf-
parkplaetzen.c443aeea-2d1c-487a-98db-7450b84dfd7f.html
284
https://www.tagesspiegel.de/politik/tuerkei-enthuellt-katastrophale-corona-lage-mehr-als-29-000-
neuinfektionen-pro-tag-krankenhaeuser-teils-ueberfuellt/26661252.html
285
https://www.freitag.de/autoren/franca-wittenbrink/medizinisches-personal-wird-sich-infizieren
66
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Eines der wirkmächtigsten Bilder der Corona-Pandemie zeigt Militärlaster in Bergamo, die Särge
transportieren sollen. Ein Schnappschuss ging um die Welt
286
und hatte großen Einfluss auf die Risi-
koeinschätzung, wie selbst Journalisten bekennen (Beispiel in der Sendung "Nach Redaktions-
schluss"
287
), die doch eigentlich aufgrund von Recherchen ein realistisches Bild der Lage hätten haben
sollen. Die Militärlaster waren nicht repräsentativ für die Situation in Bergamo, Bergamo war nicht
repräsentativ für Italien, Italien nicht repräsentativ für die globale Pandemie. Und doch hat ein nicht
repräsentatives Foto eine Stellvertreterrolle für Corona übernommen.
Bsp.: Und wenn die Corona-Nachrichtenlage gerade keine Dramatik hergibt? Dann bebildert man sie
sich eben herbei. "RKI meldet weiteren Rückgang bei Neuinfektionen und Inzidenz" lautet eine Über-
schrift beim Spiegel.
288
Deshalb kommt welches Bild als Aufmacher dazu? Ein Notarzt-Hubschrauber,
neben dem vermummtes und z.T. in Schutzkitteln verpacktes Personal laut Bildunterschrift einen
Patienten bei der Verlegung begleitet.
Der Repräsentativität der im Journalismus behandelten Themen steht im Wege, was erstaunlicher-
weise immer wieder unter die Qualitätskriterien gepackt wird, obwohl es diesen tatsächlich oft dia-
metral entgegensteht: der sogenannte "Nachrichtenwert"
289
. Denn der Wert von Nachrichten be-
misst sich schlicht an deren medialer Verwertbarkeit. Deshalb sind die auflagenstärksten Zeitungen
des Landes Boulevardblätter, besonders gerne gelesen wird, was verschleiernd als 'Vermischtes'
rubriziert wird, als '(von) Personen' oder als 'Blick in die Welt': Klatsch und Tratsch, Neuigkeiten, die
zwar großes Interesse wecken, für die Orientierung jedoch keinen Beitrag leisten oder ihr sogar scha-
den. Es gehört zum Erfolgsrezept auch der (sich selbst so nennenden) Qualitätsmedien, dieses Kun-
denbindungsinstrument zu spielen (wie viele Abonnenten beginnen den Spiegel hinten, beim "Hohl-
spiegel", der Intellektuellen-Witz-Rubrik?). Alles, was nicht irgendwie repräsentativ ist, was also mit
Bedeutung aufgeladen wird, obwohl es für den Lauf der Dinge wie den einzelnen völlig belanglos ist,
ist Boulevard, Unterhaltung, in Kauf genommene Verzerrung. Das beginnt bei den skurrilen Unfällen
und Ereignissen (die oft nüchtern betrachtet gar nicht so skurril sind, bspw. die sogar über Deutsch-
land hinaus medial beachteten 'Opas in Wacken'
290
), und es setzt sich in der Bebilderung fort.
= Ebene Mediensystem =
Weil Redaktionen Nachrichten vielfach nicht nach ihrem Wert für die Orientierung, sondern nach
ihrer Vermarktbarkeit auswählen, erlangen nicht-repräsentative Ereignisse eine ihnen nicht zu-
stehende Aufmerksamkeit. Wenn "Jana aus Kassel"
291
vom Social-Media-Tratsch in die Nachrichten-
medien schwappt, bekommt eine belanglose Episode faktische Relevanz. Es ist die Self-Fullfilling-
Prophecy des Journalismus: etwas wird als bedeutsam behauptet und wird es dann erst kraft mas-
senmedialer Wirklichkeitskonstruktion. Was als bedeutsam verkauft wird, löst Reaktionen aus, die
286
https://www.zispotlight.de/frank-fehrenbach-ueber-das-bild-aus-bergamo-oder-the-common-bond-is-the-
movie-theatre/
287
https://www.ardaudiothek.de/nach-redaktionsschluss-der-medienpodcast/corona-berichterstattung-
folgen-die-medien-der-regierung/83848056
288
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-rki-meldet-weiteren-rueckgang-bei-
neuinfektionen-und-inzidenz-a-24ae0059-9bde-47fd-a4da-8e471bc479d6
289
https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/nachrichtenwerttheorie-id-76596/
290
https://www.spiegelkritik.de/2018/08/05/rentner-ausgebuext/
291
https://www.hna.de/kassel/querdenker-jana-kassel-sophie-scholl-corona-demo-hannover-twitter-spott-
90108226.html
67
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Folgeberichterstattung möglich macht; die so erzeugte Masse an Berichterstattung gilt als Beleg für
die richtige Thematisierung.
Bsp.: Wie diese nicht-repräsentative Nachrichtenauswahl auf die Gesamtwahrnehmung wirkt, zeigt
eine Zusammenfassung der Nachrichtenlage im "Bruchstuecke Podcast"
292
. Dort sagt Wolfgang Storz,
der sich u.a. intensiv mit der BILD-Zeitung beschäftigt hat
293
, "zur Einordung und zum Stand der De-
battenlage" über ein mögliches Verbot der AfD:
"Allein die AfD unterstützt als Partei die Querdenker- und Anti-Corona-Bewegung, für welche
wiederum die Krisenmaßnahmen der regierenden Politik unangemessen oder gar falsch sind.
Sogar das Wort der Gesundheitsdiktatur macht die Runde. Wir hatten in den letzten Tagen
drei Ereignisse, die aufgrund der heftigen Reaktionen auch eine große Bedeutung erlangten.
Zum einen die Übergriffe auf Parlamentarier im Parlament, Übergriffe, die nur von der AfD-
Fraktion erst ermöglicht worden sind. Wir hatten faktisch ein Kind oder eine Schülerin, die auf
einer Querdenker-Bühne sagt, sie könne ihren Geburtstag nicht feiern, weshalb sie sich als
Anne Frank verstehe.
294
Und das dritte Ereignis: Eine Querdenker-Studentin sieht sich als So-
phie Scholl ["Jana aus Kassel"]. Und diese Ereignisse führen uns nun zu dem Thema Verbot der
AfD ja oder nein."
(Wolfgang Storz)
Diese "drei Ereignisse" sollen also repräsentativ genug sein, um über ein Parteiverbot zu diskutieren.
Drei Medienereignisse, die den Sachstand der öffentlichen Debatte um die Pandemie-Politik offenbar
hinreichend zusammenfassen.
Bsp.: Ein letztes Beispiel: Peter Spork kritisierte auf Übermedien, in der Berichterstattung kämen "die
eigentlichen Corona-Opfer" zu kurz:
>Könnte es also sein, dass die Medien ein Problem mit der Corona-Berichterstattung haben?
Könnte es sein, dass sie sich vor ihrem eigentlichen Berichtsgegenstand drücken? Sind wir alle
zu bequem und tragen lieber das hirnbefreite Geschwätz von Querdenkern an die Öffentlich-
keit als die O-Töne einer Corona-Patientin, die sich in der Rehaklinik vom zweimonatigen Ko-
ma erholt?<
295
Dass zu wenig über Intensivstationen, Krankheitsverläufe und die Arbeit des medizinischen Personals
berichtet wird, drängt sich angesichts der enormen Publikationssteigerung
296
gegenüber dem Vorjahr
eigentlich nicht auf. Mit Sicherheit aber ist die Berichterstattung über "die eigentlichen Corona-
Opfer" nicht repräsentativ für das Krankheitsgeschehen im Land und auf der Welt. Von den über
900.000 Sterbefällen im Jahr bekommen gerade die wenigen Covid-19-Opfer weit überrepräsentativ
Aufmerksamkeit, an die wohl neben Terrorattacken und sonstige Attentate nur lokale Unfallberichte
heranreichen. Für das tatsächliche Leiden und Sterben, für Erkrankungsrisiken und die möglichen
Mängel des Gesundheitssystems ist Corona nicht repräsentativ. Der Journalismus behandelt hier
Gleiches sehr ungleich.
292
https://bruchstuecke.info/2020/11/27/kw48-die-afd-verbieten-schaden-oder-nutzen-fuer-die-demokratie/
293
http://www.bild-studie.de/
294
https://www.welt.de/vermischtes/article220353914/Querdenken-Demo-Elfjaehrige-vergleicht-sich-mit-
Anne-Frank.html
295
https://uebermedien.de/54910/die-eigentlichen-corona-opfer-kommen-in-den-medien-viel-zu-kurz/
296
https://kress.de/news/detail/beitrag/146049-exklusiv-die-meistzitierten-medien-im-corona-jahr.html
68
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
7 Objektivität
Wenn der Chefredakteur des Tagesspiegels, Lorenz Maroldt, in seinem launigen Newsletter "Check-
point" ohne jeden Zusammenhang einen Abgeordneten als "Verbaldiarrhötiker"
297
bezeichnet, muss
man skeptisch sein, ob mit objektiven Berichten über diesen zu rechnen ist.
Bsp.: Ist der "Verbaldiarrhötiker" zudem noch Antwort auf die von Maroldt gestellte Frage "Welcher
aus dem Checkpoint notorisch bekannte Abgeordnete klagt vor dem Verfassungsgericht gegen die
partielle Maskenpflicht im Landesparlament", und weiß man, dass Maroldt von Anfang an starke
staatliche Eingriffe zur Pandemiebekämpfung (oder -verhinderung) gefordert hat, dann sollte man
zumindest damit rechnen, in dieser Tageszeitung auf eine gewisse Schlagseite in der Berichterstat-
tung zu treffen.
Wohlgemerkt: Es ist nicht nur möglich, sondern vom professionellen Journalismus stets zu erwarten,
dass völlig unabhängig von persönlichen Überzeugungen und sogenannten "Blattlinien" strikt zwi-
schen objektiver Information (richtig, vollständig, repräsentativ etc.) und subjektiver Kommentierung
getrennt wird (auch innerhalb von Beiträgen). Doch die Lebenserfahrung sagt: Hab Acht. Was wir von
Richtern bedingungslos erwarten, nämlich Sachverhalte zunächst so meinungsfrei wie möglich zur
Kenntnis zu nehmen, reklamieren viele Journalisten nicht einmal selbst für sich. Das 'gute alte' Quali-
tätskriterium Objektivität wird zur Disposition gestellt
298
, zum Teil klar abgelehnt. Dabei ist Objektivi-
tät außerhalb geisteswissenschaftlicher Ergotherapie ein Berichterstattungsziel, ohne das Journalis-
mus obsolet wird. Journalistische Objektivität ist schlicht das Bemühen, seinen Kunden ein Bild zu
vermitteln, das nicht nennenswert verschieden ist von dem, welches sie bei eigener Inaugenschein-
nahme hätten. Die Berichterstattung soll eben möglichst wenig vom Berichterstatter abhängig sein,
von persönlichen Meinungen, Lebensweisheiten, Missionsgelüsten - sie soll nicht zufällig sein. Und
sie soll für verschiedene Kunden nützlich sein, möglichst unabhängig von deren Vorerfahrungen und
Voreingenommenheiten. Nicht von ungefähr gab es schon zahlreiche verlegerische Versuche, Mei-
nungsbekundungen der angestellten Journalisten außerhalb der Kommentarspalte zu unterbinden
(ausführlich: Meier/ Reimer 2011).
Objektivität hat allerdings nichts mit Neutralität zu tun, wie das in vielen Diskussionen vermengt wird
(z.B. rund um einen Kommentar von Philipp Oehmke
299
oder im DLF-Hörer-Gespräch "Haltungsjour-
nalismus: Wie neutral müssen Medien sein?"
300
mit Stefan Fries, Sophia Hilger, Anja Reschke und
Bettina Schmieding). Deshalb steht der Objektivität auch eine 'Haltung' nicht im Weg. Kein Richter ist
neutral, und zu allem möglichen wird er eine Haltung haben. Er hat bei jedem Fall einen ersten Ein-
druck, und spätestens am Ende des Verfahrens soll ein klares Urteil stehen also das Gegenteil von
Neutralität. Aber objektiv sollen Richter natürlich sein, auch über das Verfahren hinaus.
Wissenschaftlich gesprochen:
>Journalistische Objektivität ist demnach der Überbegriff für ein Bündel von Normen, die dazu
beitragen, dass Berichterstattung intersubjektiv als realitätsgetreu akzeptiert wird. [...] Infor-
mation kann demnach als richtig oder nach konstruktivistischer Diktion als viabel gelten,
297
https://checkpoint.tagesspiegel.de/newsletter/2ceAFrXxwHBOuChyg85HYK
298
https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/journalismus-und-objektivitaet-100.html
299
https://www.spiegel.de/kultur/new-york-times-die-zeit-der-neutralitaet-ist-vorbei-a-5ccaa4e4-eca2-4a2e-
b2d7-22e6a484f8ce
300
https://srv.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.3265.de.html?mdm:audio_id=860570
69
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
wenn sie ein effektives und effizientes Verhalten von einer Umwelt ermöglicht, die stets nur in
Ausschnitten und stets nur in den Kategorien des beobachtenden Subjekts wahrgenommen
werden kann was wohl kein ernst zu nehmender Kommunikationswissenschaftler bestreitet
[...].<
(Lutz Hagen/ Claudia Seifert: Das Wirtschaftswachstum und die Objektivität seiner Darstel-
lung in den Medien Eine normative und empirische Betrachtung, S. 174
301
)
Objektivität verlangt, Gleiches gleich zu behandeln (und Ungleiches ggf. ungleich). Ein Richter soll
Fälle unabhängig vom Ansehen der beteiligten Personen aufklären und beurteilen, und idealerweise
sollten verschiedene Richter im selben Fall zum gleichen Urteil kommen das ist das Bemühen um
Objektivität, weil nur dieses Bemühen Orientierung bietet.
>Es bleibt das, was wir tendenzielle Objektivität nennen können und damit das reflektierte
und kommunizierte Bemühen um die Annäherung an ein Ideal. Ich reklamiere keine Wahrheit,
aber bin wahrhaftig.
(Claus Eurich: Mythos 'Objektivität', 24.06.2020)
302
Meinungsstärke muss objektiver Berichterstattung nicht im Wege stehen. Tatsächlich aber korrelie-
ren nicht selten öffentlichkeitswirksame Positionierungen und schlechte, weil nicht-objektive Be-
richterstattung (Literaturempfehlung dazu: "The Elements of Journalism" von Bill Kovach und Tom
Rosenstiel
303
). Auch wenn sich einzelne Kunden pädagogisiert fühlten von den allgegenwärtigen 'Wir
bleiben zuhause'-Slogans in Radio, Fernsehen und Zeitung
304
, sie sind an sich noch kein Verstoß ge-
gen das Objektivitätsgebot (sondern wären einer gegen ein Neutralitätsgebot). Allerdings lohnt es
sich dann natürlich genauer hinzuschauen, ob Medienunternehmen, die offen für einen bestimmten
Politikkurs werben (der zudem ihrem wirtschaftlichen Eigeninteresse in Teilen entgegenkommt) in
ihrer Berichterstattung über diese Politik objektiv agieren; ob sie professionell kritisch-distanziert
gegenüber denen bleiben, die sie in ihren emotionalen Ausbrüchen gerade zu Helden verklärt haben.
= Kein objektiver Standpunkt =
Wenn wir als objektiv eine Berichterstattung bezeichnen, die möglichst unabhängig vom Berichter-
statter (und damit replizierbar) ist, dann zeigt sich eine fast flächendeckende Verzerrung im Corona-
Journalismus. Denn wie auch bei anderen emotionalisierten Themen geschieht die Berichterstattung
von einem als richtig empfundenen Stand- und Blickpunkt aus. Statt Bemühen um Objektivität, gibt
es eine kaum problematisierte Subjektivität. Kritiker 'der' Pandemie-Politik sind stets 'die anderen',
die jenseits der Lebenswirklichkeit der Journalisten stehen.
Bsp.: So nahm die Presse keinen Anstoß daran, als Bundeskanzlerin Merkel zu "Verschwörungstheo-
rien" sagte: "Das ist ja im Grunde ein Angriff auf unsere ganze Lebensweise."
305
Es gibt eben "uns"
301
https://doi.org/10.1007/978-3-658-04704-7
302
http://www.interbeing.de/2020/06/24/mythos-objektivitaet/
303
https://books.google.de/books/about/The_Elements_of_Journalism_Revised_and_U.html?id=bV8lEAAAQBA
J&redir_esc=y
304
https://www.bdzv.de/nachrichten-und-service/presse/pressemitteilungen/artikel/detail/wir-bleiben-
zuhause-und-wir-danken-allen-die-den-laden-am-laufen-halten/
305
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-zu-verschwoerungsideologien-angriff-auf-
unsere-ganze-lebensweise-a-95cb7814-515f-48e1-8092-9384ecd22e7c
70
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
und "unsere Lebensweise" und irgendwelche "anderen", die "uns" etwas streitig machen wollen.
Das ist zwar in einer Demokratie absurd (ausführlich Rieg 2013), gleichwohl aber allgegenwärtig.
Beispielhaft für diesen Bias ist die Darstellung erster Ergebnisse und Interpretationen der Studie "Po-
litische Soziologie der Corona-Proteste" und die Studie selbst. Denn diese spricht schon von
"Corona-Dissident:innen" und "Corona-Dissidenz" und formuliert offenbar ironiefrei:
"Im Umgang mit diesen Protesten ist es aus unserer Sicht wichtig, die Kritiker:innen der
Corona-Massnahmen nicht einfach zu pathologisieren. Das ist zwar verführerisch und entlas-
tend, hilft aber nicht wirklich weiter."
(Politische Soziologie der Corona-Proteste: 63
306
)
Dass nun Menschen, welche die Wissenschaft pauschal für krank halten möchte, dieser Wissenschaft
skeptisch gegenüber stehen, ist für die Forscher Beleg ihrer Pathologie es grüßt Franz Kafka. Die
Soziologen Oliver Nachtwey, Robert Schäfer und Nadine Frei untersuchen offenbar eine fremde "Po-
pulation", wenn nicht gar eine fremde Spezies.
307
(Im später erschienen Buch wurde es nicht diffe-
renzierter (Amlinger/ Nachtwey 2022).)
Die journalistische Berichterstattung setzt wie zu erwarten diese subjektive Sichtweise überwie-
gend fort.
Bsp.: Lars Wienand, leitender Redakteur Recherche bei t-online, schreibt gleich im Teaser zur Er-
kenntnis, 21 Prozent der Protestbewegung seien Grünen-Wähler (laut Studie sind es 23 %)
308
: "Jetzt
gibt es an der Zahl große Zweifel", wobei die Zweifel ausschließlich in seiner eigenen Skepsis grün-
den (denn zur Nicht-Repräsentativität bekennt sich die Studie selbst ausführlich). Dabei blickt Wien-
and, wie in den Medien weit verbreitet, von seinem persönlichen Glaubensstandpunkt auf die Welt,
und nicht, wie es Objektivität fördernde Recherche verlangen würde, mit wechselnden Perspektiven.
So trägt er allerhand Argumente zusammen, warum die Protestbewegung in der Studie nicht so
rechtsextrem erscheint, wie sie laut Medien ist:
"Besonders aufgewiegelte 'Corona-Rebellen' haben sich eher nicht beteiligt. Und die, die den Fra-
gebogen ausfüllten, wollten die 'Querdenker' möglicherweise eher als weltoffene, gut gebildete
Grünen-Anhänger erscheinen lassen."
Dass sich aber umgekehrt in Telegram-Gruppen eher die "aufgewiegelten Corona-Rebellen" tum-
meln, während viele Menschen, die auf Demonstrationen waren oder auch nur im Stillen Teile der
Corona-Politik kritisieren, gar nicht an Befragungen auf Telegram teilnehmen können, benennt der
Journalist nicht. Allerdings legt die Studie von Nachtwey, Schäfer und Frei eben selbst diese Einseitig-
keit vor und verzichtet vollständig auf eine objektive Benennung möglicher Verzerrungen. Dabei
verliert die Studie weder ein normatives Wort darüber, wie die Abgrenzung nach Rechts aussehen
müsste, um wissenschaftliche Akzeptanz zu erfahren, noch bietet sie Empirisches für eine Abgren-
zung nach links. Weil diese 'fehlende Abgrenzung nach Rechts' in den Medien von Anfang an beklagt
wird, sei auch hier auf die Subjektivität hingewiesen: Beim Fußball könnte man jedes Wochenende
fehlende Abgrenzung 'normaler Fans' (in der 'Corona-Sprache' wohl 'berechtigter Fans') gegenüber
306
https://web.archive.org/web/20201218135036/https://soziologie.philhist.unibas.ch/fileadmin/user_upload/
soziolo-
gie/Dokumente/Downloads_diverse/Bericht_Umfrage_Coronaproteste_Soziologie_Uni_Basel_17_12_20.pdf
307
siehe dazu auch: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/soziologen-querdenker-haben-
grundlegende-zweifel-an-der-realitaet-kultiviert-li.275800
308
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_89140028/-querdenker-studie-frauen-glauben-
staerker-an-corona-verschwoerungen.html
71
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
'Ultras' und 'Hooligans' skandalisieren, analog zum "Ach so, ja, Nazis sind auch da" des Spiegel (fünf-
ter Absatz
309
): 'Mit solchen Fußballspielen verfestigt sich die Allianz der Rechtsstaat-Leugner, in der
der organisierte Extremismus nicht die Kontrolle hat, aber zu der er jetzt ganz selbstverständlich
gehört.'
= Expertenauswahl =
Fachleute sind nur selten objektiv, wenn es um ihr Thema geht. In ihren Communitys gibt es 'herr-
schende Meinungen', denen man sich anschließt, um nicht verstoßen zu werden (siehe Drosten über
Kekulé
310
). Es gibt Gepflogenheiten, Routinen, Selbstverständliches, wozu Außenstehende durchaus
Fragen haben. Das ist auch unter Journalisten unstrittig, weshalb sie für sich die Aufgabe der Einord-
nung von Experten-Statements reklamieren und die direkte Kommunikation zwischen Fachleuten
und Bürgerschaft als Problem sehen (Beispiel "Medien cross und quer"
311
). Selten problematisiert
wird allerdings, dass Journalisten in vielen Fällen selbst voreingenommen sind. Politikjournalisten
haben kein Verständnis für Nicht-Wähler, da ihr gesamtes Berichterstattungsfeld auf dem Gedanken
fußt, über die Wahl von Politikern und Parteien Demokratie zu realisieren.
Sportjournalisten wird immer wieder eine nicht-objektive Fanhaltung attestiert
312
, und für belanglos
können sie ihr Sujet kaum halten (durchaus aber einige ihrer Kunden). Für Wissenschaftsjournalisten
sind Tierversuche weit selbstverständlicher als für den Bevölkerungsdurchschnitt. In der Corona-
Berichterstattung zeigen sie eine große Nähe zu den Wissenschaftlern, über deren Arbeit sie schrei-
ben und senden. In den Worten von Volker Stollorz (Science Media Center Germany):
>Wissenschaft ist keine Demokratie. Die Öffentlichkeit muss dem Wissen, das sie generiert,
ein Stück weit vertrauen.<
313
Für Ausgleich zu den beruflich determinierten Sichtweisen kann ein professioneller Perspektiven-
wechsel beitragen. Dazu gehört die Suche nach Experten anderer, ggf. widerstreitender Professio-
nen. Wo bspw. Fachleute für Demokratie und Bürgerbeteiligung fehlen, wo der Sichtweise von Medi-
zinern und Ökonomen nicht auch die Sichtweise von ihren Empfehlungen Betroffener entgegenge-
setzt wird, hat es die Objektivität nicht besonders leicht. Auf die zugrundeliegende Fehleinschätzung
wurde hier schon mehrfach verwiesen: Meinungen werden oft als Tatsachen behandelt, und bei
Tatsachen wird oft die Notwendigkeit ihrer Verortung übersehen (vgl. Kahnemann 2016
314
).
= Narrative =
In vielen Fällen drängt sich der Verdacht auf, dass Redaktionen Corona-Nachrichten auswählen, die
einer von ihnen protegierten Erzählung folgen, zumal zahlreiche Journalisten bereits bekannt haben,
309
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ach-so-ja-nazis-sind-auch-da-a-7805e693-69e2-4f7e-be82-
af54a01f4435
310
https://twitter.com/c_drosten/status/1265863344042455040
311
http://sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=18161&pnr=&tbl=pf
312
https://www.zeit.de/sport/2014-04/sportjournalisten-clubmedien-fanmedien-fantum
313
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-12/wissenschaftsjournalismus-corona-pandemie-
informationen-forschung-recherche-expertise/komplettansicht
314
https://de.wikipedia.org/wiki/Schnelles_Denken,_langsames_Denken
72
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
das Verhalten der Bevölkerung in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen.
Bsp.:
>Da habe ich versucht mich zu erinnern, wann mir eigentlich der Ernst der Lage bewusst wur-
de und wodurch das verursacht worden ist. Bei mir waren es tatsächlich die Bilder, abends in
den Nachrichtensendungen, der Militärtransporter in Bergamo in Norditalien, die die Leichen
aus den Leichenhallen zu den Friedhöfen transportiert haben bei Nacht und Nebel, weil ein-
fach die Kapazitäten mehr als ausgeschöpft waren [...]
Und da habe ich damals in dem Moment für mich so wie eine Art Schalter gespürt, der umge-
stellt worden ist. Und ich habe seitdem das Gefühl, als Journalistin auch so eine Art Haltung
zu dem Thema zu haben, das muss ich ganz offen zugeben.
Ich möchte nicht, dass Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich mag oder für die ich als
Journalistin arbeite und Informationen liefere, dass jemand von diesen Menschen in einem
dieser Militärtransporter endet.
Für mich war klar: Wir ziehen hier irgendwo in gewisser Weise an einem Strang. Was nicht
dazu führend darf, dass Journalisten sich auf nur eine Seite schlagen [...] Aber ich habe als
Journalistin schon gemerkt, so, jetzt ist tatsächlich hier Gefahr in Verzug.<
(Bettina Schmieding in "Nach Redaktionsschluss", DLF, 23.10.2020
315
)
Dieses Problem taucht in der Medienkritik immer auf, wenn es um die grundsätzliche Auswahl von
Nachrichten geht: für was ist Platz, für was nicht? Was wird also für relevant gehalten? Weil viel
mehr Irgendwie-Relevantes vorliegt als Medien Platz haben, ist ihre Auswahl auch unter dem Objek-
tivitätskriterium zu betrachten.
Bsp.: So fand der Belgische Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke in deutschen Medien Beach-
tung, als er sich für harte Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung aussprach
316
(beim ZDF wahlweise
mit
317
und ohne
318
Kritik an Deutschland). Wenn Vandenbroucke allerdings das viel aufklärerische
Bekenntnis ablegt, die harten Maßnahmen hätten gar nicht dem Infektionsschutz, sondern dem
Schock der Bevölkerung gedient
319
, berichten dieselben Medien nichts. Dazu Jens Petersen, Leiter
Konzernkommunikation der Deutschen Presse-Agentur, auf Anfrage:
>dpa hat wegen des Deutschland-Bezugs über die Kritik Vandenbrouckes an den deutschen
Corona-Weihnachtsregeln berichtet. Über den inner-belgischen Streit im Zusammenhang mit wei-
teren Äußerungen Vandenbrouckes hat dpa mangels nachrichtlicher Relevanz nicht berichtet.<
Wenn diese Entscheidung auf einem unveränderlichen Relevanz-Maß beruhen würde, wäre uns u.a.
sehr viel Trump erspart geblieben, der sich nur selten mit Deutschland beschäftigt hat.
Journalistische Relevanz zu bestimmen, ist eine große Herausforderung in der Qualitätsdebatte (sie-
he Kap. 8). Wenn wir für den Moment das Bekenntnis eines Gesundheitsministers für relevant hal-
315
https://www.ardaudiothek.de/nach-redaktionsschluss-der-medienpodcast/corona-berichterstattung-
folgen-die-medien-der-regierung/83848056
316
zu den beglischen Maßnahmen siehe https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=COVID-19-
Pandemie_in_Belgien&oldid=236240074#Weitere_Versch%C3%A4rfung_der_Ma%C3%9Fnahmen
317
https://web.archive.org/web/20201128144038/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lockerungen-
belgien-weihnachten-deutschland-100.html
318
https://web.archive.org/web/20201128182225/https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lockerungen-
belgien-weihnachten-deutschland-100.html
319
https://brf.be/national/1436293/
73
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ten, (seine) politische(n) Maßnahmen dienten dazu, die Bevölkerung gefügig zu machen, dann ist das
Auslassen dieser Meldung ein Verstoß gegen die Objektivitätsforderung (zumal die dpa als Agentur ja
nur Vorschläge für ihre Kunden macht, die immer noch selbst auswählen können, oft aber nur diese
eine Nachrichtenquelle dpa beziehen). Und umgekehrt wäre zu prüfen, ob das von dpa genannte
Relevanzkriterium 'Gesundheitsminister eines anderen Landes äußert sich zur deutschen Corona-
Politik' objektiv angewendet wird, also nicht nur bestimmte Statements den Weg in den Nachrich-
tenpool finden.
Bsp.: Flächendeckend wurde Ende Januar berichtet:
"Mehr als 100.000 Menschen starben in Deutschland im Dezember so viele wie seit 1969
nicht mehr."
(Tagesschau.de, 29.01.2021
320
)
Grundlage für diese Katastrophen-Meldung war nicht eigene Recherche, sondern eine Pressemittei-
lung des Statistischen Bundesamtes.
321
Vertiefende Recherchen zur Bestimmung des aktuellen
Standorts unterblieben offenbar. Denn zu einer noch dramatischeren Zahl zwei Jahre zuvor findet
sich nichts in den Archiven von Tagesschau und Co und auch nichts als Vergleich zur aktuellen Dra-
matik: Im März 2018 starben in Deutschland 107.104 Menschen
322
so viele, wie niemals sonst in
einem März der Bundesrepublik Deutschland, auch nicht im März 2020. Besonders irritierend ist in
diesem Zusammenhang stets der Verweis, mit Zahlen welcher Jahre man nicht vergleichen dürfe,
weil diese "kein normales Jahr" gewesen seien. Ja, 2020 war doch offenbar auch kein 'normales Jahr',
warum sollte dann das 'Unnormale' stets mit dem 'Normalen' verglichen werden, wenn es um
Corona geht? Pandemie-Jahre sind doch wohl eher mit Pandemie-Jahren zu vergleichen als mit sol-
chen, in denen keine Pandemie festgestellt wurde. Aber 'hatten wir alles schon' ist eben von gerin-
gem Nachrichtenwert.
= Framing =
In der Medienforschung hinlänglich bekannt und untersucht sind Framing
323
und Priming. Anstelle
objektiver, also intersubjektiv prüfbarer Beschreibungen gibt es mit (moralischen) Wertungen aufge-
ladene Etiketten. Der "Sonderweg" ist so eine Vokabel. Ob Schweden oder Schleswig-Holstein
324
,
objektiv betrachtet sind die jeweiligen Maßnahmen gegen die Pandemie schlicht Politik. Doch der
Journalismus normiert korrektes, eben "normales" Verhalten und grenzt davon alles andere als son-
derbar ab.
320
https://web.archive.org/web/20210129134936/https://www.tagesschau.de/ausland/sterbefaelle-
dezember-101.html
321
https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/01/PD21_044_12621.html
322
siehe zu Nachweisen https://www.spiegelkritik.de/2023/05/01/journalistischer-rekord-fetisch/
323
https://www.ardmediathek.de/ndr/video/after-corona-club/elisabeth-wehling-die-macht-der-worte-in-der-
corona-krise/ndr-
fernsehen/Y3JpZDovL25kci5kZS9iMDNlOWE2ZC1lNDQ1LTRiZmItYmZmNy1hYzVhNzJkMDRlNjM/
324
https://www.shz.de/deutschland-welt/politik/Schulen-Masken-Friseure-In-Bremen-laeuft-einiges-anders-
id31077582.html
74
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Eindrückliches Beispiel: eine Interview-Rezension auf Übermedien.
325
Kritiker Hendrik
Wieduwilt lässt sich nicht im Ansatz auf die Aussagen eines Rechtsanwalts ein, der die Anti-Corona-
Maßnahmen als Verstoß gegen EU-Recht sieht, sondern framt ihn als Outsider: Querdenker, KenFM,
Michael Wendler, Regime Merkel, Wieduwilt bringt viele Schlagworte, die im kritisierten Interview
allerdings gar nicht vorkommen (siehe ausführlich: "Das nicht aseptische Interview"
326
).
Andere Framings sind die konsequente Bezeichnung aller Kritiker der Gesundheitspolitik als "Corona-
Leugner" und aller Kritiken als "Verschwörungserzählungen" (vgl. "Label Verschwörungstheoreti-
ker").
Bsp.: Dass es gerade keine Verschwörungsidee braucht, um als Verschwörungstheoretiker zu gelten,
hat die Süddeutsche Zeitung eindrücklich gezeigt: die Überschrift Ihres Textes "Prof. Dr. Verschwö-
rung" wird von Kollegen gerne als Synonym für den darin beschriebenen Stefan Homburg verwendet
(z.B. "Der Standard"
327
, "DWDL"
328
). Zu diesem Prädikat kommt er u.a., weil er keine Verschwörungs-
theorie benennt:
>Die entscheidende Frage beantwortet [Homburg] aber nicht: Warum hat die Bundesregie-
rung Kontaktbeschränkungen beschlossen, wenn sie doch angeblich weiß, dass das nichts
bringt? 'Das ist eine Frage für Untersuchungsausschüsse und Staatsanwaltschaften', sagt
Homburg. Er wolle nicht Vermutungen in die Welt setzen. Auch auf Nachfrage will er keinen
Grund nennen. [...] Diese für sein ganzes Konstrukt so entscheidende Stelle bleibt damit of-
fen.<
(Bastian Brinkmann, SZ, 14.05.2020
329
)
Bsp.: Als Anfang 2024 die Protokolle des RKI-Krisenstabs öffentlich wurden, wurde das Medium,
welches auf die Herausgabe nach Informationsfreiheitsgesetz klagen musste, in vielen Berichten
geframt.
>Ein obskures Online-Portal hat die Veröffentlichung von Pandemie-Protokollen des Robert-
Koch-Instituts erzwungen<
330
schrieb die taz in ihrem Teaser und führte das zu Beginn des Berichts weiter aus. Der Spiegel schrieb
auf einer dpa-Meldung basierend:
>Vor wenigen Tagen hatte das rechte Onlinemagazin »Multipolar« teils geschwärzte Proto-
kolle des Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) aus der Zeit von Januar 2020 bis April
2021 öffentlich gemacht.<
331
325
https://uebermedien.de/56607/corona-recht-ohne-mundschutz-der-nordkurier-laesst-einen-anwalt-
querdenken/
326
https://www.spiegelkritik.de/2021/01/15/das-nicht-aseptische-interview/
327
https://www.derstandard.at/story/2000120153073/das-neue-corona-quartett-auf-servus-tv-eine-buehne-
fuer
328
https://www.dwdl.de/meinungen/79817/wie_servustv_seinen_ruf_in_der_coronakrise_ruiniert/
329
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/corona-verschwoerung-stefan-homburg-1.4906380
330
https://taz.de/Aufarbeitung-der-Pandemie-Massnahmen/!5998044/
331
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-politik-marco-buschmann-fordert-aufarbeitung-a-
d2260483-7cef-44cb-a807-b50960fb59dd Ebenso in der Erstmeldung, bei der im Teaser allerdings noch wert-
neutral von "Journalisten" gesprochen wurde: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-rki-muss-
protokolle-des-krisenstabs-veroeffentlichen-a-2d6aa52a-e35a-4535-95fe-eeb4ff5f451b
75
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
wobei das Framing "rechts" von der Spiegel-Redaktion stammte. Schließlich hatte der Spiegel schon
vier Tage zuvor in einem Teaser geschrieben:
>Das Medium eines rechten Verschwörungstheoretikers hat die Coronaprotokolle des Krisen-
stabs am Robert Koch-Institut herausgeklagt.<
332
Das Framing besteht hier in zweierlei: Zum einen werden keineswegs alle Medien irgendwo politisch
verortet ('der linke Spiegel'?), zum anderen werden damit Tatsachen, die von ihrem Überbringer
völlig unabhängig sind, mit diesem in Verbindung gesetzt.
= Gut und Böse =
Ein starkes Indiz für nicht-objektive Berichterstattung ist stets, wenn die mediale Äußerung einer
gegenteiligen Wertung schwer vorstellbar ist. Zu den beliebten medialen Erzählungen gehört, was
Frauen besser machen als Männer (und zwar genau so pauschal). Gegencheck: 'Frauen können es
nicht' wäre in den Nachrichtenmedien undenkbar. Aber dass Frauen besser durch die Corona-Krise
führen, kann man beiläufig als Allgemeinwissen darstellen (ZEIT-Magazin/ ZEIT-Online im Podcast
"Alles gesagt"
333
) oder in eigenen Artikeln ausbreiten:
"Deutschland, Neuseeland, Finnland, Dänemark und Island gehören zu den Staaten, welche
die Pandemie erfolgreich managen. Sie haben niedrige Infektionsraten und/oder wenige To-
desfälle. Und sie werden alle von Frauen regiert. [...] Frauen haben einen anderen Führungs-
stil und eine andere Art Macht auszuüben. Die Corona-Krise macht dies einmal mehr deut-
lich."
(Handelszeitung Schweiz, 16. April 2020
334
)
Bsp.: Der Stern arbeitete in seinem Beitrag zum Thema männliche Unfähigkeit heraus: "In den fünf
Staaten, die von der Pandemie am härtesten getroffen sind, regieren allesamt Männer."
335
(Wissen-
schaftsmethodisch sind all solche Korrelationen natürlich Scharlatanerie. Man müsste - wenn schon -
vorher die Hypothese aufstellen, wie sich der biologische Geschlechtsunterschied auf eine künftige
Politik auswirken wird.)
Weiter verbreitet war vor allem zu Beginn der Pandemie die Behauptung, die Autokraten Trump,
Bolsonaro und Orban hätten das Problem besonders schlecht im Griff, was die reinen Zahlen aller-
dings nicht belegen.
336
Das Fehlen von Objektivität liegt grundsätzlich in der Auswahl und Interpreta-
tion solcher Nachrichten, die eben keinem einheitlichen Maßstab folgt. Allen Schwüren auf 'die Wis-
senschaft' zum Trotz werden im Zweifelsfall aus beliebigen Korrelationen kausale Zusammenhänge
gemacht.
332
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-protokolle-des-rki-grosse-aufregung-wenig-neues-a-
93b9e66c-ad8f-41e2-a3ff-8db02cb37dc9
333
https://www.zeit.de/digital/2020-11/richard-socher-kuenstliche-intelligenz-interviewpodcast-alles-gesagt
334
https://www.handelszeitung.ch/politik/fuhren-frauen-besser-durch-die-corona-krise
335
https://www.stern.de/politik/ausland/meistern-regierungschefinnen-die-coronakrise-besser--ihre-
umfragewerte-deuten-darauf-hin-9354704.html
336
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1111794/umfrage/todesfaelle-mit-coronavirus-covid-19-je-
millionen-einwohner-in-ausgewaehlten-laendern/
76
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: So wird eine Covid-19-Erkrankung bei "Masken-Muffeln"
337
reflexhaft mit ihrer Kritik an der
Corona-Politik verbunden (bspw. Falter-Chefredakteur Florian Klenk bei Thomas Seitz
338
), während
umgekehrt bei erkrankten Befürwortern und Protagonisten strikter Maßnahmen kein (hämischer)
Zusammenhang hergestellt wird. Beleg für Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Mund-Nasen-
Bedeckung sind solche Einzelfälle ohnehin nie.
Auch mediale Sippenhaft kommt höchst selektiv zum Einsatz, nämlich dann, wenn es der Skandalisie-
rung dienlich ist.
Bsp.: Weil Robert Kennedy Jr. als Redner einer Kundgebung in Berlin nur wenig gesagt hatte, was zur
Aufregung taugt, verzichtete kaum ein Bericht auf die Erwähnung, Kennedys Familie habe sich längst
von ihm distanziert.
339
Bsp.: Und weil die Medien Sippenhaft verhängen, wenn es ihrer Newserzeugung dienlich ist, bestrei-
ten in heiklen Situationen gleich alle Verdächtigen jegliche Verwandtschaft mit dem Delinquenten.
Beispielhaft dafür war ein Institut der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.
Nach der hanebüchenen Twitter-Skandalisierung eines Blogposts
340
erklärten die Professoren Carsten
Reinemann, Diana Rieger und Thomas Hanitzsch als Direktorium u.a.:
>Die Verantwortung für die auf dem Blog veröffentlichten Inhalte liegt ausschließlich bei Prof.
Meyen. Das Institut hat keine Möglichkeit, auf die Inhalte Einfluss zu nehmen. Als größtes kommu-
nikationswissenschaftliches Institut in Deutschland fühlt sich das IfKW den Prämissen von evidenz-
basierter Wissenschaft verpflichtet. Das Institut legt daher Wert auf die Feststellung, dass die auf
dem Blog 'Medienrealität' geäußerten Positionen nicht die Meinung des IfKW als Institution wider-
spiegeln.<
341
(Dieses Statement wurde dann zurückgezogen
342
und am 5. Juni 2020 durch ein neues ersetzt
343
,
das inzwischen auch nicht mehr online steht.)
Die Süddeutsche griff Twitter-Erregung und IfKW-Statement in einem Beitrag auf und erhob den Fall
damit zum Problem einer Qualitätszeitung.
344
Für eine objektive Darstellung fehlte schon die Rele-
vanz, nicht von ungefähr mäandert der Beitrag um die große Aussagelücke, was Meyen falsch, unwis-
senschaftlich oder sittenwidrig gemacht haben soll. Vielmehr wird im Zirkelschluss Relevanz aus dem
Statement der Institutsleitung abgeleitet, die sich nun "erstmals öffentlich distanziert" habe. Dabei
gab es objektiv gar nichts zum Distanzieren, wie schon damals klar aus dem Text hervorging, noch
337
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_89141118/afd-politiker-thomas-seitz-hat-
corona-masken-muffel-mit-covid-19-in-klinik.html
338
https://twitter.com/florianklenk/status/1339907112755994625?s=20 (nicht mehr online)
339
https://taz.de/Der-Anwalt-Robert-Kennedy-Jr/!5706424/
340
https://www.heise.de/tp/features/SZ-schliesst-sich-Kampagne-gegen-linken-
Kommunikationswissenschaftler-an-4770227.html
341
https://web.archive.org/web/20200603054710/https://www.ifkw.uni-
muenchen.de/aktuelles/institutsnews/stellungnahme_blog_meyen/index.html
342
https://web.archive.org/web/20200604211353/https://www.ifkw.uni-
muenchen.de/aktuelles/institutsnews/stellungnahme_blog_meyen/index.html
343
https://web.archive.org/web/20200605151408/https://www.ifkw.uni-
muenchen.de/aktuelles/institutsnews/stellungnahme_blog_meyen/index.html
344
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/lmu-muenchen-professor-verschwoerungstheorien-1.4917222
77
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
deutlicher aber in der später veröffentlichten "Aktualisierung".
345
Aber ganz Meyens Blognamen
entsprechend hat das Medium Süddeutsche Zeitung Realität geschaffen: die "Kontroverse" ist sofort
in der Wikipedia gewürdigt worden.
346
= Interpretationen statt Tatsachen =
Die nun schon mehrfach angeprangerte Vermischung von Tatsachen und Meinungen betrifft auch die
Objektivität: wenn nämlich schon die Darstellung von Ereignissen durch Interpretationen geprägt
wird.
Bsp.: "AfD-Abgeordneter Brandner löst Polizeieinsatz im Zug aus" titelte t-online am 19. August
2020
347
, der Berliner Tagesspiegel teaserte dazu zwei Tage später:
>Stephan Brandner wollte sich im Zug nicht an die Maskenpflicht halten, der Schaffner rief die
Polizei. Der AfD-Politiker schloss sich daraufhin in der Toilette ein.<
(Tagesspiegel, 21. August 2020
348
)
Ohne dabei gewesen zu sein, lassen sich die Artikel natürlich nicht objektivieren, aber als Übung in
Volontärskursen eignen sie sich doch: Was darin sind Interpretationen (und damit Tatsachenvermu-
tungen oder Meinungen), was unbestreitbare Tatsachen? Den Polizeieinsatz hat ganz offenkundig
nicht Brandner, sondern der Schaffner ausgelöst, bzw. genauer: beantragt (die "Auslösung" ist eine
Entscheidung der Polizei). Dass der Politiker sich nicht an die Maskenpflicht halten wollte, ist unbe-
legt, nicht nur, weil über sein Wollen niemand außer ihm etwas wissen kann, sondern weil die nüch-
terne Darstellung der Situation etwas anderes ergibt (wer isst, kann und muss keine Maske tragen).
Und wer auf eine Toilette außerhalb der eigenen vier Wände geht, schließt diese für gewöhnlich
hinter sich ab ohne dass dies als "sich einschließen" tituliert wird. Zur Objektivität gehört ferner, ob
in anderen Fällen (z.B.: 'Flüchtling ohne Fahrkarte') Recherchefragen gestellt würden, die hier unter-
blieben, etwa zur Verhältnismäßigkeit (sechs Beamte, wozu die Polizei "aus grundsätzlichen Erwä-
gungen" keine Angaben macht, also die presserechtlich berechtigte Auskunft verweigert). Zur Objek-
tivität gehört auch, ob an den Vorfall dieselben Relevanzkriterien gestellt wurden wie bei vergleich-
baren Fällen, oder ob die journalistische Selektion nach dem Motto verlief: 'Ach, der AfD-Brandner
mal wieder...', was Kahneman (2016) nach Timur Kuran und Cass Sunstein "Verfügbarkeitskaska-
den"
349
nennt).
Bsp.: Etwas eindrücklicher, aber schon behandelt: der "Sturm auf den Reichstag"
350
(Ruhr Nachrich-
ten Verlag: "Sturm auf Reichstag bestürzt"
351
; RTL: "Polizisten mussten Reichstag-Stürmung zu dritt
345
siehe dazu ein Interview mit Meyen: https://www.bayerische-
staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/kritik-an-corona-massnahmen-muss-
moeglich-sein.html
346
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Michael_Meyen&type=revision&diff=200440192&oldid=200160
257
347
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_88423750/afd-bundestagsabgeordnete-
stephan-brandner-loest-polizeieinsatz-im-ice-aus.html
348
https://www.tagesspiegel.de/politik/polizeieinsatz-wegen-afd-politiker-stephan-brandner-
bundestagsabgeordneter-verweigert-im-ice-die-maske/26112096.html
349
https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=138144
350
https://www.tagesspiegel.de/berlin/heilpraktikerin-aus-der-eifel-das-ist-die-frau-die-zum-sturm-auf-den-
reichstag-rief/26142914.html
78
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
verhindern"
352
). Eine objektivere Beschreibung der Situation hätte wohl gelautet: 'Demonstrierende
vor dem Bundestag'.
353
Damit wäre die gesamte Folgeberichterstattung (erregte Kommentierung der
Journalisten, erregte Kommentierung der Politiker, erregte Kommentierung der Kommentierung...)
hinfällig gewesen. Tatsächlich aber hat die interpretierende Berichterstattung eines kleinen Ereignis-
ses wesentlichen Anteil an der öffentlichen Wahrnehmung der Diskussion um die Corona-Politik.
Nüchtern hingegen wurde bspw. die 'Erstürmung des Reichstags' durch Greenpeace berichtet, von
Eklat keine Spur.
354
Wenn es um Hoheitssymbole und Träger von Hoheitsrechten geht, ist im deut-
schen Journalismus wenig Raum für Objektivität (siehe 'Sturm auf ein Polizistenhaus'
355
).
= Der Zweck heiligt die Kommentierung =
Zu den erstaunlichsten Schwenks im Journalismus (und parallel, vor- oder nachgezogen der Bevölke-
rung) gehörte die neue (heute: zwischenzeitliche) Sympathie für Markus Söder. Der Spiegel führte
gleich ein Doppelinterview mit ihm und Robert Habeck
356
, quasi als Vorgriff für eine mögliche
schwarz-grüne Koalition unter bayerischem Bundeskanzler. Das wäre unproblematisch, wenn es für
diesen Umschwung in der Konnotation der Berichterstattung objektive, also unabhängig von persön-
lichen Meinungen nachvollziehbare Veränderungen bei Söder gegeben hätte; oder der Journalismus
eine bisherige Fehleinschätzung oder ungerechte Behandlung Söders politischer Leistungen einge-
räumt hätte. Beides wird jedoch nicht berichtet. Es ist daher nur eine Vermutung, dass Söder als
öffentlicher Hardliner in Sachen Corona-Politik vielen, zumindest den Ton angebenden Journalisten
gefällt (obwohl er faktisch ja gerade im üblichen, aber unwissenschaftlichen Ländervergleich damals
wenig Erfolg vorzuweisen hatte).
Ähnlich der publizistische Meinungs- bzw. Darstellungsumschwung zu Bill Gates. Super-Reiche sind
einer Gesellschaft nachvollziehbar immer suspekt, und so sind sie eine permanente Herausforderung
für den Journalismus. Vor der Pandemie war dies auch für Gates unstrittig: ein Milliardär, der zu-
nächst mit seinem Microsoft-Imperium und später mit seiner Stiftung gehörigen Einfluss auf das
Weltgeschehen nimmt. Doch mit Corona veränderte sich dies, was eindrücklich Veränderungen an
älteren Artikeln zeigen.
Bsp.: So war ein Beitrag bei Deutschlandfunk Kultur vor der Pandemie betitelt mit "Weltgesundheits-
organisation am Bettelstab Was gesund ist, bestimmt Bill Gates". Später wurde er umbenannt (laut
Redaktion "präzisiert") in "Unabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation Das Dilemma der
351
https://web.archive.org/web/20210119172526/https://www.ruhr24.de/politik/berlin-corona-demo-
proteste-reichstag-video-polizei-rede-bayern-attacken-proteste-covid-19-news-zr-90032971.html
352
https://www.rtl.de/cms/eklat-bei-corona-demo-in-berlin-nur-drei-polizisten-mussten-die-stuermung-des-
reichstags-verhindern-4604953.html
353
Jede Menge Videomaterial zum Ereignis findet sich unter: https://ayavela.substack.com/p/der-sturm-auf-
den-reichstag
354
https://web.archive.org/web/20200704115720/https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/07/greenpeace
-protest-reichstag-berlin-kohle-transparent.html
355
https://www.spiegelkritik.de/2019/06/14/ein-jahr-nach-hitzacker-das-schweigen-ueber-ein-
journalistisches-versagen/
356
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/markus-soeder-csu-und-robert-habeck-gruene-im-doppel-
interview-a-ff5512db-d342-4fe3-8e51-cb04a7cd8f27
79
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
WHO"
357
(siehe alte URL: deutschlandfunkkultur.de/weltgesundheitsorganisation-am-bettelstab-was-
gesundist.976.de.html?dram:article_id=385853, u.a.in einem Sachstandsbericht des Bundestags
358
.
Bsp.: Beim SWR wurde der alte Titel beibehalten, der Beitrag allerdings um mehrere Einschübe mit
Warnungen vor Verschwörungstheorien ergänzt.
359
Gerade im ersten Jahr der Pandemie, wo Bedeu-
tung und Einfluss der Gates-Stiftung besonders offensichtlich sind und investigative Recherchen an-
gezeigt wären, tauchte Bill Gates nur noch im Zusammenhang mit Warnungen vor Fake-News über
ihn auf. Da sich an Gates, seiner Stiftung und der Finanzierung dieser wie der WHO zwischenzeitlich
nichts geändert hat, widerspricht der drastische Wandel in der Mediendarstellung dem Objektivitäts-
gebot: Gleiches (hier sogar: Selbes) wird ungleich behandelt. Ob die beteiligten Journalisten vorsätz-
lich handeln (z.B. mit dem Ziel, keine Verunsicherung in der Bevölkerung zu erzeugen) oder unbe-
wusst (z.B. weil sie aus ihrer persönlichen Angst-Perspektive heraus keine kritischen Fragen an er-
hoffte Heilsbringer haben), muss die Medienforschung zeigen. Dass im Corona-Journalismus Gleiches
ungleich behandelt wird, ist jedenfalls kein Einzelfall, sondern weit verbreitet. Journalistische Wer-
tungen sind offenbar stark davon abhängig, wie das Ergebnis zum Narrativ passt, anstatt korrekter-
weise Erzählungen auf objektive Feststellungen zu bauen.
Bsp.: Dass Bill Gates mit seiner Stiftung und seinem Netzwerk tatsächlich Einfluss auf die Pandemie-
Politik genommen hat, zeigt eine Recherche von Welt und Politico.
360
= Gleiches wird ungleich behandelt =
Wohl niemand würde es gutheißen, wenn Lehrer bei der Leistungsbewertung ihrer Schüler und Stu-
denten jeweils willkürliche Kriterien und Gewichtungen nutzen würden. Wir erwarten klare, transpa-
rente Regeln, die ggf. sogar von Verwaltungsgerichten geprüft werden können. Im "Desinfektions-
journalismus" sind Wertungen aus der Lamäng allerdings weit verbreitet.
Bsp.: Was qualifiziert jemanden zum Corona-Experten, worin gründet Expertise, die über Präsenz
oder Inexistenz in den Medien entscheidet? Der eine muss aktuelle Forschungsarbeiten zum Corona-
Virus veröffentlicht haben, der andere darf seit 15 Jahren als Politiker forschungs-inaktiv sein. Der
eine darf sich in einem Preprint irren, ein anderer nicht. Und wo lag die Expertise Bill Gates', die ein
fast zehnminütiges Interview in den Tagesthemen
361
begründete (oder 15 Minuten am selben Tag bei
der BBC
362
und viele weitere Medienauftritte)?
Bsp.: Zum Unterschied von "Medien- und Fachprominenz" schreibt Klimaforscher Stefan Rahmstorf
in seinem Kommentar "Kann man der Wissenschaft glauben?":
>[Drostens] Arbeiten wurden in der Fachliteratur letztes Jahr 15.000-mal zitiert in den Jah-
ren vor Corona um die 1.500-mal im Jahr (was zufällig auch der Zitierrate meiner Arbeiten
357
https://www.deutschlandfunkkultur.de/unabhaengigkeit-der-weltgesundheitsorganisation-das-
dilemma.976.de.html?dram:article_id=423076
358
https://www.bundestag.de/resource/blob/645812/e382539acdd205358b958cb7a9e8ba53/WD-2-013-19-
pdf-data.pdf Seite 9
359
https://www.swr.de/swr2/wissen/who-am-bettelstab-was-gesund-ist-bestimmt-bill-gates-100.html
360
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus241078911/Corona-Politik-Die-Machtmaschine-des-Bill-
Gates.html
361
https://youtu.be/083VjebhzgI
362
https://youtu.be/ie6lRKAdvuY
80
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
entspricht). Die Zitierrate von Hendrik Streeck liegt übrigens in den letzten Jahren um die 700
pro Jahr, auch im Jahr 2020, und beruht weit überwiegend auf seinen Arbeiten zu HIV. Die
Prominenz von Streeck in manchen deutschen Medien steht damit in Kontrast zur eher gerin-
gen Beachtung seiner Covid-19-Forschung in der internationalen Forschergemeinde.<
363
Rahmstorfs Argumentation können wir uns für das Qualitätsmerkmal "Relevanz" merken, hier inte-
ressiert nur die Ungleichbehandlung von Gleichem, sehr schön von Andrej Reisin herausgearbeitet:
"In der Tat wird mit vielerlei Maß gemessen, wenn es darum geht, wer sich als Expert:in äu-
ßern darf. [...] Dirk Brockmann zum Beispiel kommt bei derselben 'Google Scholar'-Abfrage
auf knapp 300 Zitationen pro Jahr, Michael Meyer-Hermann auf ca. 190, Viola Priesemann
auf ca. 180, Melanie Brinkmann auf ca. 170, Sandra Ciesek auf ca. 160. Niemand von ihnen
publizierte vor der Pandemie zu Corona-Viren oder der epidemiologischen Verbreitung von
Atemwegserkrankungen.
Der vom 'Spiegel' ebenfalls beschuldigte
364
Jonas Schmidt-Chanasit kommt übrigens ähnlich
wie Streeck in den Bereich von ca. 700 Zitationen pro Jahr. Und auf einmal entpuppt sich die
vermeintliche Entlarvung der 'False Balance' zugunsten von Streeck als Zitationshäufigkeits-
Cherrypicking."
365
Auch unabhängig von fachlichen Fragen werden Menschen im Journalismus subjektiv behandelt.
Oder wollte jemand wetten, die Berichterstattung hätte sich nicht mit Forderungen nach viel drasti-
scheren Maßnahmen überschlagen, wenn ein führender deutscher Politiker an Covid-19 verstorben
wäre? Wenn wir an die Spekulationen und Szenarien rund um Trumps Infektion denken...
366
Der eine Wissenschaftler oder Politiker darf sich irren und korrigieren, weil das gerade den Erkennt-
nisfortschritt zeigt, ein anderer bekommt seine von der Wirklichkeit überholte Prognose dauerhaft
um die Ohren gehauen. Perspektivlosigkeit für den eigenen Job rechtfertigt einmal die Flucht in an-
dere Länder, legitimiert ein anderes Mal jedoch nicht einmal sanften Protest. Schulden bzw. über-
haupt öffentliche Ausgaben sind mal ein riesiges Problem, dann wieder völlig unproblematisch (der-
zeit sind weder Höhe noch Tilgung ein nennenswertes Medienthema, nur ob dazu mal wieder das
Grundgesetz geändert werden soll
367
). Das unverhüllte Gesicht ist mal unabdingbare Voraussetzung
für eine freiheitliche Gesellschaft, ein anderes Mal nur ein "frühpubertärer Wunsch"
368
, also Pipifax.
Es ist mit einer objektiven Betrachtung schlicht unvereinbar, dass die Medien seit Jahren der Debatte
um das freiwillig getragene Kopftuch breiten Raum geben
369
, Proteste gegen die nun verpflichtende
Gesichtsverhüllung hingegen ignorieren oder als 'krude Thesen und Verschwörungstheorien' ab-
363
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/false-balance-kann-man-der-wissenschaft-glauben-a-
9c5e1d67-6870-4b98-8ef9-65062f90959b
364
Hier bezieht sich Reisin auf ein Interview des Spiegel mit Drosten in Heft 4/2021, S. 92-95
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/christian-drosten-wir-muessen-durchhalten-und-vor-allem-auf-
die-bremse-treten-a-9268683b-0415-4f09-b9f5-773bf2215cc1
365
https://uebermedien.de/69463/journalismus-ist-kein-uebersetzungs-dienstleister
366
https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/corona-trump-infiziert-wen-koennte-der-us-
praesident-alles-angesteckt-haben-73213670.bild.html
367
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-01/corona-pandemie-krise-schuldenbremse-helge-braun
368
https://www.zeit.de/kultur/2020-08/querdenken-demo-anti-corona-massnahmen-covidioten-stuttgart-
demonstration
369
https://www.timo-rieg.de/2015/03/zu-viel-tuch-im-kopf/
81
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
stempeln. Nochmal deutlich: nicht, weil man das nicht so sehen dürfte, sondern weil Gleiches nicht
ungleich bewertet werden kann, wenn diese Bewertung der öffentlichen Orientierung dienen soll.
Bsp.: Mal ist 'Staatsferne' ganz wichtig, wie bei der Finanzierung und Durchführung des öffentlich-
rechtlichen Rundfunks, und staatliche (bzw. staatlich finanzierte) Informationen werden als Propa-
ganda gesehen, mal werden gerade oder sogar nur staatliche Stellen als seriöse Quellen angese-
hen.
370
Der Verfassungsschutz soll mal aufgelöst werden (weil er auf dem rechten Auge blind ist), mal über-
wacht er nicht genug. Die Polizei ist im einen Zusammenhang insgesamt rassistisch und tendenziell
rechtsextrem, in anderem Zusammenhang objektive Zeugin; Polizeigewalt gegen Bürger wird bei der
einen Demonstration von den Medien skandalisiert, bei einer andern für unproblematisch gehalten
oder ignoriert. Mal sollen alle "auf die Wissenschaft hören"
371
, mal wird Wissenschaft brüsk zurück-
gewiesen.
Datenschutz, Grundgesetz, Selbstbestimmungsrechte unter 'Corona-Bedingungen' wird in den Me-
dien vieles neu bewertet, ohne dass damit ein Eingeständnis vorangegangener Fehleinschätzungen
verbunden wäre. Natürlich kann man etwas im einen Kontext gut, im anderen Kontext schlecht fin-
den, nur dürfen die Bewertungsmaßstäbe dafür nicht nach Belieben verändert werden. Für die Ori-
entierung jedes Einzelnen hilft da in den Medien nur das Streben nach Objektivität, anstatt mit zwei-
erlei oder vielerlei Maß so zu messen, dass das Ergebnis den Zimmerleuten der Medienwirklichkeit in
den Kram passt.
= Faktenchecks nach Belieben =
Die in der Corona-Berichterstattung besonders populär gewordenen "Fakten-Checks" können in ihrer
Sujet-Auswahl ebenfalls unter dem Kriterium der Objektivität betrachtet werden. Auch wenn hier,
wie mehrfach deutlich gemacht, keinerlei quantitative Aussagen getroffen werden können, gibt es
doch viele Hinweise, dass die Faktenprüfung nicht objektiv auf alle Aussagen angewendet wurden.
Bsp.: Gerade der noch zu Zeiten der "Großen Koalition" medial omnipräsente Karl Lauterbach, sei-
nerzeit nur Abgeordneter im Bundestag, nicht einmal Mitglied im Gesundheitsausschuss
372
, wurde
nur äußerst selten einem Faktencheck unterzogen, obwohl seine Aussagen sicherlich wirkmächtiger
waren als die irgendwelcher "Verschwörungstheoretiker". Erst mit großer zeitlicher Verzögerung
wurde beispielsweise seine Aussage, Corona-Impfungen seien "nebenwirkungsfrei"
373
, in den reich-
weitenstarken General-Interest-Medien hinterfragt. Dabei hatte er sich dazu mehrfach widerspro-
chen, ebenso bei seiner eigenen Darstellung, ob er nun für oder gegen eine Impfpflicht sei.
374
Bsp.: Dass Politiker ihre Meinung ändern, ist nicht nur normal, sondern im Sinne von Diskussionen zu
erwarten. Dabei darf allerdings ein Meinungswandel gerade nicht kaschiert werden hier wäre dann
370
https://web.archive.org/web/20200901144641/https://www.tagesschau.de/inland/gesundheitsportal-
101.html
371
https://www.sueddeutsche.de/meinung/corona-lockdown-perspektiven-kollateralschaeden-1.5179566
372
https://www.bundestag.de/webarchiv/abgeordnete/biografien19/L/lauterbach_karl-521508
373
https://twitter.com/karl_lauterbach/status/1426323236019650564
374
https://twitter.com/AnwaltUlbrich/status/1635372090793533440
82
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ein Faktencheck objektiv angebracht. Beim Thema Impfpflicht hatte unter anderem Bundeskanzler
Scholz seinen Sinneswandel zu verschleiern
375
versucht mit den Worten:
>Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass ich für eine Impfpflicht bin, und ich bleibe dabei. Das
habe ich heute noch einmal bekundet, aber auch schon bei jeder anderen Gelegenheit, bei der
ich danach gefragt worden bin.<
376
Ein Faktencheck hätte ergeben, dass es eben nicht jeder wissen kann (der sich interessiert), weil
Scholz lange etwas anderes vertreten hatte.
377
Seine falsche Behauptung hätte also gar nicht ohne
Kennzeichnung als solche verbreitet werden dürfen.
Insgesamt kann man sich wundern, dass eigene Faktencheck-Medien ihren Fokus auf Veröffentli-
chungen außerhalb der Massenmedien richten, insbesondere sog. "Alternative Medien" und Social-
Media-Posts. Da geistert zwar wirklich viel Falsches, Verzerrtes und Unvollständiges durch die Ge-
gend. Ein für die Orientierung notwendiger Link zwischen diesen Verbreitern und den Faktenchecks
fehlt aber. Auch untereinander scheint man sich Fehler eher durchgehen zu lassen.
Bsp.: Im Mai 2024 behauptete der "Anti-Fake-News-Blog" Volksverpetzer, bei dem durch die sog.
RKI-Files publik gewordenen Vorschlag des neuen Gesundheitsministers Karl Lauterbach im Dezem-
ber 2021, für Gastronomie und Handel (außer Lebensmittelgeschäfte) eine 1G-Regel aufzustellen,
habe es sich um die Idee einer Testpflicht gehandelt.
>Die Schwurbler haben jetzt "enthüllt", was alle, die sich auch an 2021 und 2022 erinnern
können, mitbekommen haben. Sie erfinden einfach nur noch einen Pseudo-Skandal nach dem
anderen. Übrigens war mit 1G "getestet" gemeint, Impfstatus egal. #Lauterbach<
Diese Behauptung ist ausweislich der RKI-Protokolle falsch. Trotz der damit verbundenen erheblichen
Desinformation griffen die bekannten Faktencheck-Portale den Fehler nicht auf, der Volksverpetzer
selbst reagierte auf die entsprechende Kritik mit einer Blockierung deren Autors auf X.
378
= Härtefall: Medienkritik =
Eine besondere Herausforderung an das Bemühen um Objektivität stellt Medienkritik dar. Dass es sie
gibt und geben muss, dürfte unstrittig sein; doch ihre öffentliche Wahrnehmung ist ganz wesentlich
davon abhängig, wie die Medien selbst mit ihr umgehen. Können Journalisten die Kritik an ihrer eige-
nen Arbeit objektiv bearbeiten? Werden sie aktiv danach suchen und ihr ohne Ansehen der eigenen
Person, des eigenen Hauses oder der eigenen Profession nachgehen?
375
Dass Scholz Ende 2021/ Anfang 2022 davon ausgegangen sein dürfte, die Impfung schütze zuverlässig vor
der Weitergabe von infektiösen Viren, gehört natürlich ins Kapitel 3 "Richtigkeit". Denn es haben sich in der
Zwischenzeit keine Tatsachen geändert, die ursprünglichen Annahmen fälschlich als Tatsachen dargestellt
waren falsch. Siehe u.a. https://www.zdf.de/politik/berlin-direkt/scholz-impfpflicht-bundestag-100.html
376
https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressekonferenz-von-bundeskanzler-scholz-
ministerpraesident-wuest-und-der-regierenden-buergermeisterin-giffey-nach-den-beratungen-des-
bundeskanzlers-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-7-januar-2022-1995276 Als
Videoschnipsel aus weniger seriöser Quelle zusammen mit vorherigen Aussagen von Scholz:
https://twitter.com/Bittelaecheln16/status/1639330672568303628
377
https://www.welt.de/politik/deutschland/article235390212/Diese-Politiker-waren-gegen-eine-Impfpflicht-
und-sind-jetzt-dafuer.html
378
Mit allen relevanten Links und Tweets: https://www.spiegelkritik.de/2024/05/15/volksverpetzer-
phantasiert-ueber-die-wahrheit/
83
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Wenn wir uns die Defizite in Bereichen anschauen, die weitaus professioneller aufgestellt sind, näm-
lich mit klaren Regelungen und Kontrollorganen, dann hängen die Erwartungen wohl niedrig. Interne
Ermittlungen der Polizei oder Staatsanwaltschaft verlaufen auffällig oft im Sande
379
, Anzeigen gegen
Polizisten führen so gut wie nie auch nur zu Gerichtsverfahren
380
(mit dem Ziel der objektiven Beur-
teilung des Falls). Wer auf Journalisten und ihre Medien angewiesen ist, wer bei ihnen (positiv) vor-
kommen möchte, wird sich mit Kritik zurückhalten. Man sollte aufs Beißen nicht nur bei der Hand
verzichten, die einen füttert, sondern auch bei der, die einen streichelt oder auf der Promenade Gas-
si führt.
Daher kommen für Journalismuskritik vor allem vier Gruppen in Betracht: 1. Zampanos, die keinerlei
Reputation bei den Medien mehr zu verlieren haben (und im Zweifelsfall ohnehin nur noch als Enfant
terrible vorkommen können); 2. Medienforscher, deren altruistisches Streben nach Erkenntnisge-
winn keine Seilschaften, keine falschen Rücksichtnahmen und keinerlei Selbstdarstellung kennt; 3.
Journalismuskunden, die mit den Produkten (höchst) unzufrieden sind; 4. Medienjournalisten, die
nicht nur bearbeiten, was ihnen als Agenturmeldungen und Pressemitteilungen auf den Desktop
kommt, sondern die eigeninitiativ Fragen stellen und so Defizite ihres Metiers journalistisch aufspü-
ren (siehe dazu auch Kap 11.3: Journalistische Journalismuskritik) .
Aus der Medienforschung gibt es weiterhin erstaunlich wenig belastbares Material zur Qualität des
Corona-Journalismus. Zumindest in der Anfangsphase der Pandemie war auffällig, dass sich vor allem
emeritierte Professoren zu Wort meldeten (siehe Übersicht bei Spiegelkritik
381
). So stellte Michael
Haller in einem sehr umfangreichen und vielseitigen Beitrag fest:
>Tatsächlich produzierten die tagesaktuellen Medien seit Januar eine Überfülle an redundan-
ten, ungesicherten, sachfalschen und kurzlebigen Nachrichten, die das bewirken, was US-
amerikanische Medienanalytiker schon vor Jahrzehnten im Hinblick auf die Onlinewelt sagten:
'overnewsed but underinformed'.<
382
Der Medien- bzw. genauer Journalismusjournalismus führt in Deutschland ein Schattendasein
383
: Es
gibt ihn nur wenig, und er ist fast überall in das System eingebunden, mit dem er sich objektiv be-
schäftigen sollte.
