Vorwort
Der vorliegende Sammelband würdigt die Verdienste von Professor Dr. Bernd-Joachim Ertelt. Seit über fünf Jahrzehnten engagiert er sich in beeindruckender Weise im
Bereich der Berufsberatung. Er hat in dieser Zeit in der akademischen Lehre und Forschung nicht nur auf nationaler und internationaler Ebene Maßstäbe gesetzt, sondern
auch die Entwicklung der Hochschulen der Bundesagentur für Arbeit (BA) – insbesondere in den Beratungswissenschaften – maßgeblich mitgestaltet und geprägt. So
war es ihm trotz curricularer und organisatorischer Wandlungen immer ein besonderes Anliegen, die Studiengänge wissenschaftlich auszurichten, das interdisziplinäre
Denken und Handeln bei den Studierenden zu fördern und die Hochschulen auf internationaler Ebene „salonfähig“ zu machen. Dabei war es ihm immer wichtig, den
lebendigen Dialog zwischen Theorie und Praxis zu fördern. Sein weit gefächertes
Netzwerk, seine Forschungs- und Entwicklungsprojekte sowie seine Publikationen
und fachwissenschaftlichen Vorträge finden bis heute im In- und Ausland viel Anklang und Beachtung.
Ein von ihm oftmals zitierter Grundsatz in der Berufsberatung lautet „vom Individuum her denken!“. Dieser Grundsatz war auch für uns als Herausgeber leitend bei
der Anfrage der Autorinnen und Autoren: sich in die Lage von Bernd-Joachim Ertelt
hineinzuversetzen und zu überlegen, welche Themenbeiträge ihm Freude bereiten
könnten, selbstverständlich gespickt mit einer persönlichen Note der Autorinnen und
Autoren. Die einzelnen Beiträge sind somit als persönliche Widmungen zu verstehen,
die sich an den Jubilar richten.
Der Sammelband beinhaltet insgesamt 40 deutsch-, englisch- und französischsprachige Beiträge und ist in drei Hauptteile gegliedert.
Im ersten Teil stehen Theoretische Aspekte der Berufs- und Bildungsberatung im Vordergrund: Der Sammelband beginnt mit einem Beitrag von William E. Schulz, der sich
mit ethischen Grundsätzen der Berufsberatung beschäftigt. Manfred Hofer und Anne
Seifert greifen das Thema „Beratungssituationen als schlecht strukturierte Probleme“
auf. Vorgeschlagen wird ein Konzept der Theorie-Praxis-Reflexion, das an einem Fall
der Berufsberatung demonstriert wird. Klaus Beck geht in seinem Beitrag der Frage
nach, für welche Art von Theorien in der Praxis beruflicher Beratung handlungsunterstützender Bedarf besteht. Unterschieden und exemplarisch gekennzeichnet werden dabei vier Ebenen der Aggregation: Individual-, Interaktions-, Entsprechungs- und Systemtheorien mit ihrer spezifischen formalen Struktur. Jean-Luc Bernaud erörtert den Nutzen des Konzepts „Bedeutung der Arbeit für die Unterstützung von Arbeitsuchenden“. Dabei werden u. a. Methoden vorgestellt, die zur beruflichen Wiedereingliederung beitragen. Christiane Schiersmann und Marcus B. Hausner setzten sich mit dem Thema „Komplexitätskompetenz als zentrales Element beraterischen Handelns“ im Sinne einer Bestandsaufnahme und eines Ausblicks auseinander. Auf der
Basis eines performanzorientierten Kompetenzverständnisses werden dabei verschiedene Ausgestaltungen des Konstrukts der Systemkompetenz analysiert.
Sergey Barkov befasst sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung der Attraktivität
als persönliche Eigenschaft von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der postindustriellen Gesellschaft. Hier wird insbesondere die Rolle des Bloggers hervorgehoben.