Die Medienforscher Stephan Weichert und Leif Kramp resümierten vor Jahren über "32 Gespräche
mit politischen Berichterstattern aller Mediengattungen sowie Vertretern aus Politik und Wirtschaft"
zum Agendasetting in der Berichterstattung über die Hauptstadtpolitik, die Befragten kritisierten:
"dass die Selbstreflexion und -kontrolle des eigenen Berufsstandes und der Politikberichter-
stattung mangelhaft ist: Hier fehle es sowohl an Gelegenheiten und Foren zum professionel-
len Austausch als auch an funktionierenden und nachhaltigen Kontrollmechanismen im Poli-
tikjournalismus selbst Stichworte: Medienjournalismus/ Medienkritik." (Journalismus in der
Berliner Republik Wer prägt die politische Agenda in der Bundeshauptstadt? Seite 72)
384
379
https://www.deutschlandfunkkultur.de/polizeigewalt-korpsgeist-und-mauern-des-
schweigens.1005.de.html?dram:article_id=444603
380
https://correctiv.org/aktuelles/justiz-polizei/2015/08/20/polizisten-nur-selten-vor-gericht/
381
https://www.spiegelkritik.de/2020/10/20/medienkritik-zum-corona-journalismus-sammlung/
382
https://eijc.de/corona-krise-und-die-medien/
383
https://horst-niesyto.de/wp-content/uploads/2020/08/2006_Niesyto-Rath-
Sowa_Medienkritik_heute_Onlineversion.pdf
384
https://netzwerkrecherche.org/wp-content/uploads/2014/11/nr-studie-hauptstadtjournalismus.pdf
84
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Beispielhaft für das Schattendasein journalistischer Medienkritik ist auch der Hinweis des ehemaligen
Spiegel-Chefredakteurs Georg Mascolo, dass der Fälschungsskandal Claas Relotius gerade nicht vom
Medienjournalismus aufgedeckt worden ist.
385
In einer Bilanz zum ersten Corona-Jahr konstatiert Klaus Raab im Medienportal des MDR:
>Die Corona-Berichterstattung war sehr raumgreifend, aber nahm ab April ab. In der ersten
Phase war die Stimmenvielfalt gering und keinesfalls auffallend regierungskritisch, ab dem
späten Frühjahr änderte sich das Bild. Die lauteste Minderheit der Maßnahmenkritiker also
die querdenkende , die klagte, sie werde nicht beachtet, wurde sehr wohl beachtet, wenn
auch nicht affirmativ. Am Ende des Jahres ergibt sich insgesamt ein differenziertes Bild."
(Klaus Raab, MDR-Altpapier, 18. Dezember 2020
386
)
Bsp.: Zur Objektivität seines Beitrags könnte man einiges anmerken; da es hier jedoch stets nur um
Fallbeispiele zur Verdeutlichung von Problemen geht, soll ein Aspekt genügen. Raab schreibt:
>So wurde etwa im Herbst in einer Petition
387
an die Öffentlich-Rechtlichen herangetragen, es
solle eine Talkshow geben, in der 'u.a. folgende Experten zu Wort kommen: Dr. Sucharit
Bhakdi, Dr. Wolfgang Wodarg, Prof. Homburg, Dr. Drosten, Dr. Wieler, Dr. Karl Lauterbach'.
Die ersten drei Genannten galten in diesem Jahr den quer statt geradeaus denkenden Maß-
nahmenkritikern als Experten. Sie gehörten aus guten Gründen aber nicht zum Talkpersonal
der Öffentlich-Rechtlichen."
Dass es zu dieser Talkshow nicht gekommen ist (aber immerhin zu einer laut Medienjournalist René
Martens "epochal fahrlässigen Videokonferenz"
388
mit dem Petenten
389
), kommentiert Raab so:
>Es wäre freilich auch ein Armutszeugnis, wenn die ARD die Besetzung ihrer Talks von Petitionen
abhängig machen würde.<
Abhängig machen soll die ARD ihr Programm sicherlich nicht von Petitionen. Aber weshalb sie grund-
sätzlich zu ignorieren wären, wie Raab wohl intendiert, wird nicht erklärt. Die Autoren des MDR-
Medienportals sind jedenfalls sonst für Lobbyismus durchaus offen. So finden die "Neuen Deutschen
Medienmacher" u.a. mit ihrem Negativpreis "Goldene Kartoffel" regelmäßig Beachtung.
390
Die Mei-
nung einer kleinen Journalistenschar, die ihre Eigeninteressen vertreten, ist relevant, die Meinung
von 63.000 Petenten hingegen irrelevant? Eine Petition zur Musikauswahl im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk mit nur 2.000 Unterzeichnern fand wohlwollende Erwähnung, keineswegs versehen mit
dem Hinweis, Sender sollten diese ignorieren.
391
Auch dass ARD-Sender ein Konzert des Pink-Floyd-
Mitgründers Roger Waters nicht wie geplant übertragen wollten, angestoßen von einer Petition mit
1.500 Unterstützern, wurde nicht als Armutszeugnis bezeichnet.
392
Zugegeben, die Beiträge stammen
385
https://uebermedien.de/37210/medien-muessen-an-sich-die-massstaebe-anlegen-die-sie-an-alle-anderen-
anlegen/
386
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-corona-journalismus-100.html
387
https://www.openpetition.de/petition/online/ard-sondersendung-wie-gefaehrlich-ist-corona Umfangreiche
Dokumentation des Petenten unter https://bastian-barucker.de/wp-
content/uploads/2021/03/RZ1_EINZELSEITEN_BB_Petition_12_Mappe_ad.pdf
388
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1772.html
389
https://www.sueddeutsche.de/medien/corona-berichterstattung-ard-wdr-1.5131452
390
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1786.html
391
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1346.html
85
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
von verschiedene Kolumnisten; doch für die Orientierung ist es wenig hilfreich, wenn die Maßstäbe
eines werktäglichen Medienspiegels nach Belieben bzw. ohne Begründung variiert werden.
Es dürfte grundsätzlich zutreffen, was Markus Reiter 2015 in einem Politischen Feuilleton sagte:
>Medienblogger und Medienjournalisten jammern vorwiegend darüber, dass bestimmte Me-
dien ihre politischen Ansichten nicht teilen. Und sie ignorieren Fehlleistungen, wenn die Bei-
träge ihrer eigenen politischen Meinung entsprechen.<
393
= Vom journalistischen Umgang mit Kritik =
Wie objektiv Medienmagazine und Medienressorts über ihr eigenes Berufsfeld berichten, wäre eine
verdienstvolle Untersuchung. Im ersten Corona-Jahr fiel jedenfalls auf, wie wenig die Berichterstat-
tung zur Pandemie überhaupt kritisch reflektiert wurde. Das RBB-Medienmagazin
394
beschäftigte sich
geradezu manisch mit der Erhöhung des Rundfunkbeitrags (an dessen Notwendigkeit die beiden
Redakteure keinen Zweifel aufkommen ließen). Das WDR-Medienmagazin
395
hatte wie alle Mitbe-
werber viel Interesse an Verschwörungserzählungen und forderte mehr Kontrolle durch die Platt-
formbetreiber
396
(was nun ausgerechnet Angela Merkel medienkritisch sieht
397
). Das BR-
Medienmagazin hat seiner Beobachtung des Corona-Journalismus eine eigene Rubrik gegönnt
398
, so
dass jeder selbst nach der Selbstkritik suchen kann. Aber nun zu einigen Beispielen der Medienkritik
Medienschaffender:
Bsp.: Im Podcast "Die Leitung steht" haben sich die beiden Chefredakteure Ulrich Becker (Südwest
Presse) und Hendrik Groth (Schwäbische Zeitung) mit der Kritik ihrer Leser beschäftigt. Zum Vorwurf,
die Zeitungen hätten bei den Berichten über Demonstrationen gegen die Corona-Politik nicht hinrei-
chend differenziert, heißt es darin:
>Man kann natürlich nach dem alten Motto 'mitgefangen, mitgehangen', man kann nicht ir-
gendwo hingehen, wo radikale Kräfte sich äußern und dann hoffen, dass in der Berichterstat-
tung ziseliert wird, da waren die Friedlichen, aber an der gleichen Stelle waren auch die Lau-
ten. Wenn ich mich der Querdenker-Bewegung anschließe, habe ich ein Risiko, wenn man das
so sagen will, dass ich in einen Topf geworfen werde, in den ich vielleicht nicht ganz reingehö-
re. Aber ich nehme ja billigend in Kauf, dass ich dabei bin und dann plötzlich halt unsere
Reichsbürger auftreten und die Politik bestimmen.<
(Ulrich Becker, Chefredakteur Südwest Presse)
399
392
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-234.html
393
https://www.deutschlandfunkkultur.de/debatte-ueber-meinungsmache-wenn-medienkritiker-unkritisch-
100.html
394
https://www.radioeins.de/programm/sendungen/sendungen/18/2302/230204_medienmagazin_19688.html
395
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-toene-texte-bilder-medienschelte/index.html
396
https://web.archive.org/web/20200930230626/https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-
toene-texte-bilder-interviews/audio-netzdenker---twitter-gegen-polit-werbung-100.html
397
https://web.archive.org/web/20210111165804/https://www.swr.de/swraktuell/merkel-kritik-sperrung-
twitter-trump-100.html
398
https://www.br.de/radio/b5-aktuell/sendungen/medienmagazin/medien-in-der-corona-krise-100.html
399
https://www.swp.de/suedwesten/staedte/ulm/podcast-der-chefredakteure-die-leitung-steht_-folge-27_-
cdu-vorsitz_-kanzlerwahl_-corona-lage-52207537.html
86
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Das klingt, als seien Demonstranten dafür verantwortlich, dass über sie nicht objektiv berichtet wird,
weil sie den Journalisten eine entsprechende Darstellung unnötig erschweren oder gar unmöglich
machen. Dass die Berichterstattung allerdings nicht für die Demonstranten erfolgt, sondern für die
Allgemeinheit, geht dabei unter.
Bsp.: Beim 3. Kölner Forum für Journalismuskritik räumte WDR-Medienjournalistin Anja Backhaus
ein, dass die Berichterstattung über den eigenen Sender stark der Hierarchie unterliegt (anstatt der
Objektivität), gar "eine Form von Angst herrscht, die nicht so gesund ist, was so eine Selbstbetrach-
tung, eine Reflexion des eigenen Hauses angeht".
400
Bsp.: "Arrogant und pauschal gegen jedwede Kritik verteidigt" (Andreas Rosenfelder, Welt
401
) hat
FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld den Journalismus insgesamt und vor allem den seines Hauses:
>Wer trotzdem davon überzeugt ist, dass 'die' Medien in diesem Corona-Jahr das meiste
falsch gemacht hätten, muss im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit sein, von der wir
gelernt haben, dass auch die Wissenschaft sie nicht ihr eigen nennt.<
402
Intensiver wurde seine Auseinandersetzung mit Kritik nicht. Er referierte sie auch nicht gerade aus-
führlich, sondern verdichtete ohne jede Quellenangabe:
>Zu viel Regierungsverlautbarung, zu viel Jens Spahn, zu viel Karl Lauterbach, zu wenig eige-
ne, kritische Ansätze, zu wenig über andere Länder, zu wenig über divergierende wissen-
schaftliche Ansätze, so lautete, stark verknappt, die Kritik.<
(Michael Hanfeld)
Mit diesem Fundus wird es nicht einfach, objektiv über die gesammelte Kritik des ersten Corona-
Jahres zu reflektieren, was immerhin Hanfelds Anspruch war, Titel: "Im Zeichen von Corona Kleine
Bilanz des Journalismus-Jahres".
403
Bsp.: Als in einer Lanz-Sendung
404
die Philosophin Svenja Flaßpöhler meinte, grundsätzliche Fragen zu
den verschiedenen Wegen einer Pandemie-Bekämpfung seien in den Medien kaum erörtert und die
heißen Eisen nicht angefasst worden, entgegnete heute-journal-Moderator Claus Kleber: "Keiner
unserer Zuschauer, der Ihnen heute Abend zuhört, wird sagen: 'ich habe noch nie etwas über den
schwedischen Weg und die anderen Möglichkeiten gehört'" und er habe "nicht den Eindruck, dass
wir im heute-journal Leute, die interessante Dinge vorzubringen haben, konsequent vermieden hät-
ten." Zu Flaßpöhlers Kritik, über die tatsächliche Leistung von Impfstoffen sei in der heißen Phase
nach ihrer Wahrnehmung nicht berichtet worden, intervenierte Kleber: "Aber auch das weiß jeder,
der von den 100 Sendungen eine gesehen hat". Was nur heißen kann: Svenja Flaßpöhler informiert
sich einfach nicht (beim heute-journal). Denn alle wissen Bescheid, nur sie nicht. Ende der Medienkri-
tik.
Bsp.: Aber es geht noch emotionaler und zwar in der Kommunikationswissenschaft selbst. Lorenz
Lorenz-Meyer, Professor für Onlinejournalismus in Darmstadt, kommentierte Stephan Russ-Mohl's
400
https://youtu.be/8tYgSgIfa68
401
https://www.welt.de/kultur/plus223694090/Corona-und-die-Medien-Die-Regierungssprecher.html
402
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/journalismus-in-corona-zeiten-ist-die-kritik-berechtigt-
17121657.html
403
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/journalismus-in-corona-zeiten-ist-die-kritik-berechtigt-
17121657.html
404
https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-20-januar-2021-100.html
87
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Ansicht, "die Medien [hätten] mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in
Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten” mit
den Worten, dass Wissenschaftler wie sein Kollege "anscheinend von der Wichtigkeit ihres Arbeits-
feldes so besoffen sind, dass sie ständig Ross und Reiter verwechseln."
405
= Rezeption der Medienkritik von Precht und Welzer =
Ein eigenes Forschungsfeld wäre die journalistische Behandlung des Buches "Die Vierte Gewalt Wie
Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist" von Richard David Precht und Harald
Welzer (2022). Das Buch wurde schon so frühzeitig vor seinem Erscheinen von Journalisten mit Po-
lemik bedacht, dass diese im Buch selbst aufgegriffen werden.
Bsp.: >Aha. Precht ist jetzt endgültig im Schwurbellager angekommen. Si tacuisses....<
406
Die negative Reaktion eines großen Teils der Medien haben Precht und Welzer in ihrem Buch vorher-
gesagt, einschließlich des vermeintlichen Widerspruchs, ausgerechnet medienpräsente Menschen
ließen sich über mangelnde Meinungsvielfalt in den Medien aus.
407
Denn alle Medienkritik müsse
eben durch die Medien, um wirksam werden zu können
408
(siehe dazu im Kap. Meinungsvielfalt die
Hinweise auf medial nicht erwähnte Buch-Bestseller zur Pandemie).
Die Corona-Berichterstattung ist jedoch nur ein relativ kleines Thema in diesem Buch, weshalb auf
die Rezeption hier nicht in der möglichen epischen Breite eingegangen werden soll. Nur beispielhaft
sei auf Übermedien verwiesen, weil dieses Online-Magazin für Medienkritik nach meiner Wahrneh-
mung überdurchschnittlich objektiv mit Medienkritik umgeht. Mit-Gründer Stefan Niggemeier hat
auf der Buchmesse 2022 bei der ARD mit Precht und Welzer über ihr Buch diskutiert.
409
Obwohl Nig-
gemeier behauptet, in weiten Teilen in der Kritik übereinzustimmen, hat er wenig Lob für die Auto-
ren übrig, weil ihr Werk vor Fehlern strotze: "Wenn wir bei Übermedien so schlampig arbeiten wür-
den, wären wir längst bankrott."
410
Allerdings ist die Liste an Fehlern, die er im Talk und im späteren
Online-Text benennt, kurz. Wie viele belegte Fehler es wirklich gibt, wird nicht deutlich, und mithin
fehlt wieder einmal jeder Maßstab: Wie viele Fehler darf ein Buch haben, um noch akzeptabel zu
sein? Wie werden erwiesene Fehler mit richtigen Erkenntnissen verrechnet? Immerhin liefern Welzer
und Precht einige geschichtliche, philosophische und sozialpsychologische Hintergründe, die man u.a.
bei Übermedien so bisher nicht lesen konnte (etwa zur Entstehung des Begriffs "Vierte Gewalt" für
den Journalismus). Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit zentralen Behauptungen des Buches gab
es weder im Talk noch in den Übermedien-Rezensionen.
Bsp.: Stattdessen konterte Kulturjournalist Nils Minkmar auf Übermedien Behauptungen mit Be-
hauptungen. Precht/ Welzer (2022) sagen, in neuen, unübersichtlichen Situationen beäugten Journa-
405
https://bruchstuecke.info/2020/10/29/die-kraenkung-der-medienexperten/
406
https://twitter.com/HollsteinM/status/1544637624538877952
407
vgl. Armin Wolf: https://twitter.com/ArminWolf/status/1544951055938617345
408
Exakte Zitate aus dem Buch fehlen hier, weil ich es bisher nur als Hörbuch konsumiert habe, in für Audio-
Nutzung wohl typischen schreibtischfernen Situationen.
409
https://www.ardmediathek.de/video/frankfurter-buchmesse-2022/die-vierte-gewalt-medien-auf-dem-
pruefstand/hr-fernsehen/Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xODQ4MTU
410
https://uebermedien.de/77737/das-buch-von-precht-und-welzer-ist-fast-so-richtig-wie-die-bahn-
puenktlich/
88
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
listen genau, was die Kollegen äußern, und versammeln sich um einen solchen "Cursor-
Journalismus". Minkmar behauptet, dies sei nicht der Fall.
>Wer nur im Chor ganz hinten mittönt, langweilt auf Dauer. Konformität mag im Militär,
beim Synchronschwimmen und im Ballett eine wichtige Sache sein, im Journalismus ist es die
allerungünstigste Eigenschaft. Wenn alle seit vielen Jahren die Bücher von Martin Walser lo-
ben, tut eine ambitionierte Kritikerin klug daran, einmal aufzuschreiben, was ihr daran nicht
gefällt.<
411
Die zentrale These vom journalistischen Meinungsmainstream kontert Minkmar mit der Behauptung:
>Es wird in jeder Redaktion permanent alles hinterfragt: Das Geschäftsmodell, die letzte Aus-
gabe, die generelle Strategie, die gegenwärtige Taktik, die Berichterstattung über Deutsch-
land und die Welt und alles andere auch. Sind drei Wirtschaftsredakteur:innen im Raum, ver-
treten die auch drei Meinungen.<
In der Corona-Berichterstattung findet sich diese Vielfalt (jeder Redakteur hat eine eigene Meinung)
nicht und zum Ukraine-Krieg wohl bisher auch nicht (Welzer kündigte dazu eine eigene Studie an,
die inzwischen veröffentlicht ist
412
).
Bsp.: Was Russlands Krieg betrifft, bestreitet Minkmar dies auch gar nicht, sondern hält es für die
einzig richtige Darstellung, wenn er schreibt:
>Die Deutschen und auch die deutschen Journalist:innen haben aus der Vergangenheit ge-
lernt und berichten nicht in abgehobener Äquidistanz über die Welt, sondern aufgrund be-
stimmter Werte. Daher steht die Mehrheit, so viel ist wohl richtig, im Falle eines Angriffskrie-
ges, eines versuchten Genozids und angesichts barbarischer Verbrechen gegen Zivilist:innen
auf der Seite der Opfer. Und wünscht ihnen alles, was keinen Weltkrieg auslöst und helfen
mag, den Aggressor zu vertreiben. [...] Es handelt sich bei dem Überfall auf die Ukraine wie
bei der Fatwa auf Salman Rushdie um einen, wie Rushdie einmal schrieb, Moment im Licht
gleißender moralischer Klarheit, und da soll man keinen Schatten suchen.<
Man kann aber den russischen Angriffskrieg als solchen korrekt beschreiben und gleichwohl z. B.
pazifistische Positionen vertreten. (Und alles, was es dazu zu sagen gibt, konnte in den 55 Jahren
Wehrpflicht, die es nur mit dem grundgesetzlichen Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab, disku-
tiert werden.) So wie man das Corona-Virus als potentiell tödlich erkennen und gleichwohl bestimm-
te politische Maßnahmen für unverhältnismäßig halten kann. Das darzustellen verlangt das Quali-
tätskriterium der Objektivität.
= Nachfrage kein Qualitätsbeweis =
Zu den Klassikern der Maßstabsverschiebung nach Belieben und damit der Nicht-Objektivität gehört
der Verweis auf Kundennachfrage. In allen gehörten medienjournalistischen Sendungen wurde die
eigene Corona-Berichterstattung mit Verweis auf die hohe Nachfrage beim Publikum gelobt. Von
RBB
413
bis Deutschlandfunk
414
, überall werden Klicks und Quoten als Beweis guter Leistung interpre-
411
https://uebermedien.de/77100/haetten-precht-und-welzer-doch-einfach-mal-jemanden-gefragt/
412
https://www.fischerverlage.de/magazin/neue-rundschau/die-veroeffentlichte-meinung
413
https://www.ardaudiothek.de/die-erzaehlte-recherche/episode-32-journalismus-im-corona-jahr-
2020/84749394
89
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
tiert, und spätestens positiver Zuspruch der Kunden gilt als faktischer Qualitäts-
415
und Vertrauens-
beweis
416
. Der Berliner Tagesspiegel erlebte aufgrund seines Corona-Journalismus gar einen "candy
storm".
417
Interessant ist allerdings, dass Auflagen und Nutzerzahlen keineswegs immer als Ausweis
der Qualität gelten. Die BILD-Zeitung gilt der professionellen Medienkritik nicht als Qualitätsblatt,
obwohl sie immer noch mit großem Abstand die höchste Printauflage hat und auch digital mehr
Menschen erreicht als die Konkurrenz. Die Bestseller-Bücher "Corona-Fehlalarm" (Karina Reiss/
Sucharit Bhakdi) oder "Chronik einer angekündigten Krise" (Paul Schreyer) finden in den Nachrich-
tenmedien trotz ihrer durch Nachfrage bescheinigten Qualität kaum Resonanz
418
(zu Paul Schreyers
Buch fand sich in den Print-Archiven von Bild, BamS, FAZ, FR, SZ, Focus, Spiegel, Stern, Zeit nichts; in
Bild tauchte es nur in der regelmäßig veröffentlichten Bestsellerliste auf). Natürlich ist Kundennach-
frage grundsätzlich kein Qualitätsausweis (sonst hätte McDonald's den besten Burger und Domino's
die beste Pizza). Wenn man aber dieses Maß nutzt, dann muss dies immer und stets gleich erfolgen.
Bsp.: Inhaltliche Kritik gerade an den stark nachgefragten Sondersendungen von ARD und ZDF formu-
lierten die Passauer Kulturwissenschaftler Dennis Gräf und Martin Hennig in ihrer Studie "Die Veren-
gung der Welt" (Gräf/ Hennig 2020).
419
Doch der mediale Umgang mit den Ergebnissen ihrer Auswer-
tung von 93 Corona-Sendungen blieb so oberflächlich, dass die berichtenden Journalisten gleich auf
die Kritik an der Kritik fokussierten und dabei den Forschern unterschoben, was Senderverantwortli-
che herausgelesen hatten. So behauptete der Donaukurier, die Studie habe einen "massenmedialen
'Tunnelblick'" ausgemacht und führte dann aus:
>Die öffentlich-rechtlichen Sender wehren sich nun: ARD-Chefredakteur Rainald Becker wies
den Vorwurf auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) zurück. "Dass das Informati-
onsbedürfnis zur Corona-Pandemie außerordentlich hoch war und ist, belegt nicht zuletzt das
große Interesse der Zuschauerinnen und Zuschauer an unseren Sendungen zum Thema", er-
klärte er. [...] Der Vorwurf eines "Tunnelblicks" gehe an der programmlichen Realität im Ers-
ten und an der Lebensrealität der Menschen vorbei.<
420
Nur: von einem "Tunnelblick" ist in der Studie gar nicht die Rede!
Bsp.: Fragen an die Objektivität der Berichterstattung weckt auch ein Beitrag im Deutschlandfunk zur
Passauer Studie. Schon im Teaser steht "ARD und ZDF weisen die Kritik zurück", was ein interessantes
Wissenschaftsverständnis offenbart.
421
Zwar hat der Deutschlandfunk nichts mit den Fernsehsendun-
gen von ARD und ZDF zu tun, aber als öffentlich-rechtlicher Sender sitzt er im selben Boot. Die
414
https://www.ardaudiothek.de/nach-redaktionsschluss-der-medienpodcast/corona-berichterstattung-
folgen-die-medien-der-regierung/83848056
415
https://www.journalist.de/startseite/detail/article/wir-wissen-es-nicht
416
https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Journalismus-zwischen-Verharmlosung-und-Alarmismus-
415964.html
417
https://www.message-online.com/in-krisenzeiten-eigentlich-immer-am-besten/
418
https://de.wikipedia.org/wiki/Corona_Fehlalarm%3F#Rezeption
419
https://web.archive.org/web/20200904084355/https://www.uni-
passau.de/bereiche/presse/pressemeldungen/meldung/detail/die-verengung-der-welt-passauer-studie-ueber-
corona-berichterstattung-von-ard-und-zdf-sorgt-fuer-leb/
420
https://www.donaukurier.de/nachrichten/panorama/Nach-Corona-Studie-aus-Passau-ARD-und-ZDF-
wehren-sich;art154670,4665188 [nicht mehr online]
421
https://www.deutschlandfunk.de/corona-berichterstattung-studie-kritisiert-sondersendungen-100.html
90
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Textfassung des Beitrags in der Sendung "@mediasres" umfasst etwa 65 Zeilen, ganze 15 davon refe-
rieren Inhalte der Studie von Gräf und Hennig. Die übrige Zeit geht es um Kritik an ihrer Studie, ge-
nauer: um Rechtfertigungen, dass die Sondersendungen gute Arbeit geleistet hätten.
Bsp.: Geradezu absurd wurde eine Nachfrage zur Studie von Maurer/ Reinemann/ Kruschinski (2021)
in der SR-Sendung "Medien Cross und Quer"
422
. Mit der vorletzten Frage kommt Interviewer Mi-
chael Meyer im Gespräch mit Studien-Autor Reinemann auf eines der Lieblingsthemen des Medien-
journalismus und steigt mit der Behauptung ein:
>Moderator Meyer: "Es wird ja auch diskutiert über dieses Phänomen der False Balance, also
der falschen Balance, dass manche Kritiker, Zweifler zu viel Sendezeit und zu viel Platz in den
Zeitungen bekommen haben. Ist denn Ihr Eindruck, dass das Phänomen jetzt ein bisschen bes-
ser geworden ist im Laufe der Pandemie oder würden Sie sagen, es ist immer noch so, dass da
manche zu Wort kommen, die da irgendwelche Maßnahmen anzweifeln, die da vielleicht
nicht so viel Platz bekommen sollten?"
Reinemann: Also ich glaube, [...] dass man schon gesehen hat, dass sich das eher durchge-
setzt hat, dass man ein Gefühl dafür hat, dass man Leute wirklich einladen sollte, die kompe-
tent sind, und die dazu was zu sagen haben, es gibt immer noch einzelne Ausreißer, aber ich
glaube es ist ein Bewusstsein dafür entstanden, dass das ein Problem darstellen kann.<
An diesem Dialog ist eigentlich alles falsch, aber es sei hier unter "Objektivität" verhandelt, weil es
die unglaubliche Voreingenommenheit von Journalisten zeigt. Der Vorhalte des Interviewers: Es gab
eine False Balance (Rieg 2021)
423
zugunsten der (fachlich nicht versierten) Politik-Kritiker, die zu be-
klagen ist. Und nun möchte er wissen, ob der Journalismus besser geworden ist.
Tatsächlich jedoch zeigt die Studie genau das Gegenteil: Die Kritiker kamen eben kaum zu Wort (noch
eindrücklicher bei Faas/ Krewel 2021). Und Studienautor Reinemann steigt darauf auch noch ein und
bestätigt, dass es seinem Eindruck nach besser geworden ist.
424
Damit war die Realitätsverzerrung
perfekt.
= Journalismusforschung =
Eine interessante Quelle für Medienkritik könnte und sollte die Kommunikationsforschung sein, kon-
kret die Journalistik als Wissenschaft vom Journalismus. Zu Beginn der Pandemie waren einige For-
scher überzeugt, dass es eine Flut von Untersuchungen zu dieser besonderen Berichterstattungslage
geben wird. Hoffnung weckte vor allem eine erste, sehr früh erschienene, umfassende Qualitätsstu-
die aus der Schweiz (siehe Kap. 2). Tatsächlich aber ist es bisher sehr ruhig geblieben, wie die Medi-
en- und Kommunikationswissenschaft ohnehin kaum in den Nachrichten auftaucht.
425
422
http://sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=23205&pnr=&tbl=pf
423
vgl. https://www.spiegelkritik.de/2021/09/09/false-balance/
424
Auf Anfrage erklärte mir Prof. Reinemann dazu: "Ich war bei meiner Antwort gedanklich noch bei der vor-
vorherigen Frage, in der es um die Basisinformationen zur Pandemie ging und die Frage, ob diese zu wenig
berichtet worden seien. Dass mir das so präsent war, lag vermutlich daran, dass es für mich einer der eindrück-
lichsten Befunde unserer Studie ist, dass relativ häufig die Ansicht zu finden war, dass Corona nicht schlimmer
sei als die saisonale Influenza (und dies insgesamt kein großes Thema war). Und bei meiner Antwort habe ich in
erster Linie diesen Befund im Kopf gehabt. Dass darüber hinaus "Querdenker" und Akteure, die Corona für
nicht weiter schlimm hielten, relativ wenig in der Berichterstattung vorkamen, das haben wir ja tatsächlich
gezeigt und beschrieben. Ich würde dafür allerdings nicht den Begriff 'marginalisiert' verwenden."
425
https://link.springer.com/article/10.1007/s11616-020-00601-8
91
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Und wir haben auch hier strukturelle Objektivitätsprobleme. Sie beginnen mit dem, was von der
Journalismusforschung selbst für Redaktionen mit mangelnder 'diversity'
426
problematisiert wird. Die
Journalistik bzw. Kommunikationswissenschaft ist noch homogener als der Journalismus. Auch wenn
es ein paar Quereinsteiger gibt, die nicht arbeitslebenslang nur in (Hoch-)Schulen unterwegs waren:
Alle wirkmächtigen Medienforscher in Deutschland sind Beamte, und zwar formal jedenfalls bei
Eintritt auch noch gesunde, amtlich bescheinigt
427
. Kein Professor ist daher ein 'Amtsarztverwei-
gerer', keiner muss sich mit Hartz IV (inzwischen: Bürgergeld
428
) und ähnlichem herumschlagen. Dass
die von Nachtwey, Schäfer, Frei und Amlinger beforschten "Querdenker" einem anderen als dem
eigenen Milieu angehören, gilt als ausgemacht. Für Beiträge aus anderen sozialen Gruppen ist die
Wissenschaft wenig offen. So gibt es für Publikationen in Fachzeitschriften kein Honorar, für eigen-
ständige Forschungspublikationen muss man sogar noch Geld mitbringen. Am wissenschaftlichen
Diskurs ist daher nur beteiligt, wer meist staatlich finanziert dafür angestellt ist. Dem Austausch
zwischen Theorie und Praxis ist dies sicherlich nicht förderlich.
Bsp.: Wie sehr der eigene Standpunkt auch in der Forschung Ergebnisse präjudiziert, zeigt ein kleiner
Aufsatz von Armin Scholl, der zwar ein paar Jahre alt ist, aber gut zum Thema passt: "Zwischen Kritik
und Paranoia: Wo hört Medienkritik auf und wo fangen Verschwörungstheorien an?"
429
Wer diesen
nach allen Seiten hin kritisch liest, wird feststellen: Alles, was Scholl als Kennzeichen unzulässiger weil
verschwörungstheoretischer Medienkritik herausstellt, trifft auf seine Analyse in diesem Text ebenso
zu. Keine "empirischen Daten", keine "konkurrierenden Theorien", kein argumentatives Fundament,
sondern "Abkapselung und Feindseligkeit". Sicherlich ist Scholl kein Verschwörungserzähler; aber
seine Kriterien, das Unzulässige zu definieren, sind eben nicht objektiv. Wie in den Sozial- und Geis-
teswissenschaften nicht gerade selten, wird situationsbedingt und nach Belieben definiert oder
auch gar nicht.
Bsp.: In einem aktuellen Report zum politischen Informationsverhalten heißt es:
"Ein Blick auf zwei Verschwörungserzählungen, die genutzt werden, um die allgemeine Emp-
fänglichkeit für Verschwörungsglauben in der Bevölkerung zu messen, zeigt, dass gut ein Vier-
tel der Befragten der Aussage 'Die Politik und die Medien stecken unter einer Decke' eher (15
Prozent) oder voll und ganz (11 Prozent) zustimmen. Ähnlich hohe Zustimmung (23 Prozent)
findet auch die Aussage 'Es gibt geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische
Entscheidungen haben.'
(Ruth Maria Schüler/ Judith Niehues/ Matthias Diermeier: Politisches Informationsverhalten:
Gespräche und traditionelle Medien liegen vorn
430
)
Im Report selbst wird keinerlei Definition für "Verschwörungserzählungen" angeboten. Die Formulie-
rung 'unter einer Decke stecken' kann man sicherlich für suggestiv halten, treffender wäre etwas der
Art 'Politik und Medien sitzen in einem Boot'. Aber im vielleicht etwas ungelenken Benennen der
unbestreitbaren Nähe zwischen Politikern und Journalisten, ihrer gemeinsamen Sozialisation und der
426
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/diversity-in-den-medien-bunt-ist-das-neue-
normal/10969748.html
427
https://www.jetzt.de/studium/wie-fuer-angehende-lehrerinnen-ein-besuch-beim-amtsarzt-ablaeuft
428
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buergergeld-hartz-101.html
429
https://www.bpb.de/dialog/netzdebatte/235319/zwischen-kritik-und-paranoia-wo-hoert-medienkritik-auf-
und-wo-fangen-verschwoerungstheorien-an
430
https://www.iwkoeln.de/studien/iw-reports/beitrag/ruth-maria-schueler-judith-niehues-matthias-
diermeier-gespraeche-und-traditionelle-medien-liegen-vorn.html
92
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Austauschbarkeit ihrer Rollen gleich eine Verschwörungserzählung zu sehen? Mitautorin Schüler ist
das Problem durchaus bekannt, "um eine Verschwörungserzählung im engeren Sinne" handele es
sich bei der Kuschelgruppe Politik-und-Medien nicht, sagt sie auf Anfrage. Ruth Maria Schüler:
>Da es uns wichtig war, einen Vergleich mit vorangegangenen Studien zu diesem Thema herstellen
zu können, haben wir uns für die Verwendung dieser Formulierung entschieden.<
Das wäre auch völlig unproblematisch, wenn die über die Umfrage und deren Interpretation berich-
tenden Journalisten unbefangen ans Thema gegangen wären. Dann nämlich drängten sich einige
Fragen auf, allein schon, um nicht den Anschein zu erwecken, 'die Medien und die Forschung stecken
unter einer Decke'. Zumindest bei WAZ
431
, RP
432
und dem RND
433
unterblieb dies, die Medienkritik
war um eine Pathologisierung reicher.
Holger Wormer (TU Dortmund) hält es zwar für ein "Narrativ von den 'Systemlern', [...] dass Wissen-
schaft, Medien und Politik sowieso unter einer Decke stecken", bzw. für "Unsinn", "aber dieser
Eindruck wird gefördert, wenn Redaktionen sich darauf beschränken, Äußerungen aus der Wissen-
schaft unkommentiert wiederzugeben."
434
Bsp.: Als aktuelles Beispiel für die Subjektivität in der Medien- und Kommunikatorforschung sei auf
die "Befunde aus der zweiten Befragungswelle des Projekts CoreCrisis" der Universität Erfurt verwie-
sen. Darin heißt es als Erkenntnis und dann später Schlussfolgerung:
"Als nachvollziehbar, aber möglicherweise problematisch, kann angesehen werden, dass sich
die Risikowahrnehmung im April im Vergleich zum März verringert hat. Die Folgen einer Er-
krankung an COVID-19 wurden als weniger schwerwiegend und die Wahrscheinlichkeit einer
Ansteckung als geringer eingeschätzt. [...]
Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich durch die Informationsflut mit Informationen übersät-
tigt. Mit dieser Gewöhnung war unter anderem eine geringere Risikowahrnehmung verbun-
den. Medien und Politik sollten hier rechtzeitig gegensteuern, damit die Risikowahrnehmung
nicht noch weiter sinkt."
(Constanze Rossmann, unter Mitarbeit von: Linn Temmann, Janine Brill, Kim Nikola Wendt,
Winja Weber, Anne Reinhardt, Paula Stehr, Annemarie Wiedicke, Doreen Reifegerste, Thea
Heun und Laura Koch)
435
Die Studie liefert keinerlei Anhaltspunkte für ein objektiv als richtig bestimmtes Maß an Risikowahr-
nehmung. Die Möglichkeit, dass diese zunächst deutlich übertrieben war und sich dann aufgrund
oder trotz der Berichterstattung an ein realistisches Maß angenähert hat, wird nicht erörtert. Statt-
dessen wird entweder aus eigener, subjektiver Angst oder aus einer intentionalen Medienerwartung
sinkende Risikoeinschätzung problematisiert. Zwei Anfragen zu ihrer Studie ließ Rossmann unbeant-
wortet.
431
https://www.waz.de/politik/umfrage-jeder-vierte-in-deutschland-misstraut-medien-id231337594.html
432
https://rp-online.de/politik/deutschland/umfrage-zum-medienkonsum-der-brger-jeder-vierte-misstraut-
den-medien_aid-55673833
433
https://www.rnd.de/medien/studie-jeder-vierte-burger-misstraut-den-medien-
ODTNPEOHDNRYUCLXXUJIV5NABM.html
434
https://www.wissenschaftskommunikation.de/mehr-einordnung-und-kritische-nachfragen-was-der-
journalismus-in-der-coronakrise-besser-machen-koennte-41981/
435
https://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/news/news-detail/uebersaettigt-mit-corona-
informationen
93
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Und auch die Schlussfolgerungen der Medienforschung aus Medienforschung genügen nicht immer
dem Objektivitätskriterium.
Bsp.: Christoph Neuberger behauptet in einer Keynote unter Verweis auf eine hier schon mehrfach
angeführte Studie:
>So ließ sich etwa nachträglich belegen, dass die heftige öffentliche Kritik an der Flüchtlings-
und Corona-Berichterstattung der deutschen Medien in weiten Teilen unberechtigt war (Mau-
rer et al., 2019; Maurer et al., 2021).<
436
Die Aussage ist nicht falsch, weil sie sich nicht festlegt, was die "weiten Teile" sein sollen, in denen
die Berichterstattung entgegen einer wiederum nicht näher definierten Behauptung in nicht benann-
tem Ausmaß unberechtigterweise kritisiert worden war. Aber sie verletzt genau damit das Objektivi-
tätsgebot (zu dem sich Neuberger selbst allerdings u.a. in seiner Dissertation 1996 intensiv kritisch
geäußert hat), weil die als Faktum dargestellte Behauptung nicht unabhängig vom Standpunkt des sie
Äußernden ist. Es gab quantitativ belegte Verzerrungen, die man je nach Gewichtung eben für fun-
damental halten kann (und sollte die Medienwirkungsforschung ergeben, dass die Berichterstattung
entsprechende Auswirkungen auf die konkrete Politik hatte, geht es hierbei um weit mehr als eine
Petitesse).
Bsp.: Ebenso äußerte sich Bernhard Pörksen.
>Zum einen geht es hier um eine empirische Frage. War die Berichterstattung in der Migrati-
ons-und Corona-Krise tatsächlich so monolithisch, so undifferenziert? Das trifft so nicht zu.<
437
Auf zwei Anfragen nach Forschungsbelegen für seine Aussage reagierte Pörksen nicht.
438
= Fazit zur Objektivität =
Das Bemühen um Objektivität hat also zwei Ziele: Die Berichterstattung (nicht: Kommentierung)
sollte möglichst wenig vom Berichterstatter abhängig sein, wissenschaftlich gesprochen sollte sie
reliabel sein. Und der einzelne Berichterstatter begegnet jedem Geschehen im übertragenen Sinne
mit Justitias Augenbinde, also so fair wie möglich, mit klaren, dauerhaft gültigen Maßstäben. Es gilt,
bei Recherche und Darstellung der Rechercheergebnisse so unabhängig wie möglich vom eigenen
Gut- und Schlechtfinden zu sein. Der Zweck heiligt im Journalismus nicht die Mittel, weil er kein in-
formationelles Eigeninteresse verfolgen, sondern ein Service für die demokratische Gesellschaft sein
soll.
Gerade weil sich subjektive Ungleichbehandlungen oft nicht am einzelnen Beitrag erkennen und vom
Rezipienten einordnen lassen, ist Objektivität eine wichtige Voraussetzung für Vertrauen in die Me-
436
https://kongress.grimme-forschungskolleg.de/wp/wp-content/uploads/2023/01/2023_A_Wie-wir-zu-
massvollen-Urteilen-u%CC%88ber-Medien-gelangen_Neuberger.pdf S. 14
437
https://www.profil.at/gesellschaft/bernhard-poerksen-naehe-ist-ein-mittel-zum-zweck-was-aber-war-noch-
mal-der-zweck/402269652
438
Auf die dritte, wie üblich per Einschreiben verschickte Anfrage reagierte Prof. Pörksen nach einiger Zeit und
schrieb am 13.03.2023 u.a.: "Ich muss Sie jedoch bitten, Ihren Recherchefragen selbsttätig nachzugehen,
nochmal für sich die Studienlage zur Migrationsdebatte (Michael Haller etc. und die Kontroverse) und zur
Corona-Berichterstattung (siehe Torsten Quandt u.a. und die Debatte und auch die Meta-Debatte im Fach,
siehe aber auch die journalistische Selbstreflexion im Nachgang, u.a. in der SZ) zu klären. Mich erreichen
manchmal drei, vier Anfragen dieser Art pro Tag, in denen ich um die Zusammenstellung und Nennung von
Literatur oder andere Recherchearbeiten gebeten werde."
94
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
dien. Und Objektivitätsdefizite könnten ein Grund für Vertrauensverlust
439
aufgrund der Corona-
Berichterstattung sein (zu Handlungsempfehlungen für Redaktionen siehe Schultz 2023).
8 Relevanz
Die erste und alles entscheidende Frage in der Berichterstattung ist die nach der Relevanz. Das klingt
so selbstverständlich, dass der Relevanzfrage nur sehr selten in der Medienkritik nachgegangen wird.
Auch die Medienforschung hat erstaunlicherweise bis heute kein überzeugendes Verfahren der Rele-
vanzmessung entwickelt. Dabei müsste mindestens zwischen drei Bereichen unterschieden werden:
(1.) der ersten Behandlung eines Sachverhalts bzw. Themas in einem Medium,
(2.) der Folgeberichterstattung und
(3.) einzelnen Aussagen in einem Beitrag.
So legt das größte Projekt im deutschsprachigen Raum, das Schweizer Jahrbuch Qualität der Medi-
en
440
(zu dem es inzwischen auch ein deutsches Pendant gibt, Stark et al. 2021), dogmatisch fest:
"Beitragsrelevanz ist gegeben, wenn über die wichtigen Gesellschaftsbereiche Politik, Wirt-
schaft und Kultur (inklusive Kunst, Medien, Religion, Wissenschaft) berichtet wird. Innerhalb
dieser Hardnews-Kategorien wird Politik etwas höher gewichtet, weil die politische Öffent-
lichkeit die zentralen Forums-, Integrations- und Kontrollleistungen für die demokratische
Selbststeuerung erbringt. Sport und Human Interest können ebenfalls relevant sein, insofern
sie im Hinblick auf die Integrationsfunktion einen Beitrag leisten. Schwerpunktmäßig befassen
sich diese Softnewskategorien aber mit für das demokratische Gemeinwesen weniger rele-
vanten und partikulären Aspekten."
(fög 2019: 172)
Entsprechend vergeben die Züricher Forscher um Mark Eisenegger (siehe Kap. 2) schematisch für
Berichte zur Politik 10 Punkte und für "Human Interest" nur 3 Punkte. Dieses Scoring soll letztlich
"Aufschluss [geben] über das Verhältnis von Hardnews gegenüber Softnews sowie über das Gewicht
von Beiträgen über institutionelle Vorgänge gegenüber Personenberichterstattung" (fög 2019: 25).
Neben der Themenkategorie wird noch eine sog. "Akteursrelevanz" für den Inhalt erfasst. Die höchs-
te Relevanz wird dabei Beiträgen zugerechnet, die auf der "Makroebene" spielen, der Gesellschaft
insgesamt. Volle Punktzahl erhalten hier Beiträge, die sich "auf die gesamte Bevölkerung oder ganze
geografische Körperschaften" beziehen (z.B. 'die Schweiz'), auf Handlungssystem wie die Schweizer
Wirtschaft oder auf "das Abstraktum aller in gleicher Weise Handelnder (z.B. 'alle Bahnfahrer' usw.),
auf Merkmalsträger ('ältere Menschen', 'Männer' usw.) oder auf Funktionsträger in ihrer Gesamtheit
('Manager', 'Politiker' usw.)". Die wenigsten Relevanz-Punkte gibt es für "das Handeln von einzelnen
Personen", die sog. Mikroebene. Weiter unterschieden wird hierbei, ob die Personen "rollennah",
anonym oder "rollenfern" thematisiert werden. Ein Politiker in seiner politischen Rolle bringt dem
journalistischen Beitrag mehr Punkte als eine Homestory. Im Jahrbuch heißt es dazu: "Während bei
einer rollennahen Personalisierung eine vergleichsweise gute Qualität vorliegt, weil in dieser Akteur-
sperspektive Personen als Repräsentanten übergeordneter Einheiten dargestellt werden, besitzen
rollenferne Thematisierungen die geringste Qualität." (fög 2019: 172) Entsprechend heißt es in der
ersten Sonderauswertung zur Corona-Berichterstattung:
439
https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/landespolitik/kommentar-corona-medien-journalismus-
102.html
440
https://www.foeg.uzh.ch/de/jahrbuch-qualit%C3%A4t-der-medien.html
95
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Einzelschicksale und spezifische Fälle können helfen, Vorgänge zu erklären. Medien haben
aber vor allem die Aufgabe, vom Einzelfall zu abstrahieren und möglichst frühzeitig, d. h. be-
vor hoheitliche Beschlüsse gefällt werden, für gesamtgesellschaftliche Aspekte wie die Folgen
bestimmter Maßnahmen zu sensibilisieren.<
(Eisenegger/ Oehmer/ Udris/ Vogler 2020: 3
441
)
Die Relevanzbewertung der Schweizer Forscher richtet sich also ganz nach der mutmaßlichen Orien-
tierungsleistung der Berichterstattung, insbesondere nach ihrer Bedeutung für die Demokratie, aus-
gehend von der "Einsicht, dass die Qualität der Demokratie von der Qualität der Medien abhängt"
(fög 2019: 25).
= Nachrichtenwert =
Einer begründet der Orientierung und damit der Demokratie dienenden Nachrichtenauswahl und
-präsentation steht ein anderes Relevanzverständnis der Medien teilweise entgegen, das u. a. mit der
"Nachrichtenwerttheorie" beschrieben wird. Medienunternehmen selektieren aus offenen Fragen
(siehe Kap. 9) und News-Angebot das, was ihnen besonders verwertbar erscheint (Übersicht: Eilders
2016). Aber wie bei allen Produkten ist Kundennachfrage keineswegs ein Qualitätsbeweis. Und die
Mutmaßung über Kundeninteressen muss auch nicht der Wirklichkeit entsprechen.
Bsp.: Wenn alle Medien von einer "BILD-Kampagne gegen Drosten"
442
berichten, geht es nicht um die
Diskussion einer für alle Menschen wichtigen und damit relevanten Studie, sondern um eine gut
verkäufliche Inszenierung, letztlich also um Unterhaltung des Publikums. Jede Skandalisierung lebt
von ihrem Nachrichtenwert; ob sie auch relevant ist, steht auf einem anderen Blatt. Deshalb skanda-
lisierten Medien jede möglicherweise außerhalb der offiziellen Reihe erfolgte Impfung (z.B. Saale-
kreis
443
, Trier
444
, Erzgebirge
445
, Halle
446
, Minden-Lübbecke
447
). Es wird nicht als erstes in Ruhe recher-
chiert, ob es sich dabei überhaupt um eine Vorteilsnahme im Amt oder eine andere Rechtswidrigkeit
handeln könnte: mit Neid lässt sich zuverlässig skandalisieren, und für einige Tage ist ein Berichter-
stattungsthema gesichert.
441
https://www.foeg.uzh.ch/dam/jcr:ad278037-fa75-4eea-a674-7e5ae5ad9c78/Studie_01_2020.pdf
442
https://web.archive.org/web/20200526113100/https://www.ndr.de/nachrichten/info/Bild-gegen-Virologe-
Drosten,drostenkritik100.html
443
https://www.welt.de/regionales/sachsen-anhalt/article226018461/Landrat-des-Saalekreises-liess-sich-
bereits-impfen.html
444
https://www.focus.de/politik/deutschland/haette-nein-sagen-sollen-trierer-ordnungsdezernent-laesst-sich-
frueher-impfen-nun-tritt-er-zurueck_id_13003813.html
445
https://www.bild.de/regional/chemnitz/chemnitz-news/corona-erzgebirgs-landrat-liess-sich-schon-impfen-
75310814.bild.html
446
https://www.bild.de/regional/sachsen-anhalt/sachsen-anhalt-news/keine-aufklaerung-im-impf-skandal-
von-halle-75415196.bild.html
447
https://www.rtl.de/cms/bei-corona-impfung-vorgedraengelt-markus-wagner-afd-droht-jetzt-eine-anzeige-
4714022.html
96
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Skandalisierung =
Ein in vielerlei Gestalt auftauchendes Beispiel für Skandalisierung statt Aufklärung sind die sog.
"Masken-Skandale".
448
Die Skandalisierung basierte zunächst auf der moralischen Behauptung, es sei
unanständig, mit dem Leid von Menschen in der Corona-Krise Geld zu verdienen. Wenn es in einzel-
nen Fällen tatsächlich Bestechung, Vorteilsnahme im Amt und ähnliche Delikte gab, ist das selbstver-
ständlich ein Thema.
449
Doch die Skandalisierung begann völlig unabhängig davon. Dabei ist die mo-
ralische Position, niemand dürfe Profit aus der Pandemie schlagen, wohl objektiv kaum haltbar,
schließlich arbeiten praktisch alle "Helden" der Corona-Bekämpfung nur gegen Vergütung; sie bzw.
ihre Unternehmen leben davon, dass es Corona-Leid gibt, so wie der Arzt von Krankheiten und der
Bestatter vom Tod lebt, ohne dass dies irgendwie als anrüchig gilt.
Bsp.: Bei der lange währenden Skandalisierung von Fynn Kliemanns Masken-Geschäften
450
(s. vorne
in Kap. 3) könnte man argumentieren, dass letztlich Jan Böhmermann von alledem profitiert hat, weil
sein Geschäftskonzept die öffentliche Erregung ist, die er komödiantisch befeuert
451
.
Bsp.: Noch deutlicher war die ausschließlich durch mediale Skandalisierung geschaffene Relevanz bei
#allesdichtmachen
452
. Um die filmischen Kommentare geht es nicht, das journalistische Interesse gilt
dem Eklat. Stimme in den Medien bekommt, wer sich am lautesten und wortstärksten echauffiert.
Ein Paradebeispiel dafür ist die mediale Verwertung beim Spiegel. Schon im ersten Artikel wird die
eigentliche Kunstaktion nur sehr kurz gestreift, dann folgen Kritik am 'Applaus aus der falschen Ecke'
und jede Menge Gegenstimmen.
453
Im zweiten Beitrag wird das Skandal-Framing noch deutlicher,
Teaser:
>Hans-Georg Maaßen ist begeistert, aus der AfD kommt Zustimmung aber viele Prominente
zeigen sich entsetzt über die Aktion #allesdichtmachen etlicher Künstler. Nora Tschirner und
andere finden deutliche Worte.<
("Echt ja, Leude? Unfuckingfassbar", Spiegel.de, 23.04.2021)
454
Der Inhalt von 51 Videos
455
wird so zusammengefasst:
>Ulrich Tukur fordert die Schließung aller Lebensmittelgeschäfte, Meret Becker betet von einem
überdimensionalen Zettel einen ironischen Text über Schutzmasken vor, Richy Müller atmet ab-
wechselnd in zwei Tüten.<
448
Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich noch auf das Jahr 2020. Für die weitere Entwicklung mit z.
T. tatsächlich recherchierten Straftaten siehe u. a. https://de.wikipedia.org/wiki/Maskenaff%C3%A4re
449
https://www.focus.de/politik/deutschland/maskenaffaere-bei-cdu-und-csu-drastischer-schritt-ermittler-
beschlagen-1-2-millionen-euro-bei-csu-mann-sauter_id_13203829.html und
https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/apotheken-masken-kontrolle-101.html
450
https://www.focus.de/panorama/geldstrafe-fuer-influencer-fynn-kliemann-nach-boehmermann-
vorwuerfen-spricht-kliemann-ueber-beschissenste-zeit-meines-lebens_id_187426507.html
451
Stichwort "Böhmannsland" https://www.youtube.com/watch?v=0SkDO4M-Cp4
452
https://web.archive.org/web/20210505162028/https://allesdichtmachen.de/
453
https://www.spiegel.de/kultur/tv/allesdichtmachen-schauspieler-kritisieren-coronapolitik-das-ist-kunst-a-
46ddb1b2-14d4-4fe8-b4f4-f88980d587b5
454
https://www.spiegel.de/kultur/allesdichtmachen-jan-josef-liefers-ulrich-tukur-und-co-stecken-viel-kritik-
ein-a-43d92e0a-81cd-412a-b2ea-3faabb39a6f5
455
https://www.youtube.com/channel/UC3_dHQpx8O9JT2LW1U2Beuw
97
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Die positiven Reaktionen werden so zusammengefasst:
>Begeistert reagierte etwa der frühere Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-
Georg Maaßen. Der CDU-Rechtsaußen bezeichnete die Aktion auf Twitter als »großartig«. Der
Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit sprach von einem »Meisterwerk«, das »uns sehr
nachdenklich machen« sollte. Und die AfD-Bundestagsabgeordnete Joana Cotar twitterte, sie feie-
re Jan Josef Liefers für dessen Medienkritik: 'Das ist intelligenter Protest.'<
Alles Weitere ist Kritik an der Aktion. Und dieser Kritik wird auch in den folgenden Beiträgen die mit
Abstand größte Aufmerksamkeit geschenkt. (Zur medialen Debattenverkürzung an diesem Beispiel
siehe den Podcast "?Macht:Los!"
456
)
Bsp.: Die Berichterstattung von Tagesspiegel
457
und FAZ
458
fasst Stephan Russ-Mohl (2021) so zu-
sammen:
>Als sich im April 2021 nach einem Jahr Lockdown-Verzweiflung 52 teils prominente Schau-
spieler aus der Deckung wagten und sich in kurzen, frechen Youtube-Videos mit der Rolle der
Medien und der Regierungen bei der Corona-Bekämpfung auseinandersetzten, spuckten
Kommentatoren linksliberaler oder liberaler, jedenfalls einstmals kulturaffiner Blätter wie der
Spiegel (o.V. 2021), der Tagesspiegel (Leber 2021), der FAZ (Hanfeld 2021), aber auch der
Branchendienst Übermedien
459
Gift und Galle und verschubladisierten mehrheitlich die Künst-
ler in der AfD-Ecke. Hanfeld etwa bescheinigte vom hohen FAZ-Ross herab den Künstlern
„Flachsinn“ und warf ihnen vor, ihre Aktion sei „so unterkomplex wie unzutreffend, dass man
es nicht witzig finden kann“ – was freilich viele, die nicht selbst im Glashaus sitzen und tag-
täglich mit Steinen werfen, anders gesehen haben dürften.<
Bsp.: Nicht besser erging es der stets "Nachfolgeaktion" genannten Interviewreihe "#allesaufden-
tisch"
460
. Zur Autopsie eines dpa-Textes darüber siehe Spiegelkritik
461
.
= Demokratischer Prozess unmöglich =
Solche Skandalisierungen zur Erzeugung von Relevanz verursachen ein massives Demokratieproblem.
Denn die allermeisten Menschen erfahren vom zugrunde liegenden Thema erstmals in einer solchen
zugespitzten, in eine bestimmte politische Richtung geframten Form. Sie haben gar nicht die Mög-
lichkeit, sich unvoreingenommen mit den Positionen zu beschäftigen. Die Medien liefern direkt eine
als richtig geltende Einordnung mit. Zeit zum Nachdenken gewähren sie weder sich noch ihren Kun-
den. Das Perfide daran: Während die beteiligten Schauspieler mit #allesdichtmachen gerade denen
eine Stimme gegeben haben, die in der öffentlichen Debatte nicht (bzw. ausschließlich als wirre
"Querdenker") vorkommen, okkupiert sofort die Meinungsführungselite den öffentlichen Raum und
macht Diskussion, Meinungsaustausch und neue Meinungsbildung unmöglich.
456
http://www.aleatorische-demokratie.de/demokratischer-meinungsstreit-am-beispiel-allesdichtmachen/
457
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/alles-dicht-machen-ist-so-schabig-dass-es-weh-tut-
4745443.html
458
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/gescheiterte-satire-ueber-corona-politik-allesdichtmachen-
17308029.html
459
https://uebermedien.de/59394/video-aktion-allesdichtmachen-gegen-corona-massnahmen-was-soll-das/
460
https://www.allesaufdentisch.tv/
461
https://www.spiegelkritik.de/2021/09/30/alles-auf-den-tisch-um-gottes-willen-nicht-doch/
98
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Wenn es bei #allesdichtmachen einen Skandal gibt, dann ist es die Skandalisierung der Videos. Was
ist los mit einer Gesellschaft, die derart gereizt und reflexhaft reagiert? Da gäbe es Relevantes zu
recherchieren, etwa dazu, dass die Bundesregierung tatsächlich und dokumentiert nach Strategien
der Angsterzeugung gesucht hat
462
, was im Video mit Volker Bruch thematisiert wird
463
, in der jour-
nalistischen Kommentierung aber als "Botschaften, wie man sie von Querdenken-Demos kennt"
464
abgetan wird.
= Relevante Auswahl =
Gleichwohl: Auch ohne die Seiten und Sendezeiten füllenden Skandalisierungen ereignet sich jeden
Tag mehr Relevantes, als in den Nachrichten Platz finden kann. Da es keine Vollständigkeit der Ereig-
nisse geben kann (Kap. 4) sollte die Auswahl repräsentativ sein (Kap. 6). Das Qualitätskriterium der
Relevanz verlangt zusätzlich, Mediennutzer nicht mit Belanglosem zu beschäftigen. Typisches Indiz
für diese Relevanz ist die Kombination von Neuigkeit und Nutzwert. Kunden möchten sich gerne
darauf verlassen, dass Medien weder willkürlich (nach dem Zufallsprinzip) noch rein nach ihren Ver-
wertungsinteressen aus der Fülle von News einzelne für relevant erklären, sondern dass sie den
Überblick haben und mit begründeten, nachvollziehbaren Kriterien auswählen. Andernfalls müsste
jeder Bürger selbst täglich die Flut zugänglicher Informationen durchforsten. Um nur zwei in der
Pandemie besonders wichtige Bereiche zu nennen: Justiz und Wissenschaft. Ist all das, was aus die-
sen Themengebieten nicht in der Zeitung steht und nicht im Radio vermeldet wird, im Vergleich zu
anderen Meldungen irrelevant? Haben die Redaktionen das wirklich geprüft?
= Das Problem der (boulevardesken) Einzelfälle =
Publizierten Nachrichten ist normalerweise nicht anzusehen, wie relevant sie sind, weil die zur Ein-
ordnung notwendige Angabe fehlt, aus welchem Pool sie geschöpft wurden. Die Tageszeitungen
enthielten zumindest im ersten Pandemie-Jahr fast täglich Polizeimeldungen zu mutmaßlichen Ver-
stößen gegen Corona-Auflagen. Diese Nachrichten stammen keineswegs nur aus dem Verbreitungs-
gebiet, sondern aus ganz Deutschland, Europa oder sogar der Welt. Ist nun aber die aufgelöste
"Corona-Party" eine der ganz wenigen und gerade deshalb ungeheuerlichen Regelwidrigkeiten? Oder
gäbe es in Wirklichkeit aus jeder Kommune ähnliches zu berichten und es ist eher Zufall, welche Mel-
dungen es ins Medium schaffen?
Das Problem gab es natürlich schon lange vor Corona: Pressemitteilungen der Polizei sind ein fester
Bestandteil in den Spalten für "Vermischtes", und sie dienen mehr der Unterhaltung denn der Infor-
mation, wie man deutlich daran erkennen kann, dass es praktisch niemals eigene Recherchen der
Redaktionen dazu gibt und auch eine Folgeberichterstattung ausbleibt. Polizeimeldungen bringen,
gemeinsam mit den Promi-News, etwas Boulevard in ansonsten trockene Nachrichtenmedien. Der
Orientierung dienen sie meist nicht (von der lokalen Frage 'Was war denn in der XY-Straße los?' ab-
gesehen). Sie sagen nichts aus über das tatsächliche Level von Kriminalität oder Unglücken, sie sagen
462
https://haerting.de/wissen/pressemitteilung-haerting-erwirkt-akteneinsicht-beim-robert-koch-institut/
Siehe auch freimütigen Rückblick darauf von Heinz Bude 2024:
https://www.welt.de/kultur/plus250658831/Corona-Aufarbeitung-Einblicke-in-die-zynische-Welt-der-
Angstkommunikation.html
463
https://www.youtube.com/watch?v=sOCi3B9wJ5U
464
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/schauspieler-und-ihre-corona-kritik-alles-dicht-
machen-ist-so-schaebig-dass-es-weh-tut/27124112.html
99
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
nicht, was richtig und was falsch ist (sondern nur, wie die Polizei das in einer Momentaufnahme be-
urteilt hat
465
).
= Desorientierung durch Irrelevanz =
Zu den Klassikern irrelevanter, aber regelmäßig irreführenden Nachrichtenproduktion gehören alle
Meldungen, gegen irgendjemanden sei Anzeige erstattet worden. Die Erstattung einer Strafanzeige
hat grundsätzlich keinerlei Relevanz, schlicht weil das jeder jederzeit tun kann nicht zuletzt Nach-
richtenredaktionen selbst (s. hierzu mit mehreren Beispiel Spiegelkritik
466
).
Bsp.: Eine Vielzahl von Medien vermeldete am 2. Juni 2020: "Strafanzeige gegen Virologen Hendrik
Streeck". Die Zeit schrieb:
>Die Vorwürfe erstrecken sich laut dem General-Anzeiger über hundert Seiten. Der Verfasser
gebe sich als Wissenschaftler an und werfe Streeck unter anderem vor, für die Studie For-
schungsergebnisse erfunden und Falschangaben gemacht zu haben. Ob die Anzeige stichhal-
tig ist und ob überhaupt Ermittlungen aufgenommen werden, werde noch geprüft.<
467
Schon einen Tag später war jedoch zu lesen: "Staatsanwaltschaft lehnt Ermittlungen gegen Bonner
Virologen Streeck ab".
468
Die Meldung von der Strafanzeige machte da aber längst die Runde. Orien-
tierungswert: nicht Null, sondern negativ.
9 Recherche
Alle Qualitätskriterien für journalistische Beiträge lassen sich in zwei Bereiche zusammenfassen: Re-
cherche und Vermittlung, also Themenaufbereitung und Themendarstellung, Input und Output. Was
immer es an einem Artikel oder an einer Sendung zu kritisieren gibt, es wurden entweder nicht ge-
nügend präzise und richtig adressierte Fragen gestellt, oder die Präsentation der gefundenen Ant-
worten ist missglückt. Es gibt vielfältige Qualitätsprobleme der Recherche, die sich allesamt reichlich
in der Corona-Berichterstattung finden: Unterlassene Fragen, unsinnige Fragen, unvollständige Fra-
gen, an die Falschen gerichtete Fragen, Fehlverständnis oder -interpretation erhaltener Antworten
und Befunde.
Das größte Problem des Corona-Journalismus war und ist sein Rechercheverzicht. Genau das, was
Journalismus ausmacht, was seine originäre Leistung ist, lag wochen- und monatelang im Tiefschlaf,
bei einigen Medien bis zum heutigen Tag. Stattdessen ließen sich die Redaktionen völlig vom Input-
Angebot bestimmen. Damit haben sie vermutlich unbewusst die entscheidenden Weichen für das
demokratische Diskurslevel gestellt (dazu in Kap. 10).
Was waren die ersten und grundlegenden Fragen?
465
dazu ausführlich: https://www.spiegelkritik.de/2019/06/14/recherche-bei-polizeimeldungen/
466
https://www.spiegelkritik.de/2015/06/06/strafanzeigen-haben-keine-journalistische-relevanz/
467
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-07/heinsberg-studie-hendrick-streeck-betrug-vorwurf-
strafanzeige-wissenschaft
468
https://ga.de/bonn/stadt-bonn/heinsberg-studie-von-streeck-staatsanwaltschaft-bonn-ermittelt-nicht-
gegen-virologen_aid-51979465 Zum Kontext siehe: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=COVID-
19_Case-Cluster-Study&oldid=232253195
100
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Welche Möglichkeiten hat die Politik, eine Pandemie zu bekämpfen, einzugrenzen, zu handeln?
Politiker selbst sehen naturgemäß wenig Limitierung, aber allmächtig sind sie nicht.
Wie reagiert Herrschaft in vergleichbaren Fällen? So einzigartig, wie stets behauptet, ist eine Pan-
demie schließlich nicht. Unter anderem war dringend angeraten zu recherchieren, wie Politik und
Verwaltung sehr routiniert Tierseuchen managen (was auch vor Corona längst hätte ein großes The-
ma sein müssen, das durchaus auch viel Skandal-Potential hat). Das Einsperren ohne Rücksicht auf
Verluste gehört bspw. zum Standardrepertoire, ebenso die als Prophylaxe verkaufte, tatsächlich wohl
rein marktwirtschaftlich getriebene massenhafte Tötung gesunder Tiere. Eine Beschäftigung mit Sinn
und Unsinn, mit dem Vollzug von Regeln stur nach den Buchstaben der Gesetze und Verordnungen
ohne jede menschliche Regung, hätte mannigfache Hinweise gegeben, worauf die öffentliche Kon-
trolle bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie ein besonders waches Auge haben muss.
Welche demokratischen Grenzen stehen tatsächlich den politischen Handlungsmöglichkeiten ent-
gegen, welche könnten oder sollten sie einhegen? Es geht dabei nicht um die Grenzen der Legalität
(die sich die Politik qua Verfassungs- und Gesetzgebung selbst schafft), sondern der Legitimität.
Längst nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist auch gesellschaftlich opportun. Genau darüber hätte
die Gesellschaft intensiv diskutieren müssen, und dafür hätte es gut recherchierte Medienbeiträge
gebraucht.
Welche Nebenwirkungen
469
werden Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung haben, welche sind
möglich, welche wahrscheinlich?
In Wirklichkeit sind das natürlich keine Corona-spezifischen Fragen. Vom Thema abstrahiert gehören
sie viel mehr ins Vorfeld aller politischen Handlungen: Wie weit ist die Politik ('der Staat') überhaupt
zuständig, welche Optionen haben die Herrschenden, welche Grenzen will ihnen der Souverän setzen
und welche negativen Begleiterscheinungen ist die Bevölkerung bereit zu tragen, welche Nebenwir-
kungen kann und darf sie unbeteiligten Dritten aufbürden?
Die Parolen der Politik gingen über diese von den Medien nicht gestellten Grundsatzfragen ohne
Zaudern hinweg, Motto: Was immer nötig ist, was immer es kostet, wir werden es tun. Lapidar heißt
es in Gesetzentwürfen regelmäßig, die finanziellen Auswirkungen seien nicht zu beziffern
470
und Al-
ternativen zum vorgelegten Gesetz gebe es nicht
471
.
Die große Zustimmung der Bürger zu dieser Machtproklamation ist keinerlei Entschuldigung für die
schlechte Performance des Corona-Journalismus. Zum einen wäre es ein Zirkelschluss, aus der Zu-
stimmung einer uninformierten Bevölkerung abzuleiten, dass sie von Alternativen und Machtbe-
schränkungen nichts wissen will. Zum anderen ist Journalismus grundsätzlich nicht dazu da, Mehrhei-
ten in ihrem Weltbild zu bestätigen, sondern Irritationen anzubieten (Handstein 2013: 141). Nur
durch Antwortangebote auf unbequeme Fragen kann Journalismus Gesellschaften bei der Orientie-
rung helfen. Information (und Kommentierung) mit dem Ziel einer konkreten Verhaltensweise der
Bevölkerung ist hingegen PR (bzw. altmodischer und deutlicher: Propaganda) und führt von außen
betrachtet zum Kuba-Syndrom
472
.
469
https://www.timo-rieg.de/2021/03/nebenwirkungen-der-corona-politik/
470
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnun
gen/GuV/B/Drittes_Bevoelkerungsschutzgesetz.pdf
471
https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/284/1928444.pdf
472
https://www.focus.de/gesundheit/news/mediziner-kritisiert-merkel-leidet-unter-kuba-
syndrom_id_12971235.html
101
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Recherche: die Verfassungs-Grundfragen =
Interessante Fragen zu den Rahmenbedingungen der Pandemiepolitik kamen in erster Linie nicht von
Journalisten, sondern von Juristen. Es sind die 'Paragraphenreiter', die den Gesellschaftstrott stören
können allerdings nur selten mit neuen Ideen, vielmehr mit Verweis auf die bestehenden, derzeit
gültigen. Der "Verfassungsblog" etwa ist voll mit Fragen und Überlegungen zur Corona-Politik, und
wir haben dort ausgerechnet einem Kirchenjuristen die Warnung vor einem "faschistoid-hysterischen
Hygienestaat"
473
zu verdanken. Doch in die General-Interest-Medien schaffen es diese juristischen
Fachdebatten im Gegensatz zu den medizinischen nur äußerst selten (z.B. Hinnerk Wißmann in der
Welt
474
, übernommen vom Verfassungsblog
475
, oder Josef Franz Lindner in der Zeit
476
).
Solche Rechtsfragen haben durchaus auch Redaktionen aufgegriffen, doch in den meisten Fällen nur
abstrakt, nach dem Motto: Ja, es gibt Grenzen für staatliches Handeln in der Pandemie, aber bisher
ist alles im Lot (Beispiel: Tagesschau
477
). Angezeigt aber war, aktiv und konkret nach der Diskussion
um die Grenzen zu suchen und Grenzüberschreitungen zu thematisieren.
478
Von der dogmatischen
Grundlage her war stets klar: Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig
479
sein, und das bedeutet
nach Auslegung des BVerfG, dass ein legitimer Zweck mit einem legitimen Mittel verfolgt wird, das
geeignet, erforderlich und angemessen ist.
480
(Literaturtipp: "Not und Gebot Grundrechte in der
Quarantäne" von Heribert Prantl
481
, eine leicht bearbeitete Sammlung seiner Kolumnen.)
Es genügt nicht, irgendeinen Experten oder Lobbyisten nach seiner Meinung zu fragen und damit die
Kritik abzuhaken. Hier sei als eindrückliches Beispiel nicht auf ein General-Interest-Medium verwie-
sen, sondern auf eine viel zitierte "Plattform für digitale Freiheitsrechte".
Bsp.: Im März 2020 erklärte Netzpolitik.org mit Berufung auf eine Juristin der "Gesellschaft für Frei-
heitsrechte e.V.", allgemeine Ausgangssperren seien mit Berufung auf eine Generalklausel im Infekti-
onsschutzgesetz denkbar, "wenn wir jetzt merken, dass die Verlangsamung der Ausbreitung des Virus
mit den aktuellen Regelungen nicht klappt, dass die Menschen sich nicht an das Social Distancing
halten und der Tod vieler Menschen droht".
482
Die Freiheitsjuristin erklärt, "das sei möglich, wenn
Virolog:innen eine 'große Erforderlichkeit' einer solchen, drastischen Maßnahme feststellen." Abge-
sehen davon, dass diese Aussage fachlich wohl nicht haltbar ist (denn Virologen können sagen, wel-
che anti-viralen Maßnahmen geeignet sind, nicht aber, welche erforderlich und welche angemessen
473
https://verfassungsblog.de/gottesdienstverbot-auf-grundlage-des-infektionsschutzgesetzes/
474
https://www.welt.de/kultur/plus225928505/Jurist-Hinnerk-Wissmann-ueber-Corona-Politik-
Verfassungsbruch-Schlimmer.html
475
https://verfassungsblog.de/verfassungsbruch-schlimmer-ein-fehler/
476
https://www.zeit.de/2021/05/corona-politik-verwaltungsgericht-grundrecht-lockdown-
pandemiebekaempfung
477
https://www.tagesschau.de/inland/hintergrund-ausgangssperre-103.html
478
https://philipp-luca.de/corona-der-tragoedie-erster-teil
479
https://www.zjs-online.com/dat/artikel/2013_2_681.pdf Übersicht Wikipedia:
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Verh%C3%A4ltnism%C3%A4%C3%9Figkeitsprinzip_(Deutschland)&
oldid=231059938
480
http://zjs-online.com/dat/artikel/2013_2_681.pdf
481
https://www.chbeck.de/prantl-not-gebot/product/32009195
482
https://netzpolitik.org/2020/warum-ausgangssperre-und-notstandsgesetze-nichts-miteinander-zu-tun-
haben-corona-grundrechtseingriffe/
102
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
sind, wie Horst Dreier in einer Vorlesung erläutert
483
): die journalistische Recherche hätte an dieser
Stelle nicht enden dürfen. Wenn eine "Gesellschaft für Freiheitsrechte" gar keine Bedenken gegen
die größte Einschränkung von Freiheitsrechten seit Bestehen der Bundesrepublik hat, ist das Anlass,
diese zu fragen, bei welchem Grad von Freiheitsentzug sie aufmucken würde, und weiter nach Juris-
ten zu suchen, die der "Gesellschaft für Freiheitsrechte" widersprechen. Das ist weder eine Ex-Post-
Forderung noch ein 'Querdenker'-Wunsch, sondern eine schlichte Handwerksregel: Jede Meinung,
insbesondere die der Regierungen, braucht eine Gegenposition. Wenn intensive Recherche ergibt,
dass alle Regierungskritik Kokolores ist, dann werden die Leser, Hörer, Zuschauer schon ganz alleine
zu diesem Schluss kommen. Wird ihnen jedoch der kritische Part erspart, sind sie nicht vollständig
informiert und Phantasie wie Propaganda haben ein Betätigungsfeld. Juristische Fragen wurden al-
lerhand aufgeworfen, sie fanden jedoch nur selten ihren Weg in die Medienwirklichkeit.
Bsp.: Deutlich aufgezeigt hat die Rechercheversäumnisse beispielhaft das Bundesverwaltungsgericht,
welches eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zur Verfassungswidrigkeit pau-
schaler nächtlicher Ausgangssperren bestätigt hat (Urteil vom 22.11.2022, Az. 3 CN 2.21).
484
Bsp.: Das Brandenburgische Verfassungsgericht erklärte am 17.02.2023 "§ 2 des Brandenburgischen
kommunalen Notlagegesetzes (BbgKomNotG)" für unvereinbar mit der Landesverfassung (Az.:
VfGBbg 10/21). Auch hier hätten die Medien damals ausgiebig zu Verfassungsfragen recherchieren
und entsprechender Kritik nachgehen müssen. Im Brandenburger Fall ist das Versagen besonders
tragisch: die Entscheidung des Gerichts kommt nicht nur viel zu spät, sie ist auch wirkungslos (vgl. §
79 Abs. 2 BVerfGG). Aus der Pressemitteilung: "Das LVerfG hat die Vorschrift aber nicht für nichtig,
sondern für mit der LV für unvereinbar erklärt. Rechtsakte, die direkt oder indirekt auf dem BbgK-
omNotG und der daraufhin erlassenen Verordnung beruhen, gelten daher fort."
485
Bsp.: Dass die Protokolle sowohl des sog. Corona-Expertenrats als auch des RKI-Krisenstabs nicht von
wenigstens einem der großen Medien zutage gefördert wurden, sondern von einem Arzt
486
und vom
kleinen Multipolar-Magazin
487
, zeigt das Recherche-Desinteresse mehr als deutlich. Der schnelle
Befund, in den Dokumenten stehe nichts Relevantes
488
(Subtext: und deshalb haben wir als große
Medien uns auch gar nicht erst um sie bemüht), war so folgerichtig wie peinlich.
= Alles infrage stellen =
Die einfachste der unangenehmen Fragen gehört hinter jede noch so alltägliche Aussage und sollte
durch das derzeit populäre "Factchecking" geläufig sein: "Ist das so?" Stimmt das, was da jemand
behauptet oder was ich als Journalist gerade selbst verbreiten möchte? Anstatt sich über Bestätigung
zu freuen, sollten sich Journalisten glücklich schätzen, sobald sie eine geglaubte Wahrheit falsifizieren
483
https://www.awhamburg.de/mediathek/mediathek/video-mediathek/detailseite/verfassungsrechtliche-
grenzen-des-infektionsschutzes.html
484
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverwg-3cn121-3cn221-corona-verordnung-ausgangssperre-
bayern-unverhaeltnismaessig/
485
https://verfassungsgericht.brandenburg.de/verfgbbg/de/presse-statistik/pressemitteilungen/detail/~24-
02-2023-brandenburgisches-kommunales-notlagegesetz-verfassungswidrig
486
https://www.telepolis.de/features/Corona-Akten-Tagesspiegel-klagt-Protokolle-frei-berichtet-dann-aber-
nicht-9626002.html
487
https://www.telepolis.de/features/RKI-Files-und-Medien-Der-Kampf-um-Deutungshoheit-9675946.html
488
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/kontext/rkifiles-corona-100.html
103
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
können. Was hätte man nicht alles infrage stellen müssen! Zum Beispiel diese fünf Floskeln, die wie
Naturgesetze gehandelt wurden.
1.)"Die Pandemie trifft uns alle unvorbereitet." Womit haben dann Zivil- und Katastrophenschutz
gerechnet, wenn eines der nächstliegenden, statistisch wahrscheinlichsten Szenarien gar nicht vorbe-
reitet war? Für 17 zuständige Innenministerien, ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz bis hin zu den
Katastrophenschutzeinheiten bei jeder Freiwilligen Feuerwehr und jedem Rot-Kreuz-Verband soll
eine Virus-Epidemie nicht zum Szenario gehört haben?
2.) "Wir fahren auf Sicht." Mit dieser in der Anfangszeit viel gebrauchten Floskel wurde die Sprung-
haftigkeit der Politik begründet. Man könne eben nicht weit nach vorne schauen. Doch "fahren auf
Sicht" bedeutet, so langsam zu fahren, dass unerwartete Hindernisse nicht zum Unfall führen, die
Sichtweite zum Bremsen reicht. Tatsächlich aber glich die Politik eher einem Stochern oder Schießen
im Nebel, bei dem man sich überraschen lässt, wen es dabei trifft und wie Getroffene reagieren wer-
den.
3.) "Jeder Tote ist einer zu viel." Diese bekannte Floskel klingt gut, ist aber ganz objektiv betrachtet
Unsinn. Gemeint sein kann nur, dass jeder vermeidbare Tod einen Toten zu viel geschaffen hat aber
das ist eben nicht nur sprachlich banal. Der Tod ist bisher nicht abschaffbar, er ist daher unvermeid-
lich nur terminlich manchmal verhandelbar. Jeden einzelnen Todesfall pauschal als gesellschaftli-
ches Unglück, ja gesellschaftliches Versagen darzustellen, das mit allen Mitteln hätte verhindert wer-
den müssen, ist daher Ausdruck von Allmachtsvorstellungen, in vielen Fällen gepaart mit Paternalis-
mus (denn die Behauptung schließt aus, dass viele Menschen in einem bestimmten Alter und Krank-
heitszustand ihren Tod sehnlichst erwarten). Gerade eine so moralisch gut klingende Floskel hätte
dem Journalismus Rechercheauftrag sein müssen.
4.) "Es ist die Zeit der Virologen." Auch diese Parole haben viele Menschen verinnerlicht und käuen
sie bis heute wieder, weil sie nicht von Anfang an recherchierend infrage gestellt wurde: Was können
Virologen eigentlich zu einer Virus-Pandemie sagen? Welche Expertise haben sie? Das sind nicht die
Fragen von Besserwissern, sondern von Suchenden. Der Staatsbürger darf ohne nachzudenken je-
dem Heilsverkünder hinterherlaufen, ihm blind vertrauen oder ihn wählen und mit Vertretungsvoll-
macht ausstatten. Journalisten hingegen müssen in ihrer Berufsrolle alles und jeden infrage stellen
und die Resultate dieser Recherchen der Öffentlichkeit anbieten was immer diese dann damit an-
fängt.
Sicherlich haben Virologen von Pandemiebekämpfung mehr Ahnung als der Bevölkerungsschnitt.
Aber was Kontaktbeschränkungen aller Art (Lockdown/ Social Distancing) neben einer Verringerung
des Infektionsrisikos noch alles bedeuten, davon haben Drosten, Brinkmann oder Ciesek keine Ah-
nung, dazu haben sie nie geforscht, es ist überhaupt nicht ihr Wissenschaftsbereich. Und wenn sie
sich dann seit März 2020 intensiv mit Lockdown-Maßnahmen beschäftigen, dann nicht mit mehr
Expertise als Physiker, Biologen, Psychologen, Ökonomen, Soziologen etc.
5.) "Krisen sind Zeiten der Exekutive." Ja, aber gerade nicht in Form ständig neuer Verordnungen,
nicht in Form von Bund-Länder-Konferenzen, die ohne demokratische Konsultation ständig neue
Maßnahmen beschließen.
489
Sondern ausschließlich in der Form, dass nach den zuvor für genau ei-
nen solchen Krisenfall festgelegten Regeln gehandelt wird. Geschehen ist bekanntlich etwas ganz
anderes: Die Regeln wurden fortlaufend und in bis dahin unbekanntem Ausmaß geändert. "Krisen
sind Zeiten der Exekutive" gelesen als "Krisen geben der Exekutive einen autoritären Freifahrtschein"
489
s. zur juristischen Diskussion um ein neues Infektionsschutzgesetz:
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/ifsg-epidemiegesetz-entwurf-kiessling-kritik-richtervorbehalt-
staatsgewalt/
104
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ist zumindest kein Allgemeinwissen und hoffentlich nicht mehrheitsfähig, in jedem Fall aber eine
Behauptung, zu der Journalisten jede Menge zu recherchieren hätten.
Selbst Nachrichtenagenturen schreiben regelmäßig schlicht Pressemitteilungen ab oder machen aus
kleinsten Twitter-Schnipseln eigene Meldungen
490
ohne irgendwelches Recherchebemühen zu
zeigen.
Bsp.: Der Bericht über Forschungen
491
am Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation
beginnt mit dem Satz: "FFP2-Masken bieten einen extrem hohen Schutz vor einer Corona-
Infektion".
492
Dass es sich ausschließlich um Modellrechnungen handelt, für die allerhand Werte aus
der Literatur genommen werden mussten, liest man nur zwischen den Zeilen. Und der Bericht endet
völlig unhinterfragt mit einer nicht ganz seltenen Selbstüberschätzung "der Wissenschaft" mit dem
Zitat: "Unsere Ergebnisse zeigen noch einmal, dass das Maske-Tragen an Schulen und auch generell
eine gute Idee ist.“ Die MPI-Mitarbeiter haben lediglich berechnet, wie wahrscheinlich infektiöse
Partikelübertragungen bei verschiedenen Maskentypen sind. Es gab dazu keine Experimente (nur zur
Filterwirkung), erst recht keine Realbeobachtungen. Für das Urteil, Masken an Schulen seien "eine
gute Idee", müsste u. a. festgelegt werden, was für Schüler und Lehrer "gut" ist. Zu allen Faktoren
außer der theoretischen Filterleistung von FFP2- und OP-Masken können die MPI-ler gar nichts sa-
gen, nicht einmal zu den unmittelbaren Aus- und Nebenwirkungen des Maskentragens. Zu solch evi-
denzfreier Wertung sollte Journalisten wenigstens eine Frage einfallen. Doch ob Tageszeitung
493
,
Boulevardblatt
494
oder öffentlich-rechtliche Nachrichteninstitution
495
: es blieb bei der Verbreitung
der MPI-PR
496
.
Bsp.: Die Behauptung "Masken schützen" wurde vom Journalismus von dem Moment an, da die
Politik nach einigem Mäandern diese Parole ausgegeben hatte, als Faktum übernommen.
497
Die
einfache Recherchefrage "ist das wirklich so?" hätte zutage gefördert, dass es sich dabei nur um eine
Annahme handelte, wenn auch eine zugegeben recht naheliegende. Aber die reale Schutzwirkung
konnte zunächst niemand kennen, weil diese weder mit Laborversuchen messbar noch mit Compu-
termodellen korrekt prognostizierbar ist, sondern ausschließlich im echten Leben, im Feld beobach-
tet werden kann. Um es zu verdeutlichen: Haben wir ein hoch-ansteckendes Virus, das sich über die
Atemluft verbreitet und schon in geringsten Konzentrationen pathogen wirkt, dann könnte jegliche
Schutzwirkung schon durch nur wenig an der (selbst zu 100 % filternden) Maske vorbeiströmende
Ausatemluft oder das kurzzeitige ungefilterte Atmen beim Trinken etc. zunichte gemacht werden,
allen hübschen Theoriebildungen
498
zum Trotz
499
.
490
vgl. Bericht der Art "Mehrere Polizisten bei Auflösung von Berliner Kundgebung verletzt", basierend auf
einem falsch gelesenen Polizei-Tweet, ausführlich aufgearbeitet bei
https://www.spiegelkritik.de/2020/08/05/corona-journalismus-zerrspiegel-einer-demo/
491
https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2110117118
492
https://www.instagram.com/p/CXEK-63KYVJ/?hl=de
493
https://www.berliner-zeitung.de/news/neue-studie-ffp2-masken-schuetzen-zu-999-prozent-vor-corona-
ansteckung-li.198764
494
https://www.oe24.at/coronavirus/studie-belegt-sehr-hohen-corona-schutz-durch-ffp2-masken/501804739
495
https://www.tagesschau.de/inland/corona-ffp-masken-101.html
496
https://www.ds.mpg.de/3822295/211202_upperbound_infections
497
https://faktencheck.afp.com/doc.afp.com.323P22F
498
https://twitter.com/rahmstorf/status/1256858039665274880
105
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Fragen statt Framen =
Durch die Medien geistern viele Schlagworte, die mehr offene Fragen als Fakten enthalten. Doch ihre
Verwendung suggeriert Wahrheiten, zu denen es angeblich nichts mehr zu recherchieren gibt.
Bsp.: Was soll es bedeuten, wenn "das öffentliche Leben heruntergefahren wird"? Wer oder was
geht da wie ein Computer in Stand-by? Sind Familientreffen "öffentliches Leben"?
>Eigentlich ist die Notbremse abgesprochen, aber die Regierung in Düsseldorf will ihre
Corona-Maßnahmen noch nicht landesweit verschärfen. Es sollen stattdessen nur Mini-
Notbremsen für Kommunen mit hoher Inzidenz gelten.<
(Teaser eines Spiegel-Berichts am 26. März 2021
500
)
Ob "das gute Kita-Gesetz"
501
oder die "Bundesnotbremse", solche Begriffe zeugen im Journalismus
von unterlassener Recherche. Welcher Zug soll mit einer Notbremse wo zum Halten gebracht wer-
den? Und wie geht es dann weiter? Was ist eine "Mini-Notbremse" (eine für Kinderhände oder eine
in der Modelleisenbahn?) und wie kann sie "gelten"? Es ist nicht nur ein schiefes Sprachbild, das man
dem Geschmack anheimstellen könnte. Die "Notbremse" ist ein PR-Begriff, der im Journalismus
durch Informationen ersetzt werden muss. Die dann in Gesetz gegossene "Notbremse"
502
kann und
darf im Journalismus so nicht heißen. Natürlich ist der Original-Titel auch weder schön noch objektive
Beschreibung des Inhalts: "Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage
von nationaler Tragweite". Aber immerhin heißt es so, und den Begriff "Notbremse" wird man darin
vergeblich suchen.
503
"Notbremse" ist ganz simpel politisches Framing, die darin verborgene Politik
ist wie immer 'umstritten'.
Bsp.: Dass Redaktionen selbst dann auf Fragestellungen verzichtet haben, wenn ihnen schon die
Antworten dazu angeboten wurden, zeugt von besonderem Desinteresse an Aufklärung. Nur wenige
Journalisten outen ihre vergeblichen Versuche, aber beispielhaft dürfte sein, was Arno Luik anlässlich
eines "Manifests der offenen Gesellschaft" nochmal aufgerufen hat:
>Eine kleine, persönliche Geschichte: Meine Schwester ist schwer krank. Sie muss nun umzie-
hen in betreutes Wohnen. Ihre Kinder helfen ihr beim Umzug. Ein paar Enkelkinder sind dabei,
tollen herum (wo sollen sie auch hin?), helfen ein bisschen beim Packen, da kommen Nach-
barn (die meine Schwester seit Jahrzehnten kennen) und sagen: ,Das geht nicht, dass diese
Kinder hier rumspringen. Das verstößt gegen die Auflagen. Sorgen Sie dafür, dass die sofort
weggehen. Oder wir holen die Polizei.‘ Deutschland, im Frühjahr 2020.“ So fing ein Essay zum
Thema Corona an, den ich genau vor einem Jahr auf Wunsch eines Wochenmagazins schrieb,
das sich als „kritisch und links“ versteht. Die Redaktion lehnte nach mehreren Abstimmungen
den von ihr bestellten Text, der sich mit den Nebenwirkungen der Corona-Maßnahmen be-
fasste, schließlich ab, unter anderem mit dieser Begründung: Es sei „derzeit nicht opportun,
499
zur Befundlage https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD006207.pub6/full und
https://www.cochrane.org/news/statement-physical-interventions-interrupt-or-reduce-spread-respiratory-
viruses-review
500
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-nordrhein-westfalen-will-keine-landesweite-notbremse-
a-13ca47ad-0c7a-40fb-9519-ac307b807ff4
501
https://web.de/magazine/politik/kita-gesetz-co-heissen-gesetze-33518350
502
https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/bundesweite-notbremse-1888982
503
https://www.buzer.de/gesetz/14576/index.htm
106
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
die Regierungspolitik zu kritisieren“.<
(Arno Luik im Freitag, 25. März 2021
504
)
Luiks Essay ist dann auf den Nachdenkseiten erschienen.
505
Beim Kontext Wochenmagazin hingegen
findet man seit dieser Begebenheit keinen neuen Beitrag von ihm.
506
Dass kritische Beiträge zur
Corona-Politik von Redaktionen abgelehnt wurden, berichten zahlreiche Autoren, die mit anderen
Themenangeboten in denselben Medien durchaus veröffentlicht werden.
= Absurditäten als Rechercheaufträge =
Was der Kultur-Journalist Andreas Rosenfeld zur Medienkritik am Corona-Journalismus schrieb, trifft
auf den Journalismus zur gesamten Pandemie-Politik zu:
>Statt den richtigen Impuls aufzunehmen, den auch die falscheste Kritik für den klugen Inter-
preten bereithält, stellten sie [die Medien] sich verteidigend vor das politische System, als
dessen Repräsentanten sie vom Mob auf der Straße angesprochen wurden und verhielten
sich so, als träfe der Vorwurf zu.<
(Andreas Rosenfelder: Die Regierungssprecher, Welt vom 5. Januar 2021
507
)
Positiv gewendet: Jede noch so 'krude'
508
Meinung, Kritik oder Idee ist ein Rechercheauftrag für den
Journalismus. Manches lässt sich dabei schnell erledigen und fürderhin ignorieren, aber nie ohne
fundierte Antwort auf die Generalfrage: 'Ist das so?' bzw. 'Stimmt, was ich persönlich für wahr hal-
te?'.
Doch mit einer weit verbreiteten Substitution von Recherche durch Meinung, Glauben oder eine Art
Wissensgefühl hat der Journalismus den Faktenkorridor von Anfang an extrem verengt. Als diskutier-
bar gilt nur Weniges, als 'krude Verschwörungstheorie' der Rest.
Bsp.: Als Beispiel sei auf den Artikel "Hinter der Verschwörung" beim Spiegel verwiesen.
509
Natürlich
gibt es Menschen, die völlig unbewiesene, ja sogar wissenschaftlich widerlegte Behauptungen für
wahr halten. Das ist aber angesichts von über 5 Milliarden Menschen, die einer der großen Religions-
gemeinschaften zugeordnet werden, nichts Besonderes, sondern in diesem Rahmen akzeptierter
Ausdruck des Rechts auf eine eigene Persönlichkeit, die noch keinen TÜV bestehen muss. Man darf
auch auf Homöopathie hoffen und Freitag, den 13., für eine Unglücksstelle im Kalender halten; oder
seinem Lieblingsverein die Daumen drücken. Alles das wird von den Massenmedien bisher nicht pa-
thologisiert, vielmehr wird Respekt eingefordert (aus demokratietheoretischer Sicht: zurecht). Wenn
sich Journalisten nun objektiv mit all dem beschäftigen würden, was sie für krudes Zeug halten, blie-
be genügend Material, das als Angebot zur Orientierung eine journalistische, also recherchierende
Aufarbeitung verlangt. Natürlich wachsen mit 5G die Überwachungsmöglichkeiten, natürlich hat die
Gates-Stiftung Einfluss auf die WHO, natürlich verfolgt jeder Mensch, der in der Öffentlichkeit steht,
auch Eigeninteressen. Die tatsächliche Gefahr (gemessen in Erkrankten und Verstorbenen) von Co-
vid-19 ließ sich anfangs nicht zuverlässig abschätzen (regelmäßig wird die Letalität des neuen Virus
504
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/fuer-die-offene-gesellschaft-1
505
https://www.nachdenkseiten.de/?p=60207
506
https://www.kontextwochenzeitung.de/suche.html?tx_kesearch_pi1%5Bsword%5D=Luik
507
https://www.welt.de/kultur/plus223694090/Corona-und-die-Medien-Die-Regierungssprecher.html
508
https://news.google.com/search?q=krude
509
https://www.spiegel.de/netzwelt/web/corona-verschwoerungstheorien-und-die-akteure-dahinter-bill-
gates-impfzwang-und-co-a-2e9a0e78-4375-4dbd-815f-54571750d32d
107
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
aufaddiert, nicht aber die Letalität der Vergleichs-Viren), natürlich wurde mannigfach der Ruf nach
Zwangsimpfungen laut
510
, um nur zwei "Verschwörungstheorien" aus dem Spiegel-Beitrag als Re-
chercheauftrag zu benennen.
Bsp.: Es ist leicht, sich über den Begriff "Corona-Diktatur" zu echauffieren, und wenn er von sechs
Menschen zum "Unwort des Jahres" ernannt wird
511
, ist das eine Tatsache aber noch nicht die
Wahrheit. Viele Diktate und Diktaturen werden von Lobbyisten beklagt, die Diktatur des Geldes etwa.
Natürlich diktiert bei der "Corona-Diktatur" "Corona" selbst nichts, aber Rosenfelder folgend könnte
man mal zusammentragen, was alles von der Politik mit Corona begründet wurde, was als zwingend
notwendig und daher nicht verhandelbar zur Pandemiebekämpfung galt, von Pop-up-Bikelines über
das Verbot für Feuerwehren, das Retten zu üben, bis zur monatelangen Isolation im Altenheim, auch
über die Impfung hinaus
512
. Die Floskel, Corona zwinge uns zu irgendetwas oder verlange uns dies
und jenes ab, bleibt meist unbeanstandet. Dann kann man gegen ein "Corona-Regime"
513
eigentlich
auch nichts einwenden, zumal wiederum viele "Regime" völlig unbeanstandet bleiben, etwa das
"Lebensarbeitszeit-Regime"
514
. "Corona-Diktatur" klingt da etwas fescher und ist so gelesen weit
entfernt von Verschwörungen oder Demokratiefeindlichkeit. Weniger zur Recherche (hoffentlich)
und mehr zur Darstellung gehört dabei, dass wie in der Nachricht des Südwestrundfunks (SWR) als
Urheber der Kür nur von einer 'unabhängigen Jury' die Rede ist, als sei diese gerichtsgleich. Wie u. a.
beim Aspekt der "Objektivität" ausgeführt wäre hier zu erläutern, wie es um die Bewertungskriterien
bestellt ist, um die Kompetenz der Juroren, um die Bedeutung ihrer Befunde. Aber das "Unwort des
Jahres" hat einen festen Platz in der Berichterstattung ergattert, und eine persönliche Prognose lau-
tet: Solange kein "Unwort" "den Journalismus" insgesamt trifft, wird das Interesse daran anhalten.
Ob solche Meldungen auch relevant sind?
= Wirkungen und Nebenwirkungen =
Besonders schwer wiegt das journalistische Versäumnis, mögliche Nebenwirkungen der Corona-
Politik frühzeitig recherchiert zu haben. Stattdessen wurde die Alternativlosigkeit ausgerufen: Wenn
es um Menschenleben geht, können und dürfen wir keine Abwägungen treffen. Das kann man als
ethisches Dogma akzeptieren, es entbindet aber nicht von der Nebenwirkungs-Recherche. Sonst
besteht die Gefahr, dass für die als alternativlos geltende Rettung von Menschenleben Menschenle-
ben geopfert werden.
515
Dass einzelne Nebenwirkungen in ihrem Ausmaß nicht verlässlich abzu-
schätzen sind, darf nicht an ihrer Benennung hindern. Hier war investigative Recherche eine Pflicht-
aufgabe für Medien.
510
https://web.archive.org/web/20200520074819/https://www.swr.de/swraktuell/impfflicht-100.html
511
https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/unwort-des-jahres-2020-102.html
512
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-lage-in-altenheimen-geimpft-aber-das-leben-ist-
noch-lange-nicht-normal-a-5f90447b-0002-0001-0000-000176746229
513
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/corona-regime-was-kommt-nach-dem-shutdown-
16713012.html
514
Mareile Pfannebecker/ James Smith: "Alles ist Arbeit", Gespräch mit der Autorin in "Andruck", DLF
28.03.2022 https://www.deutschlandfunk.de/mareile-pfannebecker-james-a-smith-alles-ist-arbeit-dlf-
a0e5d472-100.html
515
https://www.heise.de/tp/features/Wir-retten-Menschenleben-mit-Menschenleben-ohne-darueber-zu-
verhandeln-4715085.html
108
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Eine der am nächsten liegenden Nebenwirkungen sind die Kosten, die doch sonst immer dem erhoff-
ten Nutzen gegenübergestellt werden. Mit der Parole, man dürfe Menschenleben nicht mit Wirt-
schaftsleistung verrechnen, hätte sich der Journalismus nie zufriedengeben dürfen.
516
Zum einen,
weil er selbst keine Entscheidungen zu treffen hat (sondern seine Kunden zu Entscheidungen befähi-
gen soll), zum anderen, weil es diesen scheinbaren Dualismus gar nicht gibt. Denn letztlich werden
natürlich auch alle Menschenleben in Euro umgerechnet, nicht erst bei Schadensersatz und Schmer-
zensgeld. Schutz und Heilung von Menschen erfordern in unserem Wirtschaftssystem immer Leistun-
gen, die Geld kosten. Damit steht dieses Geld zwangsläufig für andere Dinge nicht mehr zur Verfü-
gung, u. a. eben nicht mehr für Schutz und Heilung von Menschen in anderen Situationen als Corona
(weshalb Schulden auch "Zukunftsverzehr" genannt werden können
517
). Da hier, zum wiederholten
Male sei es betont, nicht inhaltlich zur Corona-Politik argumentiert wird, soll es genügen, auf das
große Recherchepotential hinzuweisen, welches hinter der Kosten-und-Nutzenanalyse steckt: Was
kostet uns die Corona-Politik, was bringt sie uns, was wäre mit dem Geld sonst möglich gewesen und
was ist aufgrund der gewählten Prioritätensetzung künftig nicht mehr möglich? Allein zur Nebenwir-
kung Kosten (= Schulden, weil Verzicht nie zur Debatte stand) wurde praktisch gar nicht recherchiert,
das Problem wird offenbar ignoriert, weil es ja in der Zukunft liegt. Es dauerte Monate, bis wenigs-
tens die politische Opposition mal nach den Kosten fragte.
518
Bsp.: Dabei gab und gibt es zahlreiche Anhaltspunkte zu Nebenwirkungen der Corona-Politik aus der
Forschung allerdings nicht aus der Virologie. Um nur einen recht frühen und mittlerweile sicherlich
überholten zu nennen:
>Während durch den 'Lockdown' unter Berücksichtigung der Vorerkrankungen etwa 180.000
Lebensjahre gewonnen werden konnten, zeigt dieser Beitrag, dass das Aussetzen des medizi-
nisch-technischen Fortschritts durch den Wachstumseinbruch mindestens 3,7 Millionen Le-
bensjahre kosten könnte.<
(Bernd Raffelhüschen, Abstract zu "Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das?", Wirt-
schaftswissenschaftliches Studium 10/2020
519
)
Statt ein ums andere Mal Verschwörungstheorien hinterherzujagen hätten sich Journalisten solcher
Berechnungen annehmen können. Doch ein Blick etwa in Spiegel, Süddeutsche und FAZ zeigt, dass
Raffelhüschens Beitrag nicht aufgegriffen wurde (bei einzelnen anderen Medien allerdings schon
520
).
Andere Wissenschaftler haben verlorene Lebensjahre durch entgangene Bildung errechnet oder auf
Krankheit und Tod verwiesen, die durch Unterbrechung globaler Lieferketten verursacht werden. Die
Vereinten Nationen befürchteten im April 2020 global Hundertausende zusätzliche Todesfälle bei
516
https://www.deutschlandfunkkultur.de/coronamassnahmen-die-risiken-und-kosten-werden-ignoriert-
100.html
517
https://www.focus.de/finanzen/boerse/experten/pandemie-explodierende-staatsschulden-ueberfordern-
kuenftige-generation_id_11882972.html
518
https://www.rnd.de/politik/was-kostet-die-corona-krise-bund-rechnet-mit-15-billionen-euro-
ZDHKOHL7QNCGJKMB5WA6JO5G4E.html
519
https://www.beck-elibrary.de/10.15358/0340-1650-2020-10-33/verhaeltnismaessigkeit-in-der-pandemie-
geht-das-jahrgang-49-2020-heft-10 (nicht mehr online)
520
https://web.archive.org/web/20201101081059/https://www.swr.de/swraktuell/gerettete-und-nicht-
gerettete-in-der-corona-krise-kolumne-100.html
109
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Kindern.
521
Denn grundsätzlich gilt - auch für Industrieländer: > Soziale Ungerechtigkeit tötet in gro-
ßem Stil.<
522
Das alles hätte niemanden von der Zustimmung zur Corona-Politik abhalten müssen, aber um sich
überhaupt intellektuell statt dogmatisch positionieren zu können, wären all solche Informationen
über (mögliche) Nebenwirkungen notwendig gewesen.
Mit welchen Krankheiten und chronischen Defiziten ist zu rechnen, wenn Kinder drastisch reduzierte
Sozial- wie Keimkontakte haben? Aus anderen Zusammenhängen wissen wir, wie verheerend sich
vermeintliche Hygiene auf die Gesundheit auswirken kann (Beispiele: künstliche Muttermilch und
Fäzes-kontaktlose Geburt durch Kaiserschnitt). Welche Nebenwirkungen haben Kontaktverbote auf
hospitalisierte Kinder, Jugendliche, Erwachsene, auf Demente und Schwergeschädigte? Was bedeu-
tet es für die Sicherheit, wenn die Feuerwehr keine Übungen mehr durchführen darf?
523
(Wenn es
nichts bedeuten würde, dann immerhin doch, dass die bisherigen Übungen mit ihren Kosten und
Risiken und Umweltbelastungen überflüssig waren.) Was bedeutet es für eine Generation, die sich
ein Jahr lang nicht zum ersten Mal verlieben kann? Welche Gesundheitsfolgen hat es überhaupt,
Menschen einzusperren (bzw. ihnen faktisch den ggf. sonst betreuten Aufenthalt im Freien zu
verwehren)?
Auch über das Medizinische hinaus gab es zahlreiche Fragen zu den Nebenwirkungen, von Überwa-
chung bis Alltags-Militarisierung. Aber die Qualität von Leben spielte in der Berichterstattung lange
gar keine Rolle, alle Fragen und Bedenken galten als unbotmäßig. Was es gab, waren gelegentliche
Einzelberichte, Einzelaspekte. Was bis heute fehlt sind Versuche, ein Gesamtbild zu zeichnen. Die
mediale Erregung über #allesdichtmachen hat dies wohl mehr als deutlich gezeigt.
Bsp.: Aus der Fernsehwerbung, in der nur rezeptfreie Arzneimittel beworben werden dürfen, kennen
wir den (ehemaligen
524
) Spruch: "Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apothe-
ker". Wäre es zu albern gewesen, nach solchen Risiken und Nebenwirkungen des permanenten und
intensiven Händewaschens
525
zu fragen? Nach den Nebenwirkungen einer Atemschutzmaske? Oder
gar nach den Nebenwirkungen einer "nebenwirkungsfreien"
526
Impfung?
= Gerichtsverfahren und -entscheidungen =
Ein typisches Feld für notwendige, aber regelmäßig unterlassene Recherche ist die Rechtsprechung.
Da Gerichte nur stellvertretend für die Bevölkerung als Souverän handeln und daher "im Namen des
521
" Economic hardship experienced by families as a result of the global economic downturn could result in
hundreds of thousands of additional child deaths in 2020, reversing the last 2 to 3 years of progress in reducing
infant mortality within a single year." https://unsdg.un.org/resources/policy-brief-impact-covid-19-children
522
Marmot, Michael/ Andreas von Westphalen in Essay und Diskurs, Deutschlandfunk, 09.03.2024,
https://www.deutschlandfunk.de/soziale-ungerechtigkeit-toetet-in-grossem-stil-gespraech-mit-michael-
marmot-dlf-f01c4699-100.html
523
https://www.wn.de/muenster/freiwillige-feuerwehr-darf-sich-seit-einem-jahr-nicht-zu-ubungen-treffen-
1013546
524
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ampelkoalition-will-arzneimittel-warnhinweise-gendern-138558/
525
https://www.youtube.com/watch?v=sLa_QiWulPE
526
https://www.berliner-zeitung.de/news/karl-lauterbach-aussagen-zu-impfschaeden-sorgen-fuer-aufsehen-
li.238592
110
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Volkes" urteilen
527
, ist eine fundierte journalistische Begleitung essentiell für die Rückbindung zwi-
schen Judikative und Bürgern. Gerichte sollen für die objektive, also faire und nicht-willkürliche An-
wendung des Rechts sorgen, doch das Recht selbst soll in einer Demokratie von der Bevölkerung
gesetzt werden. Veränderungen des Rechts sind jederzeit möglich; für die Prüfung vorhandener Re-
gelungen oder vermeintlicher Regelungslücken braucht es die Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren,
die deshalb als Kennzeichen von Rechtsstaatlichkeit gilt. De facto hergestellt werden kann die Öffent-
lichkeit von Gerichtsverfahren wirkungsvoll nur durch die Presse, in den Worten von Udo Branahl:
>Ihre Informationsfunktion erfüllen die Massenmedien, wenn sie in ihrer Gesamtheit dem
Publikum die Möglichkeit geben, sich ein eigenes, zutreffendes Bild von der Tätigkeit der Justiz
zu machen.<
(Branahl 2005: 17
528
)
Die Presse beschränkt sich jedoch vor allem im Lokalen meist auf die Beschreibung der Urteilsformel,
bei Strafprozessen noch ergänzt um die mehr oder weniger detaillierte Erzählung der kriminellen Tat.
Die Darstellung der Positionen verschiedener Parteien, Probleme oder Besonderheiten in der Ver-
handlungsführung, Lücken in der Argumentation etc. fehlen zumeist. Eine Auseinandersetzung mit
dem schriftlichen Urteil, das erst Wochen oder Monate nach der mündlichen Kurzfassung vorliegen
muss (§275 StPO
529
), erfolgt nur äußerst selten, obwohl dies für die öffentliche Kontrolle der Justiz
essentiell wäre. Selbst Nachrichtenagenturen begnügen sich regelmäßig damit, die Pressemitteilun-
gen von Gerichten in Form zu bringen.
Bsp.: So schrieb dpa zum Verkaufsverbot von Silvesterfeuerwerk:
>Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat das bundesweite Verkaufsverbot für
Silvester-Feuerwerk bestätigt. Das teilte das Gericht am Montagabend (28. Dezember 2020)
mit. Zur Begründung hieß es: Nach allgemeiner langjähriger Erfahrung sei damit zu rechnen,
dass unsachgemäßer Gebrauch von Silvester-Feuerwerk zu akut behandlungsbedürftigen Ver-
letzungen führe. Die Behandlung der Verletzten würde das zurzeit ohnehin stark in Anspruch
genommene Krankenhauspersonal zusätzlich treffen und die Behandlung der zahlreichen
Corona-Patienten potenziell beeinträchtigen.<
(Welt, 28.12.2020
530
; wortgleich u.a. bei Berlin.de
531
)
Keinerlei Eigenrecherche zu den Annahmen des Gerichts: Was hat die Infektiologie mit der Unfallauf-
nahme zu tun? Wieviel Personal aus anderen Abteilungen wurde in vergangenen Jahren wegen Böl-
ler-Verletzungen in die Chirurgie und Brandversorgung abgezogen? Wie ausgelastet ist derzeit "das
Krankenhauspersonal" in Summe? (Nebenbei sei, weil dies regelmäßig Zeichen mangelnder Recher-
che ist, auf einen Formulierungsfehler hingewiesen: das OVG Berlin-Brandenburg konnte mangels
Zuständigkeit natürlich gar nicht ein bundesweites Verkaufsverbot bestätigen.)
Gerade bei Eilverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, bei denen es keine Öffentlichkeit gibt,
muss der Informationsjournalismus eigenständig recherchieren. Nicht nur, weil solche Beschlüsse
gerade noch keine Urteile in der Sache und damit letztendliche und juristisch für richtig gehaltene
527
https://de.wikipedia.org/wiki/Im_Namen_des_Volkes
528
https://www.springer.com/de/book/9783531146188
529
https://www.gesetze-im-internet.de/stpo/__275.html
530
https://www.welt.de/regionales/berlin/article223375186/Gericht-bestaetigt-Verkaufsverbot-fuer-
Silvesterfeuerwerk.html
531
https://web.archive.org/web/20201229073101/https://www.berlin.de/aktuelles/berlin/6398510-958092-
verkaufsverbot-fuer-silvesterfeuerwerk-v.html
111
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Entscheidungen, sondern nur vorläufige Einschätzungen möglicher Folgen sind; die Kontrollfunktion
der Presse verlangt, auch das Handeln von Robenträgern objektiv zu behandeln, und das heißt analog
zur Arbeit von Schaffnern oder TÜV-Prüfern: immer mit dem Defizit zu rechnen, mit dem Fehler, der
Regelwidrigkeit, einem Problem. Im vorliegenden Fall wäre mindestens zu recherchieren und darzu-
stellen, wie die Fakten aussehen, die den Berliner Richtern aus "allgemeiner langjähriger Erfah-
rung"
532
bekannt sind. Wie viele Verletzte gibt es durch Silvesterfeuerwerk (ohne Partys, deren Ver-
bot in dem Zusammenhang ja nicht angefochten wurde), welchen Anteil haben diese auf die Auslas-
tung der Kliniken und wie weit tangieren diese Unfälle die medizinische und pflegerische Versorgung
von Patienten auf den inneren, Intensiv- oder Infektionsstationen? Es wäre jedenfalls keineswegs
überraschend, wenn das Gericht sich mit den Fakten gar nicht beschäftigt hätte, weil viele Richter bei
Fragen, die außerhalb ihres juristischen Fachgebiets liegen, auf ihre Meinung statt Fakten vertrauen
(wie mustergültig in allen Presserechtsverfahren zu bestaunen ist, in denen Richter das intellektuelle
Verständnis von Bürgern imaginieren
533
). Aus eigener Recherche ist zu sagen, dass in Berlin alle
schweren Böllerverletzungen im BG Unfallkrankenhaus landen (einer Einrichtung der gesetzlichen
Unfallversicherungen), welches mit schwer erkrankten Covid-19-Patienten überhaupt nichts zu tun
hat. Ursache nahezu aller dort behandelten Verletzungen ist die Zündung nicht-legalen Feuerwerks, i.
d. R. selbst gebastelter Sprengkörper.
= Einzelfälle als Recherchegrundlage =
Anstatt beliebige Einzelfälle nachzuerzählen, sollten Einzelfälle stets Rechercheauftrag für System-
probleme sein. Das gilt gerade für Gerichtsverfahren. Die Arbeitshypothese muss lauten: Es handelt
sich vermutlich nicht um ein Unikat, sondern um einen Problemtypus, der auch an anderen Stellen
auftreten kann (und keineswegs immer oder auch nur meistens vor Gericht landet).
Bsp.: Als Beispiel sei auf einen Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts verwie-
sen, der nur zu einem Bericht in der Lokalzeitung geführt hat (jedenfalls haben laut Gerichtssprecher
keine weiteren Medien dazu angefragt). Das Gesundheitsamt Itzehoe (bzw. ein dort beschäftigter
"Containment-Scout"
534
) hatte Quarantäne für ein zweijähriges Kind angeordnet, in dessen Krippen-
gruppe ein Corona-Fall aufgetreten war. Körperlicher Kontakt wurde untersagt, das Kind sollte räum-
lich separiert werden, Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam eingenommen werden. Das Verwaltungs-
gericht setzte diese Anordnung vorläufig außer Kraft
535
. Es ist davon auszugehen, dass es zu solchen
Anordnungen auch in anderen Gesundheitsämtern kam, zumal im vorliegenden Fall der Kreis kei-
neswegs um Entschuldigung für einen Fehler gebeten, sondern die Prüfung einer Rechtsbeschwerde
angekündigt hatte.
536
Dass sich dieser Fall mit reichlich Skandalpotential noch nicht einmal auf bild.de
findet, spricht eher für mangelnde Beobachtung von Gerichtsentscheidungen als für eine bewusste
Irrelevanz-Erklärung was das Problem allerdings nicht kleiner macht. Wer sonst sollte die Gerichts-
532
https://www.berlin.de/gerichte/oberverwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.10
34652.php
533
https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/gerichtsurteil-objektivitaet-durch-tricksen
534
https://web.archive.org/web/20201216094115/https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Scout.h
tml
535
https://www.gesetze-
rechtsprechung.sh.juris.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE210000661&psml=bsshoprod.psml
536
https://www.shz.de/lokales/norddeutsche-rundschau/Itzehoe-Corona-Quarantaene-Kita-Krippe-
Verwaltungsgericht-id31326552.html
112
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
barkeit im Auge haben und Einzelfälle als Hinweis auf grundlegende Probleme recherchieren, wenn
nicht Journalisten?
= Fragefehler =
Zu den verkehrten Volksweisheiten gehört, es gebe keine dummen Fragen. Aber natürlich gibt es die.
Also genau genommen sich dumm darstellende Fragesteller. Sich selbst darf man alles fragen, das ist
der normale Denkvorgang. Und genau diesen Vorgang verlangt der Respekt, bevor man sich mit Fra-
gen an andere Menschen wendet, die womöglich die eigene Denkverweigerung offenbaren. Im Jour-
nalismus gibt es die Kategorie Fragen, deren Erkenntnisinteresse womöglich zwar interessant, mit
dem gewählten Rechercheweg aber nicht zu erreichen ist. In diese Kategorie gehören viele Fragen an
Politiker. Können sie zur Beantwortung der Frage überhaupt etwas beitragen? Oder sind sie nicht
allenfalls Papageien ihrer Fachberater, die man besser direkt befragen sollte, um Stille-Post-Effekte
zu vermeiden? Ist zu erwarten, dass die befragten Politiker überhaupt wissen, was wir wissen wollen,
und ist zu erwarten, dass sie sagen, was sie wissen? Es wäre eine eigene Studie wert, dies einmal im
Hinblick auf Corona nur mit den Gesundheitsministern Jens Spahn und Karl Lauterbach zu erheben.
Was fragen Journalisten sie nicht alles. Der jeweilige Minister ist Chef eines Ministeriums, als solcher
kann er etwas dazu sagen, was sein Ministerium bisher getan hat und künftig tun wird. Das ist zwar
eine Menge, aber weit weniger, als die Medien aus dem Munde Spahns und Lauterbachs berichtet
haben.
Viel abenteuerlicher aber war das Medieninteresse an Karl Lauterbach vor seiner Ernennung zum
Minister. Dieser Politiker war kein Chef eines Ministeriums. Er war noch nicht einmal Mitglied ge-
schweige denn Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Parlament. Er hatte weder ein Mandat
der Wähler noch ein Mandat des Parlaments, in besonderer Stellung zur Gesundheitspolitik zu spre-
chen. Er ist kein Corona-Experte und hat mit Forschung überhaupt seit langem nichts am Hut (auch
wenn er alle Ärzte und Medizinforscher "Kollegen" nennt). Er ist eben Politiker, und in der Haupt-
zeit der Corona-Pandemie war er einer von 709 Bundestagsabgeordneten
537
. Aber die Medien hatten
ihn zum Erklärer sinnvoller Coronapolitik gemacht. Kein Pandemie-Ticker kam ohne seinen Namen
aus. Was immer Lauterbach auf Twitter von sich gab, die Medien griffen es auf. Solange es irgendwie
um Corona geht, ist Karl Lauterbach eine der relevanten Instanzen. (Und einmal positiv-prominent
reichte der Promi-Status selbst für die Schlagzeile "Bevor Lauterbach über Corona spricht, zerlegt er
Putin in drei Sätzen".
538
)
Da stört es auch nicht, dass in der Summe regelmäßig Verwirrendes dabei herauskommt. Beispiel
"Oster-Lockdown". Morgens, als noch alle den Kopf schüttelten über das Konzept von Ministerpräsi-
denten und Kanzlerin, hätte sich Lauterbach mehr gewünscht.
539
Kaum hatte Angela Merkel jedoch
537
https://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Linkliste/Liste_der_Mitglieder_des_Deutschen_Bundestages_(19._Wahlp
eriode)
538
https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/rki-warnt-vor-hohem-infektionsdruck-bevor-lauterbach-
ueber-corona-spricht-zerlegt-er-kreml-chef-in-drei-saetzen_id_59062362.html Das "Zerlegen" bestand laut
Bericht aus folgenden Worten: > Zunächst spricht Bundesgesundheitsminister Lauterbach. „Ich finde die Vor-
gänge bestürzend und in jeder Hinsicht traurig“, beginnt er mit Bezug zur Russland-Krise. Putin hätte „in ver-
brecherischer Weise das Völkerrecht gebrochen“, sagt Lauterbach, und wir haben Besseres zu tun, als uns mit
den Großmachtphantasien Putins zu beschäftigen“ etwa den Klimawandel oder die Pandemie zu bekämpfen.
Es sei „bestürzend und narzisstisch“.<
539
https://web.de/magazine/news/coronavirus/corona-news-live-ticker-astrazeneca-impfdosen-italien-vorrat-
gehalten-35650724
113
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
einen kompletten Rückzieher gemacht
540
, weil die "Osterruhe" "so nicht durchsetzbar"
541
war (Armin
Laschet), pflichtete Lauterbach bei
542
. Experte Lauterbach hält also mehr und weniger Lockdown für
gut und richtig (das Eingeständnis einer fehlerhaften Analyse ist jedenfalls nicht übermittelt). Und
seine Expertise reicht für alles, selbst zur Einschätzung der Qualität von Gerichtsentscheidungen (was
dem Deutschlandfunk einen eigenen Tweet wert war
543
).
= Widersprüchliche Informationen =
Während sich widersprechende Meinungen das Ergebnis erfolgreicher Recherche sind (siehe ein-
gangs zu Kapitel 3 "Exkurs: Meinungen und Tatsachen"), müssen solche Befunde bei Tatsachen Re-
chercheauftrag sein. Denn es kann keine sich widersprechenden Tatsachen geben. Bei sich wider-
sprechenden Tatsachenbehauptungen muss also mindestens eine der beiden Darstellungen falsch
sein. Erstaunlich oft lässt der Journalismus seine Kunden jedoch mit dem Wahrheits-Dilemma alleine
und nicht selten verkauft ein und dasselbe Medium solche widersprüchlichen Behauptungen
gleichermaßen als Tatsachen.
Bsp.: Ende Dezember 2021 genügte mal wieder ein Tweet von Christian Drosten für eine flächende-
ckende Berichterstattung mit folgendem Tenor:
>Christian Drosten zerpflückt Corona-Irrglauben Virologe wird deutlich<
544
Bzw. in einer früheren Fassung:
>Corona: Virologe Drosten nimmt wirre Behauptung auseinander<
545
Drostens Twitter-Aussage war:
> Wer glaubt, durch eine Infektion sein Immunsystem zu trainieren, muss konsequenterweise
auch glauben, durch ein Steak seine Verdauung zu trainieren.<
546
Nun hätte schon ein Blick in die (eigenen) Medien genügt, Fragen an der Aussage zu generieren
547
.
Ein Immunsystem soll nicht trainiert werden können durch Konfrontation mit irgendwas?
548
Bsp.: Als Beispiel soll der Umgang der Berliner Zeitung mit der Meldung genügen. Sie brachte bereits
am 29.12.2021 einen eigenen, namentlich gekennzeichneten Artikel zu Drostens Twitter-
540
https://www.tagesschau.de/inland/corona-osterruhe-gekippt-101.html
541
https://www.mdr.de/brisant/corona-ostern-bund-laender-konferenz-100.html
542
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/live-ticker-merkel-kippt-oster-lockdown-werden-reisen-
unterbunden/ar-BB1eU2Ot?ocid=uxbndlbing
543
https://twitter.com/DLFNachrichten/status/1390079758696919041
544
https://www.fr.de/panorama/corona-virologe-christian-drosten-immunsystem-infektion-steak-impfung-
91208221.html
545
https://web.archive.org/web/20211231070604/https://www.fr.de/panorama/corona-virologe-christian-
drosten-immunsystem-infektion-steak-impfung-91208221.html
546
https://twitter.com/c_drosten/status/1476192189793411076?lang=de
547
Bspw. https://www.swr.de/home/so-staerken-sie-ihr-immunsystem-108.html
548
https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Fastfood-macht-Immunsystem-aggressiver-224344.html
114
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Statement.
549
Doch nur zwei Tage zuvor hatte die Zeitung eine Meldung aus der Schweiz
550
aufgegrif-
fen:
>Virologe: Geimpfte und Genesene sollen auf Masken verzichten<
Kernbotschaft:
>Menschen, die bereits geimpft oder genesen sind, kämen jedoch aufgrund des Maskentra-
gens deutlich weniger mit anderen Viren und Bakterien in Kontakt. Die Folgen könnten „ver-
heerend“ sein, denn das Immunsystem brauche Training, sagt der Virologe. Es müsse sich
auch gegen Allergien, Autoimmunerkrankungen und Krebs rüsten.<
551
Ja, es ging nicht ums Steak-Essen. Aber grundsätzlich ums Training des Immunsystems durch Kon-
frontationen ein in der Immunologie wirklich uraltes Thema, das hier von Prof. Cornel Fraefel ange-
sprochen wurde.
Als die Berliner Zeitung irgendwann den Widerspruch ihrer beiden Artikel bemerkte, fügte sie einfach
beide Positionen als Meinungen zusammen:
> Die Genfer Virologin Isabella Eckerle widerspricht Fraefel gegenüber Blick. Derzeit sei der
Verzicht von Masken „der reine Wahnsinn“. Voraussetzung für eine solche Strategie sei eine
breite Immunität in der Bevölkerung und dass das Virus nicht mehr in der Intensität mutiere
wie derzeit. Auch der Leiter der Berliner Charité, Christian Drosten, stellte am Mittwoch sei-
nen Standpunkt bezüglich eines „Trainings“ des Immunsystems auf Twitter klar: Wer glaube,
durch eine Infektion sein Immunsystem zu trainieren, müsse konsequenterweise auch glau-
ben, durch ein Steak seine Verdauung zu trainieren.<
552
Aber was ist nun die Wahrheit, der Stand der Wissenschaft, was ist Erkenntnis, was (wenigstens herr-
schende) Meinung? Keine Antwort im deutschen Journalismus. Hat er sich wenigstens darum be-
müht? Nein. Der Schweizer Virologie-Professor Cornel Fraefel sagte auf meine Anfrage:
>Ja, es ist mir auch nicht klar, wie jemand wie Drosten nicht versteht, was mit trainieren des
Immunsystems gemeint ist. Deutsche Medien haben sich nie an mich gewandt, um den Punkt
zu klären. Schweizer Medien haben die Thematik auch nicht weiter aufgegriffen.<
Niemand hat nachgefragt. Das ist wohl kein Beleg für die Einschätzung des insgesamt zur Corona-
Berichterstattung kritischen Russ-Mohl, der meint: "Viele Journalistinnen und Journalisten haben in
den letzten Monaten im Ausnahmezustand in der Corona-Berichterstattung Einzigartiges geleistet,
oftmals im Home-Office."
553
Auch im Radio wurden nur die Tweets von Drosten verlesen.
554
549
https://www.berliner-zeitung.de/news/immunsystem-durch-corona-infektion-trainieren-so-kontert-
christian-drosten-li.203315
550
https://web.archive.org/web/20211224011912/https://www.blick.ch/schweiz/leiter-vom-virologischen-
institut-zuerich-cornel-fraefel-fordert-geimpfte-und-genesene-sollen-auf-maske-verzichten-id17095332.html
551
älteste Archiv-Version: https://web.archive.org/web/20211227092716/https://www.berliner-
zeitung.de/news/virologe-geimpfte-und-genesene-sollen-auf-masken-verzichten-li.202692
552
https://www.berliner-zeitung.de/news/virologe-geimpfte-und-genesene-sollen-auf-masken-verzichten-
li.202692
553
https://www.humanistische-union.de/publikationen/vorgaenge/235-vorgaenge/publikation/staerken-und-
schwaechen-der-berichterstattung-ueber-corona/
554
https://www.deutschlandfunkkultur.de/drosten-und-das-steak-dlf-kultur-058f070f-100.html
115
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
10 Zwischenfazit
In den vorangegangenen Kapiteln wurden Defizite der journalistischen Corona-Berichterstattung und
Kommentierung aufgezeigt. Nichts davon ist neu, umso erstaunlicher ist allerdings das Vermögen,
diese Defizite zu ignorieren, zu beschönigen, gar als Qualitätsleistung zu verkaufen.
Es ging hier nicht um eine bestimmte Position zur Corona-Politik. Defizite lassen sich an anderen
Themen ebenso zeigen (und es gibt zahlreiche solcher Untersuchungen). Der Ansatz hier war die
intensive Arbeit mit empirischem Material: Von den über 400 Links wies der größte Teil auf konkrete
Merkwürdigkeiten oder Fehler in der Pandemie-Berichterstattung, an mehr als 100 Themen-
beispielen erläutert. Bei der Zuordnung zu Qualitätskriterien hat mancher Kommentator im Forum
Redundanz bemäkelt. In der Tat greifen die vielen verschiedenen in der Fachdebatte verhandelten
Qualitätskriterien ineinander, haben stets Überschneidungen mit anderen. Etwa 70 solcher Quali-
tätskriterien werden in der Journalistik verhandelt, allerdings für alle Ebenen zusammen (einzelne
Aussage, Beitrag, Medium und Mediensystem). Die vielen damit angesprochenen Probleme sind
nicht überraschend. Sie sind im Gegenteil sogar erwartbar, und in der Summe dessen, was uns die
Medienforschung schon alles an Verzerrungen herausgearbeitet hat, könnte man auch zuspitzen:
Guter Journalismus muss selten sein, er ist allenfalls unter besonderen Umständen zu erwarten.
In diesem Resümee will ich dies begründen, einige Thesen zu den Ursachen zur Diskussion stellen
und Fragen an die Medienforschung formulieren. Es sei nochmals betont, dass es hier um General
Interest Medien geht, um aktuelle Vollprogramme (Tageszeitungen, Wochenzeitungen, entspre-
chende Web- und Rundfunk-Angebote). Es geht nicht um Special-Interest, nicht um Fachmagazine,
nicht um reine oder überwiegende Kommentarmedien. Ferner basieren alle Aussagen nur auf Fall-
beispielen, also einer qualitativen, alles andere als repräsentativen Stichprobe.
Die gesamte detaillierte Journalismuskritik der vorangegangenen Kapitel lässt sich in einem Befund
zusammenfassen: Die großen General-Interest-Medien haben oftmals wesentliche Informationen
nicht zur Verfügung gestellt, die zur Beurteilung der Corona-Pandemie und der sie managenden Poli-
tik nötig gewesen wären. Viele relevante, oft sogar sehr naheliegende Fragen sind medial nicht ge-
stellt worden, entsprechend wurden Fakten einseitig bewertet, Geschehnisse und Entwicklungen
unvollständig und/ oder nicht-repräsentativ dargestellt. Damit war eine verantwortungsvolle Mei-
nungsbildung schlicht nicht möglich. Dass man sich zum Teil durch eigenes Bemühen notwendige
Informationen beschaffen konnte, macht das Problem nicht kleiner. Denn zum einen ist es genau die
Aufgabe der Vollprogramme, ihren Kunden zu gesellschaftlich relevanten Vorgängen so umfassend
Informationen anzubieten, dass eine sinnvolle Orientierung möglich ist. Zum anderen sind mit der
individuellen Informationsbeschaffung neue Probleme verbunden, die all die hier diskutierten Quali-
tätskriterien betreffen. Denn nackten Fakten fehlen Angebote zur Interpretation, und bei den solche
ggf. anbietenden sog. Alternativmedien
555
sind die gleichen Probleme zu erwarten (und in meinen
Stichproben mannigfach zu finden).
Bsp.: Am 'Überbeispiel' der Kosten-Nutzen-Rechnung
556
sei das Fehlen notwendiger Informationen
nochmal verdeutlicht. Die Pandemie-Politik kostete nach Schätzung der Regierung schon 2021 min-
destens 1,5 Billionen Euro
557
. Das entspricht den gesamten Haushalten von Bund, Ländern und Ge-
555
Matthias Meisner spricht in einer nicht genau definierten Abgrenzung von "Parallelmedien":
https://www.journalist.de/startseite/detail/article/verkehrte-parallelmedienwelt
556
https://www.deutschlandfunkkultur.de/coronamassnahmen-die-risiken-und-kosten-werden-ignoriert-
100.html
557
https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/corona-gewinner-soli-101.html
116
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
meinden von zwei Jahren oder einem Jahr dieser Haushalte plus alle Sozialversicherungen. Was die
Politik entschieden hat, soll also so wertvoll sein wie alles, was in einem Jahr in Deutschland an öf-
fentlichen Ausgaben getätigt wird, einschließlich der gesamten gesetzlichen Rentenzahlungen, aller
Krankenkassen mit den gesetzlichen Pflegeleistungen. Alle Sozialleistungen, die Bildung vom Kinder-
garten bis zur Universität, Bau und Unterhalt von Straßen und öffentlichen Gebäuden, die Ausgaben
von der Gerichtspflege über den großen Teil des Gesundheitswesens (ohne Privatpatienten) bis zur
Bepflanzung jedes Blumenkübels in der Fußgängerzone, was all das in einem Jahr kostet ist genau so
viel wert wie die Corona-Bekämpfung. Zudem ist nie ausgehandelt worden, woher das Geld stammen
soll, von wem also was bzw. wie viel wozu genommen wird. Es ist völlig ausgeschlossen, dass irgend-
jemand aufgrund der journalistischen Informationsangebote das Kosten-Nutzen-Verhältnis beurtei-
len konnte, und vermutlich konnte es auch kein Politiker, auf jeden Fall auch kein Pandemie-Experte.
(Wenig verwunderlich, dass manche Ausgabe daher sogar verfassungswidrig war.
558
)
Zu den Kosten für einen nie klar definierten Nutzen gehören u. a. auch die Gesundheitsbelastungen,
insbesondere "Dritter", also der Menschen, die vor Corona nie geschützt werden mussten. Es war
vom ersten Moment an klar, dass Kontaktverbote zahlreiche neue Probleme schaffen werden aber
die Medien haben sich nicht für Nebenwirkungen der von ihnen für richtig und alternativlos gehalte-
nen Maßnahmen interessiert. Auch hier: Wo waren die Recherchen, deren Ergebnisse uns erst befä-
higt hätten, abwägen zu können? Im zweiten Pandemiejahr schlugen die Kinderärzte Alarm, wie es
im üblichen Boulevardton bei BILD hieß
559
, der Psychologe Pablo Kilian bezeichnete die Kontaktver-
bote als „soziale Triage“
560
. Wo war dieser Alarm in den Medien vor dem ersten Lockdown?
Bsp.: Oder was ist mit den Kosten für Tier und Natur? Als im November 2020 Dänemark begann,
insgesamt 18 Millionen Nerze zu töten (und dann tagelang vor sich hin gammeln zu lassen), gab es
keine Debatte ums Kosten-Nutzen-Verhältnis. Hätte es überhaupt irgendeine Grenze gegeben, oder
hätte die Politik im Zweifel die komplette Flora und Fauna eingeebnet, um die Virusverbreitung ein-
zudämmen? Schließlich sollte auch schon die Bundeswehr eingesetzt werden, mindestens 70 % aller
Wildschweine zu erschießen, um die für den Menschen ungefährliche Afrikanische Schweinepest
nicht in die Hausschwein-Mastanlagen gelangen zu lassen. Ein Jahr nach dem dänischen „Blutbad“
561
kamen dann doch Fragen nach der Angemessenheit zumindest der deutsche Journalismus ist damit
reichlich spät, nach dem Motto: erst schießen, dann aufklären. Kosten und Nutzen wurden nie mitei-
nander ins Verhältnis gesetzt (auch bei den sog. „Alternativmedien“ geschah dies nur selektiv, dort
halt mit umgekehrtem Vorzeichen, also dem ausschließlichen Fokus auf negative Auswirkungen).
Dass wir so dermaßen uninformiert und damit kopflos in ein riesiges ‚Abenteuer‘ gestürzt wurden, ist
dabei freilich kein Novum. Im Sommer 2021 diskutierten alle über das Fiasko der Afghanistan-
Mission. Auch hier hätte der Journalismus all die Fragen schon 20 Jahre früher stellen können und
unbedingt stellen müssen, deren Beantwortung heute nur noch Peinlichkeiten zutage fördern kann.
Was ist das Ziel der Mission? Was darf sie kosten, in Geld, in Toten, in Verletzten, in Kollateralschä-
den etc? Und was erwarten wir dafür, was erwarten welche Afghanen dafür? Was sind Erfolgskri-
terien, an denen diese Kriegspolitik gemessen werden kann? Bis wann muss was erreicht sein? Wel-
558
https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-hilfen-hessisches-corona-sondervermoegen-ist-
verfassungswidrig-a-4fd6bddb-6343-43f0-8e97-0cc315f6e589
559
https://www.bild.de/politik/2021/politik/corona-lockdown-macht-kinder-krank-aerzte-schlagen-alarm-
75134672.bild.html
560
https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/folgen-des-corona-studiums-studierende-sind-
in-suizidalen-krisen-17607208.html
561
https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-in-daenemark-skandal-um-tote-
nerze.979.de.html?dram:article_id=504582
117
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
che Bewertungsmaßstäbe gibt es dafür? Wie sieht die Exit-Strategie für den Erfolgsfall aus, wie für
den Fall des Scheiterns? Es sind geradezu banal simple Fragen, die man sich vor einer solch weitrei-
chenden Entscheidung wie dem 'Krieg gegen den Terror' stellen muss. Und all solche Fragen müssen
in den Medien gestellt werden, auf all solche Fragen muss der Journalismus Antworten suchen. Das
mediale Entsetzen über die Situation beim hastigen Abzug des Militärs aus Afghanistan im Sommer
2021
562
zeigt deutlich, dass der Journalismus sich damit nicht beschäftigt hat.
Ähnliches wird sich für alle weitreichenden Entscheidungen der Politik zeigen lassen, wenn auch
nicht immer so flächendeckend, so gleichförmig wie beim Afghanistan-Einsatz und eben bei Corona.
Den Klimawandel haben die meisten Medien auch reichlich spät entdeckt,
563
auf naheliegende Fra-
gen zu Kosten und Nutzen, zu Wirkungen und Nebenwirkungen wurde jahrzehntelang verzichtet (in
den Regionalzeitungen der Kohlereviere zum Beispiel war jeder kritische Gedanke zum Bergbau ta-
bu). Die Digitalisierung schreitet quasi diskussionslos voran wie eine Naturgewalt. Die tierquälerische
Massentierhaltung wurde am Rande bei Corona-Tönnies thematisiert
564
und rutscht ansonsten nun
ab und zu auf dem Klimaticket in die Nachrichten, ist aber ansonsten außerhalb einzelner Reportagen
für den Journalismus völlig irrelevant. Warum mit den Kosten beschäftigen, wenn einem der Nutzen
zupass kommt?
= Markante Medienereignisse =
Die Qualitätsdefizite des Journalismus lassen sich mit einigen markanten Medienereignissen illustrie-
ren.
565
1. Februar 2020. Die Luftwaffe bringt 128 Deutsche aus dem abgeriegelten chinesischen Wuhan nach
Frankfurt am Main.
566
Schon die Vorbereitung darauf und hernach die zweiwöchige Quarantäne für
115 Rückkehrer in einer Bundeswehr-Kaserne in Germersheim
567
wurde medial intensiv begleitet, die
politische Inszenierung bot viele Bilder mit Ministern
568
, Soldaten und Helfern
569
vom Roten Kreuz
570
.
562
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/untersuchungsausschuss-zu-afghanistan-
au%C3%9Fenminister-maas-wurde-bereits-im-april-2021-vor-kritischer-lage-gewarnt/ar-AA17hXnd
563
https://www.ard-media.de/media-perspektiven/publikationsarchiv/2020/detailseite-2020/der-
klimawandel-im-oeffentlich-rechtlichen-fernsehen/
564
https://www.tagesschau.de/inland/toennies-coronainfektionen-guetersloh-101.html
565
Eine Chronologie für die ersten zwei Jahre gibt es bspw. hier: https://www.weser-kurier.de/deutschland-
welt/chronologie-der-corona-pandemie-in-deutschland-in-stichpunkten-doc7jd14620fah1fdvk6evk (enthalten
u.a. die falsche Zuschreibung des "Reichstagssturms"). Alle Tickermeldungen des Bayerischen Rundfunks bis
13.02.2023: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/rueckblick-entwicklung-der-
coronakrise,RoxMtok Eine detaillierte "Ausbreitungs-Chronik" gibt es unter
https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland_/_Chronik_der_Ausbreitung Eine Chrono-
logie mit Schwerpunkt auf die Betroffeneheit von Kindern und Jugendlichen: https://kingkalli.de/3-jahre-
corona-chronik-aufarbeitung-massnahmen-kinder-jugendliche-familien/
566
https://www.rnd.de/gesundheit/ruckflug-aus-wuhan-muss-auch-die-luftwaffen-besatzung-in-quarantane-
LHKPP6D5RFEWBCIU6ETZTIZDWQ.html
567
https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/die-luftwaffe-fliegt-deutsche-aus-
wuhan-aus
568
https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/gesundheitsminister-spahn-besucht-
kaserne-germersheim-178362
118
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Die naheliegende Frage, ob von nun an für alle negativ Getesteten
571
ein solcher Quarantäne-
Aufwand betrieben werden soll, wurde allerdings wenig verfolgt. Aber selbst der erste Jahrestag fand
nochmal Medieninteresse.
572
28. Februar 2020. Mit Angela Merkels Verweigerung des Handschlags begann die Rechercheverwei-
gerung im Corona-Journalismus.
573
Ab hier wurde der Journalismus konfessionell, getragen von Glau-
ben statt Fakten. Der Verzicht aufs Händeschütteln aus angeblichen Hygienegründen war keinesfalls
neu, man hätte schon jahrelang recherchieren können, dass dies Unfug ist
574
, aber hier war die aktu-
elle Herausforderung, nach Evidenz zu suchen, wenn die Bundeskanzlerin mal eben so eine Kultur-
technik verwirft. Es unterblieb von da an bis heute. Stattdessen wird unter dem Vorwand der Pan-
demie-Hygiene u. a. die Bargeldabschaffung vorangetrieben, wie etwa in den Berliner Bussen
575
und
bei der Deutschen Bahn (die seit Januar 2022 im Zug gar keine Tickets mehr verkauft
576
), obwohl die
EZB still und leise bestätigt hat, dass vom Geld keinerlei Gefahr ausgeht.