Marc Schreiber beschäftigt sich mit den Folgen einer disruptiven Arbeitswelt und
diskutiert die Rolle der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung (BSLB) in einer Welt,
die von einem bedingungslosen Grundeinkommen gekennzeichnet ist. Dorota Kornas-Biela stellt die Ergebnisse einer Studie zum Thema „Mentoring im Bildungsprozess – die Notwendigkeit eines personalistischen Ansatzes“ dar. Angela Ulrich betont
in ihrem Beitrag, dass die Konstrukte Stress und Coping systematische Beiträge zum
Verstehen der Berufswahlphase leisten können. So wird erörtert, welche Bedeutung
diese für die Berufsberatung haben können.
Adam Biela befasst sich mit der Arbeitsplatzanalyse und deren Bedeutung, u. a.
für die Arbeitsorganisationen und die Bewerberauswahl. Überlegungen und praktische Empfehlungen der European Questionnaire for Job Analysis werden in diesem
Kontext übernommen und vorgestellt. Roland Dincher zeigt die Bedeutung eines partizipativen Ansatzes der Personalentwicklung auf und betont, dass die Einbeziehung
der Mitarbeiter*innen in die Planung von Personalentwicklungsmaßnahmen sowie
die Berücksichtigung ihrer individuellen Anforderungen für den Laufbahnerfolg unerlässlich sind. Bohdan Rożnowski und Paweł Kot setzen sich mit der Selbstwirksamkeit in der Berufs- und Laufbahnberatung auseinander und definieren hierzu einen multidimensionalen Ansatz, der auf der Basis des „Teczowy-Modells der Karriere“ von D. Super bezüglich seiner Nützlichkeit bewertet wird.
Im zweiten Hauptteil des Sammelbands wird auf Entwicklungen in der Berufs- und
Bildungsberatung Bezug genommen; hier stehen ausgewählte Ergebnisse von Forschungs- und Entwicklungsprojekten sowie Werkstattberichte im Vordergrund.
Caroline Arnoux-Nicolas geht der Frage nach, weshalb es wichtig ist, den Sinn
der Arbeit und den Sinn von Übergangsphasen in der Beratungspraxis anzusprechen.
Sie beantwortet diese Frage anhand einer konkreten Fallanalyse. Rebeca García-Murias und Peter C. Weber befassen sich mit den Vorteilen und Initiativen der Berufsbildung nach dem Modell der dualen Berufsausbildung (Work-Based-Learning), das inzwischen auch im europäischen Ausland zunehmend etabliert wird. Jenny Schulz diskutiert den Zusammenhang von Berufsinteressen, überfachlichen Kompetenzen,
Stressbewältigungsstrategien und beruflichen Entscheidungsverhalten bei jungen Arbeitslosen und zeigt die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung auf.
Bernhard Jenschke beschreibt die Bildungs- und Berufsberatung als ein internationales Politikfeld zur Erreichung sozialpolitischer und ökonomischer Ziele sowie
die Rolle von internationalen Vereinigungen und Netzwerken. Zudem hebt er gegenwärtige Trends in der Bildungs- und Berufsberatung hervor. Andreas Frey, Paulina
Jedrzejczyk, Jens-Rüdiger Olesch und Jendrik Petersen befassen sich mit der Berufsorientierung aus der Perspektive der Generation Z und liefern erste Impulse für eine
nachfrageorientierte Berufsberatung, u. a. mit Bezug auf die einzusetzende IT-Unterstützung. Jean-Jacques Ruppert stellt die Ergebnisse einer Studie dar, die die Selbsteinschätzung der Einstellungen von Studierenden eines Beratungsstudiengangs an
der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) zu ausgewählten Aspekten der
sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit beinhaltet.