577
Sicherlich haben sich
mehr Menschen die Haxen gebrochen beim Versuch, Türen ohne Handberührung zu öffnen, als sich
welche über Türgriffe und Türöffnertasten eine CoVid-19-Erkrankung eingefangen haben. Aber der
Sagrotanwahn ist in der Welt, auch befeuert und zumindest nicht intellektuell gestoppt vom Corona-
Journalismus.
18. März 2020. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält eine Rede ans Volk, die "den Ton und den Stil
[vorgibt], mit denen Deutschland durch die Pandemie gehen sollte".
578
25 bis 30 Millionen Bürger
schauen die Ansprache im Fernsehen.
579
19. März 2020. Bergamo war für viele Journalisten ein selbstgeschaffenes Erweckungserlebnis und
die Medienikonisierung der Pandemie schlechthin: das Foto von Militärlastern, die am Vorabend 60
Särge in Krematorien außerhalb der Stadt brachten.
580
Dabei kommen im Bergamo-Narrativ
581
alle
569
https://www.merkur.de/welt/coronavirus-covid19-deutschland-uebertragung-symptom-schutz-
ansteckung-infizierte-quarantaene-news-zr-13519455.html
570
https://www.drk.de/hilfe-in-deutschland/coronavirus-hilfe-des-drk-fuer-china-rueckkehrer/
571
https://bnn.de/karlsruhe/gute-nachricht-aus-germersheim-keine-neuen-corona-faelle-unter-den-
internierten
572
https://www.zeit.de/news/2021-01/29/ministerin-quarantaene-in-der-kaserne-erforderte-disziplin
573
https://www.ostsee-zeitung.de/Vorpommern/Stralsund/Angst-vor-Coronavirus-Kanzlerin-Merkel-
verzichtet-in-Stralsund-auf-Handschlag
574
https://www.timo-rieg.de/2015/05/hands-brains/
575
https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/07/bvg-bus-oeffnen-vordertuer-berlin-ticket-
bargeldlos.html
576
https://www.computerbild.de/artikel/cb-News-Internet-Deutsche-Bahn-Ticketverkauf-wird-beendet-
29747073.html
577
https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpops/ecb.op259~33b180d450.en.pdf?5600eb360c1a45382efac52d9
04660d0
578
https://www.berliner-zeitung.de/open-mind/corona-debatte-pandemie-aufarbeitung-auch-angela-merkels-
hat-2020-zur-panik-beigetragen-li.322421
579
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Fernsehansprache_von_Angela_Merkel_anl%C3%A4sslich_der_
COVID-19-Pandemie&oldid=228156718
580
https://www.nzz.ch/feuilleton/corona-krise-das-bild-das-um-die-welt-gegangen-ist-ld.1558320
119
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
diskutierten Qualitätsmängel zusammen: was vermittelt wurde, war unvollständig, nicht-
repräsentativ, subjektiv, irrelevant, was bei den Mediennutzern hängen blieb war großenteils schlicht
falsch und damit massiv desorientierend (s. Kap. 4).
582
22. März 2020. Rund um den ersten Lockdown in Deutschland gibt es unzählige Medieninszenierun-
gen, welche die weitere Berichterstattung entscheidend geprägt haben dürften. Mit Flatterband
abgesperrte Spielplätze, Straßensperren der Polizei, Menschen in Ganzkörperschutzanzügen vor
allem bildlich wurde vieles als neue Realität gesetzt, ohne je die Sinnhaftigkeit zu hinterfragen. Es
war ja auch alles wie in einem Blockbuster-Film. Besonders symptomatisch war die mediale Diskussi-
on um den Profi-Fußball. Selbst in sogenannten "Geisterspielen" sahen viele Kommentatoren noch
eine unzumutbare Gefährdung der Bevölkerung, wenigstens aber eine inakzeptable Privilegierung
(wo doch selbst Kinder nicht mehr auf der Wiese kicken durften). Spätestens bei dieser Diskussion
wurde klar, dass die Orthodoxie die Meinungsmacht übernommen hatte: Verhältnismäßigkeit von
staatlichen Vorgaben, gar Eigenverantwortung sollten keine Rolle mehr spielen drei Jahre lang.
Jede nach irgendeiner Verordnung unzulässige bzw. unzulässig nahe Begegnung wurde seitdem me-
dial geahndet eine Goldader für den Nachrichtenbetrieb.
31. März 2020. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz sagt: "Es wird bald die Situation
kommen, dass jeder irgendjemanden kennt, der aufgrund des Corona-Virus gestorben ist."
583
Bzw.:
"Wir werden auch in Österreich bald die Situation haben, dass jeder irgendjemanden kennt, der an
Corona verstorben ist."
584
Diese Aussage wird auch in Deutschland gehört und hernach - ob nun da-
von inspiriert oder nicht - von vielen nacherzählt (gerne auch im Präsens). Dabei hätte jede Über-
schlagsrechnung hellhörig werden lassen müssen. Denn setzen wir einmal Corona als Todesursache
auf 10 Prozent, müsst jeder (!) pro Jahr zehn Todesfälle in seinem Bekanntenkreis mitbekommen.
Dass man irgendwo von einem Todesfall gehört hat, zählt natürlich nicht. Das Szenario sollte sein:
Wenn es nicht dich selbst trifft, dann jedenfalls ein Familienmitglied oder einen Freund von dir. Kurz
sprach in dem ZIB-2-Interview allerdings auch von "de facto eine[r] Ausrottung des Virus in Wuhan"
(weshalb mit strikten Maßnahmen die Sache in den Griff zu bekommen sei) und behauptete, in Spa-
nien und Italien stürben so viele Menschen, dass man nicht mehr wisse, wohin man die Leichen brin-
gen solle.
9. April 2020. Virologe Hendrik Streeck präsentiert erste Ergebnisse seiner "Heinsberg Studie".
585
Obwohl es sich auch hier nur um vorläufige Ergebnisse handelt, reagierten die Medien von Anfang an
mit viel Kritik, weil sie eine Verharmlosung der Corona-Gefahren sahen. Zur Persona non grata wurde
Streeck dann aber für viele Journalisten, weil er mit der Agentur Storymachine zusammengearbeitet
hatte, zu deren Eigentümern Kai Diekmann gehört, Ex-Bild-Chefredakteur.
586
Um Wissenschaft ging
581
https://www.br.de/nachrichten/kultur/der-militaerkonvoi-aus-bergamo-wie-eine-foto-legende-
entsteht,TJZE6AQ
582
Bei jeder passenden Gelegenheit frage ich Leute, a) wie viele Tote in Bergamo vom Militär abtransportiert
werden mussten und b) wie groß dieses Bergamo ist. Überwiegend erinnern sich die Befragten an tausende
Tote in einem (größeren) Dorf (tatsächlich hat Bergamo 120.000 Einwohner).
583
https://www.youtube.com/watch?v=r79ai7KbaLI und https://www.krone.at/2127340
584
https://www.facebook.com/ZeitimBild/videos/kurz-es-gibt-keine-alternative-zu-den-corona-
ma%C3%9Fnahmen/811642652661258/
585
https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19_Case-Cluster-Study Studie: https://www.uni-
bonn.de/de/neues/111-2020
586
https://kress.de/news/detail/beitrag/145231-rufschaedigung-des-berufsstands-pr-rat-ruegt-agentur-
storymachine.html
120
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
es schon bis dahin immer nur ganz am Rande und hoch selektiv, hier machten die Medien nun klar,
dass es für sie Fakten nur zusammen mit der korrekten Bekenntnisfahne
587
gibt. Und es war ein be-
deutender (aber bei weitem nicht erster) Vorstoß, die Kontaktschuld wieder in die öffentliche Judika-
tion einzuführen. Entgegen einem demokratischen Grundprinzip werden Sprecher und Argument
nicht getrennt.
588
Eine Aussage ist nur so gut wie der Medienwert des Aussagenden.
12. April 2020. Mit Bill Gates in den Tagesthemen
589
(und in zig anderen Medien international) aus-
gerechnet am Ostersonntag 2020 begann eine Mäzenaten-Erzählung. Mit seiner zehnminütigen An-
sprache ans Erdenvolk war Gates als Heilsbringer gesetzt, alle bisherige Kritik an der demokratisch
durch nichts legitimierten Weltgestaltung des Milliardärs mit seiner Stiftung war weggewischt, es
wurden sogar alte Texte überarbeitet, um sie dem neuen Frame anzupassen (siehe Kap. 7).
1. August 2020. Die Berichterstattung von der ersten Berliner Großdemonstration gegen die Corona-
Politik war ein neuer Meilenstein für Einseitigkeit und Verzerrung.
590
In keinem der beobachteten
Medien konnte auch nur das Bemühen ausgemacht werden, Positionen der klar zu Gegnern der ei-
genen Meinung (und mithin der Medienkunden) erklärten Demonstranten zu vermitteln. Schon die
vorangegangenen, viel kleineren "Hygiene-Demos" wurden als Ansammlung von Verrückten und
Demokratiefeinden geframt. Mit diesem Narrativ des Medien-Mainstreams war es dann nicht mehr
verwunderlich, dass die Medien der Forderung nach Polizeigewalt gegen Demonstranten
591
viel
Raum und dem Widerspruch wenig einräumten. Bei den Protesten gegen eine Novellierung des In-
fektionsschutzgesetztes kam es dann geradezu folgerichtig am 18. November 2020 zum ersten Was-
serwerfereinsatz in Berlin seit sieben Jahren. Was lange Zeit bei keinem Krawall zum "revolutionären
ersten Mai" notwendig war bei Menschen "ohne Abstand und Maske" musste die Staatsmacht
durchgreifen, was für viele journalistische Kommentatoren viel zu sanft geschah. Olaf Sundermeyer
macht die Kinder als Problem aus, das notwendige Polizeigewalt behindere.
592
Tagesspiegel Chefre-
dakteur Lorenz Maroldt fühlte sich beim "schlappen Strahl" des Wasserwerfers "an eine verkalkte
Dusche" erinnert.
593
29. August 2020. Die Medien interpretieren eine Ansammlung von Demonstranten auf den Stufen
des Bundestags als "Sturm auf den Reichstag"
594
und schreiben ihn der Großdemonstration von die-
587
vgl. Tucholskys "Der Mensch" https://www.vorbote.de/der-mensch/
588
https://magazin-forum.de/de/node/23546
589
https://www.youtube.com/watch?v=083VjebhzgI
590
https://www.sueddeutsche.de/politik/berlin-corona-demo-teilnehmer-zahlen-1.4987759
591
https://www.heise.de/tp/features/Polizeigewalt-gegen-Querdenker-6160430.html
592
Sundermeyer: "Das Problem ist, dass Kinder unter den Demonstrierenden sind, auch in erster Reihe, und
die Wasserwerfer deswegen nicht mit Hochdruck die Menschenmenge auseinandertreiben kann [...] das Prob-
lem sind die Kinder in der Menschenmenge, die wiederum dafür sorgt, dass die Polizei nicht so hart, konse-
quent hier gegen die Demonstrierenden vorgehen kann, wie sie das eigentlich möchte."
https://web.archive.org/web/20201118132218/https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-
784421.html Wo immer Sundermeyer den Willen der Polizei recherchiert hat, Vollstrahl wäre auch ohne Kinder
in jedem Fall unverhältnismäßig gewesen, wie später auch Polizeidirektor Stephan Katte erläuterte.
https://www.rbb24.de/politik/hintergrund/interview-polizeidirektor-katte-wasserwerfer-berlin.html
593
https://checkpoint.tagesspiegel.de/newsletter/6fJ8e8He8VYKOzsR6o3qpN
594
https://www.heise.de/tp/features/Sturm-auf-den-Reichstag-Sturm-im-Wasserglas-4884232.html
121
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
sem Tag
595
und damit den "Querdenkern" zu
596
, was wiederum der Terminus technicus für jede Kritik
an der Corona-Politik wurde
597
, die nicht 'noch härtere Maßnahmen' forderte. "Corona-
Demonstrationen" finden in den Medien nur als Störung der Pandemiebekämpfung statt und jede
Kritik von "Querdenkern" ist ein Angriff auf Rechtsstaat und Demokratie, eben ein "Sturm auf den
Reichstag"
598
. Und dieser "Sturm" wird zur neuen Wahrheit, die es bis in die Pop-Kultur
599
schafft.
Dezember 2020. Als der erste Impfstoff in Reichweite ist, haben die Medien endlich wieder ein The-
ma, um über die Politik zu meckern. Denn nun konnte es nicht schnell genug gehen, schließlich wa-
ren die wenigsten Journalisten in der Gruppe höchster Impfpriorität. Die Angst um das eigene Über-
leben
600
wurde nun kaum noch mit Solidaritätsaufrufen und Altruismusbehauptungen kaschiert (und
jeder, der sich möglicherweise nach vorne mogelt, um schneller geimpft zu werden, bekam eine
Medienanklage). Das Impfen wurde zum neuen Dauerthema, schon lange vor dem ersten Anti-
Corona-"Piks" wurden sämtliche Medien mit "Piks"-Bildern geflutet, den Stöpsel zum Ablassen hat
danach niemand gefunden. Bilder von der Spritze in den Oberarm wurden der allgegenwärtige große
Bruder. Weil der Journalismus nicht nur nie nach einer Exit-Strategie der Politik gefragt hat, sondern
für sich selbst folgerichtig auch kein Ende des Alarms sah, war der weitere Medienspin unausweich-
lich: Spätestens ab Herbst 2021 galt die publizistische Kriegserklärung den "Impf-Verweigerern" (wo-
bei es sogar schon vor dem ersten 'Schuss' den Ruf nach einer Impfpflicht gab, in den zum Titel eines
Bestseller-Buches erhobenen Worten von Nikolaus Blome über künftige Ungeimpfte: "Möge die
gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen"
601
). Danach müssten die Auffrischungs- und Boos-
ter-Schwänzer dran sein, gefolgt von all den Impfmuffeln anderer Krankheiten, allen voran die echte
Grippe, für deren eigenverantwortliche Abwehr das letzte Stündlein schon geschlagen haben dürfte
(denn ausnahmslos jedes Argument für eine Corona-Pflichtimpfung passt auch zur Influenza). Dass
zwischenzeitlich der Impfstatus eines einzelnen Menschen zum tagelangen Hauptthema wurde
602
, ist
vermutlich nur noch psychopathologisch zu erklären.
22. April 2021. Die journalistische Erregung über #allesdichtmachen war wohl weniger einschnei-
dendes Medienereignis als vielmehr eine publikumswirksame Feueralarmübung, schließlich ging es
um nichts
603
, aber die mediale Schlagkraft war beeindruckend. Der Journalismus hatte den öffentli-
595
https://www.heise.de/tp/features/Corona-Proteste-Polizei-verhindert-Umzug-muss-Kundgebung-aber-
zulassen-4881936.html
596
https://www.zeit.de/kultur/2020-08/sturm-reichstagsgebaeude-querdenken-demonstration-
rechtsextremisten-berlin
597
s. meine Kritik https://www.deutschlandfunkkultur.de/querdenker-medien-100.html
598
https://www.dw.com/de/kommentar-streit-um-den-sturm-auf-den-reichstag/a-54846037
599
So etwa Danger Dan zu Beginn des zweiten Interview-Teils in "Reflektor" zu seinem Lied "Das schreckliche
Buch" https://reflektor-podcast.podigee.io/71-danger-dan-teil-2-macht-doch-was-ihr-wollt
600
Überschrift der Bild: >Die angstfreien Corona-Gegner machen uns Angst - 7000 Menschen ohne Mundschutz
demonstrierten dicht an dicht auf dem Wasen<, Bild Stuttgart vom 04.05.2020 (Nr. 103), Seite 9
601
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/impfpflicht-was-denn-sonst-a-2846adb0-a468-48a9-8397-
ba50fbe08a68 Bestseller-Buch: https://www.buchkomplizen.de/buecher/corona-buecher/moege-die-gesamte-
republik-mit-dem-finger-auf-sie-zeigen.html
602
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kimmich-impfung-101.html
603
https://www.spiegel.de/kultur/allesdichtmachen-chronik-ein-deutsches-debattendesaster-a-ef30b6a6-
ece6-4501-bbed-2b9a4a45ae15
122
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
chen Diskurs sofort unter Kontrolle
604
, die meisten Sünder wurden schneller denn je reuig
605
, die
Nicht-Reuigen wurden vom weiteren Mitspielen ausgeschlossen. Ein völlig neben sich stehender Jan
Josef Liefers bei Maybrit Illner
606
dürfte jedem Künstler eindringliche Mahnung sein, den schmalen
Korridor des künstlerisch Sagbaren nicht zu verlassen.
607
7. April 2022: Der Deutsche Bundestag lehnt Gesetzentwürfe zur Impfpflicht ab. In der Berichterstat-
tung ist fast durchgängig von "scheitern" die Rede.
608
Der Medienmainstream hatte zuvor in immer
drastischeren Worten eine Impfpflicht gefordert bzw. entsprechenden, auch verbal ausfälligen For-
derungen ohne jede Distanz oder Einordnung Raum gegeben.
609
Vor allem hatten viele Journalisten
die Impfpflicht frühzeitig als "alternativlos" angesehen, als Zwangsläufigkeit, die keiner demokrati-
schen Aushandlung bedarf, die nicht der Entscheidungsfreiheit der Bürger anheimgestellt ist: "Eine
Impfpflicht wird kommen"
610
hießt das dann schon vier Monate vor der Bundestagsentscheidung,
bevor überhaupt konkrete Gesetzentwürfe
611
vorlagen.
= Systematische Fehler im Corona-Journalismus =
Soweit einige markante Medienereignisse. Die Probleme des Corona-Journalismus, die hier nur punk-
tuell aufgezeigt werden konnten, sind zwar grundsätzlich in der zugehörigen Fachwissenschaft ange-
kommen eine kleine Übersicht gibt z. B. die Einleitung der Studie "Konstruktiv durch Krisen? Fallan-
alysen zum Corona-Journalismus (Kramp/ Weichert 2021)
612
. Nur: Wer das Ergebnis des Corona-
Journalismus für gut hält, ist für Kritik daran wenig empfänglich. Nach den Kriterien von Kramp und
Weichert kann man für große Teile der Pandemie-Berichterstattung attestieren, dass "redaktionelle
Angebote aktivistische Züge kultivierten"
613
. Denn der Journalismus hat sich gemein gemacht mit der
vermeintlich guten Sache
614
der Politik (und zwar mit ihrer Stoßrichtung, nicht mit jeder einzelnen
604
https://www.sueddeutsche.de/panorama/allesdichtmachen-prominente-corona-videos-1.5273716
605
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Allesdichtmachen&oldid=230385156#Teilnehmer
606
https://www.youtube.com/watch?v=IpulpwBfHB0
607
siehe Podcast-Gespräch https://www.machtlos.net/14-demokratischer-meinungsstreit-am-beispiel-
allesdichtmachen/
608
ARD: https://www.tagesschau.de/inland/corona-impfpflicht-debatte-bundestag-analyse-101.html ZDF:
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-keine-impfpflicht-bundestag-entscheidung-100.html n-tv:
https://www.n-tv.de/politik/Impfpflicht-scheitert-krachend-article23253406.html
609
Welt-Artikel (nach wenigen Stunden wieder gelöscht) https://archive.ph/Qk8r9 Auch im Februar 2023 fin-
den sich auf Twitter mit dem Hashtag jede Menge Posts erledigt ist das Ganze offenbar noch lange nicht:
https://twitter.com/hashtag/IchHabeMitgemacht
610
https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/olaf-gegen-omikron
611
Alle Entwürfe, die letztlich zur Abstimmung standen:
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw14-de-impfpflicht-886566
612
Transparenzhinweis: darin bin ich mit sechs medienkritischen Beiträgen zitiert
613
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/studie-der-otto-brenner-stiftung-konstruktiv-berichten-
allein-reicht-nicht/27730114.html
614
Zum entsprechenden Aphorismus von Charles Wheeler, der konsequent aber falsch Hanns Joachim Fried-
richs zugeschrieben wird, siehe: https://www.spiegelkritik.de/2015/09/23/zitate-korinthe-80/
123
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Entscheidung natürlich, was Verteidiger des Corona-Journalismus leicht übersehen
615
). Damit hat er
allerdings die ihm zugedachte Beobachterrolle unbesetzt gelassen und steht nun vor denselben Prob-
lemen wie Politik und alle Lobbyisten (die in den Medien gerne als 'Experten' neutralweiß-gewaschen
werden): es gibt kein Zurück mehr, keine Offenheit für Alternativen, gar Fehlereingeständnisse. Man
hat sich festgelegt, und zwar in allen möglichen Details auch bar jeglichen Wissens. Einige Spotlights:
Es begann schon mit dem Ursprung von SARS-CoV-2. Nicht nur, dass es für den Journalismus ein-
deutig aus der Natur auf den Menschen übergesprungen ist
616
, schon Trumps Begriff "China-Virus"
617
galt als Rassismus. Tatsächlich ist der Ursprung bis heute ungeklärt, die Untersuchungen in China
verliefen alles andere als transparent
618
, die frühe Festlegung des Journalismus war falsch, selbst
wenn irgendwann die Tiermarkt-Hypothese überzeugend belegt sein sollte, weil eine Vermutung als
Tatsache dargestellt wurde. Und die Bezeichnung einer Epidemie nach ihrem Ursprung war zuvor
auch unproblematisch (Stichwort: Spanische Grippe).
Nach einem etwas unkoordinierten Start, bei dem selbst Christian Drosten Corona noch mehrfach
"ähnlich einer Grippe-Pandemie" nannte
619
, war es alsbald medial völlig tabu, Covid-19 irgendwie mit
Influenza zu vergleichen. Auch dieses Dogma gilt in vielen Medien bis heute, so unsinnig es auch ist
(nicht nur, weil man natürlich grundsätzlich alles miteinander vergleichen kann was etwas ganz
anderes ist als etwas gleichzustellen). Anstatt eine Impfpflicht bei Corona mit einer Impfpflicht gegen
Grippe zu vergleichen, werden lieber die Pocken bemüht. Und auch die Pest konnte noch mit zwei
Jahren Corona-Wissen unbedenklich für Vergleiche bemüht werden.
620
Aber Influenza ist tabu. Des-
wegen keine Zahlenvergleiche, keine Kosten- und Maßnahmenvergleiche, keine Vergleiche der Impf-
quote o. Ä. Wissenschaftler haben diese Wertung als Fakt übernommen und dann im Zirkelschluss
bestätigt.
Weil Corona sehr schlimm und keinesfalls mit der Grippe zu vergleichen ist, musste sich das in Zah-
len widerspiegeln. Alle Einzelfälle und singulären Ereignisse dienten als Beleg, selbst Traueranzeigen
in Zeitungen wurden von Journalisten als Hinweise auf die Todeswellen angeführt
621
. Was zur Erzäh-
lung passte, wurde publiziert, was ihr entgegenstand, fiel so weit als möglich unter den Tisch. Dass es
dann 2020 nach ersten Daten gar keine Übersterblichkeit gab, wurde nicht so groß aufgehängt und
615
https://uebermedien.de/59799/was-man-in-deutschland-noch-sagen-darf-dass-man-nichts-gegen-die-
regierung-sagen-darf/
616
https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91476020/corona-ursprung-im-labor-e-mails-verraten-
forscher-hielten-das-fuer-moeglich.html
617
wobei auch in Deutschland noch im März 2020 von der "Wuhan-Grippe" berichtet wurde:
https://www.merkur.de/politik/coronavirus-berlin-merkel-seehofer-kanzleramt-haende-handschlag-
integrationsgipfel-zr-13569356.html
618
https://www.swr.de/wissen/who-studie-wuhan-urspruenge-des-coronavirus-100.html
619
https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/rapid-reaction/details/news/wie-gefaehrlich-wird-das-
coronavirus/ Streeck:
https://web.archive.org/web/20200202073325/https://twitter.com/hendrikstreeck/status/122297216061406
4129
620
https://www.spiegel.de/wissenschaft/corona-und-fruehere-seuchen-das-sollten-wir-
wohlstandsverwoehnten-zeitgenossen-uns-immer-bewusst-machen-a-93a87754-944f-4088-840e-
021ad36d4eee
621
https://taz.de/Todesanzeigen-in-Tageszeitungen/!5739318/
124
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
von manchem Redaktionsleiter schlicht ignoriert.
622
Gibt es dann aber ausgerechnet im ersten Impf-
jahr eine Übersterblichkeit, insbesondere mehr Corona-Tote, wird auf offene Recherche verzichtet.
623
Wo aber Korrelationen in die Geschichte passen, ist nichts zu weit hergeholt, etwa der Zusammen-
hang zwischen AfD-Wählerschaft und Todesfällen.
624
Da Corona so besonders schlimm ist, sind auch alle drastischen Maßnahmen der politischen Herr-
schaft in Ordnung. Dieses Credo hat der Journalismus im März 2020 ersonnen, nach ihm wurde kon-
sequent gearbeitet (von den üblichen verdächtigen Abweichlern abgesehen). Vom ersten Tag an
haben auch die wirtschaftlich Gebeuteltsten in den Medien stets nur gesagt, dass "die Maßnahmen"
für sie persönlich zwar schmerzhaft, aber für die Solidargemeinschaft natürlich notwendig seien. In
einer Pressemitteilung unter dem Titel "COVID-19 Lockdowns mit drastischen Auswirkungen" steht
die unvermeidliche Relativierung, dass "einschränkende Maßnahmen, wie Lockdowns und andere
Eingriffe ins öffentliche Leben zu Beginn der Pandemie unumgänglich waren".
625
Was braucht es
Evidenz, wenn alle einer Meinung sind? Und wo sollte sich Evidenz Bahn brechen, wenn auch der
Journalismus täglich Glaubensbekenntnisse spricht?
Selbst der bei allen Regenten dieser Welt unabhängig von ihrem Despotenranking beliebte, weil
simple, aber maximal PR-trächtige Hausarrest für das Volk, galt dem Journalismus ohne jede Evidenz
als einzig richtige politische Option. Das demokratische Wording ersetzte dabei nach Möglichkeit
"Ausgangssperre" durch "Kontaktbeschränkung" oder "Lockdown" (wobei Letzteres manchem Jour-
nalisten immer noch zu extrem klang
626
). Der Journalismus suchte nicht nach Belegen aus der Ver-
gangenheit für die Wirksamkeit, er suchte nicht selbst nach der Logik, und er verzichtete ganz über-
wiegend darauf, diese drastischste aller Maßnahmen seit Bestehen der Bundesrepublik demokratisch
einzuordnen, indem er eben die Vielfalt der Meinungen dazu präsentiert hätte. Vom Entsetzen unter
Verfassungsrechtlern war im Journalismus wenig mitzubekommen.
627
Entsprechend waren (späte)
gerichtliche Korrekturen auch allenfalls kleine Meldungen, bspw. als der Bayerische Verwaltungsge-
richtshof die Ausgangsbeschränkung der entsprechenden Infektionsschutzverordnung vom 27. März
2020 als unwirksam verwarf, "weil sie gegen das Übermaßverbot verstoßen hat" und damit unver-
hältnismäßig war (VGH Bayern, Az. 20 N 20.767 vom 03.10.2021
628
). Was der Verwaltungsgerichtshof
entschieden hat, hätte der Journalismus ohne Mühe schon im März 2020 diskutieren lassen können
und müssen. Die späte juristische Korrektur müsste der Journalismus eigentlich als deutliches Versa-
gen seiner Wächterfunktion lesen, zumal das Bundesverfassungsgericht lange Zeit kein Urteil zu den
Corona-Maßnahmen gesprochen hatte (nur einige Beschlüsse), trotz hunderter Verfassungsbe-
622
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/zu-meinem-aerger-feuchter-traum-der-corona-
leugner/27581680.html
623
https://www.br.de/nachrichten/wissen/mehr-corona-tote-in-2021-warum-das-nichts-ueber-die-impfung-
sagt,TSiTbu5
624
https://www.n-tv.de/politik/Haben-AfD-Hochburgen-mehr-Corona-Faelle-article22215253.html
625
https://nachrichten.idw-online.de/2021/10/29/covid-19-lockdowns-mit-drastischen-auswirkungen/
626
https://www.deutschlandfunk.de/sagen-meinen-warum-ausgangsbeschraenkungen-kein-
lockdown.2907.de.html?dram:article_id=476062
627
https://www.deutschlandfunk.de/sagen-meinen-warum-ausgangsbeschraenkungen-kein-
lockdown.2907.de.html?dram:article_id=476062
628
https://openjur.de/u/2361610.html ein Jahr später bestätigt vom BVerwG ohne größeres Medienecho:
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverwg-3cn121-3cn221-corona-verordnung-ausgangssperre-bayern-
unverhaeltnismaessig/
125
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
schwerden
629
und dem Fehlen eines regulären Klagewegs gegen Maßnahmen der "Bundesnotbrem-
se" (die das Bundesverfassungsgericht am Ende nicht beanstandet hat
630
).
= Interpretation der Qualitätsdefizite =
Man würde gerne von einem "Versagen des Journalismus" sprechen.
631
Allerdings unterstellte dies,
dass er ansonsten irgendwie richtig funktioniert. Es spricht aber vieles dafür, dass Journalismus stets
weit hinter dem zurückbleibt, was er zu leisten selbst beansprucht. Die vielen in der Kommunikati-
onswissenschaft verhandelten Strukturprobleme sollen hier nicht referiert werden, aber es dürfte
nachvollziehbar sein, dass Journalismus als Geschäftsmodell ähnliche Abwägungen treffen muss wie
alle anderen Wirtschaftsunternehmen, die auch nicht per se Qualitätsprodukte herstellen. Zu den
Ursachen der vielen Qualitätsmängel im Corona-Journalismus ein paar Thesen.
1. Das zentrale Problem ist wie immer der Mensch. Journalisten und ihre Vermarkter (Verleger, In-
tendanten, Herausgeber ...) menscheln eben, sie verhalten sich, wie Menschen sich verhalten. Aller-
dings behaupten Journalisten (und die Menschen in ihren Vertriebsorganisationen), eine spezielle
gesellschaftliche Rolle zu spielen, eben für die öffentliche Kommunikation zuständig zu sein durch
Bereitstellung von Informationen (einschließlich Meinungen). Diese spezielle Rolle schreibt auch die
Politik Journalisten zu, u. a. in Form von Art. 5 Abs. 3 GG, den Landespressegesetzen (§§ 3, 4außer
Hessen), dem Medienstaatsvertrag oder dem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 53 Absatz 1 Nr. 5 StPO; §
383 Absatz 1 Nr. 5 ZPO). Wenn aber Menschen, die eine spezielle gesellschaftliche Rolle spielen wol-
len und sollen, dieser nicht gewachsen sind, sie nicht oder falsch spielen, potenzieren sich die Prob-
leme des "Menschelns". Wir kennen das von allen Rollen: Wo mit dem Richter die persönliche Mei-
nung durchgeht, ist die Justiz beschädigt, wo Polizisten das von ihnen ausgeübte staatliche Gewalt-
monopol missbrauchen
632
, weil sie halt 'auch nur Mensch sind', ist der Schaden weit größer als bei
gleicher Gewaltanwendung von Menschen außerhalb dieser Rolle. Wenn Priester Straftaten verüben,
die nur begehen kann, wer nicht an einen allmächtigen und letztgerichtlich urteilenden Gott glaubt,
dann bricht eine ganze gesellschaftliche Institution zusammen. Und so ist das mit fakenden Wissen-
schaftlern ebenso wie mit nicht-recherchierenden oder unsauber vermittelnden Journalisten.
2. Aus dieser mangelnden Rollenspielkunst bzw. den Professionalitätsdefiziten (in ganz verschiedener
Intensität) ergeben sich alle Qualitätsprobleme, die wiederum sich zwei Bereichen zuordnen lassen:
Recherche und Darstellung. Man könnte auch sagen, das eine sind Erkenntnisprobleme, das andere
Vermittlungsprobleme. Wo solche Probleme dann eingestanden werden, werden sie oft mit zu wenig
Personal und zu schlechter Vergütung begründet. Das mag in Einzelfällen eine zutreffende (wenn
auch nicht entschuldigende) Begründung sein, doch für die in diesem Paper benannten Beispiele
dürfte anderes ursächlich sein, nämlich:
2.1 Desinteresse an neuen Erkenntnissen, an Einsichten, die die eigene Meinung, das bisherige Welt-
bild verändern, und deshalb Verzicht auf Recherche. Das ist dann allerdings das Gegenteil des ewig
proklamierten Berufsethos, immer neugierig zu sein und alles zu hinterfragen (siehe dazu: Interview
mit Christoph Kucklick, Leiter Henri-Nannen-Schule, über die Grenze zwischen Journalismus und
629
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-078.html
630
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-101.html
631
vgl. u.a. https://uebermedien.de/68782/wer-hat-hier-versagt-wie-medienleute-auf-zwei-jahre-corona-
journalismus-zurueckblicken/
632
https://www.kriminologie.de/index.php/krimoj/article/view/25
126
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Aktivismus
633
). Seit 20 Jahren diskutiert und arbeitet der Journalisten-Verein "Netzwerk Recherche"
zu diesem Problem, erledigt hat es sich keineswegs.
2.2 Die Interpretation von Recherchen (Wahrnehmungen) mit Klischees zur simplen Kategorisierung:
richtig oder falsch, gut oder böse, nett oder doof, bemitleidenswert oder verachtenswert. Deshalb
berichtet Journalismus oft nicht objektiv, misst nicht mit definierten Maßstäben, bewertet nicht nach
einheitlichen Regeln. Die Berichterstattung ist stark abhängig vom Standpunkt des Berichterstatters
(und zwar nicht nur in dem, was er von dort aus sieht, sondern auch in dem, was er hernach aus sei-
ner Beobachtung macht). So gibt es Mission statt Aufklärung, was als 'Haltung' oder schlicht 'die
richtige Sicht der Dinge' deklariert wird, gerne mit den Euphemismen 'einordnen' oder 'kontextuali-
sieren' (siehe Vortrag Michael Brüggemann "Objektivität als Problem"
634
).
2.3 Die Verwechslung von Meinungen mit Fakten (deutlich zu sehen an der "False-Balance"-
Diskussion
635
). Auf der Input-Seite führt dies dazu, dass Recherche unterbleibt, wo fälschlich eine
Meinung für ein Faktum gehalten wird. Und auf der Output-Seite führt dies zu meinungsschwange-
ren Nachrichten, die vom Erzeuger aber als sachlich angesehen oder wenigstens deklariert werden.
2.4 Beweisverzicht. Auch im Journalismus sind die 'gefühlten Fakten' weit verbreitet. Hier dürfte aber
weniger absichtliche Täuschung als schlicht Faulheit und Selbstüberschätzung ursächlich sein. Es wird
sehr viel behauptet und wenig belegt. Die meisten Fehler ließen sich vermeiden, wenn jede Behaup-
tung geprüft (und am besten für die Rezipienten auch belegt) wäre: ist das wirklich so?
2.5 Verständnisprobleme. Leider zeigt gerade die medienjournalistische Recherche, dass es nicht
wenigen Kollegen schlicht am Verständnis von Richtigkeit im Journalismus mangelt. Eindeutige Fehler
werden nicht als solche akzeptiert (nach dem Motto: 'Kann man auch anders sehen'), Hinweise da-
rauf bzw. Fragen dazu werden regelmäßig ignoriert (von jedermann in den sozialen Medien zu be-
obachten, wo auf dutzende zutreffende Fehlerhinweise keinerlei Reaktion erfolgt). Aus meinen
Textautopsien kann ich sagen, nicht wenige Journalisten scheitern leider daran, einfache Aussagen
korrekt wiederzugeben.
636
Zu den im Personal gründenden Qualitätsmängeln sollten wir Journalisten
recherchieren können: In jedem Beruf gibt es einen Anteil von Leuten, die für diesen schlicht nicht
geeignet sind. Jeder wird unfähige Lehrer in seiner Schulzeit (und ggf. der der eigenen Kinder) erlebt
haben. Viele waren schon mit unfähigen Ärzten gestraft. Unfähige Handwerker sind geradezu
sprichwörtlich. Sollten da ausgerechnet Journalisten eine Ausnahme bilden?
2.6 Herdentrieb. In heterogenen Gruppen können blinde Flecken und Verzerrungen ggf. (ein wenig)
durch die Vielfalt der Perspektiven, der unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebensziele aus-
geglichen werden. Journalisten sind jedoch eine soziodemografisch sehr homogene Gruppe, die auch
außerhalb der Berufsrolle noch in diesem Milieu verbleibt. Journalisten synchronisieren sich, weil sie
ständig die Arbeit der Kollegen beäugen und zu einem nicht unerheblichen Teil vor allem für diese
publizieren.
2.7 Das Selbstverständnis als "Vierte Gewalt". Diese verbreitete Zuschreibung einer staatstragenden
Rolle der Medien kann man als Amtsanmaßung betrachten, in der zahlreiche Selbstüberschätzungen
633
https://web.archive.org/web/20220118065949/https://www.ardaudiothek.de/episode/medien-cross-und-
quer/sich-nicht-gemein-machen-ueber-die-grenze-zwischen-journalismus-und-aktivismus/sr-2-
kulturradio/89631070/
634
https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/kommunikationswissenschaften-michael-brueggemann-
ueber-objektivitaet-als-problem?
635
https://www.spiegelkritik.de/2021/09/09/false-balance/
636
https://www.spiegelkritik.de/2023/02/11/leseverstaendnisprobleme/
127
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
gründen. So verstehen viele Journalisten unter der Kritikfunktion der Presse, dass (nur) sie selbst
kritisieren und wo sie eben nichts zu kritisieren sehen, gibt es dann auch keine Kritik.
637
Es dürfte die schlichte Sorge um die eigene Gesundheit gewesen sein, die zu der starken Radikalisie-
rung des aktivistischen Journalismus geführt hat. "Ohne Abstand, ohne Maske"
638
wurde zur bedeut-
samsten Beobachtung, die Journalisten zu vermelden hatten, und sie wurde stets vorgetragen mit
dem Pathos großer persönlicher Empörung. Immer weiter kam der Journalismus so ab von einem
Pfad nachrichtlicher Information. Weil die bekannten Qualitätskriterien für Journalismus dort in der
Pampa nicht gelten, gab es auch kaum noch Medienkritik, und die wenige blieb ohne Resonanz
(stattdessen belobigt sich die Branche selbst, die entsprechenden Preise gingen erwartungsgemäß an
die großen Corona-Warnprogramme
639
). Da es keinerlei unabhängige Qualitätssicherung gibt, hatte
der Corona-Journalismus in weiten Teilen propagandistische Züge. Es gibt eine klar als richtig be-
hauptete Position, alles andere ist "Quatsch"
640
, und die Vertreter solcher Quatsch-Positionen wer-
den, zumindest ab einer gewissen Prominenz, sämtlich an den Medienpranger gestellt, andernfalls
ignoriert. Auch das kam natürlich nicht unerwartet, ein Blick in die Medienhistorie zeigt, wo der
Journalismus zu allen Krisenzeiten stand.
All diese Funktionsdefizite sind wie gesagt nicht Journalisten-spezifisch, sondern eben gerade typisch
Mensch. Sie sollten allerdings durch professionelle Routinen minimiert werden. Vielleicht bringt auch
hier tatsächlich die 'Entmenschlichung' durch Künstliche Intelligenz bald einen Fortschritt, wie das
etwa in der Medizin teilweise zu beobachten ist.
641
Für Faktenchecks ist durch KI durchaus eine deut-
liche Verbesserung zu erwarten. Solange allerdings die KI nicht die gesamten Beiträge produziert,
bleiben wesentliche Qualitätsbedingungen tatsächliches Erkenntnisinteresse und das Zugeständnis
an die Kundschaft, sich zu allem aus dem gelieferten Material eine eigene Meinung zu bilden.
= Fragen an die Medienforschung und Kommunikationswissenschaft =
Zu Beginn der Pandemie gab es die Erwartung, dass wir mit Studien der Kommunikations-
wissenschaft und Journalistik überschwemmt würden, schließlich lagen Fragen und Forschungsmate-
rial vor uns wie Sand am Meer. Doch vermutlich gilt für Journalismusforscher dasselbe wie für Jour-
nalisten: Sie verhalten sich wie normale Menschen, allem Sonderrollen-Gehabe zum Trotz. Denn
passiert ist bisher unfassbar wenig. Mitten in der Pandemie stellte die größte deutschsprachige Fach-
tagung ihre einzigen beiden Podiumsdiskussionen unter die top-aktuellen Headlines "Die Kommuni-
kationswissenschaft heute" und "Die Kommunikationswissenschaft morgen"
642
; aber man hatte
Corona nicht ganz verschlafen, Tagungsbeiträge waren z. B. "Social-Distancing in Zeiten von Corona:
Eine Längsschnittstudie zur Rolle von (Medien-) Kommunikation für soziale Normen zum Social-
Distancing-Verhalten", "Dynamik und Beharrung in der Mediatisierung Eine Theorieperspektive auf
den Wandel des Medienhandelns am Beispiel einer Studie zur Corona-Situation", "Corona als Digi-
637
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/stecken-politik-und-medien-unter-einer-decke-wider-
die-maer-von-einer-kumpanei-in-der-corona-bekaempfung/26820500.html
638
https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/corona-coronademos-querdenker-bill-gates-polizei-
verschwoerungstheoretiker-rechtsextremismus-polizei-90314726.html
639
http://www.hanns-joachim-friedrichs.de/index.php/pressemitteilung-2021.html
640
https://www.dwdl.de/nachrichten/85313/dirk_steffens_es_ist_ein_journalistisches_grundversagen/
641
https://www.lmu.de/de/newsroom/newsuebersicht/news/lmu-mediziner-erwartet-bessere-prognosen-
durch-ki-doch-mehr-validierungen-sind-erforderlich.html
642
https://dach21.ch/programm
128
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
talisierungsschub? Die Maker-Bewegung und die Veralltäglichung 'experimenteller Praktiken' wäh-
rend der Covid-19 Pandemie" und natürlich der Klassiker "Corona-Verschwörungstheorien und ihre
Glaubwürdigkeit". Die führende deutschsprachige Fachzeitschrift "Publizistik" diskutierte mit sehr
seltenem Enthusiasmus Binnen-I und Gender-Sternchen.
643
Und gleichzeitig beklagen Vertreter des
Fachs die Bedeutungslosigkeit der Kommunikationswissenschaft (Altmeppen 2021
644
).
Fragen, auf deren Klärung in der Medienforschung ich nach intensiver Beschäftigung mit Fällen von
Qualitätsdefiziten hoffe:
Nach welchen Kriterien wurden Corona-Nachrichten von den Redaktionen ausgewählt (bei Agentu-
ren, Zeitungen, marktwirtschaftlichen und öffentlich-rechtlichen Sendern etc.)?
Wie groß war der Anteil an grundlegend neuen Informationen, also abseits von Wasserstandsmel-
dungen und den immer gleichen Kommentierungen? (Meine Arbeitshypothese lautet dazu schon
lange, dass alles, was man zu Corona wissen musste, selbst mit notwendigen Erkenntnis-Updates auf
eine halbe Zeitungsseite passt.)
Welche Entscheidungsroutinen lassen sich konkret bei der Auswahl wissenschaftlicher Erkenntnisse
zur Corona-Pandemie feststellen? (Die Frage betrifft sowohl die Gewichtung der einzelnen wissen-
schaftlichen Disziplinen als auch die Nachrichtenselektion innerhalb der Ressorts, z. B. Medizin und
Verfassungsrecht.)
Vielfalt der Medienmagazine: Gibt es einen Binnenpluralismus im öffentlich-rechtlichen Medien-
journalismus zur Corona-Berichterstattung? (Hypothese aus Nutzersicht: Alle thematisieren dasselbe
und kommentieren in gleicher Weise; schon beim Themenstichwort weiß der geübte Zuhörer oder
Zuschauer, was der Beitrag bieten wird.)
Mit was hat sich die journalistische Medienkritik beschäftigt? Welche Probleme im Corona-
Journalismus hat das eigene Kontroll-Ressort ausgemacht?
Gibt es signifikante Unterschiede bei der Meinungsvielfalt innerhalb eines Mediums und der Mei-
nungsvielfalt der von diesem Medium via Social Media verbreiteten Beiträge? (Hypothese: An dieser
Stelle wird erneut in eine bestimmte Richtung selektiert.
645
)
Wie unterscheiden sich die Medien in der publizierten Meinungsvielfalt? In welchem Medium be-
kamen wir zur Corona-Politik die größte Spannweite an Meinungen, die meisten unterschiedlichen
Positionen, und wie vieles fiel auch dort noch unter den Tisch? Wie stehen die Medien im Vergleich
dazu bei anderen kontroversen Themen da?
Korrelieren Meinungsvielfalt und Informationstiefe in den Medien?
Wie haben Journalisten im Verlauf ihrer Pandemieberichterstattung ihre Meinungen geändert?
War dies für die Kunden nachvollziehbar? (Meinungsänderungen sollten stets angenommen werden,
schließlich ist das journalistische Informationsangebot neben aktueller Orientierung genau dafür da.)
Gibt es einen Zusammenhang (bzw. eine Korrelation) zwischen der Bereitschaft, sich von bisher ver-
tretenen Positionen zu lösen und der eigenen Aktivität auf Twitter?
643
https://link.springer.com/article/10.1007/s11616-021-00684-x
644
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2192-4007-2021-2-268/mittendrin-und-trotzdem-nicht-dabei-
zugespitzte-anmerkungen-zur-nichts-sagenden-bedeutung-der-kommunikationswissenschaft-in-der-
gesellschaft-jahrgang-10-2021-heft-2?page=1
645
Dieser Eindruck wurde mir auch von Redakteuren öffentlich-rechtlicher Sender bestätigt. Dortige Hypothe-
se: in den Online- und Social-Media-Redaktionen arbeiten die Jüngsten, sie sind besonders wenig sozial-divers.
129
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Wie groß war der Fehleranteil in der Corona-Berichterstattung, wie verhält er sich im Vergleich zu
anderen Themenfeldern? (Weil sehr aufwendig und methodisch anspruchsvoll wird Richtigkeit nur
sehr selten in der Qualitätsforschung geprüft, obwohl es die Basiskategorie ist.)
Wie wurden Fehlinformationen korrigiert (insbesondere, wenn sich Fehlinterpretationen oder
-annahmen erst lange Zeit nach Veröffentlichung herausgestellt haben)? Welche und wie viele sind
bei den Journalismuskunden noch unkorrigiert gegenwärtig?
Wie kritisch sind Lokalzeitungen mit ihrem örtlichen Krankenhaus in der Berichterstattung umge-
gangen (Besucherregelungen, mögliche Fehlbehandlungen etc.), kommen überhaupt kritische Stim-
men zu Wort, stellt die Redaktion selbst Fragen? Wird redaktionell bearbeitet, was über Leserbriefe
etc. an Fragen/ Behauptungen/ Erlebnissen eintrifft?
Fallbeispiel: Wie wurde die Notwendigkeit der Bundeswehr im Anti-Corona-Kampf mit recherchier-
ten Daten unterfüttert? Wo wurden Alternativen erörtert? (Dass bei Stadtverwaltungen mit hunder-
ten bis tausenden Beschäftigten ein Dutzend Soldaten die ansonsten nicht leistbare Pandemiearbeit
gewuppt haben, während niemand pandemiebedingt Däumchen gedreht hat, ist ohne entspre-
chende Belege schwer vorstellbar.)
Welche Kooperationen vor allem zur dauerhaften Bereitstellung von Informationen gab es im öf-
fentlich-rechtlichen Rundfunk? Was war innovativ? Gab es zu Corona kollaborative Angebote privat-
wirtschaftlicher Medien (bspw. Übersicht zu Gerichtsentscheidungen in Bezug auf Ver- und Gebote
der Maßnahmen)?
Wie sind die Medien mit Protagonisten verfahren, die sich nicht öffentlich äußern wollten? (Hinter-
grund: Zahlreiche Journalisten berichten, vor Corona noch nie so viele Informanten erlebt zu haben,
die nicht mit ihrer Meinung zitiert werden wollen.)
Gibt es einen Publication Bias bei veröffentlichten Faktenchecks? (Hypothese: Es werden vor allem
die Checks veröffentlicht, deren Ergebnis Kritikern der Corona-Politik wenigstens in Teilen "Ver-
schwörungsglauben" und natürlich falsche Tatsachenbehauptungen attestieren, seltener hingegen
solche, die kritische Aussagen bestätigen. Zu vielen geläufigen Behauptungen und Vermutungen gibt
es keine Faktenchecks.)
Wieviel Zeit ihres Lebens haben reale Rezipienten mit Corona-Informationen verbracht? Und was
wissen sie heute? (So kann man selbst noch im Jahr 2024 bei öffentlich agierenden Personen er-
staunliches Unwissen über die Grundstruktur von Viren vernehmen.)
Welche Wissens- und damit Orientierungsunterschiede gibt es zwischen den "Maßnahmen-
Kritikern" und "Maßnahmen-Befürwortern" (bei Journalisten wie Rezipienten)?
Wie hängen persönliche Einstellung und Qualitätsbeurteilung der Berichterstattung zusammen?
(Hier wären Rezipientengruppen zu bilden: denn auch Journalisten, Virologen und Medienforscher
sind Rezipienten, die Wechselwirkungen der Berichterstattung auf ihr Handeln könnten erheblich
sein.)
Welche Bilder zu Einzelfällen haben die Rezipienten im Kopf und wie stark weichen sie von der
Realität ab (Stichworte "Bergamo", "Sturm auf den Reichstag")?
Wie sehr korrespondierten Politik und Journalismus in den einzelnen Ländern der Welt? (U. a. wäre
die aus Kriegsberichterstattung bekannte Parteilichkeit für die eigene Regierung zu prüfen.)
Welche Wirkungen und Nebenwirkungen hatte die monatelange Penetration des Medienpublikums
mit Spritzen- und Krankenhausbildern?
130
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Lassen sich unterschiedliche Wertungsmaßstäbe finden in der journalistischen Darstellung und
Beurteilung von Protesten, etwa Corona-Politik vs. Klima-Politik? (Und was folgt daraus für die Funk-
tion des Journalismus, sollte sich ein deutlicher Unterschied zeigen?)
Und schließlich sollte sich die Medienforschung auch selbstkritisch untersuchen: Welche Wechsel-
wirkungen von Berichterstattungsdefiziten und Unzulänglichkeiten in der Medienforschung lassen
sich identifizieren? Wie verläuft der Qualitätsdiskurs dazu in der Kommunikationswissenschaft?
Bsp.: Im Rahmen des "Spitzenforschungsclusters Monitoringsystem und Transferplattform Radikali-
sierung (MOTRA)" haben Berliner Soziologen die Corona-Proteste in Deutschland erforscht, indem sie
die Berichterstattung über solche Corona-Proteste aus den Zeitungen Welt und Süddeutsche ausge-
wertet haben, siehe: "Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland"
646
.
Damit wurde die verzerrte und hoch-selektive Medienberichterstattung als Realitätsabbild behan-
delt.
646
https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2021/zz21-601.pdf
131
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
11 Ergänzungen & Updates
Für eine bessere Nutzbarkeit dieses "Work-in-Progress-Papers" wurden Erweiterungen mit Version
vom 27. April 2023 in dieses Kapitel aufgenommen und nicht mehr in den vorstehenden Bestandstext
implementiert werden, auch wenn sie dort thematisch hingehören. Insgesamt gibt es hier folgende
Unterpunkte:
11.1 Weitere Qualitätsaspekte: Argumentation, Genauigkeit, Rezipientendialog, Transparenz, Unpar-
teilichkeit, Informationsleistung
11.2 Nachgereichte Fallbeispiele (Ergänzungen des vorstehenden Textes)
11.3 Journalistische Journalismuskritik
11.4 Wissenschaftliche Journalismuskritik
11.5 Medienkritik von Kunden und Betroffenen
11.6 Forschungsstand 2024
11.7 Resonanz zu diesem Paper
11.1 Weitere Qualitätsaspekte
Neben den bisher behandelten Qualitätskriterien Richtigkeit, Vollständigkeit (einschließlich Mei-
nungsvielfalt), Repräsentativität und Relevanz, dem durch verschiedene Kriterien erfassten Ziel der
Objektivität sowie dem Oberbegriff Recherche für alle Input-seitige Qualität lassen sich noch viele
weitere Aspekte benennen, prüfen und mit Beispielen für Defizite belegen. Nachfolgend in aller Kür-
ze noch einige davon.
= Argumentation =
Ein interessantes, bisher selten untersuchtes Qualitätskriterium ist die Argumentation bzw. Argu-
mentativität eines Beitrags. Dies gilt sowohl für explizite oder implizite Aussagen des Journalisten
selbst als auch für zitierte Aussagen Dritter (Informanten, Protagonisten), wobei in diesem zweiten
Fall natürlich die ggf. vorhandene Einordnung zu berücksichtigen ist. Argumentationsdefizite zeigen
sich i. d. R. an Aussagen, die mit weiteren Fragen konfrontiert keine Orientierung (mehr) geben. Dies
sei zunächst in einer hier bisher noch nicht verwendeten Textautopsie gezeigt. Dabei werden auch
andere Qualitätsdefizite benannt.
Bsp.: Da für die Beurteilung der Argumentationsleistung der ganze Beitrag betrachtet werden muss,
sei hier die Autopsie eines Spiegel-Textes übernommen
647
: "Lauterbach fürchtet Winterwelle und
rügt Länder für 'populistische' Lockerungen'"
648
(von Marc Röhlig, 24.11.2022). Basis des Artikels ist
ein Interview Lauterbachs mit dem Bayerischen Rundfunk.
649
647
Original mit weiteren Erläuterungen: https://www.spiegelkritik.de/2022/11/24/autopsie-lauterbach-
fuerchtet-winterwelle-und-ruegt-laender-fuer-populistische-lockerungen/
648
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-karl-lauterbach-ruegt-laender-fuer-lockerungen-vor-
winterwelle-a-37e78c48-eee4-4cdf-8018-1894a585239b s
649
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/lauterbach-rechnet-mit-corona-welle-im-
winter,TO5CaQO
132
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Artikel ” Lauterbach fürchtet Winterwelle…”
Anmerkungen zur Argumentation
Coronamaßnahmen
Lauterbach fürchtet Winterwelle und rügt Länder für
»populistische« Lockerungen
[Überschrift]
Viele Journalisten mögen Schuljargon, doch die damit
behauptete Hierarchie ist oft falsch. Hier: Lauterbach hat
an den Ländern gar nichts zu rügen, weil es schlicht nicht
seinen Kompetenzbereich betrifft. Er äußert sich dazu als
Politiker und hat eine andere Meinung, mehr nicht. Auch
wenn in den Medien der Föderalismus oft nur als “Prob-
lem Flickenteppich” erscheint – er ist ein Teil der Gewal-
tenteilung, der im Übrigen im Grundgesetz unter
der Ewigkeitsklausel650 steht.
Noch gilt vielerorts die Isolationspflicht und die Masken-
pflicht im Nahverkehr, einige Bundesländer basteln je-
doch am Aus der Maßnahmen.
Falsch: die Maskenpflicht im Nahverkehr gilt zum Zeit-
punkt der Veröffentlichung noch in allen Bundesländern,
nicht nur “vielerorts”.
Gesundheitsminister Lauterbach fürchtet eine Locke-
rungsspirale mitten im Winter.
Falsch: Der Begriff “Lockerungsspirale” stammt nicht von
Lauterbach, es wäre korrekt, hier einen seiner Ausdrücke
zu verwenden (z. B. “Überbietungswettbewerb” oder
“Lockerungsweltmeister”, siehe vier Abschnitte tiefer).
Die Corona-Infektionszahlen sinken, allerdings werden
viele Infektionen nicht mehr erfasst.
Falsch: Noch nie wurden alle Infektionen erfasst, was
außer mit Totalüberwachung auch völlig unmöglich wä-
re. Das ist vom ersten Tag der Pandemie an bekannt,
immer wieder wurde deshalb über die “Dunkelziffer”
spekuliert (und z. T. geforscht). Der Beitrag behauptet
eine Änderung, die es nicht gab (oder die uns bisher
unbekannt ist, sodass sie erläutert und belegt werden
müsste, s. u.).
Nun rechnet Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach
(SPD) für den Winter fest mit einer Coronawelle und
kritisierte entsprechend voreilige Lockerungsmaßnahmen
einiger Bundesländer.
(Falsch.) Im Interview651 sagt Lauterbach: "Ich glaube,
dass wir nochmal eine Winterwelle bekommen werden,
das könnte die BQ 1.1 Variante zum Beispiel sein." Glau-
ben ist wohl etwas anderes als rechnen, was schon daran
deutlich wird, dass er die Ursache einer Winterwelle
offenlässt. Wenn er jedenfalls nur an eine Winterwelle
glaubt, ist jeder Glaube, es werde keine geben, gleich-
wertig.
Später sagt Lauterbach: “Wir sind jetzt vor einem mög-
licherweise schweren Winter …”
»Jetzt gibt es hier einen Überbietungswettbewerb: Wel-
ches Land kann zuerst lockern?«, sagte Lauterbach am
Morgen im Bayerischen Rundfunk. Das sei »ein Stück weit
populistisch«. Zudem gefährde es diejenigen, die sich
selbst nicht gut schützen könnten.
Das Argument des Fremdschutzes wird bis ans Ende aller
Tage im Raum stehen bleiben. Es müsste daher längst
geklärt sein, wie weit es eine Verpflichtung der Allge-
meinheit gibt, zum (nur potentiellen) Nutzen Dritter
Einschränkungen akzeptieren zu müssen. Es fehlt also die
sonst so gerne geforderte Einordnung durch den Journa-
lismus.
Er verstehe die Eile der Bundesländer bei den Lockerun-
gen nicht, sagte er mit Blick auf Pläne von Bayern und
Schleswig-Holstein, in wenigen Wochen die Masken-
pflicht im öffentlichen Nahverkehr abzuschaffen.
Dass jemand etwas nicht versteht, sagt erstmal etwas
über denjenigen aus. Ob es objektiv nicht zu verstehen
ist, ob also viele oder gar alle am Verstehen scheitern,
wäre zu recherchieren.
Einer solchen »leichtsinnigen« Entscheidung werde man
sich nicht anschließen, betonte Lauterbach
man = er? Oder “die Bundesregierung”? (Am Ende sagt
Lauterbach allgemein, seine Position sei die des Kabi-
650
https://dejure.org/gesetze/GG/79.html
651
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/lauterbach-rechnet-mit-corona-welle-im-
winter,TO5CaQO
133
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
netts und auch des Bundeskanzlers.) Im für diese Ent-
scheidung zuständigen Parlament jedenfalls ist Lauter-
bach nur eine von 736 Stimmen, sein Anteil liegt also im
Promille-Bereich.
und verwies auf rund tausend Menschen, die pro Woche
mit dem Coronavirus sterben und eine unerwartet hohe
Übersterblichkeit im Oktober.
Auch hier müsste nachgefragt werden, welchen Zusam-
menhang es geben soll. Wenn es derzeit zu viele Corona-
Tote gibt, spricht dies ggf. gerade nicht für den Erfolg der
Maßnahmen, die Lauterbach für notwendig hält. Die
Übersterblichkeit besteht schon deutlich länger652, die
Ursache gilt bisher als ungeklärt, jedenfalls kann auch sie
gerade nicht den Sinn etwa der Maskenpflicht im öffent-
lichen Personenverkehr begründen. Im Interview sagte
Lauterbach: “Im Moment haben wir eine relativ deutli-
che Übersterblichkeit, das heißt es ist zum jetzigen Zeit-
punkt zu früh zum Entwarnen.” Und er erwähnt mehr-
fach Long-Covid als Grund für die “Maßnahmen”. Auch
Long-Covid wird es wie Covid-19 wohl ewig geben.
Der Minister will im Fernverkehr mindestens bis zum
Auslaufen des Infektionsschutzgesetzes am 7. April an
der Maskenpflicht festhalten.
Wie stets wäre nach den konkreten Kriterien zu fragen,
die für Änderungen in die eine wie die andere Richtung
erfüllt sein müssen. “Mal schauen” reicht nicht.
Im Interview sagt Lauterbach: “Nicht jeder kann sich jetzt
durch eine Impfung perfekt schützen, da muss einfach
nochmal Rücksicht aufeinander genommen werden.”
Nochmal? Warum dann irgendwann nicht mehr? Das
Problem wird doch bestehen bleiben (und bestand im-
mer).
Eine entspanntere Coronasituation stellte Lauterbach für
das Frühjahr in Aussicht vorausgesetzt, dass die Win-
terwelle gut gemeistert werde, Impflücken geschlossen
und schwere Coronafälle erfolgreich mit Medikamenten
behandelt würden.
Was hat die Frühjahrssituation mit Erkrankungen und
Behandlungen im Winter zu tun? Und was versteht Lau-
terbach unter “Impflücken”? Wenn er die Differenz zu
100 % meinen sollte, wird es immer Impflücken geben,
selbst mit Pflicht (solange keine Zwangsimpfung durchge-
führt wird). Das müsste dargelegt werden.
»Wir müssen zu mehr Normalität kommen, aber das
muss gut vorbereitet sein«, betonte der Bundesgesund-
heitsminister.
Welche Vorbereitungen braucht es dazu? Zumal Lauter-
bach direkt zu Beginn des Interviews sagt, “wir haben
gute Vorberatungen [gemeint ist wohl: Vorbereitungen]
getroffen”.
Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die bundesweite Sie-
ben-Tage-Inzidenz am Donnerstagmorgen mit 186,9 an.
Am Vortag hatte der Wert der Corona-Neuinfektionen
pro 100.000 Einwohner und Woche bei 177,9 gelegen
(Vorwoche: 199,2; Vormonat: 584). Allerdings liefern
diese Angaben nur ein sehr unvollständiges Bild der In-
fektionszahlen.
Unvollständiges Bild: s. o. Was ist daher mit den anderen
Parametern, die doch schon lange anstelle der Inzidenz
relevant sein sollen?
Expertinnen und Experten gehen seit einiger Zeit von
einer hohen Zahl nicht vom RKI erfasster Fälle aus vor
allem, weil bei Weitem nicht alle Infizierten einen PCR-
Test machen lassen. Nur positive PCR-Tests zählen in der
Statistik.
Welche Experten und seit wann? s. o.
Warum kommt dieses Null-Argument vom Journalisten?
Es ist kein Lauterbach-Zitat, es ist vielmehr das von der
dpa vorgelegte Framing.
Fazit: Es wäre ein deutlich besserer Service gewesen, das BR-Interview einfach zu verlinken, anstatt
es selbst irgendwie zusammenzufassen. Eine journalistische Leistung wäre gewesen, die vielen offe-
652
https://www.br.de/nachrichten/wissen/uebersterblichkeit-das-sagen-experten-zur-hohen-
sterberate,TNojPUO
134
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
nen Fragen zu klären, die Lauterbachs Aussagen beim interessierten Publikum verursachen müssen.
Die dargestellte Argumentation wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.
Regelmäßig baut journalistische Argumentation auf eigenen, persönlichen Erwartungen, von denen
ausgehend Abweichungen in der Welt betrachtet werden (vgl. in Kap. 6 Skandalisierung).
Bsp.: Mit dem Coronavirus erkrankte AfD-Politiker waren immer wieder eigene Meldungen wert
auch 2023 noch. "AfD-Politiker lag drei Wochen mit Corona im künstlichen Koma" vermeldete n-tv
am 18.04.2023
653
und argumentierte zur Relevanz der Nachricht wie folgt:
>Die staatlichen Schutzmaßnahmen hält der 55-Jährige im Rückblick dennoch für unangemes-
sen, wie er erneut deutlich machte. Einen Widerspruch sieht er darin nicht.<
Warum sollte jemand, der schwer an Covid-19 erkrankt war, automatisch die "staatlichen Schutz-
maßnahmen" für angemessen halten? Die Betroffenen selbst wurden dadurch ja gerade nicht (hin-
reichend) geschützt. Auch die Möglichkeit, etwas auf eigenes Risiko tun zu wollen, scheint n-tv aus-
zuschließen. Dabei muss auch ein krebskranker Raucher keineswegs für die Tabak-Prohibition eintre-
ten (und sich damit zum Opfer externer Mächte statt seiner eigenen Konsumlust machen).
Bsp.: Die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt
654
expliziert den "Rückschaufehler" am Beispiel
der Aufarbeitung der Corona-Politik und -Berichterstattung so
655
:
>Wenn man heute also zu dem berechtigten Schluss kommt, dass die Schulschließungen ein-
fach nur eine Katastrophe für die Kinder in diesem Land waren und dass man sie niemals hät-
te zulassen dürfen, dann übersieht man dabei, wie groß die Unsicherheit im März 2020 war.
Wie hilflos man damals war, als es nicht einmal Masken gab und Impfungen schon gar nicht.,
Wie groß der Druck war, Zustände wie in Bergamo zu verhindern. [...] Und wenn man heute
mit Empörung von der Diskriminierung von Ungeimpften im Winter 2021/22 spricht, dann
vergisst man, wie elend die Folgen der Corona-Wellen damals, vor Omikron, waren, wie gut
Impfungen noch gegen Infektionen schützten und wie gefährlich der Erreger noch war. Nur
wegen dieses Rückschaufehlers kann es zu Umdeutung der Pandemie kommen, die gerade
stattfindet. Aus heutiger Perspektive, da man immunisiert auf das zahmer gewordene
Coronavirus blicken kann, konstruiert man, dass man nie Angst vor diesem Erreger hätte ha-
ben müssen. Aber es ist wie bei den Erwachsenen, die betonen, dass sie als Kind auch ohne
Fahrradhelm und Sicherheitsgut gut durchs Leben gekommen sind: Sagen können das eben
nur diejenigen, die nicht gestorben sind.<
Der Verweis auf den Rückschaufehler ist völlig richtig wird aber oft nach persönlichem argumenta-
tivem Belieben zugelassen oder abgewiesen. Denn er greift bei allen historischen Beurteilungen,
prominent derzeit bei moralischen Bewertungen der Vorfahren und jüngster Vergangenheit (Stich-
worte: Kolonialismus, Frauenbild, Sexualmoral, Ostpolitik). Für den Rückblick auf die journalistischen
Leistungen wären daher zunächst zwei Bereiche zu klären: was 'damals' tatsächlich außerhalb der
Erkenntnismöglichkeiten lag und wo erkennbare Unsicherheiten nicht in die Bewertung einbezogen
wurden. Denn es gibt einen Unterschied zwischen 'etwas nicht wissen' und der Behauptung, dass es
etwas nicht gibt bzw. dass es anders sei, als es andere für möglich halten, obwohl dafür der Beweis
fehlt. Nichtwissen an sich bietet gerade noch keine Legitimation für Handlungen. Man kann in aus-
653
https://www.n-tv.de/regionales/baden-wuerttemberg/AfD-Politiker-lag-drei-Wochen-mit-Corona-im-
kuenstlichen-Koma-article24061192.html
654
https://www.mediummagazin.de/preistraeger/journalisten-des-jahres/2021/christina-berndt-4/
655
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/corona-pandemie-pandemie-rueckschau-pandemie-fehler-
fehlerkultur-1.5747300 Print 11.02.2023, S. 33
135
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
weglos erscheinenden Situationen etwas probieren, ohne zu wissen, zu was es führen wird muss
sich aber des Risikos bewusst sein. Für den Journalismus bedeutet es, die möglichen Folgen zu re-
cherchieren. Es gibt in komplexen Systemen keine Handlung ohne Nebenwirkungen, die nicht dem
Gewollten entsprechen.
656
Jeder Beipackzettel eines noch so harmlosen Medikaments weist auf sol-
che Nebenwirkungen hin. Da es vom ersten Tag an Warnungen zu allen dann ergriffenen Maßnah-
men gab, wäre zu klären, ob der Journalismus diese hinreichend recherchiert und kommuniziert hat.
In der Argumentation fehlt ferner die Differenzierung. Kinder galten von Anfang an nicht als von
Corona persönlich bedroht. Es konnte also nur darum gehen, wie weit sie für den Schutz anderer in
Anspruch genommen werden dürfen unterstellt, dass es diese Schutzwirkung dann überhaupt gibt
und daher eingedenk der Möglichkeit, dass dies nicht zutreffen könnte (man könnte das Unterlassen
dieser Abwägung analog "Vorschaufehler" nennen).
Mit ihrem Beispiel vom Fahrradhelm hat Berndt einen Punkt. Allerdings gehört zur Orientierung ge-
benden Argumentation, diesen Blick auch zu Ungunsten der eigenen Position einzunehmen. Zwar
wird kaum ein Kind direkt aufgrund eines Fahrradhelms auf dem Kopf sterben (wobei man auch dafür
sicherlich Fälle finden oder zumindest konstruieren kann). Aber dass die damit einhergehende allge-
meine Vorsicht zu Todesfällen führen kann, weil das genetisch angelegte Spielverhalten im Kindesal-
ter und Risikoverhalten im Jugendalter supprimiert wurden, ist jedenfalls ein zulässiges und daher
notwendiges Argument. (Kurz: Wer als Kind viel tobt, riskiert Verletzungen, doch wer nicht tobt,
riskiert später schwerere bis tödliche Verletzungen z. B. bei einem Sturz, weil notwendige Reaktionen
nicht trainiert wurden.)
Die Qualität von Journalismus bemisst sich hier daran, inwieweit Argumente nicht manipulativ vor-
gebracht werden, wie weit das Problem durchdacht wurde, kurz und wie meist: wie intensiv und
zielführend recherchiert wurde. Im Rahmen eines Essays ist nicht die Klärung aller Fragen angezeigt,
aber die Benennung aller relevanten Frage- und Denkrichtungen.
Bsp.: Noch bevor das Impfen losging, gab es eine Debatte um "Sonderrechte für Geimpfte". Unter
diesem Aspekt ging es also nicht um den Selbstschutz der Menschen (über den sie frei entscheiden
dürfen), sondern die Behauptung, Geimpfte könnten weder erkranken noch das Virus weiterverbrei-
ten. Am 28.12.2020 kommentierte Constanze von Bullion:
>Richtig ist: Solange nicht jeder erwachsene Mensch selbst entscheiden kann, wann er sich
gegen eine Corona-Infektion impfen lassen möchte, darf es keine Vorzugsrechte für Geimpfte
geben. Das aber ist noch nicht der Fall. Wo der Impfstoff nur in Mini-Dosen unters Volk ge-
bracht werden kann, ist ungleiche und ungerechte Verteilung die Konsequenz. Viele werden
noch monatelang warten müssen. Von Zufällen oder einem zu geringen Lebensalter aber darf
es nicht abhängen, wer im kommenden Jahr wieder eine Kneipe betreten, die Eltern in der Kli-
nik besuchen oder uneingeschränkt seinem Beruf nachgehen kann.
Bis ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht, müssen gleiche Rechte für alle gelten, oder
anders ausgedrückt: gleiche Einschränkungen für alle. Denn erstens ist noch keineswegs klar,
ob eine Impfung auch die Ansteckung anderer verhindert. Geimpfte, die von allen Einschrän-
kungen befreit durch die Welt spazieren, könnten zu Superspreadern werden, ohne es zu wis-
sen. Das ist zu verhindern. Zweitens aber würde die Privilegierung der Geimpften für Entsoli-
darisierung sorgen.<
657
Dabei ist der gesamte Argumentationsansatz falsch: Denn es ging tatsächlich nicht um "Sonderrech-
te", sondern um ein Ende von Freiheitsbeschränkungen. Diese sind allerdings nicht damit zu rechtfer-
656
Glossiert: https://www.vorbote.de/corona-shutdown-koennte-mehr-schaden-als-nutzen/
657
https://www.sueddeutsche.de/meinung/corona-impfung-privilegien-1.5159336
136
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
tigen, andere seien ja auch noch in ihren Freiheiten eingeschränkt.
658
So wie es im Rechtsstaat keine
Legitimation gibt, ungestraft etwas Verbotenes zu tun, weil andere es auch tun und nicht verfolgt
werden, so kann es auch keinen kollektiven Rechteentzug geben. Jedenfalls liefert die Autorin dafür
auch keinerlei Herleitung. Für jeden Eingriff in die Freiheit
659
eines Menschen ist die Formel zu lösen:
"Wer will was von wem wofür wie warum?"
660
Dem ersten Gegenargument hingegen fehlt völlig das Weiterdenken, was es denn bedeuten würde,
wenn die Impfung nicht die Ansteckung anderer zuverlässig verhindert (was sich als Tatsache heraus-
gestellt hat). Was würde dies für die gesamte Impfkampagne bedeuten, welche Perspektive verbliebe
dann für die Gesellschaft? Der Dauer-Lockdown? Allerdings hatte der Ethikrat über ein Jahr später
noch auf demselben Level argumentiert
661
- was auch zeigt, wie wenig offenbar der Journalismus zur
Klärung einer solch fundamentalen Frage beigetragen hat.
= Genauigkeit =
Nicht alles, was nicht falsch ist, ist auch richtig jedenfalls, wenn man unter dem Qualitätskriterium
"Richtigkeit" (Kap. 3) nur eindeutige Falschaussagen und ggf. noch Unbelegtes/ Unbeweisbares bean-
standen möchte (was mir methodisch sinnvoll erscheint). Dann nämlich bleiben unter dem Blickwin-
kel journalistischer Orientierungsleistung noch einige Ungenauigkeiten, die eben nicht falsch sind,
aber auch nicht zum richtigen (Realitätsab-)Bild führen.
Bsp.: Karl Lauterbach wurde in der Pandemie und wird auch heute in anderen Zusammenhängen oft
als Arzt vorgestellt.
662
Vor allem er selbst spricht von sich regelmäßig als Arzt und nennt Ärzte daher
"Kollegen". Das mag formal richtig sein, weil Lauterbach seit 2010 (!) approbiert ist; er hat jedoch nie
eine relevante Zeit als Arzt gearbeitet
663
, nicht einmal als "Arzt im Praktikum".
664
Der Präsident der
Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, spitze daher am 9. September 2022 zu
665
, Lauterbach habe
658
Etwas differenzierter sieht das Christian Rath in seinem Kommentar am 23.02.2021, in dem er vorüberge-
hende Beschränkungen u.a. mit Blick auf "die Bereitschaft der Noch-Nicht-Geimpften, sich weiter an die Regeln
zu halten" weiter für möglich hält. Er ging allerdings auch aufgrund eines Preprint davon aus: > Eine Auswer-
tung der Erfahrungen aus Israel ergab, dass die Covid-Schutzimpfung von Biontech die Geimpften nicht nur
zuverlässig vor eigener Erkrankung schützt. Sie sind auch für andere mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht
ansteckend. Auch nach einem Kontakt mit dem Virus bleibt ihre Virenlast dank der Impfung sehr gering.<
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/corona-ansteckung-impfung-biontech-schutz-befreiung-
beschraenkungen-sonderrechte-fuer-geimpfte/
Im RKI-Protokoll vom 24.08.2021
659
Zur Begriffsbestimmung: https://www.telepolis.de/features/Freiheit-ist-nie-vulgaer-7536104.html
660
https://www.telepolis.de/features/Staatsschulden-sind-eine-Frage-nach-dem-Demokratieverstaendnis-
9545958.html?seite=2
661
https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-
besondere-regeln-fuer-geimpfte.pdf
662
https://www.welt.de/wirtschaft/article235520816/Karl-Lauterbach-Sind-Aerzte-die-besseren-
Gesundheitsminister.html
663
amtliche Vita: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/leitung-des-
hauses/bundesminister.html Auch gab er in der letzten Legislaturperiode keine entsprechenden Nebeneinkünf-
te an: https://www.bundestag.de/webarchiv/abgeordnete/biografien19/L/lauterbach_karl-521508
664
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Karl_Lauterbach&oldid=232185744#cite_note-11
665
https://www.youtube.com/watch?v=puKuplju9vc
137
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
zwar Medizin studiert, sei aber kein Arzt.
666
Die fehlende ärztliche Praxis ist keine Formalie, sondern entscheidend für die Kompetenzvermutung.
In Fragen der aktuellen Gesundheitsversorgung wird vermutlich jeder Hausarzt versierter sein als
Lauterbach, dem schlicht Routine und kontinuierliche Patientenbeobachtungen fehlen.
Bsp.: Das Schlagwort "Maßnahmen-Kritiker" wurde durchgängig nur für all jene verwendet, denen
staatliche Regelungen zu weit gingen.
667
Damit bekam der eigentlich offene Begriff "Kritiker" eine
politische Richtung. Dabei war medial die Kritik der Gegenseite viel lauter, wurde nur nicht so ge-
nannt: "die Regierenden versagen vor ihrer historischen Pflicht"
668
,
Die 'böse Seite' waren hingegen "selbsternannte Regierungskritiker".
669
Bsp.: Das Schlagwort von den "Corona-Gegnern" wurde vom Blog "Floskelwolke" auf Platz 2 der
"Floskel des Jahres 2020" gesetzt.
670
Begründung:
>Corona-Gegner: Ein Kompositum scheitert an sich selbst. Natürlich sind alle gegen das Virus
gemeint werden jedoch Gegner der Pandemie-Politik. Wer Schlagworte sinnlos verkürzt o-
der sinnlos verkürzte Schlagworte in Umlauf bringt, wird mit Spott nicht unter fünf Jahren be-
straft.< (Pressemitteilung vom 01.01.2021)
Natürlich kann man sich auch umgekehrt beim Versuch, besonders genau zu sein, verheddern, etwa
wenn man journalistisch darauf pocht, Impfstoffe seien keine Medikamente.
671
= Rezipientendialog (Kommunikativität) =
Als Ausdruck von Bemühen um die bereits verhandelten Qualitätskriterien kann die journalistische
bzw. redaktionelle Kommunikativität gesehen werden (die natürlich nicht zu den Produkt- bzw. deut-
licher Beitrags-Qualitäten zählt, sondern eine Dienstleistung ist). Die Veröffentlichung von Leserbrie-
fen (und die Ermöglichung oder Duldung von Online-Kommentaren) ist dazu ein wichtiger und er-
probter Schritt, an sich aber noch einseitig. Erst wenn Journalisten auf solche Reaktionen ihrerseits
reagieren, wenn sie zu Kritik Stellung nehmen und Fragen beantworten, sollten wir von Dialog spre-
chen.
Insbesondere die Bereitschaft, auf kritische Fragen von Kollegen zu antworten, ist nach meiner nun
30-jährigen Erfahrung in diesem Feld wenig ausgeprägt. Eine erste Anfrage per E-Mail wird in den
seltensten Fällen beantwortet, in mehr als der Hälfte der Fälle bleibt auch eine dritte Anfrage per
Einschreiben ohne Reaktion. Das gilt überraschenderweise für einzelne Journalisten ebenso wie für
ganze Redaktionen.
Bsp.: Nur gelegentlich machen Medien selbst auf diese Auskunfts- und Dialogverweigerung von Kol-
legen aufmerksam, wie nun zur Aufarbeitung der Corona-Berichterstattung die ZEIT, die schreibt:
666
https://www.rnd.de/politik/aerztepraesident-klaus-reinhardt-zu-karl-lauterbachs-klinikreform-
MOUIJ2FNOVFPFC2XFXL7CXRX6M.html
667
https://www.srf.ch/news/schweiz/wahlen-2023/kantone-wahlen-2023/wahlen-2023-zuerich/wahlen-2023-
das-sind-die-erfolgsaussichten-der-massnahmen-kritiker
668
https://taz.de/!vn5815396/
669
https://www.morgenpost.de/berlin/article233161889/demo-berlin-heute-querdenker-corona-polizei.html
670
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Floskelwolke&oldid=244310462#Preistr%C3%A4ger
671
https://www.timo-rieg.de/2023/02/impfstoff-kein-medikament/
138
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Die ZEIT hat auch Journalistinnen und Journalisten anderer Medien gefragt, wie sie heute zu be-
stimmten Äußerungen stehen etwa der, dass gewisse Virologen größeren Schaden angerichtet
hätten als Querdenker. Bis auf Ranga Yogeshwar wollten sie sich dazu aber nicht äußern.<
672
Die "sozialen Medien" werden von vielen Redaktionen als reine Ausspielwege für ihren Content be-
trachtet (also ohne "Socializing"). Reaktionen des Publikums werden nie oder nur sporadisch beant-
wortet.
Siehe hierzu auch in Kap. 11.2 "Leserbriefe als Stimmungsbarometer".
= Transparenz =
Unter dem Qualitätskriterium Transparenz kann alles gefasst werden, was den Journalismus-Kunden
ermöglicht, Aussagen in den Beitragsangeboten nachzuvollziehen und einzuordnen. Der geläufigste
Transparenz-Aspekt dürfte die Quellenangabe sein, als Antwort auf die siebte W-Frage (woher, nach
wer, was, wo, wann, wie und warum, sofern es sich nicht aus dem Wo ergibt). Auch die Nennung des
Autorennamens oder des Redakteurs-Kürzels gehört zur Transparenz, ebenso wie die Angabe von
möglichen Interessenskonflikten, wirtschaftliche Abhängigkeiten, Limitationen bei der Recherche etc.
Entscheidungen für und gegen die Aufnahme eines Themas gehört zur Transparenz, die Öffentlich-
keit von Redaktionssitzungen, Redaktionsblogs
673
u. v. m. (vgl. Meier/ Reimer 2011
674
).
Bsp.: Zu dem Artikel "Das antidemokratische Netzwerk hinter #allesdichtmachen" hatte der Tages-
spiegel ursprünglich als Autoren u. a. ein "Recherchenetzwerk Antischwurbler"
675
aufgeführt.
676
In-
zwischen ist diese Angabe zusammen mit zahlreichen Korrekturen und Klarstellungen als Hinweis
am Ende zu finden:
>Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit mit dem Recherchenetzwerk Antischwurbler, ei-
nem zivilgesellschaftlichen Rechercheteam, das sich schwerpunktmäßig mit antidemokrati-
schen Strömungen und der Neuen Rechten befasst.<
Wer sich dahinter verbirgt, wird weiterhin nicht transparent gemacht.
Unter "Transparenz" werden auch Hinweise auf erfolgte Korrekturen, die Angabe von Interessens-
konflikten u.ä. verhandelt (ausf. Meier/ Reimer 2011).
= Unparteilichkeit =
Gerade dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) wird im Corona-Journalismus Einseitigkeit und
Parteinahme vorgeworfen.
677
Gerade dem ÖRR, weil er nach den jeweiligen Landesgesetzen bzw.
672
https://www.zeit.de/2023/05/corona-pandemie-fehler Weitere Zitate unter:
https://www.telepolis.de/features/Unsere-Corona-Fehler-7474559.html
673
z.B. https://blog.tagesschau.de/, https://blogs.taz.de/hausblog/
674
https://www.researchgate.net/publication/226713998_Transparenz_im_Journalismus_Instrumente_Konflikt
potentiale_Wirkung
675
https://twitter.com/antischwurbler?lang=de
676
https://web.archive.org/web/20210501121957/https://www.tagesspiegel.de/kultur/filmbranche-und-
querdenker-das-antidemokratische-netzwerk-hinter-allesdichtmachen/27149604.html
677
siehe z.B. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/nach-corona-kritik-swr-und-gekuendigter-
mitarbeiter-ole-skambraks-schliessen-vergleich-vor-gericht-17912306.html
139
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Staatsverträgen zur Unparteilichkeit verpflichtet ist anders als die privatwirtschaftliche Presse, die
ganz im Gegenteil Tendenzschutz genießt (weshalb Tageszeitungen dann politischen Richtungen
zugeordnet werden können).
So heißt es im Medienstaatsvertrag, der den bundesweiten ÖRR und Privatfunk regelt:
>Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben bei der Erfüllung ihres Auftrags die
Grundsätze der Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Meinungsvielfalt
sowie die Ausgewogenheit ihrer Angebote zu berücksichtigen.< (§ 26 Abs. 2 MStV)
678
Für allen Rundfunk heißt es in den Grundsätzen:
>Berichterstattung und Informationssendungen haben den anerkannten journalistischen
Grundsätzen, auch beim Einsatz virtueller Elemente, zu entsprechen. Sie müssen unabhängig
und sachlich sein. Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebo-
tenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen. Kommentare sind von der Berichterstat-
tung deutlich zu trennen und unter Nennung des Verfassers als solche zu kennzeichnen.< (§ 6
Abs. 1 MStV)
Bsp.: Dass es an Unparteilichkeit und Meinungsvielfalt zumindest bei früheren Berichterstattungs-
themen gemangelt hat, räumt der derzeitige ARD-Vorsitzende und Intendant des SWR Kai Gniffke
ein. Dazu sei ein Auszug aus einem Interview von Ben Krischke im Cicero-Podcast aus dem März 2023
transkribiert (ohne Gewähr).
679
(Ähnlich äußerte sich Gniffke dann am 17. März 2023 im Ausschuss
für Medien des Landtags Sachsen-Anhalt.
680
)
Kai Gniffke: "Ich glaube zu wissen, wo das herkommt, diese Wahrnehmung, die Sie jetzt auch
schildern. Ich habe das selbst erlebt in der Nachrichtenredaktion, für die ich gearbeitet habe
in den Jahren 2014 folgende, das war zu Beginn der Phänomene die wir mit PEGIDA z .B. be-
schreiben, das hatte damals sehr viel mit dem eskalierenden Ukraine-Konflikt zu tun und mein
Eindruck war, dass insbesondere bei dem PEGIDA-Phänomen wir am Anfang durchaus zwi-
schen den Zeilen so wie Sie es vorhin geschildert haben haben erkennen lassen, also die
Leute, die da jetzt gerade auf die Straße gehen, ihr sollt die nicht gut finden. Das war aus
meiner Sicht spürbar in unseren Texten. Und darüber haben wir offen diskutiert. Wir haben
dann auch im Zuge der ganzen Fluchtkrise, die sich dann daran angeschlossen hat, gab es
auch diese Wahrnehmung: alle Texte an sich sehr okay, aber zwischen den Zeilen kriegt man
immer so ein bisschen das Gefühl, aha, das soll ich jetzt gut finden, das soll ich nicht gut fin-
den. Wir haben uns offensiv und intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt und ge-
sagt: wir müssen uns solche Mechanismen bewusst machen. Und wir müssen dagegen arbei-
ten, auch in unseren Beiträgen gegen die Tendenz, dass die Leute den Eindruck kriegen, aha,
ich soll etwas jetzt gut oder schlecht finden.
Und ich finde, dass wir in diesen Jahren seitdem wirklich gelernt haben, mit dem Phänomen
umzugehen. Das hat auch für die Berichterstattung über die AfD gegolten. Da haben wir am
Anfang auch das nicht sauber hinbekommen, nicht sauber in der Hinsicht, dass ich sage, zwi-
schen den Zeilen war da immer was spürbar. Aber das ist Jahre her und wir haben, glaube ich,
678
https://www.die-
medienanstal-
ten.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/Medienstaatsvertrag_MStV.pdf
679
https://www.cicero.de/kultur/kai-gniffke-podcast-cicero-ben-krischke-ard
680
https://www.welt.de/kultur/medien/article244343891/Kai-Gniffke-Haben-aus-den-Fehlern-im-Umgang-
mit-der-AfD-gelernt.html
140
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
mittlerweile einen guten Weg gefunden. Einen professionellen, einen journalistischen Weg ge-
funden, damit umzugehen.
Frage Ben Krischke: In der Corona-Berichterstattung waren doch exakt dieselben Effekt wie-
der sehbar. Man hat sich schon von 100 Metern den größten Vollidioten rausgesucht, ist auf
den mit der Kamera draufmarschiert und der stand dann irgendwie exemplarisch für ein total
heterogenes Milieu. Natürlich waren da irgendwelche komischen Leute dabei und auch Neo-
Nazi was weiß ich, aber auch ganz, ganz viele Leute, die berechtigte Sorge hatten, anhand der
Maßnahmen. Und trotzdem waren die Bilder immer die, dass der Bekloppte im Großformat
gezeigt wurde.
Gniffke: Ich würde Ihnen gerne eine Dokumentation des SWR zeigen, die ist aus der Hochpha-
se der Pandemie. Den hat einer unserer Kollegen aus der Rechtsredaktion in Karlsruhe ge-
macht. Der ist vollkommen unbefangen in all diese Demonstrationen gegangen. Und das war
für mich ein Paradebeispiel von gutem Journalismus. Da hat der Filmtext ganz wenig nur ge-
macht. Und man kann diesem Film auch nicht vorwerfen, er habe da jetzt irgendwelche Alu-
hutträger gesucht, sondern er hat die Menschen zu Wort kommen lassen mit ihren Sorgen,
mit ihren Überzeugungen, mit ihren Meinungen. Und hat sie nebeneinander stehen lassen.
Das fand ich ein ausgezeichnetes Beispiel, wie man damit umgeht, auch in der Pandemie,
auch wenn man bei manchen Dingen, bei denen viele Menschen den Kopf schütteln. Aber es
hat glaube ich sehr gut funktioniert, die Motivation dieser Menschen, auch die Ängste dieser
Menschen deutlich zu machen. Insofern ist das Journalismus, wie ich ihn mir vorstelle. Ich
glaube, dass uns dies auch zunehmend gelingt. Pandemie war ein neues Phänomen, war auch
ein neues Phänomen für uns, genauso wie wir jetzt auch im Ukrainekrieg uns journalistisch
genau überlegen müssen, wie sieht denn Kriegsberichterstattung, unparteiische Kriegsbe-
richterstattung aus. [....]
Der Journalismus hat sich lange an den falsch "Corona-Leugnern"
681
genannten Kritikern ihrer Ansicht
nach übermäßiger staatlicher Maßnahmen abgearbeitet, ohne dem anderen Pol einen vergleichbar
kritischen Blick zu widmen. Oder wo finden sich für deren Personen Begriffe wie "Coronisten", "Zeu-
gen Coronas", "Corona-Jünger" oder gar "Hysteriker"?
Bsp.: Fehlende Unparteilichkeit zeigt sich auch an allen "Wir-gegen-die-anderen"-Positionierungen:
Es gibt eine gute bzw. richtige Seite, auf der natürlich die berichtenden Journalisten stehen, und ent-
sprechend eine schlechte bzw. falsche Seite.
682
In Kommentaren darf man sich zwar zu einer 'Seite'
oder 'Partei' bekennen; doch wer sich selbst mit der gesamten Gesellschaft gleichsetzt und ihr ein
nicht-gesellschaftliches oder nicht-gesellschaftsfähiges Anderes gegenüberstellt, hat es sicherlich
schwerer, "die anderen" überhaupt zu verstehen:
>Aber müssen wir in einer Demokratie nicht auch mit Coronaleugnern diskutieren? Nein,
meint die Publizistin Sieglinde Geisel.<
683
Spaß hin, Spaß her, manch im Journalismus bekundete Sympathie dürfte einer unparteilichen Be-
richterstattung nicht zuträglich gewesen sein, wie etwa die Titelseite der taz anlässlich Lauterbachs
681
SZ noch im August 2022 https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-corona-russland-
demonstration-1.5637631
682
https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-demonstrationen-wozu-noch-
diskutieren.1005.de.html?dram:article_id=481869
683
https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-demonstrationen-wozu-noch-diskutieren-100.html
141
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Ernennung zum Gesundheitsminister.
Bsp.: "Corona kann einpacken"
684
= Informationsleistung =
Die Informiertheit, für welche journalistische Beiträge bei den Rezipienten sorgen, ist kein Qualitäts-
merkmal, weil es dem Produkt nicht innewohnt, sondern ihm zugeordnet wird (DIN 2015: 53). Aller-
dings lässt sich u.a. mit der klassischen Inhaltsanalyse natürlich der Informationsgehalt von Journa-
lismus erfassen. Ergebnisse ließen jedoch noch keinen unmittelbaren Schluss zu, wie die angebote-
nen Informationen auch aufgenommen und in Wissen und Handlungen übersetzt werden (siehe:
Fragen an die Medienforschung).
Für die Abschätzung der Informationsleistung des Journalismus (Gehalt) kann es daher schon interes-
sant sein zu prüfen, was beim Publikum ankommt. Es schmälert zwar eben nicht die Qualität einzel-
ner Beiträge, wenn sie nicht zur Kenntnis genommen werden, sehr wohl aber die Behauptung, für
demokratisch notwendige Informiertheit zu sorgen.
Da es in der Corona-Berichterstattung viel um statistische und prognostische Werte ging, sei eine
kleine Rechenaufgabe für den Selbsttest wiedergegeben (aus Dubben/ Beck-Bornholdt 2006: 17ff).
Bsp.: Es geht um die Früherkennung einer Infektionskrankheit, die man sich im Urlaub zugezogen
haben könnte. Der benutzte Test erkennt korrekt 99 von 100 Infizierten und 98 von 100 Nichtinfizier-
ten. Die Krankheit trifft in dem entsprechenden Gebiet nur etwa jeden tausendsten Touristen und
bleibt zunächst symptomlos. Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist jemand mit positivem Test tatsäch-
lich infiziert? Die richtige Antwort gaben auf Tagungen und Seminaren laut den Autoren auch Ärzte,
Apotheker und Medizinstudenten nur sehr selten. Es folgt der Rechenweg zur Abschätzung (bitte
erste selbst versuchen und dann weiterlesen).
Angenommen werden zur Vereinfachung der Rechnung 100.100 Reiserückkehrer, die sich dem
Vorsorgetest unterziehen. Da sich im Schnitt nur einer von tausend angesteckt hat, haben wir unge-
fähr 100.000 Gesunde und 100 Infizierte (ein Tausendstel). Von den Gesunden stuft der Test fälsch-
lich 2% als infiziert ein, also 2.000 Personen. 99 der 100 Infizierten werden korrekt erkannt. Also
bekommen insgesamt 2099 Menschen ein positives Testergebnis, obwohl wir tatsächlich nur 100
Infizierte haben. Somit ist die Wahrscheinlichkeit, bei positivem Test tatsächlich infiziert zu sein
99/2099 = 0,047, also knapp 5%.
Interessant wird es nun, wenn sich an den positiven Test Maßnahmen anschließen, insbesondere
sofern diese wie diverse medizinische Untersuchungen ihrerseits mit einem Gesundheitsrisiko
verbunden sind. Am Beispiel von Krebsvorsorgeuntersuchungen rechnen dies die Autoren vor.
685
= Maßstabsgerechtigkeit =
Die Relevanz eines einzelnen journalistischen Beitrags mit neuem Thema (Informationen) lässt sich
vermutlich kaum verlässlich bestimmen. Alle bisherigen Versuche rekurrieren auf bereits Vorhande-
nes, am deutlichsten zu sehen am Benchmark-Verfahren, das z.B. aktuelle Themen aus populären,
kondensierten Nachrichtenzusammenfassungen (wie überregionalen Tageszeitungen oder Tages-
schau/ heute/ RTL aktuell) normativ als relevant setzt und dann schaut, ob andere Medien dasselbe
Thema ebenfalls behandelt haben (z.B. Haller 2001; Haller 2003; Rau 2005). Mit solchen Vergleichen
684
https://x.com/lukaswallraff/status/1467890741250773002
685
Das Beispiel habe ich zuerst referiert im zweiten Teil der Serie "Hürden der Aufklärung",
https://www.telepolis.de/features/Tatsachen-als-Problem-der-Verstaendigung-7444398.html?seite=all
142
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
haben es Innovation bzw. Investigation jedoch schwer, über deren Relevanz regelmäßig erst nach
Veröffentlichung (irgendwann und irgendwie) entschieden werden könnte. Praktikablere Bezugs-
punkte sind hingegen die eigenen Veröffentlichungen eines Medium (oder weit schwieriger eines
Journalisten). Denn mit einer ersten Publikation behauptet ein Medium nicht nur Relevanz (Irrele-
vantes kann nicht der Orientierung dienen, es erschwert sie vielmehr), sondern es trägt auch Ver-
antwortung für dessen Einordnung und ggf. Korrektur (Updates).
Die hier zu fordernde Einordnung bemisst sich unter anderem an der wenig attraktiv klingenden
Maßstabsgerechtigkeit (siehe dazu oben bereits: "Gleiches wird ungleich behandelt"). Sie verlangt
zunächst "nicht mehr und nicht weniger, als darzulegen, welches Themenfeld zu erörtern man für
relevant hält"
686
. Und bei allen darin vorkommenden Bewertungen, dass diese konsistent mit Blick
auf Vergleichbares dieses Mediums (oder dieses Journalisten). "Maßstabsgerechtigkeit" bedeutet,
mit dem passenden Maßstab zu arbeiten und diesen nicht nach Belieben zu verändern: Gleiches
muss gleich behandelt werden. Maßstabsgerechtigkeit ist das Gegenstück zur Willkür, zum Agieren
'aus dem Bauch heraus'. Dies gilt neben der Relevanz auch für alle anderen Qualitätskriterien, und
dort jeweils sowohl für die Messung als auch die Bewertung der Messwerte.
Bsp.: In der Corona-Politik galt bei Verwaltungen wie Medien die Parole, jeder Tote
687
, ja jeder Kran-
ke
688
sei ein Fall zu viel, müsse daher unter allen Umständen verhindert werden (Bundeskanzler
Scholz: "Wir werden alles tun, was notwendig, ist, es gibt da für die Bundesregierung keine roten
Linien."
689
Ministerpräsident Markus Söder: "Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel."
690
). Insbesondere
Freiheitsinteressen dürfe oder könne man dagegen nicht ins Feld führen. Wo war und ist dieser Maß-
stab beim Ukraine-Krieg
691
, der bisher wohl eine viertel Millionen
692
Menschen ihr Leben gekostet
und unzählige verletzt und traumatisiert hat? Wie so oft in der Politik gab es von Anfang an keine
Kosten-Nutzen-Abwägungen, sondern Dogmen ('Mit einem Aggressor verhandelt man nicht' etc.).
Dabei würde sich überhaupt erst mit Kosten-Nutzen-Prognosen der mögliche Gestaltungsraum zei-
gen, denn man würde angesichts von hunderttausenden Toten und Verletzten, global Billionen Euro
aus Steuergeldern und weitreichenden Verwüstungen erst sehen, welche 'Verhandlungsmasse' da
eigentlich besteht. Doch hier genügt erstaunlicherweise der pauschale Verweis auf die Freiheit, um
bei den Opfern keine roten Linien mehr zu sehen.
Fehlende Maßstabsgerechtigkeit (bzw. hier deutlicher: Maßstabsgleichheit) tritt auch bei vielen Fak-
tenchecks zutage, denen genügt, dass etwas unbelegt oder unbewiesen sei, soweit dies selektiv nur
zur Entkräftung von Aussagen angewendet wird, die der Corona-Politik widersprechen wollten.
686
https://www.telepolis.de/features/Antisemitismus-Affaere-Hubert-Aiwanger-am-SZ-Pranger-9286135.html
687
https://www.rheinpfalz.de/politik_artikel,-100-119-corona-tote-jeder-ist-einer-zu-viel-_arid,5283533.html
688
https://www.sueddeutsche.de/meinung/coronavirus-intensivmedizin-weihnachten-1.5156960
689
https://www.wz.de/politik/inland/bundeskanzler-olaf-scholz-gibt-keine-roten-linien-im-kampf-gegen-
corona_aid-64638659
690
https://www.deutschlandfunk.de/chronologie-der-pandemie-wie-das-coronavirus-deutschland-100.html
691
https://www.deutschlandfunkkultur.de/ukrainekrieg-wie-viele-leben-ist-ein-quadratkilomater-landgewinn-
wert-dlf-kultur-0fefc3c3-100.html
692
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Opfer_des_Russisch-
Ukrainischen_Krieges&oldid=240530683#Todesf%C3%A4lle_insgesamt
143
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: So etwa bei Correctiv (Sammlung).
693
Nach dieser Logik hätten aber fast alle Aussagen von Poli-
tikern und Wissenschaftlern zur weiteren Entwicklung der Pandemie, der Prognose von Wirkungen
politischer Maßnahmen oder die Notwendigkeit einer Impfpflicht als "unbelegt" bezeichnet werden
müssen. Und spätestens im Nachhinein wäre die Enthüllung solcher Falschaussagen für den Diskurs
hilfreich gewesen. Doch es findet sich dafür kein einziges Beispiel. Es wird schlicht kein einheitlicher
Bewertungsmaßstab angelegt, was einer Korrektur bedarf und was als "unbelegt" zu diskreditieren
ist.
Bsp.: Auch zur Maßstabsgerechtigkeit bei der Relevanzmessung finden sich bei Correctiv Beispiele.
Etwa, wenn zwar ein eigener Faktencheck erscheint, weil das RKI die "Zahl der ungeimpften Omik-
ron-Infizierten im Wochenbericht von 186 auf 1.097"
694
nach oben korrigiert hat, was Kritiker (noch)
nicht wahr- oder aufgenommen haben, sich aber kein vergleichbarer Check findet, wenn unter "Un-
geimpften" bei den Corona-Patienten pauschal auch alle erfasst wurden, zu denen der Impfstatus gar
nicht bekannt war
695
.
Bsp.: Als Beispiel für fehlende Objektivität sei an dieser Stelle nachgetragen, dass Correctiv einen
eigenen Faktencheck veröffentlichte zu einem Beitrag, in dem fälschlich Polizeigewalt in Zusammen-
hang mit Demonstrationen in der Pandemiezeit gebracht wird
696
, ohne dass darauf verwiesen wird,
dass es natürlich Polizeigewalt gab
697
.
Auch beim Sprachgebrauch fehlt oft die Maßstabsgerechtigkeit, sowohl bei der Beschreibung von
Tatsachen als auch ihrer Bewertung.
Bsp.: Der Begriff "Zwangsimpfung" wurde in den Medien nahezu unisono zurückgewiesen, schließ-
lich werde nirgends Zwang ausgeübt.
698
Den von einer Impfpflicht Betroffenen in Bundeswehr und
Gesundheitswesen stehe es jederzeit frei, die Konsequenzen für eine Verweigerung zu tragen konk-
ret also den Job zu wechseln.
699
Als Russland jedoch Gesundheits-Checks von Ausländern verlangte, wurde sprachen dieselben Medi-
693
https://correctiv.org/faktencheck/coronavirus/
694
https://correctiv.org/faktencheck/2022/01/06/rki-korrigiert-zahl-der-ungeimpften-omikron-infizierten-im-
wochenbericht-von-186-auf-1-097/
695
https://www.stern.de/panorama/hamburg--behoerde-gab-corona-inzidenz-von-ungeimpften-wochenlang-
viel-zu-hoch-an-31432540.html
696
https://correctiv.org/faktencheck/2022/01/04/diese-fotos-zeigen-keine-polizeigewalt-gegen-ungeimpfte-
sie-entstanden-unter-anderem-beim-g20-gipfel-und-bei-einem-fussballspiel/
697
https://www.focus.de/politik/deutschland/moeglicherweise-menschenrechtsverletzungen-polizeigewalt-
bei-querdenker-demo-un-will-stellungnahme-von-bundesregierung_id_13563450.html,
https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-03/corona-demo-kassel-polizei-kritik-querdenker-ausschreitung Abwä-
gend dazu, "wie sich Maßstäbe verschieben" bei der Forderung nach oder Akzeptanz von Polizeigewalt:
https://www.rnd.de/politik/corona-proteste-traenengas-gegen-querdenker-gruener-knueppel-aus-dem-sack-
JPT4RPMT4JG25DMR6BTVRIWW7Y.html; 2-Minuten-Video:
https://x.com/JanineBeicht/status/1766599649173926354
698
https://www1.wdr.de/nachrichten/themen/coronavirus/impfpflicht-impfzwang-unterschied-100.html
699
vgl. Rn 209 in
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2022/04/rs20220427_1bvr264921
.html - oder auch 40 Tage ins Gefängnis zu gehen wie Jan Reiners: https://kontrafunk.radio/de/sendung-
nachhoeren/politik-und-zeitgeschehen/kontrafunk-aktuell/kontrafunk-aktuell-vom-10-juli-2024
144
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
en
700
von "Zwangsuntersuchung"
701
, obwohl ebenso "Wahlfreiheit" bestand dort eben, das Land zu
verlassen.
11.2 Ergänzungen (nachgereichte Fallbeispiele)
Damit sie auch für diejenigen einfach zugänglich sind, die eine vorherige Version dieses Papers schon
gelesen bzw. überflogen haben, werden hier seit der Version vom 27. April 2023 noch einige beson-
ders interessante Fälle zur journalistischen Qualität nachgereicht, auch wenn sie systematisch in ein
vorheriges Kapitel gehören.
= Journalisten als Regierungs-Botschafter =
Der Vorwurf, die Medien hätten auf eine kritische Beobachter- und Berichterstatterposition zuguns-
ten einer aktiven Unterstützung der Regierungspolitik verzichtet, wurde schon früh erhoben.
702
Me-
dienwissenschaftler Bernhard Pörksen rechtfertigte dies im Mai 2020 so:
>In der ersten Schock- und Shutdownphase bestand kaum eine andere Möglichkeit, als einen
situativ geforderten Verlautbarungsjournalismus zu praktizieren, die publizistische Begleitung
und Erläuterung des medizinisch Gebotenen.<
703
An anderer Stelle schrieb er: "In der ersten Phase der Krise mag es richtig gewesen sein, vor allem auf
Virologen zu hören und medizinische Maßnahmen zu diskutieren."
704
Dies wurde auch aus der Medi-
enethik heraus gerechtfertigt, z. B. von Marlis Prinzing
705
(vgl. Rieg 2020b und Kap. 2.2 sowie nach-
folgend "Journalistische Ethik"). Dabei handelt es sich allerdings um einen gefährlichen Zirkelschluss:
Denn ob man alternativlos auf der einzig richtigen Seite steht, kann man ja erst ermitteln, wenn alle
Aspekte ausgeleuchtet sind, alle Positionen zur Sprache kamen, mithin viel Raum für Regierungskritik
war.
Dass sich zumindest einzelne Medien darum gar nicht bemüht haben, ist belegt und wurde erstaun-
lich wenig (vom Medienjournalismus) rezipiert.
Bsp.: So hatte Marc Walder, CEO des Schweizer Ringier-Verlags (u.a. "Blick") in einer Videokonferenz
gesagt:
700
https://www.n-tv.de/politik/Impfpflicht-heisst-nicht-Impfzwang-article22969762.html
701
https://www.n-tv.de/politik/Russland-fuehrt-Zwangsuntersuchung-ein-article23026212.html,
https://web.archive.org/web/20211229152745/https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/interview/russland-
auslaender-medizincheck-pflicht-audio-100.html
702
https://www.deutschlandfunk.de/journalismus-in-der-corona-krise-bitte-keine-appelle-100.html
703
https://www.derstandard.at/story/2000117210740/poerksen-serioeser-journalismus-ist-so-wichtig-wie-nie
704
https://www.zeit.de/2020/16/coronavirus-berichterstattung-journalismus-information (zusammen mit
Marc Brost)
705
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-krisenbeobachter-journalismus-waehrend-der-corona-
pandemie
145
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale Berichterstattung, dass wir alle
gut durch die Krise kommen.<
706
Ausgerechnet die Bild-Zeitung führt Walder in seinem Vortrag als Negativbeispiel an für Medien, die
"wahnsinnig hart" mit der deutschen Regierung umgegangen seien. Der damalige Bild-Chefredakteur
Julian Reichelt sagte später:
>Der Streit ging um die Corona-Berichterstattung insgesamt, wo Friede Springer die Vorstel-
lung hatte, und das mir gegenüber auch sehr deutlich gemacht hatte, dass BILD in der begin-
nenden Corona-Krise das war ganz zu Anfang ab sofort unterstützend für die Bundesregie-
rung und die Kanzlerin berichten sollte. Und das war nicht meine Auffassung von Journalis-
mus.<
707
Bsp.: Später wurde publik, dass zwischen Ringier und der Regierung wohl ein Tauschgeschäft statt-
fand: exklusive Vorabinformationen gegen regierungsfreundliche Berichterstattung eigentlich eine
klassische 'Verschwörung'.
708
Bsp.: Im Vereinigten Königreich (UK) hatte die Regierung dem öffentlich-rechtlichen Sender BBC den
Hinweis gegeben, in der Berichterstattung nicht von "Lockdowns" zu sprechen, was im Haus auch so
weitergegeben worden sein soll.
709
Dass Intermediäre wie Twitter, Youtube und Facebook ihrerseits eine bestimmte Richtung der News
gesteuert haben, ist ebenfalls belegt
710
, für die hiesige Journalismus-Kritik aber nur in Bezug auf die
Berichterstattung darüber relevant.
Angesichts der derzeitigen (April 2023) medialen Einigkeit darüber, dass Verleger sich nicht in das
journalistische Geschäft einzumischen haben (Bsp. Holger Friedrich
711
, Bsp. Mathias Döpfner
712
) ver-
wundert die Gelassenheit bei der Einflussnahme auf die Corona-Berichterstattung. In der großen
Mehrzahl der Fälle dürften allerdings die (Chef-) Redaktionen selbst beschlossen haben, auf Mei-
nungsvielfalt und Recherche zugunsten klarer Handlungsanweisungen zu verzichten. Dies hätten sie
allerdings transparent machen müssen: denn damit haben sie sich dann vom Journalismus ab- und
der PR zugewendet.
706
https://www.nebelspalter.ch/geheimes-video-zeigt-ceo-marc-walder-zwang-alle-redaktionen-der-ringier-
medien-weltweit-auf-regierungskurs Transkript bei: https://www.spiegelkritik.de/2022/01/04/wir-wollen-die-
regierung-unterstuetzen-durch-unsere-mediale-berichterstattung/
707
Reichelt bei Chez Krömer: https://www.youtube.com/watch?v=lfLQX_WNtQU
Kritik der Berichterstattung darüber: https://www.spiegelkritik.de/2022/11/16/reichelt-bei-kroemer-bei-der-
sz/
708
https://www.sueddeutsche.de/politik/schweiz-bundespraesident-ringier-affaere-1.5733811
709
WDR-Sendung "Texte Töne Bilder" vom 18.03.2023, https://www.ardaudiothek.de/episode/wdr-5-toene-
texte-bilder/medienrummel-in-freudenberg-und-50-jahre-talkshow/wdr-5/12482959/
710
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/musk-twitter-files-101.html
711
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-zeitung-erfolg-durch-mehr-meinungsfreiheit-dlf-a70c7fd8-
100.html
712
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/doepfner-einmischung-pressefreiheit-code-of-conduct-springer/
146
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Eine für die Umstände gute Lösung für den Konflikt zwischen regierungsstützender Haltung
einerseits und journalistische Verpflichtung andererseits hatte Radio 94,3 rs2 Berlin-Brandenburg
proklamiert
713
:
>Wir unterstützen die Maßnahmen der Bundesregierung und des Berliner Senats zur Ein-
dämmung der Corona-Ausbreitung aus voller Überzeugung. #wirbleibenzuhause Im Rahmen
einer objektiven journalistischen Tätigkeit lassen wir aber auch Kritiker zu Wort kommen.<
714
Bsp.: Eine Auswertung der Nachrichtensendungen Tagesschau (ARD) und heute (ZDF) konstatiert
und meint das im Gesamtkontext wohl gar nicht negativ:
>In der Phase der gesellschaftlichen und individuellen Bedrohung wirkte der öffentlich-
rechtliche Rundfunk mit seiner umfangreichen Thematisierung der Corona-Krise als system-
konformer Partner der Regierung. (Krüger/ Müller 2023: 300)
= Tatsachen und Meinungen =
Die Verwechslung von Tatsachen und Meinungen über Tatsachen wurde hier schon als eines der
Hauptprobleme im Journalismus benannt. An Beispielen mangelt es daher nicht (ausf. Rieg 2024).
Bsp.: 'Wissenschaft' bezeichnet schon dem Namen nach das Streben nach Wissen, also Tatsachener-
kenntnissen. Dabei ist natürlich auch das Wissen über vorhandene Meinungen ein Wissen macht
aber die einzelnen Meinungen nicht zu Tatsachen. Bei Quarks (WDR) wurde das Durcheinander im
November 2020 so formuliert:
>Warum es aus wissenschaftlicher Sicht Quatsch ist, die Maßnahmen zu lockern<
715
Eine wissenschaftliche Sicht auf die Corona-Politik kann es nicht geben. Denn dazu müsste als unver-
rückbare Tatsache feststehen ('wissenschaftlicher Konsens herrschen'), was eigentlich das Ziel der
Corona-Politik unter Abwägung aller Interessen ist.
716
Das ist natürlich gar nicht möglich, weil es sich
dabei um Meinungen handelt (eben: das eine ist mir wichtiger als etwas anderes) genau für diesen
Meinungsaustausch sind Demokratien konzipiert. Wissenschaftlicher Quatsch kann nur die Behaup-
tung sein, mit einer bestimmten Maßnahme (zu der wissenschaftlich natürlich auch eine Nicht-
Maßnahme zählen kann) etwas zu erreichen, was sich damit aber faktisch nicht erreichen lässt.
Entsprechend unwissenschaftlich sind denn auch die einzelnen Begründungspunkte im Quarks-Post;
zwei seien genannt:
Bsp.: "Die Infektionszahlen werden voraussichtlich nicht niedrig genug sein, um neue Infektionsket-
ten zu verkraften." Welche Infektionszahlen wer eigentlich? "verkraften" kann, ist die Bewertung
(Meinung) einer nicht weiter benannten Tatsachenvermutung (Prognose). Weniger faktisch geht es
kaum noch.
Bsp.: "Mit Alkohol achtet keiner mehr auf Abstand." Dass 'die Wissenschaft' im November 2020
demnach noch behauptet haben soll, bei Zusammenkünften in geschlossenen Räumen über viele
Stunden oder gar wie bei Weihnachtsbesuchen üblich über Tage habe der normative Abstand von
713
Wie weit dieser Anspruch im Programm verwirklicht wurde ist hier nicht untersucht worden, da wie mehr-
fach dargelegt nur Einzelfälle betrachtet werden, die keinerlei quantitative Aussagen ermöglichen.
714
https://www.rs2.de/interview-mit-immunologe-und-toxikologe-prof-dr-stefan-hockertz
715
https://twitter.com/quarkswdr/status/1331842158446436353
716
siehe dazu Streitgespräch zwischen Heribert Prantl und Jörg Phil Friedrich vom 9. März 2024,
https://www.deutschlandfunk.de/corona-aufarbeitung-brauchen-wir-eine-enquete-kommission-prantl-vs-
friedrich-dlf-1afddfa1-100.html
147
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
1,5 Metern zwischen Personen noch eine Bedeutung für die Verminderung der Virusinfektion, darf
man angesichts der damaligen Datenlage dem Bereich Glauben zuordnen. Und welches Bild von
weihnachtlichen Saufgelagen die WDR-Redaktion wohl hatte, können wir nur erahnen.
Bsp.: Beim Austrian Corona Panel Project (ACPP) heißt es im Februar 2021:
>Der Mehrheit der österreichischen Bevölkerung ist bewusst, dass das Coronavirus gefährli-
cher ist als die normale Grippe. Dennoch gibt es noch immer etwa 16 Prozent, die dieser Fak-
tenlage nicht zustimmen.<
717
Hier wird ein Konvolut aus Tatsachenbehauptungen zu einer für allgemeingültig gehaltenen Mei-
nung, die wiederum als Tatsache dargestellt wird. Auch hier soll keine Sachdebatte eröffnet werden,
aber in der vorliegenden Pauschalisierung ist die Darstellung desorientierend. Zunächst müsste defi-
niert werden, was unter "Gefährlichkeit" verstanden wird, damit entsprechende Messungen und
deren Bewertungen nachvollzogen werden können. Danach müssten Fallgruppen unterschieden
werden. Denn es war von Anfang an mindestens stark zu vermuten und alsbald auch empirisch be-
legt, dass sich das Erkrankungsrisiko und entsprechende Krankheitsverläufe in Populationen deutlich
unterscheiden.
Bsp.: Noch deutlicher zeigt sich die unwissenschaftliche Vermischung von Tatsachen mit Meinungen
in der Langzeitstudie COVID-19 Snapshot Monitoring (COSMO)
718
.
>Unerwünschtes Verhalten
Aktionismus (Ergreifen unwirksamer Schutzmaßnahmen wie Gesichtsmasken tragen) ist rela-
tiv gering ausgeprägt. Unter 10 % sind vorsichtig beim ffnen von Postsendungen oder tra-
gen eine Gesichtsmaske. Mehr Aktionismus zeigen Personen, die COVID-19 als ernsthafte Er-
krankung einschätzen und mehr Vertrauen in die Medien haben. Weniger Aktionismus zeigen
Personen, die mehr Wissen über COVID-19 haben und von einer langsamen Verbreitung des
Virus ausgehen.<
719
Später wurde freilich das Nicht-Tragen einer Gesichtsmaske als unerwünschtes Verhalten definiert.
Da sich die Fakten nicht geändert haben können, handelt es sich unzweifelhaft bei der Etikettierung
um eine Meinung. Ähnliches zieht sich durch das gesamte Projekt.
Im Disclaimer heißt es hierzu übrigens: "Alle Daten und Schlussfolgerungen sind als vorläufig zu be-
trachten und unterliegen ständiger Veränderung." Daten können sich allerdings per definitionem
nicht ändern. Sie können nur anders bewertet werden oder sie waren falsch (also unrichtige Tatsa-
chenbehauptungen und damit gerade keine Tatsachen). Dass zu einem späteren Zeitpunkt andere
Daten erhoben werden, macht die vorherigen jedenfalls nicht falsch.
Bsp.: "Schwurbler" ist wohl unstrittig eine Wertung. Wer fair informieren möchte, beschreibt Perso-
nen und ihre Handlungen, so dass die Rezipienten selbst zu einer Wertung kommen können, auch zur
Wertung "Schwurbler" (oder "Verschwörungstheoretiker"
720
etc.). Ich habe in den drei Corona-Jahren
717
https://viecer.univie.ac.at/corona-blog/corona-blog-beitraege/blog99/
718
"Ein Gemeinschaftsprojekt von Universität Erfurt, Bernhard Nocht Institut für Tropenmedizin, Robert Koch-
Institut, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Leibniz-Institut für Psychologie und Science Media
Center. Finanziell unterstützt durch die Klaus-Tschira-Stiftung und das Bundesministerium für Gesundheit"
https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/about/
719
https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/archiv/01-02/cosmo-analysis.html
720
https://www.dw.com/de/kommentar-die-bequeme-schublade-f%C3%BCr-kritiker-der-corona-
ma%C3%9Fnahmen/a-53456662
148
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
zahlreiche Journalisten, die solche Etiketten in ihrer Berichterstattung gebraucht haben, nach der
objektiven Grundlage für diese Wertung gefragt. Bspw.:"Woran konnten Sie festmachen, dass die
von Ihnen beobachtete Demonstrationsgruppe aus 'Impfgegnern' bestand?" "Welche von Ihnen be-
obachteten Tatsachen sprechen für die Aussage, es handele sich um 'Corona-Leugner'?" Ich habe
keine einzige Antwort erhalten (wobei ich in der Regel zwei Mal erinnert habe, als letztes stets mit
eingeschriebenem Brief, um das Recherchebemühen meinerseits ggf. dokumentieren zu können).
Solche Nicht-Antworten sind selbstverständlich kein Beweis für irgendwas, sie sind aber andererseits
auch nicht geeignet, meine Hypothese von faktisch nicht grundierten Wertungen zu falsifizieren. Fakt
ist allerdings, dass auch Inhaltsanalysen von "rechtsalternativen Medien" nur sehr wenig finden, was
unter Verschwörungserzählung fallen könnte (Schmiege/ Engelmann/ Lübke 2023).
Bsp.: Giovanni di Lorenzo (Chefredakteur der Zeit) sagte in einer Übermedien-Umfrage
721
:
>Unterschiedliche Meinungen abzubilden, heißt nicht: alle Meinungen. Ein Coronaleugner
zum Beispiel hat in der ‚Zeit‘ nichts zu suchen. Oder ein militanter Querdenker. Oder ein
Schönheitschirurg, der allen Ernstes verbreitet, Corona sei nur ein Schnupfen, darf das gerne
im Netz herausposaunen, den aber als ernstzunehmende Stimme neben angesehene Virolo-
gen zu stellen, wäre ohne Zweifel False Balance. Solche Leute kann man als Phänomen be-
schreiben, eine freie Bühne darf man ihnen aber nicht geben.<
Dass Leugnen keine Meinung, sondern ein Ignorieren von Tatsachen ist, wurde hier schon mehrfach
dargelegt. Wo nun die Grenze für sagbare Meinungen verläuft, wird in diesem Statement nicht deut-
lich.
Bsp.: In seinem taz-Kommentar "Schluss mit der Schwurbelei"
722
von April 2024 verlinkt Autor Jonas
Reese aus seinem Satz "Coronaleugner:innen haben nichts in Talkshows verloren" auf einen Beitrag
über Gloria von Thurn und Taxis. Darin werden einige Zitatschnipsel der Regensburgerin referiert.
Was davon könnte Corona-Leugnung sein? Kein einziges beschäftigt sich mit der Pandemie. Zu der
heißt es nur:
>Gloria ein Name wie Donner, in ganz Deutschland bekannt. Eine Frau mit schillernder Bio-
grafie, die als jetzt 63-Jährige immer stärker Kritik auf sich zieht.
Sie befinde sich "am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums", meint etwa das
Bündnis Solidarische Stadt Regensburg. Gloria wird unterstellt, sie sei rassistisch und homo-
phob. Auch habe die erzkonservative Katholikin im Zuge der Coronapandemie mehr und mehr
verschwörungsgläubige Positionen eingenommen.<
723
Eine etwas dürftige Beweisführung für ein Talkshow-Verbot der "Coronaleugnerin".
Bsp.: Prof. Michael Haller und Team kritisieren einen Spiegel-Bericht
724
folgendermaßen:
>Journalisten wollen manchmal mehr sagen, als sie wissen: Obwohl der Ursachenzusammen-
hang unklar ist, wird so getan, als wisse man schon, „warum“ es so gekommen ist. Unser Bei-
spiel stammt vom Dezember 2020, als in Sachsen die Infektionsrate sehr hoch war: Die Auf-
721
https://uebermedien.de/68782/wer-hat-hier-versagt-wie-medienleute-auf-zwei-jahre-corona-
journalismus-zurueckblicken/
722
https://taz.de/Verschwoerungsmythen-bei-Aids-und-Corona/!6003292/
723
https://taz.de/Deutscher-Skandal-Adel/!5980592/
724
https://www.spiegel.de/panorama/corona-hochburg-sachsen-wein-party-und-saerge-a-00000000-0002-
0001-0000-000174629124
149
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
machung (Überschrift und Vorspann) des Berichtes formuliert eine diffamierende Behauptung
als Tatsache („Land der Verharmloser“) und nennt eine Unterstellung als Ursache („viele ha-
ben diese Pandemie nicht wirklich ernst genommen“). Es werden hier Vorurteile gefestigt,
noch ehe die Leser den durchaus differenziert und abwägend verfassten Bericht gelesen
haben.<
725
Die eine persönliche Abneigung zur Tatsache erhebenden Bezeichnungen wie "Corona-Leugner"
wurden hier schon mehrfach angeführt. Medienjournalist René Martens setzte aber noch einen drauf
und argumentierte gegen den Spiegel-Kollegen Dirk Kurbjuweit, der geschrieben hatte: >Ich stelle sie
[die Corona-Politik] nicht infrage, aber ich würde die Demonstranten auch nicht pauschal "Covidioten"
nennen, wie die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. Es ist noch weniger als sonst die Zeit, in der man etwas
genau wissen kann. Und deshalb ist derjenige, der eine andere Meinung hat, nicht ein Idiot, sondern
einer, der einer anderen Erzählung folgt.<
Martens kommentierte dies in seiner MDR-Kolumne:
>Das würde ich auch nicht tun, denn: Wer Ideologien pathologisiert, entpolitisiert sie. [...]
Dass er [Kurbjuweit] den Begriff "Covidioten" für nicht angemessen hält, begründet er auf
recht abstruse Weise: [es folgt der letzte Teil des obigen Zitats]
Wenn ein Journalist eines nicht gerade irrelevanten Mediums die Ideologie der Berliner De-
monstranten - Menschenhass und der Wunsch nach einem Massensterben - als "andere Er-
zählung" verniedlicht, dann lässt das für die künftige Berichterstattung einiges befürchten.
Das gilt auch für den "Ich bin kein Corona-Maßnahmen-Gegner, aber …"-Sound, den Kurbju-
weit anstimmt (siehe das erste Zitat aus dem Text).<
726
Man könnte natürlich auch fragen, welche Art von Journalismus wir hätten, wenn jede Demonstrati-
on, die einem Journalisten nicht aus der Seele spricht, als "Menschenhass und der Wunsch nach ei-
nem Massensterben" dargestellt würde. Belege - unser eigentliches Thema - bot Martens jedenfalls
nicht auf, sondern verhielt sich ganz wie der von ihm kritisierte Kurbjuweit
727
: er hört durch das ge-
öffnete Fenster und bastelt sich draus die Welt, die er dann beschreibt.
= Recherche statt Ignoranz =
Die sog. "alternativen Medien" haben in der Regel ihren Schwerpunkt bei der Kommentierung des
gesellschaftlichen und politischen Geschehens (wozu sie regelmäßig auf Darstellungen in den Mas-
senmedien zurückgreifen müssen). Auch das hat einen Wert, daher sollte der regelmäßige Blick in
diese Medien für die Redaktionen journalistischer Vollprogramme selbstverständlich sein, schließlich
sollen diese nicht nur über die Welt ihrer Kunden berichten, sondern gerade über die gesamte Viel-
falt (vgl. Kap. 6 Repräsentativität).
725
Das Projekt ist nicht frei zugänglich: https://top.fitfornews.de/course/wie-ich-mich-zuverlassig-informiere-
lehrkrafte/lesson/1/slide/7
726
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-1600.html#sprung1
727
In Kurbjuweits Text heißt es: >Ich war den ganzen Tag zu Hause, bekam nicht viel mit von den Ereignissen.
Die Fenster standen alle offen, es war ein heißer Tag. Am Abend fiel mir irgendwann die ungewohnte Ge-
räuschkulisse auf. Ständig Polizeisirenen, ständig Hubschrauber in der Luft. Es klang ein wenig nach Bürger-
krieg, über Stunden.< Martens schreibt dazu: > Ich weiß nicht, ob es für diese Form des Journalismus schon
einen Namen gibt: Man hört etwas durchs Fenster, wundert sich dann, dass Journalisten, die nicht nur etwas
gehört, sondern auch etwas gesehen haben, einen anderen Eindruck haben, und gibt dann in einem Artikel
dieser Verwunderung Ausdruck.< Dass Martens bei der Berliner Demonstration als Beobachter vor Ort war und
dabei Menschenhass und den Wunsch nach Massensterben vernommen habe, schreibt er hingegen nicht
150
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Fördern kleine Medien aber neue Tatsachen zutage, gehören sie entsprechende Relevanz voraus-
gesetzt (Kap. 8) ohne Wenn und Aber in die Berichterstattung. Schließlich ist es für das Orientie-
rungsangebot belanglos, von wem Informationen stammen bzw. auf welchen Wegen Tatsachen er-
kannt wurden (entsprechende Konkretionen gehören allerdings ggf. zum Qualitätsbereich Transpa-
renz).
Bsp.: Boris Reitschuster, bis 2015 Russland-Korrespondent für den Focus und vor Corona noch Per-
sona grata
728
, veröffentlichte am 15. Januar 2022 eine von ihm in Auftrag gegebene Umfrage zu
Impfnebenwirkungen. Im Beitrag seines Blogs
729
heißt es:
>INSA hat exklusiv für meine Seite 1.004 Erwachsene in Deutschland gefragt, ob sie geimpft
sind und ob sie Nebenwirkungen haben. Das Ergebnis lässt das offizielle Narrativ „kaum
Impfnebenwirkungen“ – einstürzen und bestätigt genau das, was zahlreiche Mediziner aus ei-
gener Erfahrung berichten. [...] 15 Prozent der Befragten gaben an, dass sie an starken Ne-
benwirkungen litten; auf die 57,60 Millionen Geimpften hochgerechnet sind das 8,64 Millio-
nen. Auch wenn die „Schwere“ der Nebenwirkungen sicher subjektiv ist – das offizielle Narra-
tiv, wonach es kaum schwere Nebenwirkungen gibt, ist nach dem Ergebnis dieser Umfrage
zerlegt. Und die Zahl entspricht eben genau dem, was uns zahlreiche Ärzte berichten.<
730
Der Ansatz, eine Abschätzung der Nebenwirkungen per Umfrage vorzunehmen, ist naheliegend und
es überrascht eher, dass dies nicht längst große und wesentlich finanzstärkere Medien gemacht hat-
ten. Doch sie griffen nicht einmal die Ergebnisse von Reitschuster auf. Sollte es an Misstrauen gegen-
über dem erhebenden Institut INSA
731
liegen und deshalb die Datenqualität bezweifelt werden
732
,
wäre eine eigene Befragung durch ein 'alternatives' Institut angezeigt. In jedem Fall wären die Ergeb-
nisse Rechercheauftrag gewesen stattdessen wurden sie ignoriert. Damit sind allerdings die Tatsa-
chen nicht aus der Welt.
Eine Kostenberechnung, die auf einer Umfrage zu Long-Covid-Symptomen beruhte, fand hingegen
Medienresonanz.
733
Bsp.: Im Februar 2022 hatte der Alleinvorstand der Krankenversicherung BKK ProVita, Andreas
Schöfbeck
734
, dem Paul-Ehrlich-Institut mitgeteilt, die ihm vorliegenden ärztlichen Abrechnungsdaten
"geben uns Grund zu der Annahme, dass es eine sehr erhebliche Untererfassung von Verdachtsfällen
für Impfnebenwirkungen nach Corona Impfung gibt." Weiter schrieb er:
728
https://www.deutschlandfunkkultur.de/boris-reitschuster-putins-verdeckter-krieg-trolle-statt-100.html
729
"umstrittene, rechte Online-Plattform" (Tobias Lill in: https://www.bayerische-
staatszeitung.de/staatszeitung/landtag/detailansicht-landtag/artikel/der-oldie.html )
730
https://reitschuster.de/post/exklusiv-umfrage-zeigt-wie-haeufig-starke-impfnebenwirkungen-wirklich-sind/
Nachfolge-Befragung November 2022: https://reitschuster.de/post/23-prozent-der-deutschen-klagen-ueber-
erhebliche-impfnebenwirkungen/
731
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=INSA-Consulere&oldid=232751631#Politische_Rolle_und_Kritik
732
Dass INSA 2016 "die Wählergunst für die AfD höher ansetzen als andere Meinungsforschungsinstitute" und
"die AfD als erste zweistellig gesehen" hatte, und zwar als " potentiell drittstärkste Kraft [...] vor Linken und
Grünen" wurde dem Institut als Nähe zum rechten Rand ausgelegt.
https://www.deutschlandfunk.de/meinungsforschungsinstitut-insa-umfragen-fuer-die-afd-100.html Tatsäch-
lich wurde dann bekanntlich bei der Wahl am 24.09.2017 die AfD mit 12,6 % drittstärkste Partei und Oppositi-
onsführerin.
733
https://taz.de/Langzeitfolgen-der-Pandemie/!5956714/
734
https://de.linkedin.com/in/andreas-sch%C3%B6fbeck
151
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Die Stichprobe umfasst 10.937.716 Versicherte. Uns liegen bisher die Abrechnungsdaten der
Ärzte für das erste Halbjahr 2021 und circa zur Hälfte für das dritte Quartal 2021 vor. Unsere
Abfrage beinhaltet die gültigen ICD-Codes für Impfnebenwirkungen. Diese Auswertung hat
ergeben, obwohl uns noch nicht die kompletten Daten für 2021 vorliegen, dass wir anhand
der vorliegenden Zahlen jetzt schon von 216.695 behandelten Fällen von Impfnebenwirkun-
gen nach Corona Impfung aus dieser Stichprobe ausgehen. Wenn diese Zahlen auf das Ge-
samtjahr und auf die Bevölkerung in Deutschland hochgerechnet werden, sind vermutlich 2,5-
3 Millionen Menschen in Deutschland wegen Impfnebenwirkungen nach Corona Impfung in
ärztlicher Behandlung gewesen.<
735
Hier war es das Alternativmedium Multipolar, das mit einer entsprechenden Meldung hervortrat.
736
Doch anstatt die Daten selbst zu bewerten und weiter zu recherchieren, skandalisierten die Medien
flächendeckend den "Alleingang" des Vorstands Schöfbeck, framten ihn bzw. seinen Datenanalysten
als Querdenker
737
und ignorierten mal wieder die Tatsachen. Der Tagesspiegel machte dabei gleich
mehrere Fehler (siehe Autopsie
738
). Bei Spiegel.de findet sich im Archiv zu "Schöfbeck" bspw. über-
haupt nur eine Meldung: "Krankenkasse entlässt Vorstand".
739
Ein vorheriger Artikel
740
hatte Kritik
von Funktionären aufgegriffen, sich aber nicht mit den Daten an sich und der zentralen Aussage be-
schäftigt, wegen Impffolgen habe es von Januar bis August 2021 Krankschreibungen mit insgesamt
383.000 Tagen Arbeitsausfall gegeben, während im selben Zeitraum lediglich 374.000 Ausfalltage
durch Krankschreibungen wegen COVID-19 registriert worden seien.
Erst sehr viel später kam das Thema Impfnebenwirkungen bzw. -komplikationen im Medien-
mainstream
741
an und ist, nachdem Gesundheitsminister Lauterbach im ZDF am 12. März 2023
742
"erstmals ausführlich Stellung zu den Folgen der Corona-Impfung"
743
genommen hatte, inzwischen
vom 'Schwurbel-Image' einigermaßen befreit.
744
735
https://img.welt.de/bin/brief%20PEI_bin-237107021.pdf
736
https://multipolar-magazin.de/artikel/mehr-impfnebenwirkungen
737
https://web.archive.org/web/20220418031559/https://www.tagesschau.de/investigativ/swr/bkk-provita-
studie-querdenken-101.html
738
https://www.spiegelkritik.de/2022/03/03/paul-ehrlich-institut-erfasst-keine-abrechnungsdaten-zu-
impfnebenwirkungen/
739
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/bkk-provita-krankenkasse-entlaesst-vorstand-andreas-
schoefbeck-a-9d84e4d1-b39b-4794-b660-cca1ef37121e
740
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/bkk-provita-krankenkassendaten-liefern-keinen-hinweis-auf-
untererfassung-von-impfnebenwirkungen-a-a2256003-d732-40b4-ae53-99a4c96f3a67
741
vgl. zum Begriff Krüger: Mainstream Warum wir den Medien nicht mehr trauen
https://journalistik.online/ausgabe-012018/uwe-krueger-mainstream-warum-wir-den-medien-nicht-mehr-
trauen/
742
https://www.zdf.de/nachrichten/heute-journal/heute-journal-vom-12-maerz-2023-100.html
743
https://taz.de/Folgen-der-Corona-Impfung/!5920335/
744
Ein MDR-Faktencheck (Ergebnis: "unbelegt") zu später in die Diskussion eingebrachten Zahlen der Kassen-
ärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bestand übrigens allein in dem Statement der KBV, ein Zusammenhang
zwischen Corona-Impfung und Sterbefällen lasse sich aus ihrer Sicht nicht herleiten. Eigene Recherche? Fehlan-
zeige. https://www.mdr.de/wissen/faktencheck/faktechcehck-kbv-daten-100.html
152
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Im April 2023 sammelte Querdenken 711-Gründer Michael Ballweg mit einer Online-Petition
Unterstützer für seine Forderung nach Verbesserungen in der Untersuchungshaft. In seinem Text
heißt es u. a.:
745
>Obwohl die Insassen bei einer Untersuchungshaft unschuldig, nicht angeklagt oder verurteilt
sind, gelten in der Untersuchungshaft generell strengere Bedingungen als bei verurteilten In-
sassen in Strafhaft. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Möglichkeiten, soziale Bindungen
zur Familie durch Telefonate und Besuche aufrechtzuerhalten. Mit den Corona-Maßnahmen
wurden seit dem 12.03.2020 alle Angebote für soziale Kontakte eingestellt und die Gefange-
nen befinden sich schnell ununterbrochen im Haftraum:
Montag bis Freitag: täglich 21,5 Stunden
Samstag und Sonntag: täglich 23,0 Stunden [...]
Am 09.06.2021 fand eine große Impfaktion in der JVA Stuttgart Stammheim statt. Es wurde
den Geimpften versprochen, dass sie wieder persönliche Besuche, Sportangebote und Spiele-
gruppen nutzen könnten und dass sich die Einschlusszeiten verringern würden. Viele Insassen
haben sich impfen lassen, die sich sonst niemals dafür entschieden hätten. Von den verspro-
chenen Freiheiten wurde keine einzige umgesetzt.<
Sowohl Ballwegs Darstellung von anhaltenden, mit der Pandemie begründete Einschränkungen für
Untersuchungshäftlinge als auch seine konkrete Behauptung, es sei mit nicht eingehaltenen Verspre-
chungen zur Impfung verleitet worden, verdienten journalistische Recherche. Tatsächlich brachte die
dpa eine Meldung, die von zahlreichen Medien übernommen wurde.
746
Nur: Auch die größte deut-
sche Nachrichtenagentur hatte auf Recherche vollständig verzichtet. Stattdessen schaffte sie es,
anlässlich der Petition von ca. 1700 Zeichen ihrer Meldung nur rund 200 auf diese zu verwenden. Der
Rest wurde gefüllt mit den sattsamen bekannten Statusberichten zur Person Michael Ballweg. Die
dpa-Passage zur Petition lautet:
747
>"Querdenken"-Initiator Michael Ballweg [hat] eine Petition für Gefangene gestartet. Es gehe
um einen Ausgleich für erschwerte Haftbedingungen durch Corona-Maßnahmen und eine
Rückkehr zum Normalbetrieb in Gefängnissen, [...]<
Bsp.: Ein besonders eklatanter Fall von globaler Rechercheverweigerung war die faktenfreie Über-
nahme des Labels "Verschwörungstheorie" für die Möglichkeit, das Corona-Virus könne aus einem
Labor stammen. Wirkmächtig dürfte eine entsprechende, kurze Erklärung am 19. Februar 2020 im
Fachmagazin Lancet gewesen sein, das u.a. von Christian Drosten mitgezeichnet wurde ("We stand
together to strongly condemn conspiracy theories suggesting that COVID-19 does not have a natural
origin").
748
Auch Wissenschaftsmagazine beteiligten sich an diesem Glaubenskampf, spätere Rückfra-
gen dazu blieben unbeantwortet.
749
745
https://www.change.org/p/kompensation-f%C3%BCr-corona-haftbedingungen-r%C3%BCckkehr-zum-
normalbetrieb-in-haftanstalten
746
https://www.rnd.de/politik/michael-ballweg-querdenken-gruender-startet-petition-fuer-gefangene-
DREZIOG7F5PYXF3O4I6K64VJZQ.html oder https://www.stern.de/gesellschaft/regional/baden-
wuerttemberg/untersuchungshaft---querdenken--gruender-ballweg-startet-petition-fuer-gefangene-
33380156.html
747
https://www.sueddeutsche.de/politik/demonstrationen-stuttgart-querdenken-gruender-ballweg-startet-
petition-fuer-gefangene-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-230416-99-336229
748
https://www.thelancet.com/journals/Lancet/article/PIIS0140-6736(20)30418-9/fulltext
749
https://www.bmj.com/content/374/bmj.n1656
153
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
= Recherche statt blindes Vertrauen =
Alles infrage zu stellen, sollte zu den Grundregeln im Journalismus gehören und somit stets Recher-
che gebieten. Doch einerseits werden viele Meldungen, insbesondere von Agenturen, aber auch aus
Pressemitteilungen und ähnlichen Quellen, regelmäßig ohne eigenes Fragestellen übernommen (und
allenfalls sprachlich bearbeitet). Andererseits liegt gelegentlich der Verdacht nahe, dass auf Recher-
che verzichtet wird, wenn die angereichten Informationen ins eigene Weltbild passen.
Bsp.: Dass die Covid-19-Impfung eine Millionen Menschenleben gerettet habe, wurde um den 17.
April 2023 herum flächendeckend von Medien vermeldet.
750
Wie eine genauere Betrachtung zeigt, ist
die Grundlage für diese Behauptung jedoch äußerst dünn. Nach der Forschungsgrundlage für die
Behauptung hat offenbar niemand gesucht (was zwingend notwendig gewesen wäre, um die Studi-
enmethodik zu verstehen). Die Behauptung, die lebensrettende Wirkung gehe "aus einem Bericht
der Weltgesundheitsorganisation WHO hervor, der am Montag veröffentlicht wurde"
751
, ist schlicht
falsch, was jedem aufgefallen wäre, der nach diesem Bericht gesucht hätte: es gibt ihn zu diesem
Zeitpunkt nämlich noch gar nicht.
752
Bsp.: Der Sagrotan-Wahn hatte sehr früh auch die Medien erfasst
753
und so kritische Distanz zu-
nichte gemacht. So wurde im Mai 2020 wohlwollend berichtet, die DB wolle künftig stärker die von
ihr verwalteten Bahnhöfe desinfizieren.
754
Zu Wort kommt im dpa-Bericht der unvermeidliche "Fahr-
gastverband Pro Bahn" (der mit etwa 4.000 Mitgliedern natürlich keineswegs die legitime Vertretung
der Bahnkunden ist). Aber zur Sinnhaftigkeit wurde nicht recherchiert (es bringt gegen die Übertra-
gung gar nichts) ebenso wenig zu möglichen Nebenwirkungen (Resistenzen und Eigenschaden bei
ungeschützter Benutzung
755
). Knapp drei Jahre später dann die Feststellung:
756
Desinfektionsstoffe
finden sich mittlerweile selbst im tiefen Wald und ihr intensiver Gebrauch erhöht die Gefahr resis-
tenter Krankheitskeime. Alles keine ganz neuen Erkenntnisse. 2003 hieß es daher vom Bundesinstitut
für Risikobewertung auch noch: "Desinfektionsmittel gehören nicht in den Haushalt".
757
Bsp.: Im Zuge der großen Medienfaszination für die Heimholung Deutscher aus Wuhan wurde auch
vermeldet sogar als Überschrift -, dass die Flugzeug-Crew nach Rückkehr ebenfalls medizinisch
750
z.B. https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/corona-impfstoffe-menschenleben-101.html
751
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/who-corona-impfstoffe-retteten-in-europa-mehr-als-eine-
million-leben-a-55496310-b080-48bb-a969-82ff983eb2d9
752
ausführliche Medienkritik bei https://uebermedien.de/83783/corona-impfung-eine-million-tote-verhindert-
eine-jubelmeldung-auf-wackeliger-grundlage/
753
daher der Essay-Titel "Desinfektionsjournalismus"
https://www.researchgate.net/publication/346642445_Desinfektionsjournalismus_Die_Corona-
Berichterstattung_ist_kein_Leuchtturm_der_Orientierung
754
https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/deutsche-bahn-bahnhoefe-sollen-staerker-desinfiziert-
werden/25871424.html
755
siehe Foto einer Bus-Desinfektion https://bus-kellermeier.de/hp1062/Corona-Updates.htm
756
https://www.hessenschau.de/gesellschaft/corona-pandemie-desinfektionsmittel-in-hessischen-acker--
wein--und-waldboeden-v1,corona-desinfektionsmittel-boeden-100.html
757
https://www.bfr.bund.de/de/presseinformation/2003/24/desinfektionsmittel_nur_mit_vorsicht_einsetzen_
-2336.html
154
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
untersucht werde.
758
Aber was wollten die (Bundeswehr-)Mediziner da finden? Eine Frage, deren
Beantwortung für die Einschätzung der Pandemiekompetenz recht erheblich gewesen wäre und
ggf. einen Ausblick auf hoheitliches Handeln der nächsten Monate gegeben hätte.
= Journalistische Ethik =
Ethische Fragen spielen zwar in der Qualitätsdebatte, vor allem aber in der praktischen Medienkritik
eine große Rolle, gehören aber im engeren Sinne gar nicht zur Qualität, da Ethik keine "Produktei-
genschaft" ist, sondern von außen zugeschrieben wird. Nach der für den Journalismus selbstredend
nicht maßgeblichen Normdefinition:
>3.6.2 Qualität
Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale (3.10.1) eines Objekts (3.6.1) Anforderungen
(3.6.4) erfüllt"< (DIN 2015: 39).
Ethische Aspekte sind daher keine Merkmale journalistischer Beiträge, genauso wie etwa der tat-
sächliche Nährwert keine Qualität eines Lebensmittels ist, weil er von der Resorptionsfähigkeit des
Individuums abhängig ist (wohl aber kann man den Zuckergehalt als Merkmal bestimmen, den
Brennwert und vieles weitere). Entsprechend sind auch in der Literatur oft gehandelte Kriterien wie
Unterhaltsamkeit keine Produkteigenschaften. Wer hier wissenschaftlich messen oder bestimmen
möchte, muss andere Parameter benennen, eben "inhärente Merkmale".
Ungeachtet dessen wird Journalismus aber immer auch eine Teilverantwortung für die von ihm mit-
geschaffene Realität tragen. Denn aus dem Schneider wäre er nur, verlangte man von seinen Kun-
den, stets alles selbst zu prüfen, nichts für richtig, vollständig etc. zu halten, was wohl kaum sinnvoll
sein kann. Allerdings wird man bestimmten Nutzergruppen eine stärkere Eigenkontrolle, ein intensi-
veres Nachdenken und eigenständiges Einordnen abverlangen können, insbesondere Politikern und
Wissenschaftlern.
Tatsächlich aber erlebten wir vielfach Zirkelschlüsse: Die Berichterstattung über Corona ist mit erheb-
lichen Defiziten behaftet, was sie zur Orientierung nur eingeschränkt und teilweise gar nicht tauglich
machte, doch mit der so verzerrten Realität arbeiteten Mediennutzer weiter und konstruierten so
immer schiefere Bilder der Welt.
Bsp.: So dienten schon sehr früh von den Medien zu Tatsachen erklärte Vermutungen zur Identifika-
tion und Diskrimination von "Verschwörungserzählern" (medienvulgär seit langem "Schwurbler"
genannt).
Auch unter Ethik kann man eine Einschränkung der Perspektivenvielfalt durch "Kontaktschuld" fas-
sen.
Bsp.: Im Beitrag "Journalismus in der Pandemie: Wie wir über Corona berichten und warum"
schreibt Pamela Dörhöfer, Wissenschaftsredakteurin für die Frankfurter Rundschau (FR):
>Bhakdi und Wodarg haben sich für die FR aber auch deshalb als Gesprächspartner diskredi-
tiert, weil sie in bestimmten "alternativen Medien" auftreten und Leuten Interviews geben,
die Verschwörungsmythen verbreiten. So ist Wolfgang Wodarg unter anderem im Gespräch
mit der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman zu sehen, die wegen rechtspopulisti-
scher Aussagen in Ungnade gefallen ist. Titel des Videos: "Krieg gegen die Bürger: Coronavirus
ein Riesenfake?". Sucharit Bhakdi tauscht sich mit dem Blogger Ken Jebsen aus, der die Platt-
758
https://www.rnd.de/gesundheit/ruckflug-aus-wuhan-muss-auch-die-luftwaffen-besatzung-in-quarantane-
LHKPP6D5RFEWBCIU6ETZTIZDWQ.html
155
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
form KenFM betreibt und der unter anderem das Video „Gates kapert Deutschland!“ ins Netz
gestellt hat. Im Online-Magazin „Rubikon“ ist ein Exklusivabdruck von Bhakdis Buch "Corona:
Fehlalarm?" zu lesen, das der Mikrobiologe gemeinsam mit seiner Frau Karina Reiß geschrie-
ben hat. "Rubikon" ist eine Art Leitmedium der Corona-Verschwörungsszene. Es bezeichnet
sich selbst als "Magazin für die kritische Masse", das über das berichtet, "was in den Mas-
senmedien nicht zu finden ist".<
759
Schon die Trennung von Sprecher und Argument muss für den Journalismus selbstverständlich sein.
Argumente auszusortieren, die von Personen stammen, welche mit unliebsamen Medien gesprochen
oder in ihnen veröffentlich haben, ist aber nochmal eine weitere Stufe der Diskursverengung.
= Leserbriefe als Stimmungsbarometer =
Eine Auswertung von Leserbriefen im hier bisher nicht betrachteten Liechtenstein zeigt für das Fürs-
tentum eine deutlich kritische Haltung gegenüber der Corona-Politik und entsprechend wohl auch
wenigstens in Teilen der Berichterstattung dazu. Das Liechtenstein-Institut hat alle im Liechtensteiner
Volksblatt veröffentlichten Leserbriefe ausgewertet (Frommelt/ Milic/ Rochat 2023: 41-43
760
).
Demnach äußerten sich die meisten Zuschriften kritisch gegenüber einschränkender Corona-Politik.
Zu Beginn fanden sich zwischen Februar 2020 und April 2020 noch "fast gleich viele Leserbriefe, wel-
che weitergehende Maßnahmen forderten, wie Leserbriefe, welche die Maßnahmen als zu weitge-
hend kritisierten." Sieben Autoren äußern sich positiv, 16 negativ zur Regierungspolitik.
"Deutlich anders präsentiert sich das Bild im Mai 2021. Von den 28 in diesem Monat publizierten
Leserbriefen wurde in keinem Leserbrief weitergehende Maßnahmen gefordert. Demgegenüber
wurde in 20 Leserbriefen die Maßnahmen und dabei insbesondere die Impfkampagne als zu
weitgehend kritisiert. Das Verhältnis von Leserbriefen mit einer expliziten Kritik an der Regierung zu
solchen mit einem expliziten Lob für die Regierung betrug 15 zu 2." (Frommelt/ Milic/ Rochat 2023:
42)
Von Oktober 2021 bis Dezember 2021 gab es 55 regierungskritische Leserbriefe gegenüber zwei lo-
benden, und nur vier Zuschriften forderten weitergehende Maßnahmen. Einige Leserbriefschreiber
traten im Beobachtungszeitrum mehrfach in Erscheinung.
= Politikkritik =
Nicht weniges, was Politiker während der Pandemie angeordnet, getan oder unterlassen haben, war
rechtswidrig. Es ist erstaunlich, wie wenig sich der Journalismus dafür interessiert hat - und stattdes-
sen Politikkritik überwiegend in dem vom Journalismus selbst konstruierten "Schwurblermilieu" ver-
ortet. Dabei sollte aufgrund des "Gewaltmonopols des Staates" Rechtswidrigkeit von Exekutive, Le-
gislative und Judikative weit schwerer wiegen als bei Bürgern. Rechtmäßiges Handeln ist die konstitu-
tive Voraussetzung eines Rechtsstaats.
Bsp. Geheimniskrämerei um die sog. Bund-Länder-Konferenzen: Journalisten haben es überwiegend
als notwendiges Übel hingenommen, von den Beratungen des Bundeskanzleramtes mit den Minis-
terpräsidenten und ggf. Gesundheitsministern der Länder nur über Verlautbarungen zu erfahren -
und gelegentlich über Durchstecherei einzelner Teilnehmer. Hier hätte man von Anfang an die
759
https://www.fr.de/politik/wissenschaft-mit-lichtgeschwindigkeit-90076388.html
760
https://www.liechtenstein-institut.li/publikationen/frommelt-christian-milic-thomas-rochat-philippe-2023-
die-corona-pandemie-aus-der-sicht-von-gesellschaft-politik-und-verwaltung-s
156
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Rechtmäßigkeit recherchieren können, was vor allem eine offene mediale Debatte dazu bedeutet
hätte. Noch im August 2021 lehnte es die Bundesregierung ab, der Oppositions-Fraktion "Die Linke"
Protokolle der Corona-Besprechungen zu überlassen.
>Dieses berechtigte schutzwürdige Interesse an einem geschützten Willensbildungs- und Ent-
scheidungsprozess, der einen nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbe-
reich einschließt, fällt in den Schutzbereich des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung.
Er umfasst auch Entwürfe zu Entscheidungen sowie Arbeiten und Beschlüsse zu ihrer unmit-
telbaren Vorbereitung.
Bei der gegenwärtigen Pandemie handelt es sich um einen fortdauernden Vorgang. Die pan-
demische Lage erfordert für einen weiterhin andauernden Zeitraum hinweg den Bedarf nach
Beratungen und Entscheidungen zu einer andauernden Krisenlage in einem geschützten Rah-
men.<
(BT-Drucksache 19/32222
761
)
Das VG Berlin (2 K 155/21
762
) entschied hingegen am 30.06.2022, dass für die Protokolle dieser Bund-
Länder-Sitzungen keine Geheimhaltung gelten könne.
763
Man muss in diesem Zusammenhang auch nach der investigativen Rechercheleistung fragen. Gibt es
sie schlicht nicht, wenn kein Amts- oder Geheimnisträger aus Eigeninteresse Informationen an die
Medien herausgibt? Jedenfalls sollte auch erfolgloses Recherche-Bemühen dokumentiert werden,
denn auch die entsprechenden Hürden gehören als Information zur Meinungsbildung des Publikums.
Übrigens waren andererseits die Gespräche, die Regierungssprecher Seibert nur mit ausgewählten
Journalisten zu den Bund-Länder-Konferenzen führte, wohl auch nicht rechtmäßig.
764
Die geheimen
Treffen Merkels mit Medienvertretern mussten aufgrund des Regierungswechsels laut OVG Berlin-
Brandenburg nicht mehr offengelegt werden.
765
= Fehlende Aufarbeitung =
Schon deutlich vor Ende der formalen Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus
am 7. April 2023 haben die Medien andere Schwerpunkte gesetzt insbesondere natürlich mit Be-
ginn des Ukraine-Kriegs. Davon betroffen ist offenbar auch das Interesse an einer nachträglichen
Aufklärung der politischen und medialen Leistungen (siehe Kap. 11.3).
Bsp.: Dass sich zahlreiche Maßnahmen als rechtswidrig herausgestellt haben, kann in seiner Bedeu-
tung kaum überschätzt werden zumindest, soweit einzelne Medien in ihrer seinerzeitigen Bericht-
erstattung nicht umfänglich zu dieser möglichen Rechtswidrigkeit recherchiert und publiziert haben
761
https://dserver.bundestag.de/btd/19/322/1932222.pdf
762
https://www.lda.brandenburg.de/lda/de/akteneinsicht/rechtsprechungsdatenbank/detail/~2-k-15521-
30062022-453e060b
763
vgl. hierzu BVerwG-Urteil zur Geheimhaltung statistischer Angaben zu Immunitätsverfahren von 2018:
https://www.tagesspiegel.de/politik/ermittlungen-gegen-parlamentarier-bleiben-geheim-4001443.html
764
https://www.bundestag.de/resource/blob/926438/2f2736dbbd015c28884c25e8b5c3ecd4/WD-3-154-22-
pdf-data.pdf
765
https://www.tagesspiegel.de/politik/merkels-vertrauliche-medien-treffen-mussen-nicht-mehr-
offengelegt-werden-5429704.html
157
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
(siehe Vollständigkeit, Kap. 4, und Recherche, Kap. 9). Eine unrechtmäßig handelnde Politik ist in
einer Demokratie nicht akzeptabel. So wurde die bayerische Quarantänte-Pflicht für Rückkehrer aus
sog. "Risikogebieten" (immerhin 10 Tage Absonderung!) im Juli 2023 für "unwirksam" erklärt.
766
Wer
dies in der Art "sie wussten es nicht besser" rechtfertigen will, muss mindestens dafür sorgen, künfti-
ge Rechtsbrüche zu verhindern. Es gibt bis heute m.W. keine journalistische Übersicht zu den von
Gerichten kassierten Verordnungen und Verfügungen.
767
Bsp. Isolations-Quarantäne: Die Anordnung eines Gesundheitsamtes, ein zweijähriges Kind von den
Eltern häuslich zu separieren, wurde wenig verwunderlich als rechtswidrig eingestuft (siehe Kap.
9). Weder wurde dieses staatliche Verhalten zu einem Eklat gemacht noch suchte der Journalismus
nach weiteren Fällen von Kindeswohlgefährdung und unrechtmäßiger Freiheitsbeschränkung durch
das Pandemie-Management.
Bsp. Quarantäne für ganze Wohnblocks: Auch solche Maßnahmen wurden von den Medien während
der Pandemie als quasi Normalzustand vermeldet
768
ohne Recherche zur Rechtmäßigkeit. Für Göt-
tingen (Polizeieinsatz "absolut gerechtfertigt"
769
) hat das örtliche Verwaltungsgericht nach dreiein-
halb Jahren die Rechtswidrigkeit bescheinigt (4 A 212/20).
770
Das gesetz- und verordnungsgeberische Handeln der Politik wurde vom Journalismus insgesamt
höchst unkritisch begleitet. Dazu sei erinnert an die Berichterstattung über eine Demonstration ge-
gen eine neuerliche Änderung des Infektionsschutzgesetzes am 18. November 2020, bei der zum
ersten Mal seit sieben Jahren von der Polizei in Berlin wieder Wasserwerfer eingesetzt wurden, ba-
sierend allein auf der Annahme, dass ein Unterschreiten des verordneten Mindestabstands bzw. das
Ignorieren der Maskenpflicht im Freien eine gesundheitliche Bedrohung der Allgemeinheit darstelle,
wofür es auch damals keinerlei belastbare Indizien gab (vgl. Eintrag zum 1. August 2020 im Abschnitt
"Markante Medienereignisse").
771
Bsp.: In einem RBB-Bericht spielte das Anliegen der Demonstranten überhaupt keine Rolle. Der ge-
samte Text beschäftigt sich mit der Auflösung der Demonstration, Festnahmen, dem Wasserwerfer-
einsatz und zehn verletzten Polizisten (zu denen wie üblich nicht geklärt wurde, wer oder was sie wie
766
https://www.br.de/nachrichten/bayern/bayerische-richter-corona-einreisequarantaene-war-
rechtswidrig,TlmuC49
767
s. behelfsweise
https://de.wikipedia.org/wiki/Juristische_Beurteilung_der_Ma%C3%9Fnahmen_gegen_die_COVID-19-
Pandemie_in_Deutschland
768
Berlin: https://www.rnd.de/panorama/berlin-neukolln-corona-ausbruch-in-wohnblock-hunderte-mieter-in-
quarantane-PI36QQ2G3JHPZF2HJWZK4Q2JBY.html
769
https://www.tagesspiegel.de/politik/polizeiprasident-nennt-einsatz-absolut-gerechtfertigt-6864679.html
770
https://www.telepolis.de/features/Eingesperrt-wegen-Corona-in-der-Nachbarschaft-Massnahme-war-
rechtswidrig-9546967.html
771
Tagesschau-Video
https://web.archive.org/web/20201129115152/https://download.media.tagesschau.de/video/2020/1118/TV-
20201118-1411-3000.websm.h264.mp4
158
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
verletzt hat z.B. das eigene Pfefferspray -, so dass die Ursache dem Kontext nach den Demonstran-
ten zugeschrieben werden muss).
772
Schon
773
im Mai 2020 hatte hingegen der Rechts-Professor Sebastian Kluckert in seinem später viel
gelobten Kommentar zum Infektionsschutzgesetz (IfSG) geschrieben:
"Im Rahmen des Vollzugs des IfSG und zur Bewältigung der Pandemiefolgen wurden zudem
auf Landesebene zahlreiche Regelungen erlassen allen voran die Maßnahmen zur Bekämp-
fung des Coronavirus, die zu in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellosen
Freiheitsbeschränkungen geführt haben. Viele Befugnisse, Ermächtigungen und Regelungen
sind juristisch hochumstritten." (Kluckert 2020, Vorwort)
Zur journalistischen Aufarbeitung würde natürlich an erster Stelle gehören, die eigenen Fehlinforma-
tionen zu korrigieren deren breites Spektrum auf den vorherigen Seiten angedeutet ist. Viele
Falschbehauptungen (die in allen mir bekannten Fällen schlicht auf faktenfreien Interpretationen
beruhen und bei einer Selbstverpflichtung zu exakter Quellennennung und -prüfung vermeidbar
wären) sind ins "kollektive Bewusstsein" übernommen und werden sich noch Jahre, wenn nicht Jahr-
zehnte halten.
Bsp.: Im Duden wird die Bedeutung des Begriffs "Querdenker" seit Ende 2020 neben der zuvor einzi-
gen Bedeutung als "männliche Person, die eigenständig und originell denkt und deren Ideen und
Ansichten oft nicht verstanden oder akzeptiert werden" wie folgt definiert:
>2. Anhänger, Sympathisant der politischen Bewegung „Querdenken“, die sich insbesondere
gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie, gegen Impfungen u. Ä.
richtet (und dabei auch Verschwörungserzählungen verbreitet)<
774
Damit wird die unpräzise Darstellung in den Medien quasi nachträglich legitimiert mit Folgen.
Bsp.: Die Tagesschau bezeichnete den verstorbenen grünen MdB Christian Ströbele in einem Nachruf
zunächst als Querdenker
775
und strich das Wort alsbald
776
. Der Begriff "Querdenker" ist inzwischen
diskreditiert.
777
772
https://www.rbb24.de/politik/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/11/demonstrationen-corona-
gegner-bundestag-infektionsschutzgesetz.html
773
"Schon", weil mit dem IfSG, über das an diesem 18.11.2020 im Bundestag beraten wurde, die Exekutive
noch weitere Ermächtigungsgrundlagen erhielt. Die Berichterstattung dazu fokussierte allerdings auf den von
Demonstranten verwendeten Begriff "Ermächtigungsgesetz", wie wohl solche Schlagworte im politischen Mei-
nungskampf höchstrichterlich zugelassen sind (vgl. BVerfG 1 BvR 1376/79 vom 22.06.1982 ("Die CSU [ist] die
NPD von Europa)) und die eigentliche Aussage der Parole klar war. Dazu hätte man allerdings über die Demo
selbst berichten müssen, nicht nur über deren Auflösung. Spiegel:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/infektionsschutzgesetz-warum-eine-ermaechtigungsgrundlage-
kein-ermaechtigungsgesetz-ist-a-2da2ec98-181e-46b8-9209-cf3c49b379c2 Zeit:
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-11/ermaechtigungsgesetz-infektionsschutzgesetz-
demokratie-corona-bundestag-debatte-vergleich-bpb
774
https://www.duden.de/node/117155/revision/1231819
775
https://archive.ph/9sIne
776
https://www.tagesschau.de/inland/nachruf-hans-christian-stroebele-gruene-101.html Gegenüberstellung:
https://twitter.com/OERRBlog/status/1564965971181375489
777
https://www.deutschlandfunkkultur.de/querdenker-medien-100.html
159
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Auch die vielen Fehlannahmen, die der Journalismus verbreitet hat, bedürften einer Aufarbeitung.
Denn was sich im Nachhinein als falsch herausgestellt hat, war dies zu jedem Zeitpunkt. Es ist daher
in jedem einzelnen Fall zu prüfen, wie es zu der damaligen Falschbehauptung kam. Wenn wir von
vereinzeltem Aktionismus absehen, haben wir es wohl in den meisten Fällen mit dem nun sattsam
bekannten Problem zu tun, dass Tatsachenvermutungen (Hypothesen, Prognosen) als Tatsachen
dargestellt wurden, was sie aber nie waren und was jeweils leicht zu recherchieren gewesen war,
meist schon durch genaues Lesen oder Zuhören, im Übrigen durch Nachfragen, Quellenprüfen und
natürlich stets eigenem Nachdenken.
Bsp.: Herdenimmunität. Neben einer Verlangsamung der Ausbreitung ("flatten the curve") war die
Bildung von Herdenimmunität das Hauptziel aller Politik
778
das vom Journalismus kaum hinterfragt
wurde.
779
Dabei gab es von Anfang an Warnungen vor einer Illusion, sterile Immunität bekommen zu
können. Anstatt hier Fehler einzugestehen ist es derzeit im Journalismus en vogue, wahrheitswidrig
zu proklamieren, man habe gar nie einen Ansteckungs- und Übertragungsschutz durch die Impfung
behauptet.
Der Glaube an eine "Herdenimmunität" kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Schließ-
lich leitete sich davon jede Menge Berichterstattung, die nicht selten Einzelpersonen an den Pranger
stellte und jegliche persönliche Entscheidungsfreiheit einer nur durch strikte Maßnahmenbefolgung
und Impfstoffapplikation zu bewahrenden bzw. wiederherzustellenden Volksgesundheit negierte.
Bsp.: Schutz der Vulnerablen. Die Spiegel-Redakteurinnen Rafaela von Bredow und Veronika
Hackenbroch waren sich Anfang 2021 so sicher, was die wissenschaftlich richtige Strategie der
Pandemie-Bekämpfung ist, dass sie im Interview mit Christian Drosten folgendes formulierten:
>Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben im vergangenen Jahr wohl Experten an-
gerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert
haben, zum Beispiel Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck. Priorität müsse es haben,
die Risikogruppen zu schützen, hörte man oft aus diesem Lager. Dabei ist längst klar, dass das
bei hohen Fallzahlen nicht funktioniert. Wann platzt Ihnen der Kragen?<
780
Drosten widersprach übrigens nicht, sondern sagte: >Wollen Sie, dass ich jetzt Kollegen namentlich
kritisiere? Ich halte nichts davon, ad personam zu gehen.<
Bsp.: Der "Fall Kimmich", der ungeachtet der DFB-internen Vorgänge ausschließlich ein Mediens-
kandal war.
781
Er gipfelte in paternalistischen bzw. einem "patriarchalische[m] Narrativ" (Zimmer-
mann 2022: 50) folgenden Kommentaren wie diesem von Virologin Melanie Brinkmann:
>"Ich bin auch gerne dabei, wenn er sich impfen lässt, wenn er eine Hand braucht während er
geimpft wird."<
782
778
https://www.focus.de/gesundheit/news/immunisierung-entscheidend-merkel-marke-eingeordnet-wann-es-
realistisch-ist-dass-die-corona-massnahmen-fallen_id_12639504.html
779
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/who-bremst-hoffnung-auf-herdenimmunitaet-a-1a330878-
ad55-4b59-a8c0-8ff736bff0ca
780
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/christian-drosten-wir-muessen-durchhalten-und-vor-allem-
auf-die-bremse-treten-a-9268683b-0415-4f09-b9f5-773bf2215cc1
781
https://www.welt.de/kultur/plus244325985/Corona-Impfung-Nebenwirkungsfrei-Wie-das-Team-
Lauterbach-Joshua-Kimmich-jagte.html
782
https://www.focus.de/corona-virus/impfung/bayern-star-weil-kimmich-die-impfung-verweigert-macht-ihm-
nun-eine-top-virologin-ein-angebot_id_24365534.html
160
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Für Desinteresse an einer Aufarbeitung der Berichterstattungsqualität spricht auch, dass es praktisch
keine umfassenden Datenzusammenstellungen gibt, die einen Überblick ermöglichen würden. Hatte
während der Pandemie von Lokalzeitungen bis bundesweiten öffentlich-rechtlichen Sendern fast
jedes Medium einen Live-Ticker oder wenigstens regelmäßig aktualisierte (und visualisierte) Über-
sichten zum Katastrophengeschehen, ist mir bisher nichts Vergleichbares begegnet, das eine nüch-
terne Rückschau ermöglichen würde.
Bsp.: Welche vom Journalismus verbreiteten Prognosen haben sich als falsch herausgestellt? Welche
positiv kommentierten Maßnahmen waren nutzlos oder rechtswidrig?
Wie üblich sucht der Journalismus auch bei der Aufarbeitung des Pandemiegeschehens vor allem
außerhalb seiner eigenen Reihen.
Bsp.: In einem wohl recht häufig verlinkten Beitrag
783
der Wissenschaftsjournalistin des Jahres
2021
784
zur Aufarbeitung verliert Autorin Christina Berndt erstaunlicherweise kein einziges Wort über
ihre eigene Arbeit, auch keines über die der Kollegen.
Bsp.: Der geschätzte Kollege Lars Weisbrod machte 2022 für den als unvernünftig empfundenen
Corona-Diskurs "Leute wie Homburg" verantwortlich, die "zwei Jahre lang nur absurden Quatsch
behauptet" hätten.
785
Bsp.: Anders Frank Lübberding, der im selben Jahr mit einer Zusammenstellung von Medienzitaten
"den kritischen Sinn für einen Diskurs schärfen [möchte], der sich in einem atemberaubenden Tempo
in den Kategorien des Freund-Feind-Denkens verselbständigte." Viele stellten zunehmend einen
Monopolanspruch.
786
Ein Problem bei der Aufarbeitung durfte ich ausgerechnet bei einem Interview mit mir zu dieser Ana-
lyse hier erleben, in dem ich bewusst als Negativbeispiel einen Mitarbeiter des mich befragenden
Mediums benannt hatte, um meine eigene Unabhängigkeit zu unterstreichen. Schon direkt danach
sagte mir der Redakteur, dass er dieses Beispiel wohl rausstreichen müsse, man könne da nicht ge-
gen das eigene Haus arbeiten...
Bsp.: Einen besonderen Fall mangelnder Aufarbeitung liefert der Tagesspiegel und nachfolgend min-
destens alle Medien, die über sein Auskunftsbemühen berichtet hatten: Die Berliner Tageszeitung
wollte von der Bundesregierung die Protokolle zu den Bund-Länder-Konferenzen haben. Diese Unter-
lagen hatte die Regierung zuvor schon dem Parlament verweigert
787
(was ebenfalls kaum irgendwo
Thema war). Der Tagesspiegel verklagte aber im Sommer 2022 die Regierung erfolgreich auf Heraus-
gabe nach dem Informationsfreiheitsgesetz (VG Berlin 2 K 155/22)
788
, die Protokolle wurden der
Klägerin "im Oktober 2022 zugänglich gemacht"
789
. Nur: Über ein Jahr lang berichtete der Tagesspie-
gel bisher nichts aus diesen ihm nun vorliegenden Protokollen zum Pandemie-Management. Der
zuständige Redakteur reagierte auf Anfrage nicht, die Pressestelle des Tagesspiegels leitete eine
783
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/corona-pandemie-pandemie-rueckschau-pandemie-fehler-
fehlerkultur-1.5747300
784
https://christina-berndt.de/auszeichnungen/
785
https://twitter.com/larsweisbrod/status/1555186124091441153
786
https://www.welt.de/kultur/plus237521777/Chronologie-Was-die-Medien-aus-Corona-machten.html
787
https://dserver.bundestag.de/btd/19/322/1932222.pdf (26.08.2021)
788
https://www.tagesspiegel.de/politik/bund-lander-treffen-zu-corona-regierung-will-protokolle-offentlich-
machen-8642947.html
789
Auskunft einer Pressesprecherin auf meine Anfrage dazu, 24.01.2024
161
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Anfrage dazu nur an diesen weiter. Es gehört zur Vollständigkeit der Berichterstattung, ein angekün-
digtes Thema auch zu bringen oder zu erklären, warum es nichts zu bringen gibt. Thema und Anfra-
gen dazu hingegen zu ignorieren ist nicht nur ein Versäumnis, sondern aktive Orientierungsblockade.
Aber offenbar hat sich auch bei den Kollegen, die über den juristischen Erfolg berichtet hatten, nie-
mand mehr für die Ergebnisse interessiert.
790
Der Öffentlichkeit wollte das Bundeskanzleramt die
Protokolle weiter nicht zugänglich machen
791
, eine spätere IFG-Anfrage war dann jedoch erfolg-
reich.
792
Aus der inzwischen doch mehrstelligen Zahl an Beiträgen, die eine - eben auch journalistische - Auf-
arbeitung der Corona-Zeit fordern:
Andreas von Westphalen: "Das Schweigen sollte enden" (drei Teile)
793
Video-Interview mit Prof. Klaus Stöhr (Welt)
794
Kaja Klapsa, Ricarda Breyton, Jan Alexander Casper und Andreas Macho: "Die sechs Lehren für
Deutschland aus der Corona-Zeit" (Welt)
795
Dabei haben keineswegs nur Politik und Journalismus ihre Arbeit selbstkritisch aufzuarbeiten und
extern evaluieren zu lassen.
796
Zu nennen sei insbesondere auch die Wissenschaft.
Bsp.: Schon relativ früh gab es zumindest Hinweise darauf, dass Wissenschaftler nicht ergebnisoffen
geforscht, sondern von der Politik gewünschte Ergebnisse geliefert haben, etwa für das Strategiepa-
pier "Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen"
797
:
>Im E-Mail-Wechsel bittet etwa der Staatssekretär im Innenministerium, Markus Kerber, die
angeschriebenen Forscher, ein Modell zu erarbeiten, auf dessen Basis „Maßnahmen präventi-
ver und repressiver Natur“ geplant werden könnten.
Die Wissenschaftler erarbeiteten dem Schriftverkehr zufolge in nur vier Tagen in enger Ab-
stimmung mit dem Ministerium Inhalte für ein als geheim deklariertes Papier, das in den fol-
genden Tagen über verschiedene Medien verbreitet wurde.
Darin wurde ein „Worst-Case-Szenario“ berechnet, laut dem in Deutschland mehr als eine
790
Beispielhaft eine dpa-Meldung, die sich ähnlich in zahlreichen Medien fand:
https://www.zeit.de/news/2022-07/01/kanzleramt-muss-protokolle-zu-corona-konferenzen-herausgeben
791
https://fragdenstaat.de/anfrage/veroeffentlichung-protokolle-bund-laender-konferenzen-zu-corona-
schutzmassnahmen/
792
ausführlich dazu: https://www.telepolis.de/features/Corona-Akten-Tagesspiegel-klagt-Protokolle-frei-
berichtet-dann-aber-nicht-9626002.html
793
https://www.telepolis.de/features/Corona-Untersuchung-Das-Schweigen-sollte-enden-9695736.html
794
https://www.welt.de/politik/deutschland/video250871854/Corona-Aufarbeitung-Die-Politik-hat-voellig-
evidenzbefreit-agiert-ohne-auf-Fachwissen-zu-hoeren.html
795
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus251009832/Corona-Aufarbeitung-Die-Sechs-Lehren-fuer-
Deutschland-aus-der-Pandemie.html
796
ausf. https://www.telepolis.de/features/Buerger-an-die-Macht-Ein-neuer-Ansatz-zur-Corona-Aufarbeitung-
9705020.html
797
https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/informationsfreiheit/das-interne-strategiepapier-des-
innenministeriums-zur-corona-pandemie Hintergrund:
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Strategiepapier_des_Innenministeriums_zur_Corona-
Pandemie&stableid=244687751
162
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Million Menschen am Coronavirus sterben könnten, würde das gesellschaftliche Leben so wei-
tergeführt wie vor der Pandemie.< (Welt am Sonntag, 07.02.2021
798
)
Der am Papier beteiligte Soziologe Heinz Bude (vgl. Bude 2022) sagte dazu am 24. Januar 2024: „Wir
haben gesagt, wir mussten, wir müssen ein Modell finden, um Folgebereitschaft herzustellen, das so
ein bisschen wissenschaftsähnlich ist.“
799
Budes Motivation nach eigenen Angaben:
>Was macht man mit dem Irrsinn der Leute? Man kann ihnen nicht ausreden und sagen „Es
ist alles Unsinn, was er sagt“. Das hilft nichts, da glauben Sie noch mehr daran. Was macht
man mit dem Irrsinn?<
Schnell-Check dazu: In den Medien Spiegel, Zeit, FAZ und SZ findet sich nichts zu diesem interessan-
ten Einblick ins wissenschaftliche Selbstverständnis.
Budes Kollege Armin Nassehi schrieb 2021 mit Blick auf die chinesische Corona-Bekämpfung von
einer "soziologischen Hoffnung aufs Durchregieren", "die zumindest in der ersten Lockdown-Phase
im Frühjahr 2020 auch in Deutschland möglich war".
800
Unter dem Stichwort "Fehlende Aufarbeitung" sei hier auch noch auf die Fälle verwiesen, in denen
Medien ihre eigenen Berichte zurückgezogen haben, ohne dann jemals aufzuklären, was daran den
eigenen Qualitätsanforderungen nicht entsprochen hat.
Bsp.: Ein MDR-Beitrag vom 12.12.2023 zu Verunreinigungen in Impfstoffen.
801
Er wurde kurz nach
Ausstrahlung zurückgezogen, sollte geprüft und dann transparent korrigiert werden - und blieb für
immer verschwunden. Einziges Statement dazu: > Dabei wurden unsere publizistischen Sorgfaltskri-
terien nicht eingehalten.<
802
Was nun falsch, unvollständig oder sonstwie desorientierend war, erfah-
ren all jene, die den Beitrag zuvor gesehen haben, nicht.
Zur Aufarbeitung innerhalb des Journalismus gehört auch ein Blick auf die Kommentierung. Meinun-
gen können zwar nicht falsch sein, aber sie können besser oder schlechter mit Argumenten unterlegt
sein (Rieg 2024
803
). Eine Argumentationsanalyse kann auch zeigen, was Journalisten als Tatsachen
annahmen und welche Vermutungen und Prognosen sie ausschlossen oder ignorierten.
Bsp.: In der FAZ schrieb Christian Geyer-Hindemith im Februar 2021 zu einem TV-Auftritt der frühe-
ren Bundesfamilienministerin Kristina Schröder:
>Kristina Schröder bewies ein apokalyptisches Vorstellungsvermögen, als sie mögliche Kolla-
teralschäden der Pandemie im Kindesalter beschrieb. Das ging von der Magersucht über die
798
https://www.welt.de/politik/deutschland/article225864597/Interner-E-Mail-Verkehr-Innenministerium-
spannte-Wissenschaftler-ein.html?
799
https://www.welt.de/kultur/plus250658831/Corona-Aufarbeitung-Einblicke-in-die-zynische-Welt-der-
Angstkommunikation.html dort zitiert nach: https://indikativ.jetzt/heinz-bude-und-der-umbau-der-
gesellschaft/ vollständiges Tagungsvideo: https://youtu.be/5j5WHi67-go?si=bliztzlM2qzV7TD3
800
https://www.chbeck.de/nassehi-unbehagen/product/32390717 zitiert nach
https://www.welt.de/kultur/plus250658831/Corona-Aufarbeitung-Einblicke-in-die-zynische-Welt-der-
Angstkommunikation.html
801
https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/corona-warum-loeschte-der-mdr-seinen-beitrag-
ueber-verunreinigte-impfstoffe-li.2169628; https://norberthaering.de/propaganda-zensur/mdr-zensur/; Kom-
mentierung René Martens: https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-3452.html#sprung1
802
https://archive.is/YJmon
803
https://www.spiegelkritik.de/2024/07/10/tatsachen-und-meinungen-ein-differenzierungsvorschlag/
163
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Kontaktunfähigkeit bis zur Suizidbereitschaft, all diese Parameter des Unheils jeweils in expo-
nentiellem Wachstum begriffen. Zutiefst verunsichert (Sollte man den Horror im eigenen
Nahbereich übersehen haben?) schaute der Fernsehkritiker noch einmal in den Betten seiner
fünf und acht Jahre alten Kinder nach. Sie schliefen evidenzbasiert ganz friedlich, was einem
im Lichte von Schröders exaltiertem Endzeitszenario beinahe unwirklich vorkam.<
804
Inzwischen kann niemand mehr bestreiten, dass all diese Kollateralschäden eingetreten sind.
805
Ein
kurzer Blick auf die eigenen zwei schlafenden Kinder war möglicherweise der Recherche nicht genug.
Auch andere Qualitätsdefizite früherer Berichterstattung werden durch spätere offenbar.
Bsp.: Im März 2020 berichtete die SZ über das Strategiepapier zur Corona-Bekämpfung aus dem
Bundesinnenministerium.
806
Von der darin beabsichtigten "Schockwirkung" ist dabei nichts zu lesen,
kritische Fragen bleiben ganz aus. Fast viereinhalb Jahre später beginnt ein Text von SZ-
Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt:
>Wie stand die Regierung zu dem Strategiepapier des Bundesinnenministeriums, das auf
„Schockwirkung“ in der Coronazeit setzte? Diese und andere Fragen sind unverzüglich zu klä-
ren.<
807
= Faktenchecks =
Mit zahlreichen sog. Faktenchecks bemühten sich vor allem öffentlich-rechtliche Sender wie der ARD-
Faktenfinder
808
oder der BR-Faktenfuchs
809
, Nachrichtenagenturen wie AFP
810
sowie gemeinnützig
und z.T. von der Wirtschaft dafür finanzierte Organisationen wie Correctiv
811
, Falschbehauptungen
zur Pandemie zu entlarven.
Falschbehauptungen aufzuspüren gehört zweifellos zu den Grundaufgaben des Journalismus. Aller-
dings ist das Bestandteil jeder gewöhnlichen Recherche. Deshalb stellt sich als erstes die Frage, wie
sinnvoll separate Faktencheck-Texte sind, zumal wenn sie sich mit besonders abseitigen, in den Ge-
804
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tv-kritik-zu-maybrit-illner-apokalyptische-folgen-der-
pandemie-17182312.html; während des zweiten Lockdowns verdreifachten sich die Suizidversuche unter 12-
bis 17-Jährigen: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132970/Zweiter-COVID-19-Lockdown-Zahl-der-
Suizidversuche-bei-Jugendlichen-in-Deutschland-nahm-zu
805
https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/corona-gesundheit-jugendliche-kinder-
schulschliessungen-pandemie-auswirkungen-100.html
806
https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-tests-strategie-1.4858950
807
https://www.sueddeutsche.de/meinung/corona-kommentar-rki-lux.3NP4jZQw7rZeYXHkpURRdL
808
https://www.tagesschau.de/faktenfinder
809
https://www.br.de/nachrichten/faktenfuchs-faktencheck,QzSIzl3
810
https://faktencheck.afp.com/list
811
bspw. Kooperation mit Facebook: https://correctiv.org/faktencheck/ueber-uns/2018/12/17/ueber-die-
kooperation-zwischen-correctiv-faktencheck-und-facebook/
164
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
neral Interest Media gar nicht verbreiteten Behauptungen befassen. Die Studienlage sagt: Es bringt
der Aufklärung wenig (Carey et al. 2022
812
).
Inhaltlich erweckt die kursorische Betrachtung der Faktenchecks aus der Pandemie den Eindruck,
eine deutliche Schlagseite zu haben. Denn gerade Aussagen von Regierungspolitikern, als angesehen
geltenden Wissenschaftlern und Journalisten der Massenmedien werden kaum mal geprüft, vor al-
lem aber werden bekanntgewordene Falschaussagen nicht in annähernd handhabbarer Form ge-
sammelt.
Bsp.: Wo ist die Sammlung der vielen Falschaussagen Karl Lauterbachs?
813
Auf Twitter wurden viele
seiner Kurzzusammenfassungen aktueller Studien (Ingo Arzt: "Studienlagen-Freestyling"
814
) als
falsch
815
oder wenigstens verzerrt enthüllt, ohne dass dies von Faktencheckern aufgegriffen wurde,
was angesichts seiner Reichweite bemerkenswert
816
ist und zumal die Studienlage eben zeigt, dass
der Confirmation-Bias in der Wahrnehmung von Informationen auf allen politischen Seiten zu finden
ist. Lauterbach selbst jedenfalls korrigiert sich so gut wie nie
817
und schiebt auch mal einen "techni-
schen Übertragungsfehler" vor.
818
Selbst vom Bundesgesundheitsministerium werblich gestreute Falschinformationen werden nur in
einzelnen Medien aufgegriffen.
Bsp.: Über Fehler in der Kampagne "Fakten-Booster"
819
berichtete die Welt ausführlich
820
, der Spiegel
nur für einen einzelnen Aspekt
821
, während sich in Süddeutscher Zeitung, FAZ
822
und 'Zeit' nichts dazu
findet.
812
vgl. dazu die bestätigenden Einschätzungen von vier Forschern aus Deutschland und der Schweiz:
https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/research-in-context/details/news/effekt-von-
faktenchecks-auf-falschwahrnehmungen-zu-covid-19/
813
außer bei Lobbygruppen: https://www.dkgev.de/dkg/presse/faktencheck/ oder in Blogs (12/2021):
https://brainpainblog.org/2021/12/06/zwischenruf-wenn-der-gesundheitsminister-der-herzen-uber-
wissenschaftliche-literatur-twittert/
814
https://www.zeit.de/gesundheit/2022-09/karl-lauterbach-stiko-corona-impfung-kommunikation
815
https://twitter.com/Helgolaender/status/1700971681597055294
816
https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus241175615/Tim-Roehn-Wie-ich-mal-versuchte-die-
Datengrundlage-eines-Lauterbach-Tweets-zu-erfragen.html
817
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/lauterbach-twitter-101.html
818
https://www.merkur.de/deutschland/lauterbach-korrigiert-sich-interview-corona-immunschwaeche-
technischer-ministerium-fehler-92043374.html
819
siehe beispielhaft Nr. 2:
https://web.archive.org/web/20220913113223/https://assets.ctfassets.net/eaae45wp4t29/1QVR99wQveaTQF
bxGE9xqz/ee1cdfdc5680dda2bb8708d5db77776f/400x570_BMG_Corona_2234_Faktenbooster_4Impfung_Adv
ertorial_GRZ_bf_03.pdf
820
https://www.welt.de/politik/deutschland/plus241194221/Falschbehauptungen-Aerger-um-den-Corona-
Fakten-Booster-der-Bundesregierung.html
821
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-gesundheitsministerium-muss-zahlen-in-
anzeigenkampagne-korrigieren-a-62ba7bd7-16f0-49f1-8326-c0551abd3f81
822
obwohl die FAZ einen Monat nach der vom BMG eingestandenen Fehler auf die Kampagne "Fakten-Booster"
verweist https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region-und-hessen/kliniken-in-hessen-durch-corona-amlimit-
18413874.html
165
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Die Bild stellte im Juni 2021 mal die "10 Corona-Irrtümer von Viren-Experte Lauterbach" zusam-
men.
823
Breiter thematisiert wurde seine mehrfache Behauptung, die Corona-Schutzimpfung sei ne-
benwirkungsfrei.
824
Aber eine kontinuierliche Prüfung seiner stets rege verbreiteten Aussagen gab es
nicht.
Wer sich etwa die Sammlung an Faktenchecks zu Covid-19 bei Correctiv anschaut, muss sich über die
Schlagseite bei der Auswahl des Analysematerials wundern. Widerlegt werden durchgängig Behaup-
tungen, die Kritik aus einer speziellen kritischen Haltung der Pandemiepolitik gegenüber stützen
könnten. Gegen diese Beiträge ist, so sie inhaltlich korrekt sind, überhaupt nichts einzuwenden. Doch
wenn gleichzeitig die Faktenchecks zu den tatsächlich wirkmächtigen Behauptungen der Massenme-
dien fehlen, sieht das nicht nur nach einer Agenda aus. Es lässt den Orientierungsuchenden geradezu
allein.
Die tatsächliche Qualität der einzelnen Faktencheks wäre eine eigene Studie wert, in der man u.a.
alle hier behandelten Kriterien prüfen könnte.
Bsp.: So wäre es etwa unter Vollständigkeit negativ zu verbuchen, dass Correctiv zwar formal korrekt
behauptet
825
, ungeimpfte Kinder wären vom Besuch eines Weihnachtsmarktes durch die 2-G-Regel
nicht ausgeschlossen gewesen (weil ein Impf- oder Genesenennachweis erst ab 18 Jahren erbracht
werden musste
826
), aber wohl kein Vater und keine Mutter auf die Idee käme, Kinder in einem Alter
wie auf dem faktengecheckten Bild zu sehen alleine auf den Weihnachtsmarkt zu schicken, während
sie als Ungeimpfte vorm Absperrzaun warten müssen womit die Kernaussage dann eben richtig und
nicht falsch gewesen wäre (wie aber leider der gesamte Faktencheck den falschen Ort geprüft hat).
(Die Überschrift lautete: "Foto erweckt falschen Eindruck ungeimpfte Kinder haben Zutritt zum
Weihnachtsmarkt".)
Zur Kritik an der gängigen Faktencheck-Praxis siehe Michael Andrick
827
, zu Fehlern des studentischen
Projekts "Faktenzoom" im Jahr 2016 Stefan Niggemeier
828
.
Bsp.: Man findet zahlreiche Faktenchecks, die Fehlinterpretationen von Aussagen Christian Drostens
belegen. Dieselben Redaktionen haben aber keine der nachweislich falschen Aussagen von Drosten
in einem Faktencheck entlarvt. Etwa im Zuge der "Aufarbeitung", er habe nie Schulschließungen
empfohlen.
829
Auch Drostens Prognose, das Corona-Virus werde erstmal nicht mutieren
830
, war falsch.
823
https://www.bild.de/ratgeber/2021/ratgeber/die-10-groessten-corona-irrtuemer-von-viren-experte-
lauterbach-76578602.bild.html
824
https://www.swr.de/wissen/post-vac-syndrom-wie-gefaehrlich-ist-long-covid-nach-impfung-102.html
825
https://correctiv.org/faktencheck/2021/12/13/foto-aus-rumaenien-erweckt-falschen-eindruck-ungeimpfte-
kinder-haben-zutritt-zum-weihnachtsmarkt/
826
https://web.archive.org/web/20220302171419/https://www.quedlinburg.de/de/startseite/adventsstadt-
quedlinburg-2021.html
827
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/was-tun-faktenchecker-an-den-moeglichkeiten-von-
wahrheit-sind-sie-nicht-interessiert-li.255165
828
https://uebermedien.de/5689/der-fehlerteufel-arbeitet-jetzt-als-faktenchecker/
829
https://x.com/Quo_vadis_BRD/status/1809171219574673755; zudem hält Drosten Schulschließungen im
Rückblick für sehr effektiv: https://www.youtube.com/watch?v=tsaQ57HzIxE Kritik der Ex-Ministerin Kristina
Schröder: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus252408798/Christian-Drosten-Im-Nachhinein-will-
er-nur-der-neutrale-Wissenschaftler-gewesen-sein.html
830
https//x.com/tomdabassman/status/1809896555438129503
166
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
11.3 Journalistische Journalismuskritik
Mit dem 'Ausschleichen' der Corona-Berichterstattung
831
und deutlicher vernehmbaren Bekundun-
gen, es sei nicht alles gut gewesen in der Corona-Politik, mehren sich auch (selbst-)kritische Stimmen
zu den journalistischen Leistungen während der Pandemie.
Bsp.: Alexander Neubacher, Leiter des Spiegel-Ressorts Meinung & Debatte:
>Doch was mich im Nachhinein umtreibt, ist, wie leicht die Freiheitsrechte in unserer angeb-
lich so liberalen Gesellschaft suspendiert wurden. Der Firnis der Zivilisation ist diesbezüglich
offenbar dünner, als ich glaubte. [...] Und wir Medien, auch wir beim SPIEGEL, die wir uns
gern als vierte Gewalt betrachten? Ich fürchte, der Diktator
832
in uns war ziemlich stark.<
833
Bsp.: Nachdem sich die dänische Boulevardzeitung Ekstra Bladet bei ihren Kunden für die Corona-
Berichterstattung entschuldigt hatte
834
, fragte der Branchendienst Übermedien im März 2022 be-
kannte(re) Journalisten in Deutschland nach Fehlereingeständnissen, ihrer Beurteilung der Medien-
leistung und Lerneffekten.
835
Selbstkritisches kam dabei wenig. Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur
der Zeit, sagte u. a.:
>In dem einen oder anderen Fall finde ich, dass Medien um Verzeihung bitten könnten für
Fehler, die sie in der Berichterstattung über die Corona-Pandemie gemacht haben. Aber ich
fände es anmaßend, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ich schaue lieber auf unsere Zei-
tung: Dass wir etwa das Medikament Remdesivir als große Hoffnung auf den Titel gepackt
haben, hat sich als Fehler herausgestellt. Das würde ich heute nicht mehr machen, auch wenn
das damals in redlichster Absicht recherchiert und beschrieben war. Es gab Studien, die Hoff-
nung machten, aber diese Hoffnung war verfrüht. Wir hätten das zurückhaltender präsentie-
ren müssen. Das gilt für vieles in unserer Branche: Die Tonlage ist immer wieder ein Problem.<
Peter Kloeppel (Chefmoderator RTL aktuell):
>Ein Teil der journalistischen Verantwortung lag und liegt deshalb auch darin, sich selber und
den Zuschauer:innen gegenüber ehrlich zu sein und zu sagen: Wir wissen auch nicht alles, und
schon gar nicht wissen wir alles besser. Dieses wichtige Eingeständnis fällt nicht immer
leicht.<
Korinna Hennig (NDR, u.a. Podcast "Coronavirus Update" mit Christian Drosten):
831
Der Spiegel etwa stellte (erst) am 11. März 2023 sein tägliches Update der Coronazahlen ein.
https://www.spiegel.de/backstage/coronavirus-in-eigener-sache-keine-neuen-corona-daten-mehr-beim-
spiegel-a-ffa2be53-08a6-4416-81dd-eb31944abdd5
832
Hierbei nimmt Neubacher Bezug auf eine frühere Kolumne von sich, in der es u.a. hieß: "Der Diktator in mir
sagt: Wir opfern unsere Freiheit für den Sieg über das Virus. Das ist nötig und richtig."
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-massnahmen-der-diktator-in-uns-kolumne-a-00000000-
0002-0001-0000-000174972850
833
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/verbote-in-der-corona-pandemie-wir-corona-versager-
kolumne-a-7bdd915e-d9db-4daf-8b09-21fbe49c533a ("Wir Coronaversager", in: Spiegel 11/2023: 19)
834
https://www.rnd.de/medien/daenemark-boulevardzeitung-entschuldigt-sich-fuer-corona-
berichterstattung-EH2L5OEHOZFNNHYIEG4ZA37TWU.html Demnach sagte der Chefredakteur u.a.: „Wir haben
uns in den regierungstreuen Chor eingereiht“.
835
https://uebermedien.de/68782/wer-hat-hier-versagt-wie-medienleute-auf-zwei-jahre-corona-
journalismus-zurueckblicken/
167
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>Wir Journalist:innen müssen uns selbstkritisch befragen, wie viele wichtige Themen wir ver-
nachlässigt haben. Nach dem ersten ‚Lockdown‘ konnten wir im Fernsehen reihenweise Schal-
ten zum Friseur sehen. Aber wie oft wurde wirklich ausführlich über die Nöte der Studierenden
berichtet? Über die sozioökonomische Seite der Pandemie, also über die Menschen, die in je-
der gesundheitlichen Frage ohnehin benachteiligt sind?<
Bsp.: In einem Interview mit Florian Felix Weyh sagte Stephan Russ-Mohl
836
im Deutschlandfunk
Kultur zu seinem Appell, man solle "skeptisch sein und eigenständig denken"
837
:
>Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ursprünglich stand da „querdenken“, aber das Wort ist ja nun
verbrannt inzwischen durch den politischen Diskurs.
838
Dann haben wir das so modifiziert, um die eigentliche Botschaft zu retten, dass wir einfach
uns nicht im Herdentrieb durch die Gegend bewegen sollten und dann möglicherweise auch
die Herde abstürzt, sondern dass wir möglicherweise auch als schwarzes Schaf gelegentlich
aus der Herde ausbrechen und den Mut haben, rational und eigenständig uns zum Beispiel
zwischen Covidioten und zwischen dem COVID-19-Panikorchester auf der anderen Seite zu
bewegen.<
Bsp.: Auch einige Rückblicke wie "Wissen Sie noch?! Zehn Kuriositäten aus dem Corona-Alltag"
839
vom 6. April 2023 bei SWR kann man als implizite Medienselbstkritik verstehen. Schließlich konnte
man sich nicht erst mit Monaten bis Jahren Abstand über viele Regeln und 'neue Normalitäten' wun-
dern, welche die Medien seinerzeit als ganz selbstverständlich vermeldet haben.
Bsp.: Heribert Prantl blickt im Podcast "Geyer & Niesmann" im Juli 2023
840
ein wenig selbstkritisch
auf seine Forderung, Demonstranten müssten sich bei ihrer Kritik an der Corona-Politik von "Reichs-
kriegsflaggen-Schwenkern" abgrenzen (veröffentlicht August 2020
841
). Aber ein paar Wochen später
habe ihm ein befreundeter Handwerker erzählt, dass er mit der ganzen Familie auf einer 'Corona-
Demonstration' war, auf der er keine Neonazis gesehen habe. Prantl paraphrasiert ihn: "Die Bilder,
die du im Fernsehen gesehen hast, habe ich nicht gesehen. Was hätte ich machen sollen? Soll ich gar
nicht hingehen? Wie stellst du dir die Abgrenzung vor? Muss ich vorher den ganzen Demonstrati-
onsweg ablaufen und schauen, ob da irgendwo irgendwelche Spinner sitzen? Wenn du ansonsten
immer das Grundrecht der Versammlungsfreiheit so hoch hältst ..." Er sei später nachdenklich ge-
worden, ob sein Satz "schaut, mit wem ihr zusammen da bei einer Demonstration mit ein paar zehn-
tausend Leuten demonstriert", weil es schlichtweg nicht geht. Da wäre er heute etwas vorsichtiger.
Schweden galt lange Zeit in den Medien als "Abweichler" in der Corona-Politik. Immer wieder wur-
den Einzelzahlen und Einzelbetrachtungen zur Bestätigung des vergleichsweise harten Kurses in
Deutschland herangezogen. Focus im April 2022: "'Fragwürdiger Laissez-faire-Ansatz' -
836
Zum Kontext siehe weitere Verweise auf Texte von Russ-Mohl
https://www.spiegelkritik.de/2020/10/20/medienkritik-zum-corona-journalismus-sammlung/
837
https://www.deutschlandfunkkultur.de/stephan-russ-mohl-ueber-corona-berichterstattung-ein-100.html
838
vgl. zum Begriff "querdenken" https://www.timo-rieg.de/2023/02/zur-ehrenrettung-des-querdenkens/
839
https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/drei-jahre-corona-absurditaeten-regeln-alltag-100.html
840
https://www.rnd.de/politik/talk-ueber-medien-und-grundgesetz-frieden-und-afd-verbot-heribert-prantl-zu-
seinem-siebzigsten-im-OSFP765NN5DKHFPSI5AZMGYXO4.html
841
https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-corona-demos-1.5015255
168
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Erschreckender Umgang mit Kindern: Studie zerlegt schwedischen Corona-Sonderweg".
842
Das Wis-
senschaftsmagazin Quarks (WDR) resümierte bereits im März 2021 in einem sehr abwägenden Bei-
trag: "Doch je länger die Pandemie andauert, desto stärker ähneln sich die Zahlen in Deutschland und
Schweden." Die Begründung ließ jedoch wenig Gutes am schwedischen Weg: "Zumindest teilweise
haben die Schweden aus den Fehlern der ersten Welle gelernt."
843
Bsp.: Politik-Redakteur Burkhard Ewert sagte dazu Ende Dezember 2022: "Entschuldigung, Schwe-
den".
844
Bsp.: Die gleiche Formulierung wählt Redakteur Velten Schäfer ein halbes Jahr später im "Freitag"
(25/ 2023): "Kritik an Corona-Sonderweg war deutlich überzogen: Entschuldigung, Schweden!"
845
Einer intensiveren Medien-Selbstkritik steht offenbar unter anderem im Wege, dass wie schon
während der Pandemie beliebig Zahlen als vergleichbar oder nicht-vergleichbar interpretiert wer-
den. Im Hinblick auf vermeintlich geringere Sterbezahlen, mal ausschließlich auf als von Corona ver-
ursacht ausgewiesen, mal in Form der sog. Übersterblichkeit, muss verwundern, wie viele Journalis-
ten gleichwohl und oft im selben Zusammenhang konstatieren, Deutschland sei recht gut durch die
Pandemie gekommen. Wie will man das bewerten, wenn Vergleiche mit anderen Ländern aufgrund
anderer Strukturen nicht zulässig sein sollen?
Bsp.: So resümiert Oliver Klein (ZDF) im März 2023 in seinem Beitrag "Übersterblichkeit in der EU
War Schwedens Corona-Sonderweg doch richtig?":
>Schweden kam mit vergleichsweise wenig Corona-Maßnahmen viel besser durch die Pande-
mie als zu Beginn befürchtet und verzeichnet eine relativ geringe Übersterblichkeit. Das spricht
dafür, dass der Weg für Schweden und seine Bevölkerungsstruktur angemessen war. Als Be-
weis, dass Corona-Maßnahmen keine Wirkung oder mehr Schaden als Nutzen haben, dient
Schweden nicht.<
846
Ein guter Ansatzpunkt für die Selbstkritik wäre seine Formulierung "besser als befürchtet". Denn wer
hat das denn befürchtet? 'Schweden' selbst natürlich nicht sondern Journalisten in Deutschland
(die sich dabei ggf. auf einzelne Stimmen beriefen
847
).
Auffällig ist aber unter dem Stichwort "Aufarbeitung" vor allem, wie viele Journalisten über ihre
schon damals kritikwürdigen Beiträge einfach durch Positionswechsel hinweggehen.
842
https://www.focus.de/corona-virus/kritik-an-liberaler-politik-fragwuerdiger-laissez-faire-ansatz-studie-
vernichtet-schwedische-corona-sonderweg_id_77553163.html Kritik am Begriff "Sonderweg":
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-in-schweden-das-missverstaendnis-vom-sonderweg-a-
45f2c75f-6cad-4733-af01-9e48e89f7f93
843
https://www.quarks.de/gesundheit/medizin/wie-sinnvoll-ist-der-schwedische-corona-sonderweg/
844
https://www.on-online.de/artikel/1326691/Ende-von-Corona-als-Pandemie-Entschuldigung-Schweden
845
https://www.freitag.de/autoren/velten-schaefer/entschuldigung-schweden
846
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-uebersterblichkeit-schweden-100.html
847
So bauten zahlreiche Beiträge auf die Einschätzung ("lebensgefährlich") einer schwedischen Schriftstellerin,
die etwa vier Jahrzehnte zuvor über Tumorviren promoviert hatte. Tagesschau:
https://www.tagesschau.de/ausland/corona-schweden-107.html RND-Interview:
https://www.rnd.de/gesundheit/virologin-und-autorin-lena-einhorn-jeder-schwede-hat-etwas-von-anders-
tegnell-in-sich-TYRPHQSY5ZG3DBXTFQY7FRUAOY.html
169
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: In einem Rückblick sagt Prof. Klaus Meier im Februar 2023 auf die Frage, ob Journalisten eine
gute Arbeit während der Pandemie gemacht haben:
>Das kommt darauf an, welche Maßstäbe man anlegt. Wenn man davon ausgeht, dass Jour-
nalismus in Zeiten der Pandemie die Aufgabe hat, politische Entscheidungen und Maßnahmen
zu vermelden und so dabei zu helfen, die Pandemie in den Griff zu bekommen, dann war der
deutsche Journalismus darin sehr gut. Die Kommunikation zwischen Politik und Medien sowie
zwischen Virologen und Medien lief bestens.
Wenn man aber sagt, Journalismus in einer Demokratie muss gerade in einer Extremsituation,
in der Grundrechte für lange Zeit beschnitten werden, skeptisch gegenüber politischen Maß-
nahmen sein ja auch "lästig" sein, er muss Diskurs ermöglichen, vielfältige Stimmen zu Wort
kommen lassen, Missstände aufdecken und Fehlentscheidungen anprangern, dann fällt das
Urteil schlechter aus.
Es gab einige kritische Recherchen unter den Journalisten, aber das waren einzelne, und oft
wurden sie in Redaktionskonferenzen zurückgepfiffen nach dem Motto: Pass auf, mit einer
solchen Recherche fütterst du Querdenker!
Der Journalismus war sehr vorsichtig damit, die Politik zu kritisieren und die vielschichtigen
sozialen Konsequenzen von Maßnahmen aufzuzeigen, das strittige Für und Wider von Maß-
nahmen sichtbar zu machen. Und der investigative Journalismus hat das Thema nahezu kom-
plett ignoriert. Viele Missstände lagen offen da, waren zumindest deutlich zu vermuten, wur-
den aber nicht recherchiert oder gar nachhaltig thematisiert. Nehmen sie den jüngsten Skan-
dal um viel zu teure PCR-Tests oder die aktuelle Aufdeckung von völlig überteuerten Impfdo-
sen. Das wird jetzt erst viel zu spät recherchiert, weil sich Journalisten vorher nicht damit be-
schäftigt haben. Wenn ein scheidender RKI-Präsident Lothar Wieler darauf hinweisen muss,
dass viele Fehlentscheidungen noch aufgearbeitet werden sollten, weil es bei politischen Ent-
scheidungen an Sorgfalt, Ruhe und Sachlichkeit gefehlt habe dann bedeutet das doch, dass
Gesundheitsministerien, Impfhersteller und RKI im Journalismus jahrelang sakrosankt wa-
ren.<
848
Bsp.: Wer in seinen nicht (nur) nachrichtlich, sondern (auch) moralisch zu eigen gemachten Impfap-
pellen die Möglichkeit von Nebenwirkungen und die daher selbstverständliche weil für jede medi-
zinische Behandlung notwendige individuelle Kosten-Nutzen-Abwägung unterschlagen hat, sollte
sich nicht herausschleichen, indem man nun deutlich später auch wie vom Himmel gefallen auf
Schädigungen verweist und Hilfe für diese Impfgeschädigten fordert.
849
Nicht vergessen werden darf auch, wie Journalisten ihre Fehlleistungen während der Pandemie be-
reits rechtfertigten.
Bsp.: In einem Kommentar der österreichischen Tageszeitung Standard rechtfertigte Eric Frey am 27.
April 2020 die einen Monat zuvor von Bundeskanzler Sebastian Kurz geäußerte Prognose, bald kenne
jeder jemanden, der an Corona gestorben ist. Die Daten gaben das seinerzeit nicht im Ansatz her -
und es kam auch nicht so.
>Wie das nun veröffentlichte Protokoll der Corona-Taskforce vom 12. März zeigt, wusste Kurz
damals, dass er den Teufel an die Wand malt. Er wollte den Menschen Angst machen, damit sie
Beschränkungen akzeptieren, deren Sinn sie nicht erkennen konnten. An diesem Tag gab es in
Österreich gerade 356 positiv Getestete und einen Corona-Toten.
Diese Schere zwischen Prognose und tatsächlichem Verlauf werfen viele dem Kanzler nun vor
848
https://www.pro-medienmagazin.de/journalismus-im-panikmodus/
849
https://twitter.com/argonerd/status/1701137403648545013
170
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
und sehen dies als Beweis dafür, dass alle Corona-Maßnahmen übertrieben sind. Aber Kurz und
sein Koalitionspartner haben mit dieser scheinbaren Übertreibung dem Land einen guten
Dienst erwiesen. [...]
Was im Rückblick wie Angstmache wirkt, war angemessen und zielführend.<
850
Was Kurz gesagt hat, ist weit weniger wichtig, als wie es die Medien kolportiert haben. Denn ohne
"Faktencheck", ohne Gegenargumente zu dieser sehr gewagten Vorhersage und ohne Einordnung
schon damals als "Angstmache" hat der Journalismus als Öffentlichkeitsarbeiter der Regierung geriert
- genau das, was Kritik von Anfang an sagen und was die Medien empört von sich weisen.
Auf mangelnde Recherche wurde von einzelnen Journalisten frühzeitig hingewiesen.
Bsp.: "Staatsräson als erste Medienpflicht?"
851
von Andrej Reisin, 17. März 2020 auf Übermedien und
daran anschließend Vera Linß 21. März 2020 auf Deutschlandfunk Kultur:
>Daneben ist es wichtig, Maßnahmen kritisch zu hinterfragen. Sicher ist es notwendig, dass
durch Corona Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Doch wo laufen diese Mittel Gefahr, dau-
erhaft Bestand zu haben? Darum gilt es, das Thema „Überwachung“ stärker aufzugreifen Denn
nicht nur in Ländern wie China oder Südkorea spielt Datentracking eine große Rolle in der Be-
kämpfung der Coronakrise. Auch in Europa und den USA ist das Thema längst angekom-
men.<
852
Nicht unterschlagen werden soll, dass journalistische Journalismuskritik wenig karrierefördernd
war.
853
11.4 Wissenschaftliche Journalismuskritik
Die nachfolgend aus systematischer Sicht der wissenschaftlichen Journalismuskritik zugeordneten
Positionen müssen nicht auf konkreter Forschung beruhen; es können auch schlicht Beobachtungen
von wissenschaftlich Tätigen sein, die ggf. journalistisch entstanden (und publiziert) sind. Sie sind
keineswegs automatisch gewichtiger als Äußerungen von Journalismusnutzern oder Journalismus-
produzenten. Allerdings wird unterstellt, dass sie ihre Beobachtungen vor dem Hintergrund langjäh-
riger Medienforschung interpretieren.
>Den Qualitätsmedien gelang es nur ausnahmsweise, aus der überbordenden Flut an Aussa-
gen zum Thema Corona wahrheitsfähiges Wissen zu generieren. Der überwiegende Teil ihres
Informationsangebots bestand aus hypothetischen, spekulativen, interpretativen oder bewer-
tenden Aussagen, die im Sprachkleid des Tatsachenberichts präsentiert wurden.<
(Michael Haller, Thesen zur Disputation "Pandemie: Wissenschaft-Politik-Medien", Leibniz-
Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, 14. Oktober 2021
854
)
850
https://www.derstandard.at/story/2000117145972/kurz-angstmache-hat-seinen-zweck-erfuellt
851
https://uebermedien.de/47188/corona-krise-staatsraeson-als-erste-medienpflicht/
852
https://www.deutschlandfunkkultur.de/journalismus-in-der-coronakrise-berichten-die-medien-zu-100.html
853
"Fall Ole Skambraks": https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/nach-corona-kritik-swr-und-
gekuendigter-mitarbeiter-ole-skambraks-schliessen-vergleich-vor-gericht-17912306.html; https://multipolar-
magazin.de/artikel/ich-kann-nicht-mehr
"Fall Katrin Seibold": https://uebermedien.de/69766/ex-zdf-mitarbeiterin-so-viel-aussteiger-pathos-war-
selten/
Anonyme Kritik an Kritiker: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/ja-es-gab-corona-unrecht-
aber-kann-man-das-weniger-schwurbelig-sagen-li.284507
854
https://leibnizsozietaet.de/wp-content/uploads/2021/09/Disputation-14.-Oktober-2021-BASIS.pdf S.16
171
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
In der bisherigen Forschungsliteratur finden sich vielfältige Befunde, die erstaunlich wenig als Journa-
lismuskritik interpretiert werden.
Bsp.: So etwa zur ständig unbelegten Behauptung mannigfach herumgeisternden Verschwörungs-
theorien:
>Der Anteil der Beiträge, die eine der vier Populismusformen im Sample enthalten, umfasst
lediglich 15,9 % (32 Beiträge).< (Schmiege/ Engelmann/ Lübke 2023 :447)
Nur drei von 202 untersuchten Beiträgen zeigten "inhaltliche Verknüpfungen zwischen Bezugsobjek-
ten und verschwörungstheoretischen Elementen", und alle drei stammen von PI News (ebd.: 449).
Die Autoren führen dazu aus:
>Die Bezugsobjekte, die mit verschwörungstheoretischen Handlungen verknüpft werden, sind
der wirtschaftlichen und der politischen Elite zuzuordnen. Diese Eliten wurden einerseits mit
der Zerstörung der (Welt-)Wirtschaft (Great Reset), andererseits mit der Errichtung eines
neuen Herrschaftssystems verknüpft. Dieses Herrschaftssystem wird als totalitäre „Corona-
Diktatur“ bezeichnet bzw. als Errichtung einer Diktatur, für die die Covid-19-Pandemie als
Vorwand dient.< (ebd.: 449f)
Bsp.: Anfang Mai 2020 stimmten von 178 befragten Virologen, Internisten und Intensivmedizinern
58% der Aussage zu: "Ich empfinde die mediale Berichterstattung als sensationslüstern" (Schindler/
Moritz/ Gallinat 2020
855
). 39% meinten, es werde "Panikmache betrieben", und 30% bejahten: "Kriti-
sche Stimmen, die Panikmache vorwerfen, werden zu selten gehört oder fertig gemacht" (ebd.).
Bsp.: Holger Wormer (Journalistik TU Dortmund) sah die Selbstdarstellung von Wissenschaftlern und
ihren Institutionen bereits im Mai 2020 kritisch
856
:
>However, more TV professors as solo entertainers and cheap content producers are not a so-
lution for keeping the public informed. Competently selected scholars from a wide range of
disciplines are important discussion partners in journalistic media. But they need informed
and critically inquiring journalists as counterparts. This especially applies to government sci-
entists, who must not be accompanied by mere announcement journalism.< (Wormer 2020:
469)
Im September 2020 konstatierte Wormer zum Podcast "Coronavirus-Update"
857
mit Christian Dros-
ten:
>So, wie es der NDR gemacht hat, war es mir doch häufig zu affirmativ. Wenn man einem
Forscher einfach eine Plattform zur Verfügung stellt, auf der er seine Sicht der Dinge erzählen
kann, dann ist das vielleicht ein lehrreiches Format der Wissenschaftskommunikation, es hat
aber nichts mit Journalismus zu tun. In so einem medialen Umfeld braucht es meiner Meinung
nach mehr Interaktion und kritische Nachfragen. Da muss vielleicht auch mal eine Diskussion
855
https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/pressemeldungen/261
856
Interview dazu: https://www.wissenschaftskommunikation.de/mehr-einordnung-und-kritische-nachfragen-
was-der-journalismus-in-der-coronakrise-besser-machen-koennte-41981/
857
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Der-Podcast-mit-Christian-Drosten-Sandra-
Ciesek,podcastcoronavirus100.html
172
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
entstehen: "Moment mal, da gibt es doch eine Kontroverse?" Oder: "Eine andere Studie wi-
derspricht aber Ihrer These, dass …".<
858
Bsp.: Aus Sicht eines Naturwissenschaftlers kritisierte Bernhard Müller
859
bei Cicero am Beispiel einer
FAZ-Rezension
860
ein >respektlose[s] Verhalten, das prominente deutsche Wissenschaftsjournalisten
während der Pandemie des Öfteren an den Tag gelegt haben<.
>[Des FAZ-Autors] wiederholte Polemiken gegen John Ioannidis, Mai-Thi Nguyen Kims über-
heblich-infantiler Angriff auf Hendrik Streeck bei Markus Lanz, Christina Berndts grundlose,
destruktive Mäkelei an nicht eingepflegten Referenzen in einem Entwurf des Evaluationsbe-
richts zum Infektionsschutzgesetz dies alles waren Grenzüberschreitungen von Wissen-
schaftsjournalisten, die sich weit jenseits ihres professionellen Kompetenzbereichs zu Ober-
schiedsrichtern aufgeschwungen haben. Dass solche Attacken teilweise das unausgesproche-
ne Placet manch höherer Chargen im deutschen Wissenschaftssystem fanden, macht sie nur
umso bedenklicher. Der deutsche Wissenschaftsjournalismus täte gut daran, den Vertrauens-
verlust aufzuarbeiten, den derlei Respektlosigkeit unter Forschern ausgelöst hat. [...]
Wenn es problematische Tendenzen gab eine zu starke Vorsortierung wissenschaftlicher
Meinungen, eine ausgeprägte Affirmation von Macht- und Prestigestrukturen im deutschen
Forschungssystem, blinde Flecken bei der Recherche , so sollte man darüber im wertschät-
zenden Dialog auf Augenhöhe mit Öffentlichkeit und Wissenschaft sprechen. Aber wo Journa-
lismus ehrbare und solide Wissenschaft mit der Attitüde intellektueller Überlegenheit abge-
kanzelt hat, muss er von diesem hohen Ross ein für allemal herabsteigen. Kaum etwas behin-
dert die rationale Aufarbeitung der Pandemie mehr als der Missbrauch dominanter Positio-
nen auf dem Markt der Aufmerksamkeit.<
861
= Fehlende Differenzierung der Kritik =
Journalisten wie Journalismusforscher unterscheiden vielfach in der Bestimmung der kritischen Hal-
tung in Medien nicht, um welche konkreten Forderungen es geht, in welche Richtung die Kritik zielt.
Das führt dazu, dass bspw. die Forderung nach mehr und weniger staatlichen Maßnahmen in der
Pandemie in einen Topf geworfen und ggf. als Regierungskritik zusammengefasst werden (z.B. Mau-
rer/ Reinemann/ Kruschinski 2021: 44).
Manche Rezipienten-Kritik wird systematisch ausgeblendet, indem sie a priori als unzulässig oder
unzutreffend bewertet wird.
Bsp.: In der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen wird zwar die Zustimmung oder Ablehnung
"der Medien" recht pauschal erfasst, doch bestimmte Pauschalkritik gilt als nicht satisfaktionsfähig.
Denn, so die Begründung, als "Medienzynismus" bezeichnete Einstellungen
858
https://www.wissenschaftskommunikation.de/mehr-einordnung-und-kritische-nachfragen-was-der-
journalismus-in-der-coronakrise-besser-machen-koennte-41981/
859
Associate Professor, School of Physics and Astronomy, Monash University, Australien,
https://research.monash.edu/en/persons/bernhard-mueller
860
"Die zwei Weisen aus dem Zirkus Corona" von Joachim Müller-Jung,
https://www.faz.net/aktuell/wissen/die-zwei-weisen-aus-dem-zirkus-corona-19531349.html
861
https://www.cicero.de/kultur/wissenschaftsjournalismus-corona-faz
173
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>gehen über konstruktive Skepsis und Kritik im öffentlichen Diskurs hinaus und zeichnen sich
vor allem durch undifferenzierte Ablehnung des gesamten Mediensystems und Nähe zu Ver-
schwörungserzählungen aus. Typische Unterstellungen, die im Rahmen der „Lügenpresse-
Debatte“ immer wieder auftauchten, sind beispielsweise, dass die Medien mit der Politik
Hand in Hand arbeiten, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren (2023: 23% Zu-
stimmung) bzw. dass die Bevölkerung von den Medien systematisch belogen wird (2023: 17%
Zustimmung).< (Quiring et al. 2024: 7)
Die vier Aussagen, zu denen nach Zustimmung gefragt wird, lauten:
Die Medien untergraben die Meinungsfreiheit in Deutschland.
Die Medien sind in der Bundesrepublik lediglich ein Sprachrohr der Mächtigen.
Die Medien und die Politik arbeiten Hand in Hand, um die Meinung der Bevölkerung zu manipulieren.
Die Bevölkerung in Deutschland wird von den Medien systematisch belogen.
Jeder darf sich selbst fragen, wie man pauschale Statements zu "den Medien" einordnen mag oder
können soll. Dass allerdings bestimmte Pauschalurteile, wenn man sie schon erhebt, ohne jede Tat-
sachenprüfung als "Medienzynismus" etikettiert werden, ist mit Erkenntnisinteresse nur wenig zu
begründen. Rezipientenmeinungen sagen natürlich grundsätzlich nichts über tatsächliche Inhalte aus,
sondern allenfalls über wahrgenommene - aber genau danach wird ja beim Vertrauen gefragt. Dafür,
dass sich zahlreiche Medien während der Corona-Pandemie freiwillig zum Sprachrohr der Regierun-
gen gemacht haben, sprechen viele Fallbeispiele dieser Sammlung, darunter Bekenntnisse von Jour-
nalisten selbst. Wer Unvollständigkeiten und Verzerrungen bei einem Thema erlebt hat, darf daraus
eine Grundskepsis ableiten, die nichts mit Zynismus zu tun haben muss.
= Journalistische Kritik an der Wissenschaft =
Auch die Medienkritiker des "Unstatistik"-Teams sind zu Beginn der Pandemie mit ihrem biologisch-
medizinischen Unwissen einer groben Fehleinschätzung erlegen.
862
Sie haben wie so viele Modellie-
rer ein exponentielles Wachstum als gegeben angenommen, obwohl es nur in der Theorie über eine
längere Zeitspanne existieren kann. Bei einer Vielzahl von Kontakten insbesondere mit einer für die
Übertragung relevanten Dauer treffen im echten Leben immer wieder dieselben Menschen aufei-
nander (Familie, Schule, Arbeit, Freizeit). Und unter den Neukontakten finden sich zwangsläufig zu-
nehmend Menschen, die bereits infiziert sind und sich somit nicht neu anstecken können. Kontinuier-
lich steigt auch der Anteil derer, die bereits genesen sind (und damit fast immer vor einem behand-
lungsbedürften Verlauf geschützt sind, mit Blick auf die Auslastung der Krankenhäuser also keine
Rolle spielen). Insgesamt ergeben sich somit weit weniger Infektions- und Erkrankungsmöglichkeiten,
als dies theoretische Modelle ohne Berücksichtigung der menschlichen Biologie vorhersagen. Ent-
sprechend gab es auch nie ein anhaltendes exponentielles Wachstum, sondern stets nur Wellen.
863
Nach zwei Jahren wurden insgesamt 10 Millionen Infektionen gezählt.
864
Für ein anhaltendes expo-
nentielles Wachstum hingegen müssten sie immer in gleicher Zahl neuen Individuen begegnen, die
862
https://www.rwi-
essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/archiv/2020/detail/corona-pandemie-
statistische-konzepte-und-ihre-grenzen
863
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1181971/umfrage/aktive-faelle-des-coronavirus-in-
deutschland/
864
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1102667/umfrage/erkrankungs-und-todesfaelle-aufgrund-
des-coronavirus-in-deutschland/
174
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
noch keinen Kontakt zum Virus hatten. Das klappt schon in einer Petrischale unter Laborbedingungen
nicht.
Zu den vom Journalismus nur selten thematisierten Fehlern von Wissenschaftlern gehören ihre unge-
zählten Fehlprognosen. Sie wurden vor allem mit dem sog. "Präventions-Paradox" gerechtfertigt.
865
Danach stimmten die Vorhersagen nicht, weil die Menschen sich anders verhalten hätten, nämlich
vorsichtiger, gemäß den Empfehlungen ("der Wissenschaft"). Doch genau diese Verhaltensänderun-
gen einzupreisen ist Aufgabe jeder Modellierung - andernfalls ist sie blanke und belanglose Theorie
für nicht lebende Menschengruppen. Was, wenn nicht das Verhalten von Menschen, wollen Epide-
miologen sonst vorhersagen?
Dass auch Wissenschaftler mitunter darin fehlen, Tatsachen von (ihren) Meinungen zu unterschei-
den, wurde hier bereits erwähnt (s. COSMO-Studie)
Bsp.: So findet sich mitten in der Darstellung von Ergebnissen einer Bevölkerungsbefragung zur Ein-
schätzung, welche Länder besser durch die Pandemie gekommen seien als Deutschland:
>Auch wenn dies manche Anhänger von Verschwörungstheorien anders sehen mögen,
erfolgten die Einschränkungen der Freiheit nicht, um eine Corona-Diktatur zu
installieren und auch nicht um ihrer selbst willen. Mit den Maßnahmen wurde vielmehr
das Ziel verfolgt, die Gesundheitskrise in den Griff zu bekommen.< (Wolling/ Kuhlmann/
Schumann/ Berger/ Arlt 2021: 114).
Ein solcher Einschub ist nicht nur überflüssig, er zeigt eine Arroganz der Forscher nach dem Muster:
wir sind die Schlauen, ein Teil unserer Forschungsobjekte sind die Dummen. Grundsätzlich schadet es
wissenschaftlichen Publikationen - insbesondere aus Journalistik und Kommunikationswissenschaft -
nicht, einige der journalistischen Qualitätskriterien auch auf die eigene Arbeit zu beziehen. Bei Be-
antwortung der siebten W-Frage wären dann die Belegprobleme offenbar geworden.
Bsp.: Thorsten Faas und David Schieferdecker schreiben im abschließenden Sachbericht zu "RAPID-
COVID: Rezeption und Akzeptanz öffentlicher Informationen trotz Polarisierung. Der Schlüssel zum
Erfolg gegen COVID-19“:
>Der besondere Stellenwert von Symbolen zeigt sich auch am Beispiel der Maskenpflicht, die
als Einzelmaßnahme die größten Kontroversen auslöste, obwohl sie im Vergleich zu anderen
Maßnahmen weit weniger in individuelle Freiheiten eingriff.<
866
(S. 4)
Wie weit eine Maßnahme in "individuelle Freiheiten" eingegriffen haben, können wohl nur die Be-
troffenen selbst bewerten - eine klassische meinungsfrage. Für eine objektive Messung sind keinerlei
Kriterien benannt. Entsprechend messen Faas und Schieferdecker das Konfliktpotential ausschließlich
an ihrer persönlichen Meinung.
Eine Wir-gegen-die-anderen-Haltung ist auch in der Forschung immer wieder zu beobachten.
Bsp.: Schon aus Fragestellungen und entsprechend Nicht-Fragestellungen spricht oft Erkenntnisdes-
interesse. Denn regelmäßig gibt es anscheinend Nicht-Klärungsbedürftiges (bei Positionen ist dies
dann zugleich die der Forscher) im Gegensatz zu Unverständlichem, Unverstandenem, Merkwürdi-
gen, das es zu ergründen gilt. So ist an einer Studie zu "Medieneinstellungen und -erwartungen von
865
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-wissenschaft-in-der-kritik-wie-zuverlaessig-sind-
modellierungen-a-89452cdd-5f57-4bee-9ac5-eedd3de35d12
866
https://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/systeme/empsoz/forschung/rapid-
covid/_ressourcen/BMBF_Sachbericht_RapidCovid_01Kl20539_TIB.pdf (S. 4)
175
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
COVID-19-Skeptiker*innen" (Kosyk/ Kirsten/ Scheu/ Uth 2023) nicht in erster Linie die geringe Da-
tenbasis von 12 Interviews mit irgendwelchen, als Zielgruppe nicht näher definierten "Wissenschafts-
und COVID-19-Skeptiker*innen" aus 23 (sic!) Facebook-Gruppen zu kritisieren, sondern dass nicht
gleichzeitig in die andere Richtung geforscht wurde, also: 'Warum vertraut ihr Nicht-Skeptiker eigent-
lich der Medienberichterstattung zur Pandemie, wie informiert ihr euch, wieviel wisst ihr, welche
Unzulänglichkeiten deckt ihr selbst auf etc. Stattdessen wird normativ ein Normalfall gesetzt (Medi-
envertrauen), dem eine Abweichung gegenübergestellt und die punktuell beleuchtet wird?'
Um nicht missverstanden zu werden: Studien wie die zitierte können verdienstvoll sein. Aber ohne -
mit gleicher Methodik gewonnene - Vergleichswerte bieten sie keine Orientierung. Um es mal zuzu-
spitzen: Eine Studie zum Analphabetismus unter diesen "Skeptiker*innen" würde wohl ergeben, dass
es deutlich geringer als in der Gesamtbevölkerung ist (denn sonst wären sie nicht in Facebook-
Gruppen). Doch was sollte man daraus folgern? Dass Lesekompetenz zum Fürwahrhalten von Fake-
News führt? Oder dass Analphabetismus das Vertrauen in den Wissenschaftsjournalismus fördert?
11.5 Medienkritik von Kunden und Betroffenen
In der Journalistik gibt es seit etlichen Jahren wachsendes Interesse an der "Nutzerperspektive". Zwar
lassen sich daraus nicht direkt Schlüsse zur Produktqualität ziehen, aber wichtige Hinweise zu Quali-
tätsdefiziten können vom Journalismus Betroffene in jedem Fall geben. Und betroffen sind letztlich
alle Bürger, ob sie nun Kunden journalistischer Produkte (Rezipienten) sind, ob sie nur über Umwege
von Berichterstattung erfahren oder ob sie als komplette "Nachrichtenverweigerer"
867
(Heinrichs
2021: 5) mit einer von Medien mitgestalteten Gesellschaft leben müssen.
Bsp.: Eine eindrückliche "Selbstvorstellung", collagiert aus Medieninhalten der Corona-Publizistik,
gab am 18. Juli 2023 Künstlerin Philine Conrad in Erfurter bei der Disputation „Kirche und Kultur nach
Corona Analyse, Debatte und Konsequenzen“
868
der Martin Luther Stiftung.
>Ich möchte mich einmal vorstellen: Ich bin ein „Blinddarm“. Ein „Leugner“. Ein „Nazi“ –
„rechts“, „unsolidarisch“ und „egoistisch“. Ich bin „dumm“, ein „Aasgeier“ und „Verweigerer“.
Und ich bitte um Verständnis, ich unterscheide nicht mit Sternchen zwischen Aasgeiern und
Aasgeierinnen. Das Geschlecht spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Ich bin eine „dum-
me Sau“, „zu kennzeichnen“ und soll „Sticker tragen“. Ich bin ein „Gefährder“, ein „Mörder“
und ein „Todesengel“. Ich bin ein „Gegner“. Gegen was? Ich bin ein „Muffel“. Eine „dunkle Ge-
stalt“. Und soll „in einem Loch verschwinden, aus dem ich rausgekrochen bin“. Ich bin ein „So-
zialschädling“. Und „bekloppt“. Sie kennen die Gründe für diese Bezeichnungen.<
869
Unter Kundenkritik fallen auch die Beschwerden beim Deutschen Presserat für Print und Online so-
wie die Rundfunk- und Medienräte für Rundfunkberichterstattung. Im ersten Pandemiejahr be-
schwerten sich 581 Leserinnen und Leser beim Presserat über die Corona-Berichterstattung.
>Die meisten von ihnen hielten den Redaktionen falsche Tatsachenbehauptungen oder unzu-
reichende Recherche vor. Vier der 321 bereits geprüften Fälle wurden gerügt. „Ansonsten ha-
867
https://www.deutschlandfunk.de/faq-nachrichtenmuedigkeit-konstruktiver-journalismus-100.html
868
https://www.luther-stiftung.org/fileadmin/Aktuelles/2023/IMLS_-_Flyer_Corona_2023_final.pdf
869
Zum Nachlesen: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/corona-debatte-so-koennen-wir-hass-und-
spaltung-trotzen-und-wieder-zueinander-finden-li.374174 zum Nachhören: https://youtu.be/uCLxf97NP9A
176
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
ben sich die betroffenen Redaktionen beim Top-Thema Corona mit großer Mehrheit an ethische
Grundsätze gehalten“, so [Sascha] Borowski [Sprecher des Presserats].<
870
Medienkritik steht selbstverständlich allen Mediennutzern zu. Allerdings sollten sie sich dabei auch
ihrer Rolle bewusst sein. Experten wie Christian Drosten verlangen zwar gerne, dass sich Laien aus
ihren Fachthemen heraushalten sollten - haben aber offenbar kein Problem damit, sich selbst viel-
fach in der Öffentlichkeit als Laien zu Wort zu melden, etwa indem sie erklären, wie Medien arbeiten
und arbeiten sollten (vgl. Schäfer 2023).
Bsp.: Dieter Köhler, emeritierter Professor für Pneumologie
871
, befand:
>Noch schlimmer war aber, dass außer der Neuen Zürcher Zeitung und der Welt die großen Ta-
geszeitungen sowie die öffentlich-rechtlichen Sender Kritik nicht zugelassen haben. Die Selbst-
zensur kluger Journalistinnen und Journalisten hat den Entscheidungsträgern in der Pandemie
in den Regierungen in die Karten gespielt. Und die Parteien haben ihre Meinung zumeist dem
aktuellen Trend angepasst.<
872
11.6 Forschungsstand 2024
Die Forschung zum Corona-Journalismus ist deutlich hinter den hier Mitte 2020 formulierten Erwar-
tungen zurückgeblieben. Zwar gibt es einige Studien zu Detailfragen, aber der Qualität im Ganzen
wurde wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Auch von Journalismusforschern, die sich zu Beginn der
Pandemie kritisch zu den Leistungen geäußert hatten, gibt es bisher keine größeren Untersuchungen,
vielmehr haben sich viele von ihnen komplett aus dem Thema zurückgezogen.
873
Die Studie von Maurer/ Reinemann/ Kruschinski (2021) wurde nochmal erweitert (Reinemann/ Mau-
rer/ Kruschinski/ Jost 2024). Die Schweizer Dauerauswertung lief natürlich auch weiter (Eisenegger/
Oehmer/ Udris/ Daniel Vogler 2021).
Aus der Vielzahl von Studien zu Detailfragen sei im hiesigen Kontext auf folgendes verwiesen:
a) Die geringe Perspektivenvielfalt in ÖRR-Talkshows haben Faas/ Krewel (2022) zwar weiter belegt,
aber selbst kaum thematisiert ("[...] dass gerade von Seiten der Politik ein recht kleiner Kreis von
Personen in diesen Talkshows sehr präsent war [...]").
870
https://www.presserat.de/presse-nachrichten-details/2020-beschwerderekord-beim-presserat.html
871
Köhler stand 2019 mit dem Vorwurf schwerer Rechenfehler in einem Positionspapier zu den gesundheitli-
chen Auswirkungen von Schadstoffen in der Atemluft in der medialen Kritik. Er selbst sieht seine Position je-
doch bestätigt. Siehe zur Übersicht
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Dieter_K%C3%B6hler_(Mediziner)&oldid=233886598#Positionspa
pier_zu_Luftverschmutzung,_Feinstaub_und_Stickoxiden und zu Köhlers Position dessen Buch https://agenda-
verlag.de/produkt/koehler-dieter-luebberding-frank-wie-wissenschaft-krisen-schafft/
872
https://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/die-
lockdowns-haben-die-pandemie-beschleunigt.html#topPosition
873
Dass Kritik am Corona-Journalismus wenig förderlich für die Reputation ist, konnte u.a. an den Reaktionen in
den Sozialen Medien beobachtet werden. Hinweise etwa auf Interviews, in denen Probleme der Berichterstat-
tung benannt wurden, wurden im mildesten Falle ignoriert, während unverfängliche Posts derselben Accounts
große Reichweiten und Zustimmung erhielten. Dies bestätigen auch einige persönliche Gespräche mit Wissen-
schaftlern.
177
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
>In rund 50 Prozent der Redebeiträge, in denen die Angemessenheit von Maßnahmen bewer-
tet wird wurden dieses als „gerade richtig“ gesehen. In 34 Prozent aller Beiträge wurden die
Maßnahmen als unzureichend bzw. nicht weitgehend genug dargestellt, in 14 Prozent als zu
weitgehend. Diesbezüglich haben sich im Zeitverlauf Verschiebungen ergeben. Erst im Laufe
der Zeit wurden die Maßnahmen stärker hinterfragt und vermehrt als zu weitgehend darge-
stellt.<
(Faas/ Kewel 2022: 544f)
b) Dass sich (extreme) Maßnahmenbefürworter (bzw. Befürworter weitreichender Maßnahmen) und
(extreme) Maßnahmengegner (bzw. Gegner weitreichender Maßnahmen) in manchen Punkten sehr
ähneln, haben mehrere Studien gezeigt.
>Auf Basis einer Querschnittsbefragung in Deutschland und der Schweiz zeigen wir, dass ext-
reme Einstellungen zum Tragen von Gesichtsmasken in beiden Ländern den wahrgenommenen
Kontakt mit vielfältigen Argumenten zu diesem Thema einschränken. Diese Tendenz ist bei ext-
remen Befürworterinnen und Befürwortern des Maskentragens etwas stärker ausgeprägt als
bei Gegnerinnen und Gegnern. Gleichzeitig stehen der häufige Konsum journalistischer Medi-
enangebote und die Nutzung sozialer Medien in einem positiven Zusammenhang mit der wahr-
genommenen Argumentvielfaltsexposition. Entgegen bisheriger Befürchtungen zu themenspe-
zifischen Echokammern sehen sich selbst Befragte, die extreme Einstellungen haben, immer
noch einer relativ großen Bandbreite an Argumenten für und gegen das Tragen von Gesichts-
masken ausgesetzt.<
(Zerback/ Ryffel 2024
874
: 216)
c) Nutzer des ÖRR und sog. Alternativmedien unterscheiden sich in ihrem Wissen über die Pandemie
und ihrer Einstellung zu dieser.
>Eine klare Mehrheit der Nutzenden des nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie auch
privater Fernsehsender unterstützt die Maßnahmen. Ein Großteil der Nutzerinnen und Nutzer
von sogenannten alternativen Medienangeboten lehnt hingegen die Maßnahmen ab. Der Un-
terschied beträgt fast 50 Prozentpunkte.<
(Faas/ Bibu/ Joly/ Schieferdecker 2022 : 47)
d) Polarisierung der Gesellschaft. Eine Befragung des Projektes "RAPID-COVID" ergab im Mai 2021,
dass der Großteil der Bevölkerung den sog. Maßnahmenkritikern sehr ablehnend gegenübersteht
(die elf-stufige Skala reichte von "sehr kühl und negativ" (-5) bis "sehr wohlgesonnen und positiv"
(+5)).
>Konkret stehen 71 % unserer Befragten Befürworter*innen positiv gegenüber, während dies
mit Blick auf Gegner*innen nur 16 % sind. Umgekehrt stehen 67 % der Befragten den Geg-
ner*innen negativ gegenüber, aber nur 12 % den Befürworter*innen.<
(RAPID-COVID, Juni 2021: 4)
Dabei zeigt sich, dass Maßnahmenbefürworter mit größerer Emotionalität den Kritikern gegenüber-
stehen als umgekehrt:
>Bei Personen, die die Corona-Maßnahmen uneingeschränkt unterstützen, - und das sind vie-
le! - ist die affektive Polarisierung stark ausgeprägt: Die eigene Gruppe (der Befürwor-
ter*innen) wird maximal positiv bewertet, die andere Gruppe (der Gegner*innen der Maß-
nahmen) maximal negativ. Der resultierende Mittelwert liegt mit 8,6 sehr nahe am möglichen
874
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/2192-4007-2024-2-214/attitude-extremity-and-perceived-
argument-diversity-exposure-in-the-covid-19-debate-jahrgang-13-2024-heft-2?page=1
178
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Maximum von 10.<
(RAPID-COVID, Juni 2021: 4)
Auf der anderen Seite: Bei denen, die die Corona-Maßnahmen uneingeschränkt ablehnen, liegt die
sog. affektive Polarisierung bei nur 6,5.
>Affektive Polarisierung in der Pandemie folgt demnach keiner Symmetrie: Während die Be-
füworter*innen sich selbst gut, die Gegner*innen aber schlecht findet, gilt das umgekehrt nicht
in gleicher Eindeutigkeit. Für die Gegner*innen ist das Bild ambivalenter.<
(RAPID-COVID, Juni 2021: 5)
Wie weit sich diese emotionale Ablehnung der Gegengruppe praktisch äußert, wurde nicht erforscht,
aber die Daten stehen zumindest nicht dem Eindruck entgegen, dass gerade aus dem Bereich der
Maßnahmen-Verfechter auch harte verbale Angriffe erfolgten.
875
e) Themenüberdruss. Die Medien haben es mit der Intensität des Corona-Themas übertrieben. Be-
reits im April 2020 sagten 72,7 % der Befragten, Corona-Berichterstattung verdränge andere wichtige
Themen, im November 2020 waren es 70,6 %, noch etwas mehr stimmten der Konkretisierung zu, sie
lenke von anderen politischen Problemen ab. "Die Berichterstattung über Corona mag ich nicht mehr
hören und sehen" sagten im April 43,1 %, im Mai 48,1 % und im November 45 % (Wolling/ Kuhl-
mann/ Schumann/ Berger/ Arlt 2021: 88).
f) Das in journalistischen Medien sehr präsente Schlagwort von den "Verschwörungstheorien" hatte
wenig Evidenz.
>Eine computergestützte Inhaltsanalyse von Facebook-Beiträgen alternativer und etablierter
Medien während der Corona-Pandemie findet einen marginalen Anteil verschwörungsideolo-
gischer Inhalte (vgl. Boberg et al. 2020).<
876
g) Die Verständlichkeit der Pressemitteilungen der deutschen Bundesregierung ließ nach Ansicht von
Prof. Frank Brettschneider zu wünschen übrig. Untersucht wurden alle Pressemitteilungen der Bun-
desministerien im Zeitraum März 2020 bis Januar 2021 mit einem für die Pandemie typischen
Schlagwort, sofern sie wenigstens 100 Wörter umfassten. Dies waren in Summe 1.362 Pressemittei-
lungen. Dabei wurde der sog. "Hohenheimer Verständlichkeitsindex" herangezogen, der im Ergebnis
Werte zwischen 0 (schwer verständlich) und 20 (leicht verständlich) ausweisen kann. Ergebnis:
>Die Pressemitteilungen der deutschen Bundesministerien sind im Schnitt relativ unverständlich
(HIX= 7,4). Es wird den Leser*innen teilweise schwer gemacht, die Informationen aufzunehmen.
Die Verständlichkeit sollte deutlich größer sein. Anzustreben wäre ein Wert von 14.<
Die häufigsten Verstöße gegen Verständlichkeits-Regeln waren demnach Fremdwörter und Fachwör-
ter (wie "Resilienz", "Hospitalisierung"), Wortkomposita ("Gesundheitsversorgungsweiterentwick-
lungsgesetz"), Anglizismen und "Denglisch" ("Wunderbar together" sowie Satzlängen.
Wie weit diese Vorlagen in die Beiträge von Nachrichtenagenturen und Redaktionen eingeflossen
sind, wurde nicht untersucht.
875
Aus der schier unendlichen Fülle sei verwiesen auf bzw. erinnert an: die "Fresse!"-Rufe eines Arztes
https://marc-hanefeld.de/stellungnahme-zu-meinem-tweet-vom-20-03-2021/ ;
876
https://link.springer.com/article/10.1007/s11616-023-00819-2
179
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
11.7 Resonanz
Eine erste Fassung dieses Diskussionspapiers wurde in einer kleinen biografischen Notiz des Begleit-
textes zu einem Rundfunkkommentar Anfang Februar 2023 verlinkt
877
und fand überraschender-
weise einige Aufmerksamkeit. In der Folge gab es, neben privaten E-Mails und Anrufen, erste Anfra-
gen nach Interviews oder wenigstens Statements von sog. 'Alternativmedien', die ich nach den Be-
obachtungen der letzten Jahre allerdings zunächst freundlich abgelehnt habe, um mich nicht von
denen vereinnahmt zu fühlen, die publizistisch bekunden, die ganze Zeit schon alles richtig gemacht
zu haben, und nun dankbar alle Hinweise aufnehmen, dass in den Massenmedien anders als bei
ihnen massive Fehler passiert seien. Allerdings kann ich eben grundsätzlich keine quantitativen
Aussagen treffen und habe mich zudem mit 'Alternativmedien' gar nicht explizit beschäftigt, vor al-
lem, weil an sie in einigen Qualitätsbereichen andere Erwartungen zu richten sind als an Vollpro-
gramme (General Interest Media).
Ein Artikel in der Berliner Zeitung
878
wurde dann einige Male in den sozialen Medien geteilt und führ-
te zu weiteren Anfragen (u. a. RTL West
879
).
Im Beitrag von Dirk Engelhardt in der Berliner Zeitung heißt es:
>Der Deutsche Journalistenverband (DJV), auf Qualitätsdefizite zur Corona-Berichterstattung
befragt, hält Arbeiten wie die von Timo Rieg für irrelevant. „Dass es Mängel in der Berichter-
stattung über die Corona-Pandemie gab, liegt nur schon deshalb auf der Hand, weil noch nie
in der jüngeren Geschichte eine Pandemie mit so verheerenden Auswirkungen über die Gesell-
schaften hereingebrochen ist“, gibt Sprecher Hendrik Zörner bekannt.<
Dass es sich bei der Irrelevanz-Erklärung um einen Darstellungsfehler handele, hat der DJV jedenfalls
mir nicht mitgeteilt. Dass ich gerne wenigstens über einige der hier vorgelegten Beispiele inhaltlich
diskutiert hätte, versteht sich wohl von selbst. Doch DJV-Sprecher Zörner (den ich in meiner jahrlan-
gen freien Mitarbeit für das Branchenblatt "journalist"
880
häufiger befragt habe) sah offenbar gar
keinen Anlass, über die Berichterstattungsqualität zu sprechen. Engelhardt zitiert ihn wie folgt:
>Fehler, Pannen und gelegentliche Verstöße gegen journalistische Grundregeln sind durchweg
zeitnah benannt und diskutiert worden. Das war gut und notwendig. Das funktionierende Kor-
rektiv ist der Deutsche Presserat, für den Corona erwartungsgemäß auch ein Thema war.
Darüberhinaus sehe ich keine Notwendigkeit, dass wir als Gewerkschaft und Berufsverband
der Journalisten Kritik an den Kollegen üben, die zum Teil Übermenschliches geleistet haben.<
(Hendrik Zörner, DJV)
Dass Zörner exklusiv den Deutschen Presserat als Korrektiv für Qualitätsdefizite sieht ein Gremium,
das immerhin zur Hälfte von Verlegerseite beschickt wird -, nicht aber den Medienjournalismus, hat
877
https://www.deutschlandfunkkultur.de/querdenker-medien-100.html
878
https://www.berliner-zeitung.de/open-source/corona-berichterstattung-das-interesse-der-medien-an-
aufarbeitung-ist-gering-li.334923
879
https://www.rtl.de/cms/rtl-west-klartext-interview-mit-medienjournalist-timo-rieg-5042001.html
880
Mein Lieblingstext, aus 2010: https://spiegelkritik.de/wp-content/uploads/2017/01/Journalist_-Timo-Rieg-
zur-Redigierwut-von-Redakteuren.pdf
180
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
mich nachhaltig irritiert. Und später hat mich irritiert, dass der Presserat ausgerechnet für die Quali-
tät von DJV-Publikationen nicht zuständig ist.
881
Ein Hinweis auf dieses Paper hier war laut damaliger Redakteurin zweimal für den Newsletter der
"Initiative Qualität"
882
vorgesehen, der auch Presserat und DJV angehören. Zweimal hat es jedoch
nicht geklappt, auf weitere Nachfragen habe ich verzichtet.
Ein ausführliches Interview zu dieser Fallsammlung von Bastian Barucker erschien am 20. Mai
2023.
883
Im "medium magazin" (3/2023, S. 18-22) erwähnt Senta Krasser dieses Paper kurz:
>Der Medienjournalist Timo Rieg führt in einer Fallsammlung über "Qualitätsdefizite im
Corona-Journalismus" gleich mehrere solcher Fehler an. Doch Riegs Paper ist nicht unstrittig.
Es krankt vor allem daran, dass es einzelne verunglückte Beiträge als repräsentativ für die Be-
richterstattung eines Mediums betrachtet. Zudem bedient er sich einer unwissenschaftlichen,
zuweilen polemischen Sprache (das Bill-Gates-Interview in den ARD-"Tagesthemen" am Oster-
montag 2020 bezeichnet er als "Ansprache ans Erdenvolk" und Beginn einer "Mäzenatener-
zählung".<
Erreicht haben mich mehrere Gesprächsanfragen von Studierenden für Projekt- oder Abschlussarbei-
ten, die jedoch nach meinem Kenntnisstand allesamt nicht öffentlich, sondern als Prüfungsmaterial
verschlossen sind, so dass ich die Verwertung meiner Beobachtungen und deren Einordnung nicht
kenne und hier auch nicht teilen kann.
Auf Researchgate gehört das Paper im Abruf nach der ausgewiesenen Statistik zum oberen 1 Prozent
aller dort veröffentlichten Beiträge. In der wissenschaftlichen oder publizistischen Resonanz spiegelt
sich das allerdings nicht wider. Inhaltliche Rückmeldungen/ Kritiken von Kollegen blieben aus. Es gab
sie auch nicht auf persönlicher Kommunikationsebene. Dabei hatte ich rund 140 Kollegen, deren
Beiträge ich hier als Belege angeführt habe und die ich per Mail erreichen konnte (also nicht an all-
gemeine Redaktionsadressen), auf die Veröffentlichung hingewiesen. Reagiert hat niemand. Nicht
einer. Wie schon zuvor in der Recherchephase auf inhaltliche Rückfragen der größte Teil nicht rea-
giert hatte.
Mein deutlich kürzerer und viel weniger belegter Beitrag in der journalistik (Rieg 2020b) ist hingegen
bereits mehrfach in wissenschaftlichen Arbeiten zitiert worden. Ob dieser Unterschied an der Ehr-
furcht vor dem Fachmagazin oder dem schlechten Google-(Scholar)-Ranking dieses Papers liegt, kann
ich nicht abschätzen. (Gegen Letzteres sprechen allerdings die Anfragen von Studenten.) Verwundert
bin ich jedenfalls.
Der thematisch eigentlich für eine kritische Reflexion der Leistungen des Corona-Journalismus prä-
destinierte Verein "Netzwerk Recherche", dem ich bereits kurz nach seiner Gründung beigetreten
bin, hat auch für die Jahreskonferenz 2024 einen entsprechenden Themenvorschlag abgelehnt weil
es "schlicht zu viele tolle Einreichungen" gab. An einer Übersättigung mit der Corona-Problematik
kann es jedenfalls nicht liegen: 2023 tauchte das Stichwort im umfangreichen Programm genau ein
Mal auf ("Licht in der Dunkelkammer Fallbeispiele zum Auskunftsrecht vom EU-Coronafonds bis zur
881
https://www.telepolis.de/features/DJV-Blogbeitrag-ueber-Rundfunk-Manifest-loest-medienethische-
Debatte-aus-9794055.html
882
https://www.djv.de/startseite/info/themen-wissen/initiative-qualitaet
883
Audio-Podcast: https://www.podcast.de/episode/607743467/corona-journalismus Video-Versionen
Youtube und Odysee: https://blog.bastian-barucker.de/corona-journalismus-rieg/
181
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Kostenexplosion bei Bahnprojekten"), 2022 ebenfalls ein Mal ("Im Maschinenraum hinter den
Corona-Dashboards Was wir in der Pandemie über DatenInfrastrukturen gelernt haben und wie sie
NOCH besser funktionieren"), 2021 drei Mal ("Datenanalysen zur Pandemie Was wir wissen, was
wir nicht wissen", "Die Corona-Krieger Recherchen bei Querdenkern, der AfD und Anhängern der
QAnonBewegung", "10 Fakten zu Coronadaten, die jede:r Rechercheur:in kennen sollte"), 2020 gab
es ein Webinar "Corona und wir Wie das Virus unsere Arbeit verändert"
884
. Von Fehlern im Journa-
lismus keine Rede.
Der Initiator des Reform-"Manifests" für den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk "Meinungsvielfalt
jetzt"
885
, Ole Skambraks, verwies in einem Interview auf dieses Paper:
>Die Corona-Berichterstattung ist die größte Fehlleistung des Journalismus, seit der Gründung
des ÖRR. Wer daran zweifelt, sollte sich die Analysen von Diplom-Journalist und Publizist Timo
Rieg zu Gemüte führen. In seiner 156-Seiten starken Arbeit „Qualitätsdefizite im Corona-
Journalismus“ kommt er zu einem ernüchternden Fazit: „Der deutsche Journalismus hat ein
massives Problem mit der Meinungsvielfalt. Unabhängig vom konkreten Thema ist in der
Branche völlig unklar, wozu es Meinungsvielfalt braucht und wie sie aussehen sollte.“ Seit ei-
nem Jahr ist diese Arbeit in der Welt. Doch sie wird totgeschwiegen.<
886
"Totgeschwiegen" ist wohl etwas übertrieben. Aber die Rezeption in Medien und Medienforschung
ist angesichts der Materialfülle eben sehr bescheiden. Wenigstens eine Fußnote mit kurzer Begrün-
dung, weshalb dieses Pre-Print-Paper keine weitere Beschäftigung wert sei, sollte man von Wissen-
schaft und journalistischer Recherche erwarten dürfen. Schließlich ist es wohl inhaltlich etwas anders
als der zehntausendste Blog- oder Twitter-Kommentar.
884
https://nr20.sched.com/list/descriptions/
885
https://www.telepolis.de/features/RKI-Files-und-Medien-Der-Kampf-um-Deutungshoheit-9675946.html
886
https://overton-magazin.de/top-story/die-corona-berichterstattung-ist-die-groesste-fehlleistung-des-
journalismus-seit-der-gruendung-des-oeffentlich-rechtlichen-rundfunks/
182
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
12 Resümee & Ausblick
Die vorliegende Fallsammlung konnte hoffentlich zeigen, dass es im Corona-Journalismus erhebliche
Mängel gab. Jedoch kann hier weder über ihren Umfang noch über ihre Wirkung Verlässliches gesagt
werden.
Trotz des über die Zeit gewachsenen Korpus sind sicherlich immer noch viele Aspekte unerwähnt,
z.B.:
* Informationsgehalt und inhärente Meinungsäußerungen bei Visualisierungen (Foto, Montage, Gra-
fik etc.). So stammt die "weltweit so ikonisch" gewordene Visualisierung des Corona-Virus
887
aus der
US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) (Ellenbürger et al. 2022:
269). Für eine intensivere Beschäftigung mit Bild- und Filmjournalismus wäre allerdings die hier auch
aus arbeitsökonomischen Gründen gewählte reine Textdarstellung nicht ausreichend.
* Neues Grundlagenwissen? Wenn so vieles für so viele Menschen tatsächlich neu war - exponentiel-
les Wachstum, was sind Viren, wie funktioniert das Immunsystem - stellt das in erster Linie unser
Bildungssystem infrage, in zweite aber auch die Leistung des Journalismus. Der ist zwar nicht für die
Vermittlung von Schulwissen zuständig, sollte aber in einer vielfältigen Berichterstattung, die eben
die Vielfalt des Lebens in den Blick nimmt, mit all diesen Bereichen immer wieder konfrontiert sein.
Daher sollten alle regelmäßigen Mediennutzer längst gewusst haben, was idealtypisches exponentiel-
les Wachstum ist (Stichwort: Zinseszins bei Privatkrediten wie Staatsschulden) - und dass es dieses in
biologischen System nie dauerhaft geben kann.
Eine Sammlung wie die hiesige wird sicherlich kritisch gesehen. Aus einem anderen Zusammenhang:
>Solche Initiativen sind als Wachrüttler und Warner hilfreich, lassen aber Positivbeispiele zu
oft vermissen und werden von Journalisten schnell in die Ecke der ewigen Nörgler gestellt:
Wer wird schon gerne ständig kritisiert, ohne dass es zwischendurch einmal ein Lob gibt?<
(Wormer/ Anhäuser 2014: 21)
Darum, die ohne Zweifel auch vorhandenen hervorragenden Berichte, Reportagen, Essays, Kommen-
tare und dergleichen zu würdigen, sollte es hier jedoch bewusst nicht gehen.
= Journalismus-Verständnis =
Im März 2024 zitiert Medienjournalist René Martens
888
in einem ausführlichen Kommentar zur "Be-
richterstattung über Covid-19" unter dem Titel >„Nach Corona“ gibt es nicht<
889
Britta Domke, lei-
tende Redakteurin beim Harvard Business Manager,
>dem Journalismus käme im derzeitigen Zustand der Maßnahmenlosigkeit eigentlich die Ver-
antwortung zu, auf die Politik einzuwirken, damit sie zur Pandemiebekämpfung zurückkehrt.
„Wie kriegt man die Politik dazu, einen U-Turn zu machen? Kann der Journalismus das?“<
Sollte es die Aufgabe des Journalismus sein, die Politik zu irgendwas zu bewegen, auf sie einzuwir-
ken? Selbst bei einem Special-Interest-Magazin für Abgeordnete und Minister wäre dies zu vernei-
nen. Auch dann sollte Journalismus schlicht Orientierungsangebote machen. Bei General-Interest-
887
u.a. im Logo zum Podcast "Das Coronavirus-Update"
https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html
888
https://www.mdr.de/altpapier/rene-martens100.html
889
https://uebermedien.de/93428/nach-corona-gibt-es-nicht/
183
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Media gilt das Gleiche fürs breite Publikum. Hier hat der Journalismus auch nicht über Bande zu spie-
len (Bürger in irgendeine Richtung zu bewegen, damit darauf hin dann die Politik reagiert). Dass
Journalisten vor allem darauf achten, wie sie von Kollegen und eben ihren Berichterstattungs-
Objekten wahrgenommen werden, ist ein oft zu vernehmender Vorhalt. Ganz sicher aber ist dies
nicht die Funktion von Journalismus.
Fokussieren wir zur Verdeutlichung auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR). Woher sollte
dieser von der Allgemeinheit finanzierte Informations- und Unterhaltungsbetrieb den Auftrag erhal-
ten, in einer bestimmten Weise auf die Politik einzuwirken? Auch bei einem deutlich partizipatori-
scherem ÖRR
890
widerspräche dies fundamental der Demokratie-Idee. Denn eine (knappe) Mehrheit
könnte sich so stetig zu vergrößern versuchen, etwa zur absoluten und dann zur verfassungsändern-
den Mehrheit.
Zurecht können die Bürger keinen unmittelbaren Einfluss aufs Programm der ÖRR nehmen (wobei
Entscheidungen über die Ressort-Anteile und Themen durchaus wünschenswert wären). Journalis-
mus ist eben etwas grundlegend anderes als Öffentlichkeitsarbeit, als PR, Propaganda oder auch nur
Werbung für die von irgendwem als "gut" ausgerufene Sache. Journalismus hat die Vorgänge in sei-
nem Berichterstattungsgebiet (und die weiterreichenden für dieses Gebiet) darzustellen, durch Re-
cherche auszuleuchten und alle vorhandenen Positionen dazu abzubilden. Natürlich darf, ja soll er
auch kommentieren, eben im Sinne der Einordnung seiner Recherchen. Aber er hat weder Bürger
allgemein noch speziell die Bürger in politischen Leitungsämtern zu erziehen. Dafür fehlt ihm nicht
nur jedes Mandat, damit diskreditiert er sich.
Gerade die ausführlichen Gespräche in Podcast-Formaten zeigen jedoch deutlich, dass nicht wenige
Journalisten ihre persönlichen Ansichten zur Welt(politik) für den Rahmen des Sag- und Verhandelba-
ren halten.
Zur kritischen Diskussion (und ganz sicher nicht, um mich zum Maßstab zu machen): Ich trete seit
vielen Jahren für aleatorische Demokratie ein, schreibe darüber (Rieg 2013; 2020a) und mache einen
Special-Interest-Podcast dazu
891
. Natürlich fließt dieser Background in meine sonstige journalistische
Arbeit ein. Gleichwohl kann ich mich nach meiner eigenen Wahrnehmung und dem Feedback der
Rezipienten darauf einlassen, dass wir keine aleatorische Demokratie haben und sie auch in realisti-
scher Zeit nicht bekommen werden (und zwar zunächst einmal, weil wir von einer zustimmenden
Mehrheit für einen solchen Wechsel ganz weit entfernt sind). Trotzdem kann ich über Wahlen, Par-
teien und Regierungsbildungen berichten wie jeder Kollege, der noch nie von aleatorischer Demokra-
tie gehört hat. Meine persönliche Meinung, was das Richtige für unsere Gesellschaft wäre, ist so
bedeutsam oder unbedeutsam wie die Meinung aller anderen in diesem Land. Über vieles schüttele
ich den Kopf (wie sicherlich jeder, dem nicht alles egal ist), wenn es gut läuft, nutzt mir das bei der
Recherche, aber einen Auftrag, die Gesellschaft in einer bestimmten Weise zu verändern, habe ich
als Journalist ganz sicher nicht. Dass ich vielleicht an der einen oder anderen Stelle einer anderen
Frage nachgehe, als es ein Kollege tut, ist Teil der sinnvollen Vielfalt im Journalismus. Dass ich bei der
Darstellung der Ergebnisse nicht unterschlagen darf, was mir nicht in den Kram passt, sollte spätes-
tens nach den vorangegangenen Ausführungen klar sein. Sollte jemand den Eindruck haben, dass ich
es doch (mal) tue, bin ich für Hinweise sehr dankbar.
Zur Corona-Politik hatte zwangsläufig jeder eine Meinung, denn jeder war betroffen (was es sonst
nur selten und nie in diesem Ausmaß gibt). Natürlich durften wir Journalisten aufgrund unserer Re-
cherchen (aber nur aufgrund dieser!) die Politik kommentieren, für oder gegen irgendwelche Maß-
890
https://www.buergerrat.de/aktuelles/buergerraete-als-vorbild-fuer-medienkontrolle/
891
https://www.machtlos.net/
184
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
nahmen argumentieren, alternative Lösungswege aufzeigen. Aber wir hatten keinen Meinungsstreit
mit dem Rest der Bevölkerung zu führen. Wir sollten wie immer Orientierungsangebote machen, die
nicht abgekapselt in unseren Denkerzimmern entstanden sind (das ist u.a. die Aufgabe von Litera-
ten), sondern die sich eben aus unserer Arbeit ergeben haben.
Wer hier statt Journalismus PR zu betreiben versuchte (Stichwort: Impfkampagne), hat seinen Beruf
verfehlt. Denn wenn Journalismus vorzugeben versucht, was eine Gesellschaft zu tun, zu lassen und
zu denken hat, sabotiert er das ganze Demokratie-Konstrukt, welches in unserer repräsentativen
Form elementar auf die freie Meinungsbildung der Öffentlichkeit setzt (anders wäre dies in einer
aleatorischen Demokratie, aber das ist ein eigenes Thema). Wer diese be- oder gar verhindert, weil
er als Journalist eine bestimmte Politik herbeischreiben oder herbeisenden will, delegitimiert den
gesamten politischen Prozess. Auch wenn die Rolle der klassischen Medien durch die digitale Vernet-
zung deutlich kleiner geworden ist: die Aufgabe des Journalismus ist geblieben, und sie kann derzeit
auch noch nicht ersetzt werden (was die Zukunft mit KI bringen wird, kann ich nicht abschätzen).
Auch sog. "alternative Medien", Blogger, Youtuber und sonstige News- und Kommentarverbreiter
rekurrieren bisher wesentlich auf Fakten, die der klassische Journalismus über Massenmedien zur
Verfügung stellt.
= Journalismus-Schwächen =
Allerdings darf nicht übersehen werden, dass gerade zum Pandemie-Management wichtige publizis-
tische Beiträge gerade nicht von den klassischen Medien stammten. Dass der Messanger Telegram
zeitweise einigen Journalisten als Synonym für Verschwörungserzählungen galt, lag ja (von Nonsens
abgesehen, der dort wie sonst überall verbreitet wird) gerade an der Diskursverengung in den gro-
ßen, kommerziellen Medien.
Aktuell bestes Beispiel für ein regelrechtes Versagen des Journalismus der großen Häuser sind die
sog. "RKI-Files". Jeder Bürger und mithin auch jeder Journalist hätte sie erhalten können, doch es war
das kleine Online-Magazin Multipolar, das ihre Herausgabe vom Robert-Koch-Institut (RKI) gerichtlich
erstritten hat. Und es war dann die freie Journalistin Aya Velázquez, die sämtliche RKI-Protokolle von
2020 bis 2023 völlig ungeschwärzt veröffentlichte und jedem zugänglich machte.
892
Zuvor waren schon die Protokolle der Bund-Länder-Konferenzen im Bundeskanzleramt und die Pro-
tokolle des Corona-Expertenrats gerade nicht durch Recherche großer Medienhäuser an die Öffent-
lichkeit gekommen, sondern aufgrund des Bemühens einzelner und der Verbreitung in den Social
Media.
893
Die Protokolle des Corona-Expertenrats und der Bund-Länder-Konferenzen wurden vom
Frankfurter Arzt Christian Haffner erstritten - auch hier war es kein "Investigativ-Ressort", das sich
verdient gemacht hätte.
Aus den so der Allgemeinheit zur Verfügung gestellten Unterlagen sind zwar in vielen Medien einzel-
ne Beiträge entstanden
894
, doch eine systematische Auswertung durch General-Interest-Media bzw.
Rechercheverbünde erfolgte bisher nicht. In vielen Berichten wurden die Quellen nicht benannt,
online nicht verlinkt, so bei der Tagesschau (im Filmbeitrag hieß es nur "eine freie Journalistin", der
892
https://www.velazquez.press/p/rki-leak-alle-protokolle-des-rki; Pressekonferenz dazu:
https://www.youtube.com/watch?v=RRFjwgmn3Sc
893
https://www.telepolis.de/features/RKI-Files-und-Medien-Der-Kampf-um-Deutungshoheit-9675946.html
894
https://corona-protokolle.net/medienberichte/
185
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Text
895
konzentriert sich auf einen einzigen Themenaspekt und nennt nicht den Weg zu den Volltext-
Dokumenten), heute
896
(ZDF).
897
Eine Zusammenfassung der bisherigen Dokumente übernahm wiederum ein freier Journalist, Bastian
Barucker.
898
Gelegentlich ist auch mangelndes Verständnis von Zusammenhängen ursächlich für Qualitätsdefizite.
Bsp.: Andrej Reisin schreibt in einer Rezension zur Inhaltsanalyse von Welzer/ Keller (2023), in der es
zwar um die Ukraine-Berichterstattung geht, womit aber auch eine Grundkritik an der Corona-
Berichterstattung aus dem Buch von Precht/ Welzer (2022) belegt werden soll:
>Das klingt gewaltig und wirft doch unmittelbar Fragen auf: Die naheliegendste lautet, wie
eine empirische Studie, die bis Ende Januar 2023 andauerte, die Thesen eines Buches belegen
kann, das im Herbst 2022 erschien. Selbst wenn man Welzer darin folgen wollte, dass sich die
in „Die vierte Gewalt“ [Precht/ Welzer 2022] beschriebene Tendenz seitdem nur noch ver-
schärft habe, so erinnert die Methodik doch ein wenig an Kunden, die im Einzelhandel im Mai
nach den Rabatten von April fragen. Anders gesagt: Wer immer schon wusste, dass er Recht
hat, kann natürlich auch empirische Studien als Belege für seine Thesen heranziehen, deren
Untersuchungsgegenstand zum Zeitpunkt ihrer Publikation noch gar nicht extistierte. Nach
ergebnisoffener oder auch einfach seriöser Forschung klingt das allerdings nicht.<
Die ausgewerteten journalistischen Beiträge stammen aus der Zeit zwischen 1.2.2022 und 31.1.2023,
"Die vierte Gewalt" erschien am 28.09.2022. Man könnte also streng fordern, den Datenpool mit
diesem Datum zu schließen. Aber dass erste eine These formuliert und danach ins Material geschaut
wird, ist gerade die Grundvoraussetzung für empirische Forschung. Reisin verwechselt hier das Auf-
stellen einer These mit ihrer Überprüfung - oder Hypothesen mit Befunden.
= Ursachen =
Die hier diskutierten Qualitätsdefizite sind allesamt kein Spezifikum der Corona-Zeit - sie lassen sich
zu jeder Zeit zu jedem Thema finden. Daher werden auch die Ursachen im Wesentlichen dieselben
sein - kurz zusammengefasst als "Handwerksfehler". Denn alles, was hier angeführt wurde, findet
sich in jedem gängigen Journalismus-Lehrbuch.
Allerdings kam wohl bei vielen etwas hinzu, was tatsächlich nur in solchen Ausnahmesituationen so
flächendeckend zu finden ist: Angst. Journalisten, Politiker, Wissenschaftler hatten alle schlicht Angst
um ihre eigene Gesundheit und die von Angehörigen und Bekannten.
Bsp.: Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Prof. Peter Michael Huber sagte 2023:
>Wir wissen heute ungefähr, wie die [Pandemie] funktioniert. Vor drei Jahren hatten wir eine
Angst, dass wir alle sterben müssen, wenn wir uns mit Corona infizieren. Oder jedenfalls die
Politik musste die Angst haben.<
899
895
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/rki-protokolle-100.html
896
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/rki-protokoll-leak-coronavirus-pandemie-lauterbach-
100.html
897
ZIB2 (ORF) nennt immerhin einmal in einer Text-Einblendung Velázquez, Multipolar wird in Bild und Ton
genannt: https://x.com/mz_storymakers/status/1815858426242568348
898
https://corona-protokolle.net/
186
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Bsp.: Eine Journalistin bekannte Ende 2020 zu den "Bildern von Bergamo":
>Und da habe ich damals in dem Moment für mich so wie eine Art Schalter gespürt, der
umge-stellt worden ist. Und ich habe seitdem das Gefühl, als Journalistin auch so eine Art Hal-
tung zu dem Thema zu haben, das muss ich ganz offen zugeben.
Ich möchte nicht, dass Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich mag oder für die ich als
Journalistin arbeite und Informationen liefere, dass jemand von diesen Menschen in einem
die-ser Militärtransporter endet.<
900
Diese Angst dürfte ihre Ursache wesentlich in der Medienberichterstattung haben. Und da sie deutli-
che Qualitätsdefizite hatte, kann man nicht darüber hinweggehen mit Sätzen wie 'wir wussten es
nicht besser' oder 'lieber etwas zu viel als zu wenig gewarnt'. Das sollte angesichts der Nebenwirkun-
gen und Zirkelschlüsse klar sein.
Oder in Worten aus dem Medizinbetrieb, dem Tagebuch einer Oberärztin (01.04.2020):
>Jetzt betritt keiner mehr als irgend nötig das Patientenzimmer. Zwei Mal pro Schicht. An-
sonsten sind Covid-19-Patienten allein. Auch wenn sie einen Herzinfarkt haben sollten oder ir-
gendetwas anderes, ganz egal einfach reinrennen und reanimieren geht nicht mehr.<
901
Mit Blick darauf, dass es im Corona-Journalismus immer wieder um Prognosen ging, ist nicht nur auf
die wichtige Unterscheidung von Tatsachen und Tatsachenvermutungen zu verweisen (Rieg 2024),
sondern auch auf alles, was zur sog. Verdachtsberichterstattung fachlich verhandelt wird. Zwar konn-
te man hier nicht das 'beschuldigte' Corona-Virus nach Stellungnahme fragen, um seiner Sorgfalts-
pflicht nachzukommen - aber ansonsten trifft alles zu, mit dem Unterschied, dass es nicht um den
Schutz von Persönlichkeitsrechten ging, sondern schlicht ums Orientierungsangebot.
Im Medienjournalismus als Reflexionsebene des journalistischen Geschehens findet man allzu oft
Themen- statt Handwerkskritik, Haltungs- statt Qualitätsbewertungen.
899
FAZ-Einspruch Podcast vom 20.12.2023 (Aufnahme vom 14.12.), bei ca 27:50 min,
https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-einspruch-podcast/krieg-corona-und-schulden-wie-das-recht-auf-krisen-
reagiert-19396390.html; siehe auch https://www.pro-medienmagazin.de/journalismus-im-panikmodus/
900
https://www.ardaudiothek.de/nach-redaktionsschluss-der-medienpodcast/corona-berichterstattung-
folgen-die-medien-der-regierung/83848056
901
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/du-weisst-die-welle-jetzt-kommt-sie
187
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Literatur
Altmeppen, Klaus-Dieter (2021): Mittendrin und trotzdem nicht dabei. Zugespitzte Anmerkungen zur
nichts sagenden Bedeutung der Kommunikationswissenschaft in der Gesellschaft. In: Studies in
Communication and Media (SCM) 10 (2): 268-282, https://doi.org/10.5771/2192-4007-2021-2-268
Amlinger, Carolin/ Oliver Nachtwey (2022): Gekränkte Freiheit Aspekte des libertären Autoritaris-
mus. Berlin: Suhrkamp
Anton, Andreas/ Michael Schetsche/ Michael K. Walter (2024) (Hrsg.): Konspiration Soziologie des
Verschwörungsdenkens. Wiesbaden: Springer VS, 2., erw. Aufl.
Arnold, Klaus (2009): Qualitätsjournalismus. Die Zeitung und ihr Publikum. Konstanz: UVK
Branahl, Udo (2005): Justizberichterstattung Eine Einführung. Springer VS
Branahl, Udo (2019): Medienrecht Eine Einführung. Springer VS, 8. Aufl.
Brost, Marc/ Bernhard Pörksen (2020): Angesteckt [Warum der Journalismus in der Corona-Krise
besonders gebraucht wird und vor welchen Problemen er steht]. In: Die Zeit Nr. 16 vom
08.04.2020, S. 6, online unter https://www.zeit.de/2020/16/coronavirus-berichterstattung-
journalismus-information/komplettansicht [abg. 22.04.2020]
Bude, Heinz (2022): Aus dem Maschinenraum der Beratung in Zeiten der Pandemie. Soziologie 51 (3):
245255
https://soziologie.de/fileadmin/user_upload/zeitschrift/volltexte/Bude_SOZIOLOGIE_Heft3_2022.pd
f
Carey, John/ Andrew Guess/ Peter Loewen/ Eric Merkley/ Brendan Nyhan/ Joseph Phillips/ Jason
Reifler (2022): The ephemeral effects of fact-checks on COVID-19 misperceptions in the United Sta-
tes, Great Britain and Canada. In: Nature Human Behaviour, 6: 236-243,
https://doi.org/10.1038/s41562-021-01278-3
Deutsches Institut für Normung e. V. (DIN) (2015): DIN EN ISO 9000 Qualitätsmanagementsysteme.
Grundlagen und Begriffe (ISO 9000:2015). Deutsche und englische Fassung EN ISO 9000:2015. Her-
ausgegeben vom DIN-Normenausschuss Qualitätsmanagement, Statistik und Zertifizierungsgrundla-
gen (NQSZ); Ersatz für DIN EN ISO 9000:2005-12. Berlin: Beuth [November 2015]
Di Fabio, Udo: Meinungsfreiheit, in: Peter Schiwy/ Walter Schütz/ Dieter Dörr (Hrsg.): Medienrecht.
Lexikon für Praxis und Wissenschaft. Köln: Heymanns, 5. Aufl. [Erstausgabe 1977 Luchterhand]
Dubben, Hans-Hermann/ Hans-Peter Beck-Bornholdt (2006) [1997]: Der Hund, der Eier legt Erken-
nen von Fehlinformation durch Querdenken. Hamburg: Rowohlt
Eilders, Christiane (2016): Journalismus und Nachrichtenwert. In: Löffelholz, Martin/ Liane Rothen-
berger (Hrsg.): Handbuch Journalismustheorien. Wiesbaden: Springer VS: 431-442
https://doi.org/10.1007/978-3-531-18966-6_26
Eisenegger, Mark/ Franziska Oehmer/ Linards Udris/ Daniel Vogler (2020): Qualität der Medien Stu-
die 1/2020; Die Qualität der Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie. Zürich: Universität
(hrsg. vom fög, Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft)
https://www.foeg.uzh.ch/dam/jcr:ad278037-fa75-4eea-a674-7e5ae5ad9c78/Studie_01_2020.pdf
Eisenegger, Mark/ Franziska Oehmer/ Linards Udris/ Daniel Vogler (2021): Lessons Learned? Die
Qualität der Medienberichterstattung in der ersten und zweiten Welle der Corona-Pandemie Jahr-
188
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
buch Qualität der Medien Studie 2/2021. Zurich Open Repository and Archive University (ZORA),
https://doi.org/10.5167/uzh-210609
Ellenbürger, Judith/ Erwin Feyersinger/ Martina R. Fröschl/ Björn Hochschild/ Katrin von Kap-herr/
Sebastian R. Richter/ Maike Sarah Reinerth/ Janina Wildfeuer (2022): OBSERVE! An Inanimate Virus
(Animated). Beobachtungen zu Visualisierungen des Virus und der COVID-19-Pandemie als kollektiver
Text. In: Angela Krewani/ Peter Zimmermann (Hrsg.): Das Virus im Netz medialer Diskurse. Zur Rolle
der Medien in der Corona-Krise. Wiesbaden: Springer Vieweg: 267-283
Esslinger, Detlef/ Wolf Schneider (2015): Die Überschrift. Sachzwänge Fallstricke Versuchungen
Rezepte. Springer VS
Faas, Thorsten/ Mona Krewel (2021): Corona-Sprechstunde mit Maybrit Illner, Anne Will & Frank
Plasberg. Parteilich & oberflächlich oder ausgewogen & informativ? Erste Ergebnisse einer Analyse
der Qualität der Diskussion über die Covid-19-Pandemie in ausgewählten deutschen Polit-Talkshows.
Hamburg: Rudolf-Augstein-Stiftung.
Faas, Thorsten/ Mona Krewel (2022): Politische Talkshows in der Pandemie Eine Untersuchung zur
Vielfalt von Gesprächssendungen im deutschen Fernsehen. In: Media Perspektiven 11/2022, S. 539-
547 https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-
perspektiven/pdf/2022/2211_Faas_Krewel.pdf
Fehrle, Brigitte / Henning Kornfeld (2019): "Die Wirklichkeit ist immer widerborstig" [Interview]. In:
journalist 7/2019 (69. Jg), S. 36-40
Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) (2019): Jahrbuch Qualität der Medien 2019
Schweiz Suisse Svizzera, Jubiläumsausgabe. Basel: Schwabe
https://www.foeg.uzh.ch/dam/jcr:e6c2d53a-8591-4c98-ba64-
f361d6631d85/2019_Gesamtausgabe.pdf
Frommelt, Christian/ Thomas Milic/ Philippe Rochat (2023): Die Corona-Pandemie aus der Sicht von
Gesellschaft, Politik und Verwaltung. Synthese aus verschiedenen Umfragen und weiteren Analysen.
Liechtenstein-Institut, Gamprin-Bendern [März 2023]
Geuß, Annika (2018): Qualität im Journalismus. Eine Synopse zum aktuellen Forschungsstand. Bam-
berg: University of Bamberg [Bamberger Beiträge zur Kommunikationswissenschaft, Bd 8; Bachelor-
arbeit]
Glotz, Peter/ Wolfgang Langenbucher (1969): Der missachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse.
Köln/ Berlin: Kiepenheuer & Witsch
Gräf, Dennis/ Martin Hennig (2020): Die Verengung der Welt Zur medialen Konstruktion Deutsch-
lands unter Covid-19 anhand der Formate ARD Extra Die Coronalage und ZDF Spezial. In: Magazin
des Graduiertenkollegs Privatheit und Digitalisierung der Universität Passau 14/2020, S. 13-20,
https://www.privatheit.uni-
passau.de/fileadmin/dokumente/dfg_graduiertenkolleg_privatheit/Graduiertenkolleg/Magazin/Mag
azin__Cov-19__September_2020_.pdf , zuvor als Preprint auf ResearchGate
https://www.researchgate.net/publication/343736403 [die Seitenzahlen sind in diesem Preprint noch
mit "14-22" angegeben, was nicht der Publikation im Magazin entspricht]
Grande, Edgar/ Swen Hutter/ Sophia Hunger/ Eylem Kanol (2021): Spitzenforschungsclusters Monito-
ringsystem und Transferplattform Radikalisierung (MOTRA) Alles Covidioten? Politische Potenziale
des Corona-Protests in Deutschland, https://bibliothek.wzb.eu/pdf/2021/zz21-601.pdf
189
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Hagen, Lutz / Claudia Seifert (2015): Das Wirtschaftswachstum und die Objektivität seiner Darstel-
lung in den Medien Eine normative und empirische Betrachtung. In: Olaf Jandura/ Thomas Peter-
sen/ Cornelia Mothes/ Anna-Maria Schielicke (Hrsg.): Publizistik und gesellschaftliche Verantwortung.
Festschrift für Wolfgang Donsbach. Wiesbaden: Springer VS: 173-198
Haller, Michael (2001): Benchmarking. Lokalzeitungen im Vergleichstest. in: message 2/2001
Haller, Michael (2003): Qualität und Benchmarking im Printjournalismus. In: Hans-Jürgen Bu-
cher/Klaus-Dieter Altmeppen: Qualität im Journalismus. Grundlagen Dimensionen Praxismodelle.
Wiesbaden: Westdeutscher Verlag: 181-202
Handstein, Holger (2013): Die Crossmedialisierung des Lokaljournalismus und ihre Implikationen für
die journalistische Qualität. In: Horst Pöttker/ Anke Vehmeier (Hrsg.): Das verkannte Ressort. Prob-
leme und Perspektiven des Lokaljournalismus. Springer VS: 139-157
Handstein, Holger (2016): Vollständigkeit. In: https://journalistikon.de/vollstaendigkeit/ [10.08.2016;
abg. 15.10.2020]
Heinrichs, Ellen (2021): Lösungen, Perspektiven, Dialog. Warum Konstruktiver Journalismus sich für
Medien und Gesellschaft lohnt. Marl: Grimme-Institut, https://tinyurl.com/grimme-heinrichs
Kahnemann, Daniel (2016): Schnelles Denken, langsames Denken, München: Penguin [Original 2012
bei Siedler]
Kluckert, Sebastian (2020): Das neue Infektionsschutzrecht. Baden-Baden: Nomos (1. Auflage) [die
zweite, überarbeitete Auflage erschien 2021]
Kosyk, Anastasiya/ Anna Kirsten/ Andreas Scheu/ Bernadette Uth (2023): COVID-19 sceptics’ attitu-
des and expectations toward the media. Understanding the role of moral judgements on trust and
distrust in journalistic communication on COVID-19. Studies in Communication and Media 12 (2-3):
155182, DOI: 10.5771/2192-4007-2023-2-3-155
Kramp, Leif/ Stephan Weichert, (2020): Nachrichten mit Perspektive. Lösungsorientierter und kon-
struktiver Journalismus in Deutschland. Frankfurt am Main: Otto-Brenner-Stiftung. [OBS-Arbeitsheft
101] https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/publikationen/titel/nachrichten-
mit-perspektive/aktion/show/
Kramp, Leif/ Stephan Weichert (2021) Konstruktiv durch Krisen? Fallanalysen zum Corona-
Journalismus. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung [OBS-Arbeitsheft 107]
https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-
studien/konstruktiv-durch-krisen/
Krüger, Udo Michal/ Christiane Müller (2023): Berichterstattung in Zeiten der Corona-Krise. Ein Nach-
richtenporträt von Tagesschau und heute. Tectum.
Maurer, Marcus/ Pablo Jost/ Jörg Haßler/ Simon Kruschinski (2019): Auf den Spuren der Lügenpresse.
Zur Richtigkeit und Ausgewogenheit der Medienberichterstattung in der "Flüchtlingskrise". In: Publi-
zistik 64: 15-35, https://doi.org/10.1007/s11616-018-00466-y
Maurer, Marcus/ Carsten Reinemann/ Simon Kruschinski (2021): Einseitig, unkritisch, regierungsnah?
Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-
Pandemie. Hamburg: Rudolf-Augstein-Stiftung, Digitalversion unter https://rudolf-augstein-
stiftung.de/wp-content/uploads/2021/11/Studie-einseitig-unkritisch-regierungsnah-reinemann-
rudolf-augstein-stiftung.pdf
190
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Meier, Klaus/ Julius Reimer (2011): Transparenz im Journalismus Instrumente, Konfliktpotentiale,
Wirkung. In: Publizistik, 56 Jg, Nr. 2, S.:133-155, https://link.springer.com/article/10.1007/s11616-
011-0116-7
Meier, Klaus/ Vinzenz Wyss (2020): Journalismus in der Krise. Die fünf Defizite der Corona-
Berichterstattung. In: Meedia, 09.04.2020, https://meedia.de/2020/04/09/journalismus-in-der-krise-
die-fuenf-defizite-der-corona-berichterstattung/ [27.04.2020]
Nachtwey, Oliver/ Robert Schäfer/ Nadine Frei (2021): Politische Soziologie der Corona-Proteste: 63
https://web.archive.org/web/20201218135036/https://soziologie.philhist.unibas.ch/fileadmin/user_
up-
load/soziologie/Dokumente/Downloads_diverse/Bericht_Umfrage_Coronaproteste_Soziologie_Uni_
Basel_17_12_20.pdf
Neuberger, Christoph (1996): Journalismus als Problembearbeitung. Objektivität und Relevanz in der
öffentlichen Kommunikation. Konstanz: UVK
Peter, Laurence (2001) [1969]: Das Peter-Prinzip oder Die Hierarchie der Unfähigen. Hamburg: Ro-
wohlt
Precht, Richard David/ Harald Welzer (2022): Die vierte Gewalt Wie Mehrheitsmeinung gemacht
wird, auch wenn sie keine ist. Berlin: S. Fischer
Quandt, Thorsten/ Svenja Boberg/ Tim Schatto-Eckrodt/ Lena Frischlich (2020): Pandemic News
Facebook Pages of Mainstream News Media and the Coronavirus Crisis. A Computational Content
Analysis. In: Münster Online Research (MOR) Working Paper 2, https://arxiv.org/abs/2004.02566
[Preprint] [29.05.2020; abg. 07.07.2020]
Quiring, Oliver/ Marc Ziegele/ Tanjev Schultz/ Nayla Fawzi/ Nikolaus Jackob/ Ilka Jakobs/ Christian
Schemer/ Daniel Stegmann/ Christina Viehmann (2024): Zurück zum Niveau vor der Pandemie - Kon-
solidierung von Vertrauen und Misstrauen. Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen 2023. In: Me-
dia-Perspektiven 9/2024: 1-14
902
https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-
perspektiven/pdf/2024/MP_9_2024_Mainzer_Langzeitstudie_Medienvertrauen_2023.pdf
RAPID-COVID (2021, Juni): Pandemie und Polarisierung: (Wechselseitige) Wahrnehmungen von Be-
fürworter*innen und Gegner*innen der Corona-Maßnahmen. Policy Brief 3/2021.
https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/31000
Raffelhüschen, Bernd (2020): Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das?, in: Wirt-
schaftswissenschaftliches Studium 10/2020: 33-39, https://www.beck-elibrary.de/10.15358/0340-
1650-2020-10/wist-wirtschaftswissenschaftliches-studium-jahrgang-49-2020-heft-10
Rau, Harald (2005): Don Quijote oder der Kampf der Journalisten mit dem Pudding. Die Qualitätsde-
batte unter dem Journalismus-Begriff nach Haller in einer Ökonomie der Publizistik. In: Christoph
Fasel (Hrsg.): Qualität und Erfolg im Journalismus, Konstanz: UVK: 65-82
Reinemann, Carsten/ Marcus Maurer/ Simon Kruschinski/ Pablo Jost (2024): The Quality of COVID-19
Coverage. Investigating Relevance and Viewpoint Diversity in German Mainstream and Alternative
Media. Journalism Studies: 122, https://doi.org/10.1080/1461670X.2024.2326642
Rieg, Timo (2013): Demokratie für Deutschland. Berlin: Berliner Konsortium
902
Seit 2023 werden die Aufsätze nicht mehr in 12 Monatsheften gebündelt, sondern erscheinen einzeln, so
dass sie stets mit der Seitenzahl 1 beginnen. Die letzte Print-Ausgabe erschien mit Nr. 10/2022.
191
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Rieg, Timo (2020a): Ausgeloste Bürgerparlamente Warum die Politikwissenschaft dringend empiri-
sche Forschung zur aleatorischen Demokratie braucht. In: Bayerischer Forschungsverbund Zukunft
der Demokratie (Hrsg.): Working Paper Nr. 2, https://fordemocracy.hypotheses.org/2765
Rieg, Timo (2020b): Desinfektionsjournalismus Die Corona-Berichterstattung ist kein Leuchtturm
der Orientierung. In: Journalistik, 2/2020, 3. Jg., S. 159-171. https://journalistik.online/ausgabe-2-
2020/desinfektionsjournalismus/ pdf: https://journalistik.online/wp-
content/uploads/2020/09/journalistik-2-2020-desinfektionsjournalismus-de.pdf
Englische Version: Timo Rieg: Disinfection journalism. Reporting on coronavirus has not been a bea-
con of orientation. In: Journalism Research 3 (2): 148-160, https://journalistik.online/en/edition-2-
2020/disinfection-journalism/, pdf: https://journalistik.online/wp-
content/uploads/2020/10/journalism-research-2-2020-desinfection-en.pdf
Rieg, Timo (2020c): Vernachlässigte Medienkritik. In: Journalistik, 2/2020, 3. Jg., S. 179-181.
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/vernachlaessigte-medienkritik/ Englische Version: Timo
Rieg: The neglect of media critique. In: Journalism Research 3 (2): 168-170,
https://journalistik.online/en/edition-2-2020/the-neglect-of-media-critique/, pdf:
https://journalistik.online/wp-content/uploads/2020/10/journalism-research-2-2020-neglect-
critique-en.pdf
Rieg, Timo (2021): False Balance. Zur Fehldiagnose einer "falschen Ausgewogenheit" im Journalismus
mit Beispielen von Jan Böhmermann, Dirk Steffens und Georg Restle. In: Spiegelkritik, Version vom
04.05.2024. https://www.spiegelkritik.de/2021/09/09/false-balance/
Rieg, Timo (2022): ZDF - Journalistisches Sträuben gegen Richtigkeit. In: Telepolis, 29.11.2022.
https://www.telepolis.de/features/ZDF-Journalistisches-Straeuben-gegen-Richtigkeit-7360079.html
Rieg, Timo (2023): Covid - Schwere Vorwürfe wegen massenhafter künstlicher Beatmung. In: Telepo-
lis, 15.03.2023. https://www.telepolis.de/features/Covid-Schwere-Vorwuerfe-wegen-massenhafter-
kuenstlicher-Beatmung-9048800.html
Rieg, Timo (2024): Tatsachen und Meinungen - Ein Differenzierungsvorschlag. In: Spiegelkritik,
10.07.2024, https://www.spiegelkritik.de/2024/07/10/tatsachen-und-meinungen-ein-
differenzierungsvorschlag/
Rossmann, Constanze (2020): Befunde aus der zweiten Befragungswelle des Projekts CoreCrisis
https://www.uni-erfurt.de/universitaet/aktuelles/news/news-detail/uebersaettigt-mit-corona-
informationen
Russ-Mohl (2020): Streitlust und Diskurskultur vor und nach Corona. In: ders. (Hrsg.): Streitlust und
Streitkunst Diskurs als Essenz der Demokratie. Köln: von Halem [zur früheren Schreibweise des Au-
torennamen als Ruß-Mohl s. Fn 118]
Russ-Mohl (2021): Stärken und Schwächen der Berichterstattung über Corona. In: Schatz, S. 27-53
Schäfer, Markus (2023): Wenn Gesundheitsexpert:innen journalistisches Handeln einordnen: Subjek-
tive Medientheorien im NDR-Podcast "Das Coronavirus-Update". Stuttgart: DGPuK,
https://web.archive.org/web/20240227060617/https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/doc
ument/85849/ssoar-2023-schafer-
Wenn_Gesundheitsexpertinnen_journalistisches_Handeln_einordnen.pdf?sequence=4&isAllowed=y
&lnkname=ssoar-2023-schafer-
Wenn_Gesundheitsexpertinnen_journalistisches_Handeln_einordnen.pdf
192
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Schatz, Roland (Hrsg.) (2021): Bericht zur Lage der Informationsqualität in Deutschland Analysen
und Vorschläge für die Zeit nach Corona. Zürich: InnoVatio,
verfügbar unter http://www.mediatenor.com/images/library/reports/Weissbuch_Vollversion.pdf
Schicha, Christian (2020): "Kritik ist immer erlaubt und wichtig" [Interview mit Timo Rieg]. In: Telepo-
lis, 25.05.2020 https://www.heise.de/tp/features/Kritik-ist-immer-erlaubt-und-wichtig-4727636.html
[25.06.2020]
Schindler, Michael/ Steffen Moritz/ Jürgen Gallinat (2020): 2. Umfrage zu SARS-CoV-2 an Kol-
leg*innen aus den Bereichen Virologie/ Mikrobiologie/ Hygiene/Tropenmedizin/ Immunologie sowie
Innere Medizin/ Intensivmedizin [Presentation],
https://www.researchgate.net/publication/341287186_2_Umfrage_zu_SARS-CoV-
2_an_178_Kolleginnen_aus_den_Bereichen_Virologie_sowie_Innere_MedizinIntensivmedizin_2_sur
vey_on_SARS-CoV-2_among_178_colleagues_from_the_disciplines_of_virology_and_internal_med
[Stand: Mai 2020]
Schmiege, Johannes/ Ines Engelmann/ Simon Lübke (2023): Populistisch und verschwörungstheore-
tisch? Die Darstellung der Covid-19-Pandemie in rechtsalternativen Online-Medien. In: Publizistik 68
(4): 433-457 https://doi.org/10.1007/s11616-023-00819-2
Schultz, Tanjev (2020): Ungerechte Medienkritik. Die Corona-Krise ist kein Beispiel für das Versagen,
sondern für den Wert des Journalismus. In: Journalistik, 2/2020, 3. Jg., S. 172-178,
https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/ungerechte-medienkritik/ Englische Version: Tanjev
Schultz: Unjustified media critique. The coronavirus crisis has demonstrated not the failure, but the
value of journalism. In: Journalism Research, 3 (2): 161-167, https://journalistik.online/en/edition-2-
2020/unjustified-media-critique/
Schultz, Tanjev (2023): Kritik und Vertrauen. Einstellungen zu den Medien und vertrauensbildende
Maßnahmen der Redaktionen. In: Jupp Legrand/ Benedikt Linden/ Hans-Jürgen Arlt (Hrsg.): Welche
Öffentlichkeit brauchen wir? Zur Zukunft des Journalismus und demokratischer Medien. Wiesbaden:
Springer VS: 73-84 https://doi.org/10.1007/978-3-658-39629-9_7
Schüler, Ruth Maria/ Judith Niehues/ Matthias Diermeier (2021): Politisches Informationsverhalten:
Ge-spräche und traditionelle Medien liegen vorn. https://www.iwkoeln.de/studien/iw-
reports/beitrag/ruth-maria-schueler-judith-niehues-matthias-diermeier-gespraeche-und-
traditionelle-medien-liegen-vorn.html
Spiegelkritik (SpKr) (2020): Medienkritik zum Corona-Journalismus (Sammlung),
https://www.spiegelkritik.de/2020/10/20/medienkritik-zum-corona-journalismus-sammlung/
Stark, Birgit/ Andreas Riedl/ Mark Eisenegger/ Jörg Schneider/ Linards Udris/ Olaf Jandura (2021):
Qualität des politischen Nachrichtenangebots in Deutschland Empirische Kernbefunde aus dem
ländervergleichenden Projekt "Media Performance and Democracy". In: Media Perspektiven 9/2021,
S. 430-449 https://www.ard-media.de/fileadmin/user_upload/media-
perspektiven/pdf/2021/2109_Stark_u.a.pdf
Weitze, Marc-Denis (2023): Corona-Kommunikation. Eine Krise in Wissenschaft,
Politik und Medien. Berlin: Springer
Welzer, Harald/ Leo Keller (2023): Die veröffentlichte Meinung. Eine Inhaltsanalyse der deutschen
Medienberichterstattung zum Ukrainekrieg. In: Neue Rundschau (S. Fischer Verlage),
https://www.fischerverlage.de/magazin/neue-rundschau/die-veroeffentlichte-meinung [abg.
12.05.2023]
193
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Wormer, Holger (2020): German Media and Coronavirus: Exceptional Communication Or Just a
Catalyst for Existing Tendencies? In: Media and Communication 8 (2): 467470,
https://doi.org/10.17645/mac.v8i2.3242
Wolling/ Kuhlmann/ Schumann/ Berger/ Arlt 2021: 114).
Wolling, Jens/ Christoph Kuhlmann/ Christina Schumann/ Priscila Berger/ Dorothee Arlt (2021):
Corona 2020 Zerreißprobe für die Gesellschaft? Persönliches Erleben und mediale Vermittlung
einer multiplen Krise, Kommunikationswissenschaft interdisziplinär: [kw.interdisziplinär]. Ilmenau:
Universitätsverlag Ilmenau https://doi.org/10.22032/dbt.48770
Zerback, Thomas/ Quirin Ryffel (2024): Attitude extremity and perceived argument diversity expo-
sure in the COVID-19 debate. (Einstellungsextremität und wahrgenommener Kontakt mit vielfältigen
Argumenten in der Covid-19-Debatte über das Tragen von Gesichtsmasken). In: SCM 13 (2): 214-237,
https://doi.org/10.5771/2192-4007-2024-2-214
Zimmermann, Peter (2022): "Die Mutanten werden uns überrennen". Krisenberichterstattung zur
Corona-Pandemie zwischen Information, Panikmache und Disziplinierung. In: Angela Krewani; ders.
(Hrsg.): Das Virus im Netz medialer Diskurse. Zur Rolle der Medien in der Corona-Krise. Wiesbaden:
Springer Vieweg: 39-57.
194
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Anhang
Essay: Desinfektionsjournalismus (uncut)
903
Die Corona-Berichterstattung war kein Leuchtturm der Orientierung | Juni 2020
Von Timo Rieg
Abstract: Die journalistische Berichterstattung über die Corona-Pandemie hat viele bekannte Defizite
gezeigt. Vor allem Recherche und Meinungsvielfalt kamen zu kurz. Entscheidende Fragen wurden vom
Journalismus nicht gestellt, kritische Stimmen nicht gesucht. Gleichzeitig hat die Politik Maßnahmen
ergriffen, die noch viele Jahre lang Wirkungen und Nebenwirkungen zeigen werden und für die der
demokratische Souverän mangels Beteiligung keine Verantwortung tragen kann.
Hinweis: Die angegebenen Belege (B**) stehen im Anhang nach dem Literaturverzeichnis.
"Aber nein, wir geben uns doch nicht mehr die Hand. Jetzt ist 'Elbow-Bumb' angesagt." Einige Male
wörtlich so und in zig Variationen ähnlich habe ich es bei der letzten DGPuK-Jahrestagung
904
(B35)
vernommen. War ich schon seit der Heimholung
905
Deutscher aus Wuhan am 1. Februar 2020 auf
Hab-Acht-Stellung, wurde mir spätestens in München klar: Der Journalismus hat gerade keine Stern-
stunde. Ob er nicht besser konnte oder nicht anders wollte, war damals noch nicht ausgemacht, die
Journalistik wird sich damit noch lange beschäftigen. Aber Elbow-Bumb (B12) war mein Aha-Erlebnis,
zusammen mit meiner ethologisch validierten Beobachtung, dass ein leichtes Nasengeräusch wäh-
rend eines Panels, egal ob mit schnellem Einatmen oder dezentem Schnäuzen, stets ein halbes Dut-
zend Köpfe Richtung Schallquelle schauen ließ, "als hätten sie jene chinesische Fledermaus höchst-
selbst vor sich, die das Virus auf den Menschen übertragen haben soll" (Raether 2020).
Auch wenn ich im Folgenden versuche, so wenig wie möglich über Corona an sich zu sprechen und
auf gar keinen Fall hier diskutiere, welche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sinnvoll, welche
fragwürdig, welche kontraproduktiv waren: 'Elbow-Bumb' und 'Rhinorrhoephobie' warfen die Frage
auf, ob unsere journalistische Landschaft die Orientierungsleistung erbringt, die ihr stets und auch
von sich selbst zugeschrieben wird. Leistet der Journalismus mehr, als einige herausragende Repor-
tagen und investigative Recherchen auf den Belobigungsmarkt zu werfen? Bloß niemandem die Hand
geben (B37), bloß immer die Hände richtig waschen (B34)? Das konnte doch alles nicht ernst gemeint
sein. Hatte irgendein Virologe vergessen den Medien mitzuteilen, dass Sars-CoV-2 kein Hautpilz ist?
Aber es wurde nicht besser. Selbst Wissenschaftsjournalisten rieten zum Einkauf mit Handschuhen
(B36). Gebildete Menschen beklagten sich öffentlich, sie hätten im Restaurant zur Eintragung in die
gesundheitsamtsrelevante Gästeliste einen nicht desinfizierten Stift benutzen müssen. Ein professo-
rales Mitglieder der Grimme-Online-Jury kommentierte, Beiträge, "die sich gegen radikale, freiheits-
beschränkende Maßnahmen" der Corona-Politik wendeten, seien auch "indirekt gegen das Recht auf
903
Dies ist die ursprüngliche Version des Beitrags (Rieg 2020b) vor Kürzung durch den Autor und Gendern
durch die Redaktion der "journalistik". https://journalistik.online/ausgabe-2-2020/desinfektionsjournalismus/
904
http://dgpuk2020.de/
905
https://www.bundeswehr.de/de/organisation/luftwaffe/aktuelles/die-luftwaffe-fliegt-deutsche-aus-
wuhan-aus
195
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Leben und körperliche Unversehrtheit" und benannt (polemisch?) als "Fürsprecher bürgerlicher
Freiheiten" Julian Reichelt und Ken Jebsen (B16). Das sind nur Schlaglichter auf den Informations-
und Diskussionsstand während 'der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg' (B39).
Doch dann begegnete mir Anfang April 2020 zum ersten Mal eine fachwissenschaftliche Legitimation:
"Die Medien berichten gemäß meiner Beobachtung bis jetzt weitgehend im Einklang mit der sehr
guten Kommunikation des Bundes, [...]. Es war sicher richtig, dass in dieser schwierigen Situation die
Journalisten nicht mit vorauseilender Kritik an Behördenentscheiden noch mehr zur Verunsicherung
beigetragen haben." (Wyss 2020)
Das sehe ich grundlegend anders und unterstütze Hektor Haarkötters Appell:
>Liebe Journalist*innen, bitte macht doch wieder Eure Arbeit: Berichtet kritisch, fragt nach,
bringt Mindermeinungen zu Gehör und vergesst den Rest der Welt nicht.< (Haarkötter 2020)
Die ersten Monate Corona-Berichterstattung bieten alles, was an journalistischen Qualitätsdefiziten
(oft genug nur abstrakt) diskutiert wird.
1. Demokratie verlangt informierte Bürger
Wieviel der real existierende Journalismus der Demokratie nutzt, wieviel er ihr schadet, werden wir
nie verlässlich wissen, weil die dafür nötigen Experimente schlicht nicht durchführbar sind. Deshalb
müssen wir uns mit theoretischen Überlegungen und empirischen Indizien begnügen: Allgemeine
Wahlen verlangen informierte Wahlberechtigte, zu ihrem eigenen Wohl und dem Schutz der ande-
ren. Wichtiger ist allerdings aufgrund der erheblichen Demokratiedefizite des parlamentarisch-
repräsentativen System (vgl. Rieg 2020a: 12f) der fortwährende öffentliche Diskurs. Administratives
Handeln von Regierungen und ihren unzähligen Behörden kann überhaupt nur durch das gesell-
schaftliche Gespräch kontrolliert werden, weil es dafür schlicht keine Legislative braucht und etwa
parlamentarische Regierungsbefragungen durch die Opposition ohne Öffentlichkeit wirkungslos blie-
ben. Plenardebatten sind ausschließlich Reden für die Öffentlichkeit, sagen selbst Politiker (Apel
1993: 177).
Für die exekutive Corona-Politik hatte niemand ein konkretes Mandat, trotz vorhandener Gesetze
und zahlreicher Szenarien in den Fachbehörden. "Das erfordert von den Medien und vom Journalis-
mus ein Höchstmaß an Achtsamkeit, Vorsicht, Zurückhaltung und Distanz" (Jarren 2020). In keinem
Wahlprogramm wurde je ein Shutdown oder Lockdown für den Fall der Fälle angeboten, und allein
die politische Synchronisation von Bund und 16 Ländern (B1) zeigt überdeutlich: Wähler spielten hier
keine Rolle, selbst Parlamente waren bedeutungslos. Stattdessen erhebt der Journalismus Politiker,
die sich längst selbst "Regierungschefs" (B1, B2, B3) nennen, zu "Länderchefs" (B14), quasi zu Köni-
ginnen und Königen oder wenigstens Fürsten (B15). Sogar wenn man einem minimalistischen Demo-
kratiemodell à la Joseph Schumpeter anhängen und die 'Elitendemokratie' befürworten sollte än-
derbar müsste es stets bleiben, denn ein solches Selbstbestimmungsrecht ist der Wesenskern von
Demokratie (vgl. Abromeit 2002: 165). Es geht nie darum, die besten Entscheidungen zu treffen, für
die irgendwelche Philosophenkönige auserkoren werden, sondern als (Zwangs-)gemeinschaft so zu
handeln, dass die größtmögliche Zufriedenheit bzw. die geringstmögliche Unzufriedenheit erzeugt
wird: Meine Freiheit wird genau und nur dort zur Verhandlungssache, wo sie die Freiheit anderer
tangiert (ausführlich Rieg 2020a). Den für jede Demokratie elementaren Informations-Job bean-
sprucht der Journalismus für sich, und alle entsprechende Gesetzgebung und Rechtsprechung fußt
auf dieser Aufgabenzuschreibung (Rieg 2020d).
196
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Was die Exekutive von Bundesregierung bis zu lokalen Gesundheitsämtern empfehlen, vorschreiben,
vollstrecken, das ließ sich zu jedem Zeitpunkt in 5 Minuten sagen, mit Hintergrundinfos ('Was ist ein
Virus?' etc.) brauchte es vielleicht 15 Minuten. Doch was wurde dann 24/7 gesendet, gedruckt, ge-
postet? Ich bin gespannt auf die Inhaltsanalysen. Wahrgenommen habe ich Tüddelkram: Hier ein
neuer Corona-Fall, dort ein Einreiseverbot, frustrierte Nicht-Urlauber hüben, 'gestrandete' Urlauber
drüben, da eine Studie, drüben ein Regelungschaos. Dann: Hätte man nicht längst wissen müssen,
reagieren können, kam dies/ das/ jenes zu spät, wo sind die Kontrollen, die Strafen, die harten Hän-
de? Und natürlich die ganze Breite an Durchhalteparolen: Was ist deine Lieblingsmaske?, Entschleu-
nigung, Tipps fürs Homeschooling. Es war zum Davonlaufen aber ich hatte ja, wie alle ohne amtli-
chen Passierschein, Hausarrest (B6).
Es ist für diese Kritik übrigens bedeutungslos, wenn sich eine informierte, nicht manipulierte Gesell-
schaft in geeigneten Deliberationsverfahren für exakt all die Maßnahmen entschieden hätte, die nun
ohne ihr Votum kamen. Allerdings hielte ich dies bei der Vielzahl an getroffenen Regelungen mit all
ihren Widersprüchlichkeiten, absurden bis kontraproduktiven Wirkungen und nur mit Lobbyismus
oder Willkür erklärbaren Differenzierungen für praktisch ausgeschlossen. Vor allem aber lagen so
unglaublich viele wichtige Informationen nicht vor, dass kaum vorstellbar ist, sie hätten, vom Journa-
lismus zur Verfügung gestellt, keinerlei Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung gehabt.
2. Informierte Bürger verlangen journalistische Recherche
Was Politiker und die ihnen unterstehenden Behörden an Regularien erlassen, können diese heute
sehr gut selbst den Bürgern mitteilen. Zu Corona gibt es jede Menge amtliche Informationen, die
'Pressekonferenzen' sind Streaminghighlights. Das ist keine "Umgehung von Medien" (B17), sondern
technisch bedingter demokratischer Fortschritt, der den Journalismus eigentlich schon rein ökono-
misch fordern sollte, Eigenleistungen zu erbringen, was weit vor der Kommentierung meint: zu re-
cherchieren, anstatt auf Politik-PR hereinzufallen (B52). Doch Meier/ Wyss (2020) konstatierten An-
fang April m.E. völlig zutreffend: "Die Medien [...] transportierten eher kritiklos und kaum mit eige-
nen Recherchen flankiert die Analysen und Forderungen weniger dominanter Virologen und die Ent-
scheidungen der Regierungen."
Der Journalismus reduzierte alle Handlungsoptionen auf "Flatten the curve", zu Deutsch: Wer sich
nicht sofort zuhause einschließt, gefährdet sich und vor allem andere. Wie allen vernehmbaren 'öf-
fentlichen Personen' erschien dies offenbar auch praktisch allen Journalisten so logisch, so alternativ-
los (vgl. Russ-Mohl 2020a), so faktisch richtig, dass sie nicht einmal der ersten auf der Hand liegenden
Recherchefrage nachgegangen sind, nämlich: Welche Folgen könnte das haben? Dass eine Reduzie-
rung bis Vermeidung von physischen Kontakten einem sich auf diesem Wege reproduzierendem
Virus zu schaffen machen würde, klang logisch. Aber keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Was wird
ein Shutdown kosten und wer wird ihn bezahlen, was wird dadurch nicht mehr möglich sein? Welche
sozialen Folgen eines Lockdowns sind zu erwarten oder wenigstens denkbar, welches Leid wird damit
verursacht werden? Die Liste von Nebenwirkungen ist jedenfalls so lang und vielfältig, dass Verant-
wortung für die geplanten Wirkungen nur übernehmen könnte, wer alle Aspekte kennt. Darüber zu
informieren war die Aufgabe des Journalismus. Doch was sagt Medienethikerin Marlis Prinzing
(2020): "Die Anfangsphase der Berichterstattung über Corona in Deutschland lässt sich verantwor-
tungsethisch rechtfertigen. Man kann argumentieren, dass die sie prägende Zurückhaltung bis hin zu
einer Art Hofberichterstattung den Zweck haben konnte, nicht verantwortlich zu sein für die Folgen
(mehr Infizierte!), die es auslösen könnte, z.B. Maßnahmen zur Sozialdistanz anzuzweifeln."
Ich kann mir überhaupt keine Situation vorstellen, die eine "Art Hofberichterstattung" rechtfertigt.
Wenn der Journalismus nichts beizutragen hat, dann soll er schweigen, der 'Hof' informiert schon
197
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
selbst. Wer aber journalistisch berichten will, muss zuvor recherchieren (vgl. Ziffer 2 des deutschen
Pressekodex), umso mehr, als wir die Haltung von Regierungen kennen: "die Bevölkerung muss nicht
alles wissen" (B53). Verantwortung für Nichtberichterstattung kann nur übernehmen, wer kennt, was
ihm nicht berichtenswert erscheint. Es gibt keine verantwortungsethische Rechercheverweigerung.
Ja, Journalisten können über eine Entführung schweigen, um das bekannte Beispiel zu nehmen, aber
nur, wenn sie die Situation kennen (vertrauliche Mitteilungen der Polizei, eigene Erkenntnisse) und
eine Unterrichtung der Öffentlichkeit für deren Orientierung (zu diesem Zeitpunkt) nicht notwendig
erscheint. Will irgendeiner der 'Hofberichterstatter' behaupten, alle Konsequenzen des staatlichen
Handelns recherchiert zu haben und vor diesem profunden Hintergrund all seine Erkenntnisse ver-
schwiegen zu haben? Will irgendein Journalist behaupten, anstelle des Souveräns entschieden zu
haben, wie viele tote, verletzte, zerstörte Menschen fraglos für den Coronaschutz zu akzeptieren
sind, wie viele Milliarden bis Billonen Euro "alternativlos" (B4) in diesem kurzen Moment und aus-
schließlich für unsere Generation eingesetzt werden müssen?
Es ging nicht um irgendwelche Kleinigkeiten, es ging auch nicht um investigative Fragen (wann wuss-
te wer was?). Es ging um viel grundlegendere Fragen. An erster Stelle: Wo wären die Grenzen für
eine bis ins i-Tüpfelchen hinein demokratisch legitimierte, also mindestens mehrheitlich beschlosse-
ne Pandemie-Politik, wenn sie in das Leben Dritter eingreift? Das Handeln hier hat ggf. globale Aus-
wirkungen, und das Handeln heute stellt künftige Generationen vor vollendete Tatsachen. Wie viele
Ressourcen dürfen die heute Lebenden für ihr (Über-)Leben von den künftig Lebenden nehmen?
Solche Fragen wurde nicht gestellt, geschweige denn recherchierend beantwortet, mit Szenarien
versehen, in ihren Folgen prognostiziert (Rieg 2020d). Das Bundesverfassungsgericht war jedenfalls
2006 der Ansicht, solche Aufrechnungen seien unzulässig, weil der Staat die betroffenen Menschen
"als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer" behandle (B31), was wohl bedeuten
muss: außer im Kriegsfall ist es nicht zulässig, staatlicherseits Menschen zu töten, um anderen das
Leben zu sichern (kritische Stimmen dazu: B32). Stattdessen wurde so getan, als sei der Lebensschutz
der deutschen Bevölkerung unverhandelbar oberstes Gebot, dem alles andere unterzuordnen sei.
Zwar blieb Wolfgang Schäubles kleine und späte Gegenrede (B23) ohne journalistischen Protest,
dafür fanden die Medien in Boris Palmer umso fettere Beute (B25). Ein bekannter Poltergeist nannte
ihn gleich "Dummbacke" (B26), eine Qualitätszeitung seine Frage "inakzeptabel" (B27), dafür wurde
ein journalistisch so beliebtes Kontinuum geschaffen: 'es ist nicht das erste Mal, dass XY negativ auf-
fällt' (B24). Der Tübinger Oberbürgermeister hatte gewagt zu fragen, was der Journalismus zu fragen
verweigerte: Was ist mit den Nebenwirkungen des Shutdowns, der laut UN zu vielen Armutstoten
führen könnte (B51; Rieg 2020c)? Doch anstatt zu dieser Frage zu recherchieren, entblödeten sich die
Medien nicht, auch noch Tage später aus einer zu Skandalisierungszwecken völlig aus dem Zusam-
menhang gerissenen Frage eine Aussage zu machen und selbst Palmers Reaktion darauf wiederum
falsch darzustellen (B21).
198
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
3. Journalistische Recherche verlangt, Meinungen und Fakten zu erkennen und zu trennen.
Auch wenn die Trennung von Tatsachen (Fakten) und Meinungen (Interpretationen von Fakten) im-
mer wieder zur Diskussion gestellt wird, ist sie die Grundlage jeder Recherche und damit des Journa-
lismus an sich. Die 'Trennungsnorm' bezieht sich zwar auf die Darstellung, doch noch wichtiger ist,
dass Journalisten selbst bei ihrer Arbeit Meinungen und Fakten erkennen und unterscheiden. Was
banal klingt, scheitert leider empirisch betrachtet ständig. So lesen wir in allen Corona-
Statusberichten, dass Covid-19-Patienten 'beatmet werden müssen' (B40, B41, B42). Fakt ist aber
allein, dass sie beatmet werden. Ob das auch notwendig ist, lässt sich mindestens vom Journalismus
gar nicht entscheiden. Die Therapie beruht auf der Meinung behandelnder Ärzte, öffentliche Ver-
lautbarungen auf der Meinung von Verbänden, Lobbyisten und einzelnen Profis (B43). Wer aber
nicht versteht, dass es sich bei der Entscheidung für die Beatmung um eine Meinung und nicht um
ein Naturgesetz handelt, der wird lebensnotwendige Recherchefragen nicht stellen. Und so ist es mit
der gesamten Pandemiebekämpfung und Patientenversorgung: Pneumologen, Intensiv- und Pallia-
tivmediziner haben grundlegend andere Vorstellungen von dem, was zu tun ist weil sie unter-
schiedliche Ziele verfolgen und ggf. verschiedenen Lehrmeinungen anhängen (B50).
Anderes Beispiel: Ein dpa-Faktencheck stellte fest: "Regierung plant keine App-Pflicht für Restaurant-
Besucher" (B44). Den Beleg für dieses behauptete Faktum sucht man im Text natürlich vergeblich.
Denn niemand außer 'der Regierung' weiß, was 'die Regierung' plant. Kein Informant, kein Protokoll,
selbst kein illegal abgehörtes Gespräch könnte beweisen, was es nicht gibt. Es ist die uralte Sache mit
der falschen Tatsachenbehauptung "Schmidt will nicht Kanzler werden" (Esslinger/ Schneider 2015:
24). Es war nur eine Meinungsbehauptung, keine Tatsachen.
Viele Meinungen werden als Tatsachen verkauft. Was ist mit der oben zitierten, weit verbreiteten
Behauptung, wer auf seine persönliche Freiheit poche stelle das Leben anderer zu Disposition? Könn-
te es sein, dass hier Meinungen und Fakten verschwimmen und genau deshalb grundlegende Fragen
vom Journalismus nicht bearbeitet werden? Das größte Hindernis für einen Orientierung gebenden
Journalismus sind Journalisten, die ein Thema verstanden zu haben glauben; denn wem alles klar ist,
der hält seine fundierte Meinung für Fakten, für die Wahrheit, die korrekte Weltbeschreibung.
In seinem Mutmach-Podcast "Wir gegen Corona" äußert sich Hajo Schumacher zur "Wirklichkeitsver-
zerrung" durch "Schreihälse". Mehr als 70 Prozent hießen "den Kurs, den 'die da oben' vorgeben"
gut. "Die 20 Prozent, die dagegen sind, sind aber die, die immer dagegen sind. Das sind auch die, die
den Klimawandel für eine Lüge halten, das sind die, die sagen, Migranten müssen alle im Mittelmeer
ertrinken, das sind die, die sagen, dass die Erde eine Scheibe ist und das sind die, die eine bestimmte
Partei wählen würde ich mal sagen." (B18, ab 11:07) Dem Glauben, die Erde sei eine Scheibe, steht
diese Weltsicht in nichts nach. Aber wozu recherchieren, wenn man seine Meinung für ein Faktum
hält.
Brost/ Pörksen (2020) schreiben: "In der ersten Phase der Krise mag es richtig gewesen sein, vor
allem auf Virologen zu hören und medizinische Maßnahmen zu diskutieren." Nein, da irren der "Poli-
tikchef der ZEIT" und "der Christian Drosten unter den Medienforschern" (Russ-Mohl 2020a). Denn
um beurteilen zu können, was richtig gewesen sein mag, muss zum einen die Problemstellung geklärt
sein, zum anderen braucht es zu dieser dann alle recherchierbaren Sichtweisen. Auf Virologen zu
hören soll ja stets heißen: auf die "Profis" (B46), auf diejenigen, die wissen, was zu tun ist. Das klingt
sinnvoll, wenn ich etwas über Viren wissen möchte. Der Virus-Profi ist aber nicht nur kein Pandemie-
Profi, er kann vor allem nicht an meiner statt entscheiden, was wichtig ist und was nicht, welche Ziele
unsere Gesellschaft verfolgt und mit welchen Mitteln. Es sind Experten, denen wir all das zu verdan-
ken haben, was spätestens heute als großes Problem gesehen wird: Begradigte Flüsse, autofreundli-
che Städte, aseptische Kindheiten, eine tierverarbeitende Großindustrie wie Tönnies, Baumplantagen
statt Wälder oder auch eine mit dem Bahnfahren überforderte Bahn (B33) sind das Ergebnis von
199
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Profis. Diese Profis haben getan oder geraten zu tun, was aus ihrer Expertensicht richtig ist. "Nicht
nur Politik, auch Wissenschaft beruht auf Voraussetzungen, Interessen, Werten, Annahmen, Model-
len und Prognosen kurz: Interpretationen, um die es zu streiten gilt." (Dotzauer 2020)
4. Fakten verlangen Meinungsvielfalt
Zu manchen Fakten braucht es keine Meinungsangebote, weil ohnehin nur wir selbst eine relevante
Meinung dazu haben können. Staumeldungen im Radio, Bundesligatabellenstände, die aktuelle Uhr-
zeit oder das Wetter. Was andere dazu denken, bietet uns hier normalerweise keine Orientierung.
Allerdings braucht es für solcherart Fakten auch nur selten Journalismus. Die journalistische Leistung
ist es, Antworten auf Fragen zu suchen, die ansonsten nicht zur Verfügung stehen. Dazu wird immer
gehören, verschiedene Interpretationen der recherchierten Fakten zu liefern, wenn diese Meinungen
nicht gar die alleinige Rechercheleistung sind, weil die Fakten schon bekannt sind.
Weil so viele Journalisten Fakten und Meinungen nicht auseinanderhalten, wird der Notwendigkeit
von Meinungsvielfalt immer wieder begegnet mit Parolen der Art: "Keine Bühne mehr für Klimaleug-
ner" (B45). Nur: der 'Klimawandelleugner' vertritt ja schon dem Namen nach keine Meinung (zu be-
kannten oder neuen Fakten), sondern ignoriert Tatsachen. Den Treibhauseffekt von CO2 kann man
messen und experimentell nachstellen, an ihm gibt es nichts zu diskutieren. Das gilt für viele, viele
Details, etwa, dass bestimmte menschengemachte Luftschadstoffe das Klima abkühlen. Wie die
Menschheit auf diese sehr komplexen Nebenwirkungen ihres Wirkens reagieren soll, das kann aber
auch der größte Experte nicht sagen und auch nicht ein Komitee mit zig Profis verschiedenster Cou-
leur, weil u.a. Interessen und Werte keine Fakten sind, sondern Meinungen, für die ausschließlich der
vom Journalismus meist als Publikum bezeichnete Souverän zuständig ist. Ob die Menschheit die
große Abrissparty feiern, zum Schutz künftiger Generationen von heute auf morgen klimaneutral
leben oder sich für irgendetwas dazwischen entscheiden will, ist eben gerade nichts für Profis. Das
heißt: "Klimawandelleugner" gehören selbstredend auf keinerlei Podium, aber Vertreter der "nach
uns die Sintflut"-Haltung unbedingt. Zu jeder Meinung muss die Gegenposition zu Wort kommen,
sonst ist sie keine Meinung mehr, sondern ein behauptetes Faktum oder Glaube, über den es nichts
zu diskutieren gibt, nichts abzustimmen, zu wählen, zu verhandeln oder zu kommentieren. Wer keine
Meinungsvielfalt will, braucht keinen Journalismus, und ein Journalismus ohne Meinungsvielfalt ist
Propaganda.
Um Meinungsvielfalt zu ermöglichen, muss sich der Journalismus von seinem Storytelling 'Gut gegen
Böse' verabschieden. Fiction-Autoren legen die Rollen für Helden und Bösewichte fest, Reporter
überlassen dies ihren Kunden. Völlig in Ordnung, wenn Christian Drosten zu einer Äußerung Luc
Montagnier's (Nobelpreis 2008 für HIV Erforschung) meint: "Es ist schwierig für einen aktiven Wis-
senschaftler in der Virologie zu sagen, dass ein Nobelpreisträger im Fach Virologie Unsinn verbreitet.
Aber das ist kompletter Unsinn." (B29) Aber das sollten dann mit ähnlicher Apodiktik eben auch ein
anderer Virologe über irgendeine Drosten-Meinung in die mediale Diskussion einbringen dürfen (vgl.
Meyen 2020). Als es an einem Preprint von Drosten Kritik gab, wurde der gute Virologe von den Me-
dien wie von Wachhunden verteidigt, Kampagne (B48) und Skandalisierung (B49) wurde dem Über-
bringer der Botschaft (B47) unterstellt. Anders beim bösen Virologen Hendrik Streeck (oder dem
Virologen, der einen bösen Ex-BILD-Mann in seine Nähe gelassen hat): seine 'Heinsberg-Studie' wur-
de "von Anfang [an] mit höchster wissenschaftlicher und medialer Skepsis begleitet" und er selbst "in
der medialen Luft zerfetzt" (Reisin 2020). Für Meinungsvielfalt, genau das, was als Selbstregelungs-
kraft der Wissenschaft hochgehalten wird, hatte der Journalismus in beiden Fällen keinen Platz.
Für die demokratische Meinungsvielfalt muss es jedoch egal sein, was 'der Journalismus' meint, ob
Chefredakteure, Ressortleiter oder Leitartikler die Bundeswehr als neue Allzweckwaffe im Inland
200
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
gutheißen, Datenschutz angesichts einer Pandemie für Kinkerlitzchen halten, oder die Klage über
Freiheitsbeschränkungen angesichts von 75 Jahren Frieden lächerlich finden. Für die Demokratie ist
allein relevant, ob alle Sichtweisen eine Chance auf öffentlichen Diskurs bekommen. Es ist nicht da-
mit getan, auf irgendwo doch Veröffentlichtes zu verweisen (B30); relevant ist, ob im gewöhnlichen
Medienkonsum Meinungsvielfalt zu entdecken möglich ist. Mit Bezug auf Rezo's Pressekritik sah
Marion Kuchenny vor allem bei "den Kollegen der großen Printmedien" einen gewissen "Hang, sich
selbst für das Maß aller Dinge zu halten und in einer fast schon arroganten Weise die journalistische
Deutungshoheit über Themen und deren Bewertung zu beanspruchen" (B9).
5. Meinungsvielfalt verlangt Medienkritik
Eben weil überall vieles nicht optimal läuft und dies im Journalismus nicht anders ist, braucht es die
Kritik. Medien- bzw. Journalismuskritik ist ein öffentliches Korrektiv. Was die Branche selbst dazu
beiträgt, wieviel und welchen Journalismusjournalismus (Malik 2004) es während der Pandemie gab,
wird hoffentlich noch erforscht. Wahrgenommen habe ich bisher äußerst wenig. Die Radiosendungen
'Texte, Töne, Bilder' (WDR5), 'Was mit Medien' (Deutschlandfunk Nova), "Das B5 Medienmagazin"
(BR) und das "Radio Eins Medienmagazin" (RBB) haben Woche für Woche alle vier die gleichen The-
men, Journalismuskritik gibt es nur in Bezug auf die BILD-Zeitung oder als Paraphrase durchgeknallter
Verschwörungstheoretiker, gegen die man sich rüsten muss. In der Presse "ist die Medienseite [...]
eine Fernsehprogrammseite oder eine Kulturseite"; eine "Metaebene, um die eigene Arbeit selbstkri-
tisch zu reflektieren" (Schicha 2020) gibt es höchstens in Ansätzen. Die Kritik von Rezipienten bleibt
in User-Kommentaren verbannt und wird so gut wie nie in der Berichterstattung aufgegriffen, die
Kritik von Nichtnutzern wird komplett ignoriert (wie die Politikkritik von Nichtwählern). Aber auch
der Forschung wird wenig Interesse entgegengebracht, worüber Noelle-Neumann schon vor über
vierzig Jahren klagte (1977: 8) und wozu Russ-Mohl (2020b) jüngst sagte: "Der Journalismus ist wohl
die einzige Profession, von der die zugehörige Wissenschaft nicht ernstgenommen wird. Ich frage
mich, ob man weiterhin zu einem Arzt gehen würde, der einem ins Gesicht sagt, er interessiere sich
überhaupt nicht für die medizinische Forschung." Dabei müsste der Journalismus bei der Journalistik
ja nicht die Schulbank drücken, er wäre viel mehr in seinem Kerngeschäft gefordert, so wie er bei
Drosten, Streeck, Kekulé & Co gefordert ist.
Schließlich gilt nicht nur für Virologie und Epidemiologie: "Wissenschaft ist immer fehlbar, über den
Irrtum und über die Überprüfung von Positionen entsteht am häufigsten Fortschritt." (Prinzing 2020)
Über den Autor
Timo Rieg (*1970) hat Biologie in Bochum und Journalistik in Dortmund studiert. Er ist freier Journa-
list mit den Schwerpunkten Medienkritik und Demokratieentwicklung. Er hat mehrere Sach- und
Fachbücher geschrieben und ist seit 2006 (Mit-)Herausgeber von Spiegelkritik.de.
201
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Literatur zum Anhang "Desinfektionsjournalismus"
Als Literatur angegeben sind nur wissenschaftliche Beiträge und solche, die sich journalistisch mit
Journalismus beschäftigen bzw. aus denen mehr als ein Schlagwort zitiert wurde. Alles andere ist der
Einfachheit halber in Kurzform als nummerierter Beleg verlinkt, der jeweils nur Beispielcharakter hat.
Abromeit, Heidrun (2002): Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der
Demokratietheorie. Opladen: Leske + Budrich
Apel, Hans (1993): Die deformierte Demokratie. Parteienherrschaft in Deutschland. München: Knaur
Brost, Marc/ Bernhard Pörksen (2020): Angesteckt [Warum der Journalismus in der Corona-Krise
besonders gebraucht wird und vor welchen Problemen er steht]. In: Die Zeit Nr. 16 vom
08.04.2020, S. 6, online unter https://www.zeit.de/2020/16/coronavirus-berichterstattung-
journalismus-information/komplettansicht [abg. 22.04.2020]
Dotzauer, Gregor (2020): Warum wir nicht nur auf Experten hören dürfen. In:
https://www.tagesspiegel.de/politik/coronavirus-zwischen-demokratie-und-technokratie-warum-
wir-nicht-nur-auf-experten-hoeren-duerfen/25713026.html
Haarkötter, Hektor (2020): Geht’s auch mal wieder kritisch? In: Menschen Machen Medien,
01.04.2020, https://mmm.verdi.de/beruf/gehts-auch-mal-wieder-kritisch-65457 [14.04.2020]
Jarren, Otfried (2020): Im Krisenmodus. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Zeiten von Corona. In:
epd medien Nr. 13, 27. März 2020
Malik, Maja (2004): Journalismusjournalismus. Funktion, Strukturen und Strategien der journalisti-
schen Selbstthematisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Meier, Klaus/ Vinzenz Wyss (2020): Journalismus in der Krise. Die fünf Defizite der Corona-
Berichterstattung. In: Meedia, 09.04.2020, https://meedia.de/2020/04/09/journalismus-in-der-krise-
die-fuenf-defizite-der-corona-berichterstattung/ [27.04.2020]
Meyen, Michael (2020): Kniefall vor der Wissenschaft. In: Medienrealität (Blog), 26.03.2020,
https://medienblog.hypotheses.org/9360 [27.04.2020]
Noelle-Neumann, Elisabeth (1977): Vorwort. In: Klaus Schönbach: Trennung von Nachricht und Mei-
nung. Empirische Untersuchung eines journalistischen Qualitätskriteriums. Freiburg/ München: Karl
Alber [Dissertation]
Prinzing, Marlis (2020): Die Krisenbeobachter. In: European Journalism Obervatory, 14.04.2020,
https://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/die-krisenbeobachter-journalismus-waehrend-der-corona-
pandemie [27.04.2020]
Raether, Elisabeth (2020): Bleibt mir vom Leib! In: Die ZEIT Nr. 25, 10.06.2020, S. 1
Reisin, Andrej (2020): Von der fehlenden journalistischen Distanz zu Christian Drosten. In: Überme-
dien, 30.05.2020, https://uebermedien.de/49613/von-der-fehlenden-journalistischen-distanz-zu-
christian-drosten/ [25.06.2020]
Rieg, Timo (2020a): Ausgeloste Bürgerparlamente Warum die Politikwissenschaft dringend empiri-
sche Forschung zur aleatorischen Demokratie braucht. In: Bayerischer Forschungsverbund Zukunft
der Demokratie (Hrsg.): Working Paper Nr. 2, https://fordemocracy.hypotheses.org/2765
202
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Rieg, Timo (2020b): Der Corona-Gehorsam. In: Telepolis, 15.03.2020,
https://www.heise.de/tp/features/Der-Corona-Gehorsam-4682952.html [27.04.2020]
Rieg, Timo (2020c): Journalismus im Krankenstand. In: Telepolis, 26.03.2020,
https://www.heise.de/tp/features/Journalismus-im-Krankenstand-4691152.html [27.04.2020]
Rieg, Timo (2020d): Wir retten Menschenleben mit Menschenleben, ohne darüber zu verhandeln. In:
Telepolis, 7.05.2020,
https://www.heise.de/tp/features/Wir-retten-Menschenleben-mit-Menschenleben-ohne-darueber-
zu-verhandeln-4715085.html?seite=all [27.04.2020]
Russ-Mohl, Stephan (2020a): Corona in der Medienberichterstattung und in der Medienforschung.
In: bruchstücke Blog für konstruktive Radikalität (hrsg. von Wolfgang Storz), 16.04.2020,
https://bruchstuecke.info/2020/04/16/corona-in-der-medienberichterstattung-und-in-der-
medienforschung/ , pdf-Version auch unter https://de.ejo-online.eu/wp-content/uploads/Corona-in-
der-Medienberichterstattung-und-Medienforschung.pdf [27.04.2020]
Russ-Mohl, Stephan (2020b): "Bei solchem Journalismus bin ich etwas ratlos" [Interview mit Nick
Lüthi]. In: Medienwoche, 23.04.2020, https://medienwoche.ch/2020/04/23/bei-solchem-
journalismus-bin-ich-etwas-ratlos/ [09.05.2020]
Schicha, Christian (2020): "Kritik ist immer erlaubt und wichtig" [Interview mit Timo Rieg]. In: Telepo-
lis, 25.05.2020 https://www.heise.de/tp/features/Kritik-ist-immer-erlaubt-und-wichtig-4727636.html
[25.06.2020]
Wyss, Vinzenz (2020): Die Rolle des Journalismus in der Corona-Krise [Interview mit Susanna Spörri].
In: Language matters Blog für Sprache und Kommunikation, 02.04.2020,
https://blog.zhaw.ch/languagematters/2020/04/02/die-rolle-des-journalismus-in-der-corona-krise/
[07.04.2020]
------------------------
Belege zum Anhang
B1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/vereinbarung-zwischen-der-
bundesregierung-und-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-bundeslaender-angesichts-
der-corona-epidemie-in-deutschland-1730934
B2 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-
ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-im-anschluss-an-das-
gespraech-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1751050
B3 https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressekonferenz-von-bundeskanzlerin-merkel-
ministerpraesident-soeder-und-dem-ersten-buergermeister-tschentscher-im-anschluss-an-das-
gespraech-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-1749850
B4 https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/bundestag-beschliesst-rettungspaket-
schuldenbremse-ausgesetzt-li.79512
B5 https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript118.pdf
B6 SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung SARS-CoV-2-EindmaßnV,
https://web.archive.org/web/20200322221201/https://www.berlin.de/corona/massnahmen/verord
nung/ sowie
https://www.berlin.de/corona/_assets/downloads/001_konsolidierte_eindaemmungsmassnahmenv
o_240320.pdf
203
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
B7 https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript138.pdf
B8 https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript160.pdf
B9 Marion Kuchenny: "mimosenhafte Eingeschnapptsein",
https://twitter.com/marion_kuchenny/status/1272191644851412997
B10 Polizei misst mit Zollstock den Abstand zwischen 2 Personen (wenn auch erst auf "Provokation"
hin; nur: der Abstand zwischen Polizist und vermessenen Bürgern ist zwangsläufig kleiner als 150cm)
https://www.berliner-kurier.de/kiez/draussen-trotz-corona-polizei-misst-mit-dem-zollstock-ob-
sonnenhungrige-abstand-halten-li.80519
B12 Mehrfach "Elbow bump" auch noch zwei Monate später zu sehen in "Happy Birthday, Thomas
Gottschalk", https://www.zdf.de/show/happy-birthday-thomas-gottschalk
B14 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus-laender-merkel-grossveranstaltung-
schulen-kitas-100.html
B15 https://www.tagesschau.de/kommentar/guetersloh-101.html
B16 Kommentar Lorenz Lorenz-Meyer https://bit.ly/2BPUQ6l
B17 "unter Umgehung der Medien"
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/trump-wahlbetrug-107.html
B18 "Wir gegen corona", Folge 52
https://www.morgenpost.de/podcast/wir-gegen-corona/article229029663/Wir-gegen-Corona-Folge-
52-Nimm-mich-bitte-mal-in-den-Arm.html
https://castbox.fm/vb/258971123?_t=11%3A08
B19 https://www.tagesspiegel.de/politik/coronavirus-zwischen-demokratie-und-technokratie-
warum-wir-nicht-nur-auf-experten-hoeren-duerfen/25713026.html
B21 FAZ "Podcast für Deutschland" vom 27. Mai 2020. Auszug des Gesprächs:
Tami Holderried: "Sie sind so verstanden worden, dass es sich nicht lohnen würde, um jedes Men-
schenleben zu kämpfen. [...]
Palmer: So konnten es aber nur Leute verstehen, die entweder nicht zugehört haben, den Kontext
nicht sehen wollten oder halt böswillig sind. [...]
Holderried "Für die Aussagen über die Corona-Maßnahmen haben Sie sich aber hinterher entschul-
digt. Also können Sie auch ein Stück weit nachvollziehen, dass Sie mit solchen Aussagen anecken?
Palmer: "Sie sollten exakt bleiben. Ich habe mich nicht für die Aussagen entschuldigt, sondern für die
ungewollten Wirkungen. [...]"
https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-podcast-fuer-deutschland/warum-boris-palmer-bei-den-
gruenen-bleiben-will-16788763.html
B22 https://www.tuebingen.de/Dateien/stellungnahme_corona_ob.pdf?
B23 https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-
dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html
B24 "Palmer stand in den vergangenen Jahren wiederholt wegen provokanter Äußerungen in der
Kritik. Es ist das erste Mal, dass er sich ausdrücklich entschuldigt hat."
https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/palmer-bekraeftigt-
entschuldigung-nach-aeusserung-alte-menschen-100.html
B25 https://taz.de/Boris-Palmer-und-die-Coronakrise/!5682102/
204
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
B26 https://www.bild.de/politik/kolumnen/franz-josef-wagner/post-von-wagner-lieber-boris-
palmer-70357844.bild.html
B27 https://www.sueddeutsche.de/politik/boris-palmer-inakzeptabel-1.4890996
B28 https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/wissenschaftsleugnung-in-zeiten-von-corona/
B29 https://www.ndr.de/nachrichten/info/coronaskript194.pdf
B30 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/wie-medienforschung-sich-laecherlich-macht-
16729555.html
B31
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1
bvr035705.html
B32 https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-triage-dilemma-die-aerzte-als-tragische-
helden.976.de.html?dram:article_id=474757
B33 https://www.heise.de/tp/features/Ab-Sonntag-gilt-ein-neuer-Fahrplan-der-Bahn-und-wieder-
soll-vieles-besser-werden-4245027.html
B34 https://youtu.be/sLa_QiWulPE
B35 http://dgpuk2020.de/
B36 bei 1:50 https://www.deutschlandfunk.de/forschung-
aktuell.675.de.html?cal:month=3&drbm:date=2020-03-31
B37 https://www.ostsee-zeitung.de/Vorpommern/Stralsund/Angst-vor-Coronavirus-Kanzlerin-
Merkel-verzichtet-in-Stralsund-auf-Handschlag
B38 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/ansprache-der-kanzlerin-
1732108
B39 Dass die Medien überwiegend selbst diese Aussage von Bundeskanzlerin Merkel unzutreffend
zitiert haben ist mehr Normal- als Sonderfall. Wörtlich sagte sie: "Seit der Deutschen Einheit, nein,
seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf
unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt." (B38) Daraus wurden Wendungen wie "Mer-
kel: 'Corona-Krise größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg'" bei der Neuen Westfälischen
https://www.nw.de/nachrichten/politik/22728344_Merkel-Corona-Krise-groesste-Herausforderung-
seit-dem-Zweiten-Weltkrieg.html oder beim Spiegel: "Deutschland steht nach den Worten von Kanz-
lerin Angela Merkel in der Coronakrise vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg.
Es habe seither nichts gegeben, 'bei dem es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln
ankommt', sagte Merkel in einer TV-Ansprache."
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/angela-merkel-sieht-corona-krise-als-groesste-
herausforderung-seit-dem-zweiten-weltkrieg-a-bd56dc3f-2436-4a03-b2cf-5e44e06ffb49
B40 "Alle fünf intensivmedizinisch behandelten Personen müssen beatmet werden."
https://www.butenunbinnen.de/nachrichten/gesellschaft/coronazahlen-drei-neuinfektionen-
bremerhaven-bremen-100.html
B41 "Für 80 Prozent der infizierten Menschen verläuft eine Corona-Infektion mild, bei 20 Prozent
schwer und rund fünf Prozent trifft es richtig hat. Sie kommen auf die Intensivstation, müssen beat-
met werden und kämpfen um ihr Leben." https://www.br.de/nachrichten/bayern/reha-klinik-in-
pfronten-macht-corona-patienten-wieder-fit,S3VSynC
205
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
B42 "Viele Patienten, die auf der Intensivstation Hilfe bekommen, müssen künstlich beatmet werden,
um Corona zu überstehen."
https://web.de/magazine/wissen/mensch/coronavirus-kuenstliche-beatmung-wie-funktioniert-das-
34746006
B43 https://www.springermedizin.de/covid-19/infektionserkrankungen-in-der-
hausarztpraxis/fachgesellschaften-stellen-sich-hinter-beatmungstherapie-bei-covid-19/17956974
B44 https://www.presseportal.de/pm/133833/4627315
B45 https://www.republik.ch/2019/04/25/keine-buehne-mehr-fuer-klimaleugner
B46 https://bit.ly/31Cunnt
B47 https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/fragwuerdige-methoden-drosten-studie-
ueber-ansteckende-kinder-grob-falsch-70862170.bild.html
B48 https://medienwoche.ch/2020/06/04/kampagne-statt-kritik-was-bei-bild-vs-drosten-schief-lief/
B49 https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/streit-ueber-corona-studie-von-christian-drosten-
die-maer-vom-unfehlbaren-wissenschaftler-a-15f5e38c-0b76-4a07-aa73-bb9863d3ca56
B50 https://www.deutschlandfunk.de/palliativmediziner-zu-covid-19-behandlungen-sehr-
falsche.694.de.html?dram:article_id=474488
B51 Palmer Interview https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/202082-
oberbuergermeister-boris-palmer-spricht-ueber-die-deutsche-wirtschaft-clip
B52 https://uebermedien.de/47188/corona-krise-staatsraeson-als-erste-medienpflicht/
B53 https://www.tagesspiegel.de/politik/wie-gut-ist-die-krisenkommunikation-der-regierung-die-
bevoelkerung-muss-nicht-alles-wissen/25730000.html
206
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Register
Afghanistan-Krieg 116
Akteursvielfalt 13, 48
allesdichtmachen 96, 121
Alternativmedien 177
Argumentation 131
Ausgewogenheit 12, 13
Autopsie (eines Textes) 131
Bebilderung 65
Bergamo (Bilder von) 35, 66
Bund-Länder-Konferenzen 103, 160, 184
Confirmation-Bias 164
Corona (Gefahr) 50, 52, 58
Corona-Diktatur 107
Corona-Expertenrat Protokolle 102
Corona-Gegner 137
Corona-Grippe-Vergleich 123, 147
Corona-Impfung 36, 121, 135, 153, 162
Corona-Impfung (nebenwirkungsfrei) 81
Corona-Irrglaube 113
Corona-Irrtümer 165
Corona-Leugner 22, 40, 148, 159
Corona-Maßnahmen 13, 40, 86, 103, 124,
168, 177
Corona-Maßnahmen (Kosten-Nutzen-
Rechnung) 115
Corona-Maßnahmen-Kritiker 137
Corona-Proteste 70
Corona-Regime 34
Corona-Ursprung 123, 152
Coronavirus-Update 166, 171
COSMO 147
Dänemark 166
Deliberationsqualität 9
Demokratie 195
Demokratieproblem 97
Demonstration Berlin 01.08.2020 22
Demonstrationen 120, 167
Diversity 91
DJV 179
Drosten-Studie 95
Ebene Siehe Publikationsebene
Ebene Mediensystem 66
Einordnung 12, 35
Experten 79
Fake-News 21
Faktenchecks 81, 163
False Balance 90
Forschungsstand Update 176
Fotojournalismus 62
Framing 73, 105
Garmisch-Patenkirchen 43
Gehalt Siehe Informationsleistung
Gleichbehandlung 69, 79
Heinsberg Studie 41, 119
Hofberichterstattung 56, 145, 196
Impfpflicht 122
Impfung Siehe Corona-Impfung
Impfzwang 143
Informationsleistung 141
207
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Intensivstation 58
Inzidenz 18
Jahrbuch Qualität der Medien 7
Journalismusforschung 90
Journalismuskritik Siehe Medienkritik
Journalismus-Verständnis 182
Klimaleugner 199
Kommentierung 78
Kommunikativität (redaktionelle) 137
Korrektur 27
Kundennachfrage 88
Leserbriefe 155
leugnen 52
Masken (Schutz) 104, 147
Maßstabsgerechtigkeit 80, 84, 141, 169, 200
Medienereignisse (markante) 117
Medienforschung 127
Medienkritik 85, 91, 106
Medienkritik (journalistische) 82, 166, 200
Medienkritik (von Rezipienten) 175
Medienkritik (wissenschaftliche) 170
Medienvertrauen 172
Meinung 15, 18, 21, 44, 198
Meinung (Behauptung) 81
Meinung (abweichende) 53
Meinung (vs. Tatsache) 77
Meinungsäußerungsfreiheit 45
Meinungsäußerungsfreiheit (Grenze) 47
Meinungseinfalt 56
Meinungsspektrum 46
Meinungsspektrum (Parteien) 50
Meinungsvielfalt 43, 45, 199
Merkel-Rede 24
Nachrichtenwert 66, 95
Narrative 71
Nebenwirkungen 38, 107
Neutralität 68
Objektivität 68
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk 183
Pars pro Toto 40
Perspektivenvielfalt 176
Präventions-Paradox 174
Pressefreiheit (innere) 105
Pro und Contra 49, 57
Prognose 27
Protagonisten 48
Protagonisten (Auswahl) 61, 62, 84
Protagonisten (Expertenauswahl) 71
Publikationsebenen 5
Qualität 5
Qualitätsbewertung (Corona-Journalismus) 14
Quarantäne (Kind) 111
Quelle 32
Querdenker 158
Quote (Reichweite) 88
RAPID-COVID 174, 177
Realitätsabbild 57
Recherche 99, 170, 196
Recherchefragen 100
Recherchefragen (dumme) 112
Rechtsprechung (Recherche) 109
Regierungspolitik (Unterstützung) 145
Relevanz 12, 72, 94, 141
Relevanz (Einzelfälle) 98, 111, 123
208
Timo Rieg: Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus. Stand: 26. Juli 2024
Repräsentativität 57
Rezipientendialog 137
Richtigkeit 7, 12, 14
Richtigkeit (Meinung) 82
Richtigkeit (Trolle) 64
RKI-Files 184
RKI-Protokolle 74, 82, 102
Rückschaufehler 134
Sachlichkeit 12
Schweden 167
Schweiz 7
Schwurbler 147
Self-Fullfilling-Prophecy 66
Sexismus 75
Silvesterfeuerwerk (Verbot) 110
Sippenhaft 76
Skandalisierung 62, 96, 171
Statistikfehler 25, 36
Sterbezahlen 73
Streeck, Hendrik 41
Sturm auf den Reichstag 28, 42, 77, 120
Superspreader 43
Talkshow (Besetzung) 48
Tatsache 15, 198
Tatsache (Vermutung) 77
Themenauswahl 58
Transparenz 28, 138
Ukraine-Krieg 88, 142
Unparteilichkeit 138
Unstatistik 173
Verschwörungstheoretiker 51, 74
Verschwörungstheorie 91, 178
Verschwörungstheorien 64, 91, 171
Verständlichkeit 178
Vielfalt 12
Vielfaltsberechnung 8
Vierte Gewalt (Buch) 87
Volksverpetzer 82
Vollständigkeit 7, 31
Wertung (Über- und Untertreibung) 52
W-Fragen 32
Whataboutism 37
Widersprüchliche Informationen 113
Wikipedia 56
Wissenschaft (Vertrauen in) 71
Wissenschaftskritik 173
Wissenstest Statistik 141
Zahlenfixierung 10
Zwangsuntersuchung 144
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
Article
Full-text available
Die journalistische Berichterstattung über die Corona-Pandemie hat viele grundsätzlich bekannte Defizite gezeigt. Vor allem Recherche und Meinungsvielfalt kamen zu kurz. Entscheidende Fragen wurden vom Journalismus nicht gestellt, kritische Stimmen zu wenig gesucht. Gleichzeitig hat die Politik Maßnahmen ergriffen, die noch viele Jahre lang Wirkungen und Nebenwirkungen zeigen werden und für die der demokratische Souverän mangels Beteiligung keine Verantwortung tragen kann. Ein umfangreiches Update von 2023 gibt es hier: https://www.researchgate.net/publication/368289947_Qualitatsdefizite_im_Corona-Journalismus_Eine_kommentierte_Fallsammlung
Article
Full-text available
Bürgerbeteiligung, deren Partizipanten ausgelost werden, erlebt seit etwa zwei Jahren eine stark wachsende Aufmerksamkeit. Inspiriert von den Ergebnissen der irischen „Constitutional Convention" und dem Nachfolgeprojekt „Citizens' Assembly" setzen sich in Deutschland und Europa zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen für ähnliche ausgeloste Bürgerversammlungen ein, die politische Fragen unabhängig von Parteipositionen beraten und Lösungen vorschlagen sollen. Obwohl die zugrundeliegenden Verfahren aleatorischer Deliberation schon seit über 40 Jahren regelmäßig im Auftrag von kommunalen und staatlichen Einrichtungen zum Einsatz kommen, hat die Politikwissenschaft dieses Feld bisher kaum beachtet. Noch weniger Beachtung geschenkt hat sie der weiterreichenden aleatorischen Demokratie, bei der ausgeloste Bürger nicht mehr nur unverbindliche Vorschläge erarbeiten, sondern Gesetze machen. Prominentester Vertreter dieser demokratischen Reformüberlegungen, die an eine Praxis im antiken Athen anschließen, ist der Belgier David Van Reybrouck, dessen erstmals 2016 erschienenes Buch „Against Elections" ein weltweiter Bestseller geworden ist. Unter anderem als Praktiker in sogenannten Planungszellen beobachtet der Journalist Timo Rieg die Entwicklung aleatorischer Deliberation und Demokratie seit vielen Jahren. Im vorliegenden Beitrag ordnet er die bisherige Debatte ein, skizziert sein bereits 2013 vorgeschlagenes Modell aleatorischer Bürgerparlamente und zeigt auf, wie eine empirische Forschung zur aleatorischen Demokratie aussehen könnte.
Recherche: Lauterbach faselt von 500 Toten täglich, selbst ZDF fragt nach; Fall B248; im Interview fragt Slomka nicht nach
  • Relevanz Einschub
Relevanz Einschub: Recherche: Lauterbach faselt von 500 Toten täglich, selbst ZDF fragt nach; Fall B248; im Interview fragt Slomka nicht nach.
Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das?
  • Millionen Lebensjahre Kosten Könnte
Millionen Lebensjahre kosten könnte." (Bernd Raffelhüschen, Abstract zu "Verhältnismäßigkeit in der Pandemie: Geht das?", Wirtschaftswissenschaftliches Studium 10/2020 402 )
  • Laurence Peter
Peter, Laurence (2001) [1969]: Das Peter-Prinzip oder Die Hierarchie der Unfähigen, Hamburg: Rowohlt Rieg, Timo (2013): Demokratie für Deutschland, Berlin: Berliner Konsortium
Kritik ist immer erlaubt und wichtig
  • Christian Schicha
Schicha, Christian (2020): "Kritik ist immer erlaubt und wichtig" [Interview mit Timo Rieg]. In: Telepolis, 25.05.2020 https://www.heise.de/tp/features/Kritik-ist-immer-erlaubt-und-wichtig-4727636.html [25.06.2020]
  • Timo Rieg
Rieg, Timo (2020c): Vernachlässigte Medienkritik, in: Journalistik, 2, 2020, 3. Jg., S. 179-181. DOI: 10.1453/2569-152X-22020-10692-de
Bericht zur Lage der Informationsqualität in Deutschland -Analysen und Vorschläge für die Zeit nach Corona
  • Roland Schatz
Schatz, Roland (Hrsg.) (2021): Bericht zur Lage der Informationsqualität in Deutschland -Analysen und Vorschläge für die Zeit nach Corona. Zürich: InnoVatio verfügbar unter http://www.mediatenor.com/images/library/reports/Weissbuch_Vollversion.pdf
  • Tanjev Schultz
Schultz, Tanjev (2020): Ungerechte Medienkritik. Die Corona-Krise ist kein Beispiel für das Versagen, sondern für den Wert des Journalismus. In: Journalistik, 2, 2020, 3. Jg., S. 172-178. DOI: 10.1453/2569-152X-22020-10688-de