Rainer Thiel skizziert in seinem Beitrag die Entwicklung von lebensbegleitender
Beratung für Bildung, Beruf und Beschäftigung (Lifelong Guidance) in den letzten
Jahrzehnten und geht dabei auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten und Herausforderungen für eine gelingende Umsetzung in Deutschland ein. Caroline Tittel betrachtet das individuelle Entscheidungsverhalten jugendlicher Berufswähler*innen anhand des Konzepts der schnellen und sparsamen Heuristiken von Gigerenzer und des
2-Systeme-Modells von Kahneman und zeigt auf, wie diese Erkenntnisse für die berufliche Beratung junger Menschen genutzt werden können.
Inna Kolodeznikova beschreibt in ihrem Beitrag die Programme, die derzeit in
Russland zur beruflichen Umschulung älterer Arbeitnehmer*innen auf staatlicher
und regionaler Ebene durchgeführt werden und betont dabei die Notwendigkeit, ältere Menschen aus demografischen Gründen aktiver in den russischen Arbeitsmarkt
einzubeziehen. Czesław Noworol befasst sich mit der Berufswahl auf der Grundlage
beruflicher Interessen und Entscheidungsheuristiken. Seine Forschungsergebnisse
zeigen, wie hiermit künftig die Berufsorientierung und Berufsberatung junger Menschen unterstützt werden können. Michael Kühn stellt die Beratungsentwicklungen
in der BA aus aktueller personalpolitischer Sicht vor und fokussiert insbesondere die
Lebensbegleitende Berufsberatung – vor und im Erwerbsleben – sowie die damit verbundenen Personalplanungen der BA bezüglich Stellenzuwachs und Qualifizierung
von Beratungskräften.
Dagva-Ochir Bumdari, Tumennast Gelenkhuu, Bazarvaani Khishignyam,
Munkhbat Sonomdarjaa, Batbaatar Monkhooroi und Sara Galbaatar verdeutlichen die
Notwendigkeit eines professionellen Berufsberatungssystems in der Mongolei für ein
Land „im Umbruch“ und schildern die Zusammenarbeit zwischen der National University of Mongolia (NUM) und der HdBA (Campus Mannheim) bei der Entwicklung
und Umsetzung des Masterstudiengangs „Career Studies“. Antoni Wontorczyk befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Berufung und menschlichen Dispositi�onsmerkmalen, insbesondere mit den Merkmalen von Temperament und Charakter, dargestellt anhand einer empirischen Untersuchung. Wioleta Duda, Joanna Górna und Daniel Kukla zeigen in ihrem Beitrag auf, wie bewährte Erfahrungen der deutschen (lebensbegleitenden) Berufsberatung in Polen als Good Practices genutzt werden können, um den künftigen Herausforderungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt zu begegnen. Karen Schober und Barbara Lampe berichten über die Ergebnisse eines abgeschlossenen ERASMUS+-Projektes (Qual-IM-G), in welchem auf Basis einer vergleichenden Analyse europäischer QS-Systeme Gelingensbedingungen für eine erfolgreiche Implementierung untersucht und Tools zur Unterstützung einer erfolgreichen
Umsetzung entwickelt worden sind. Grzegorz Sikorski stellt ein im Rahmen des ESF
finanzierten Projektes vor, in dem unter Verwendung des Fallmanagement-Ansatzes
ein Verfahren für die Arbeit mit Kundinnen und Kunden mit Behinderung für
die Arbeitsverwaltung der Region Woiwodschaft entwickelt und umgesetzt werden
konnte. Bettina Rademacher-Bensing befasst sich mit der Beratung von Jugendlichen
in Zeiten der Pandemie. So belegt ihr Werkstattbericht, dass durch die telefonische
Beratung einer Agentur für Arbeit während der Corona-Pandemie Beratungsfortschritte erzielt werden können, wenn Berater*innen und Ratsuchende sich auf den
auditiven Kanal einlassen. Franz Egle schildert das Modell „BerufsHochschule“, ein innovatives Bildungsmodell, das an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) mit drei Berufsschulen und der IHK Rhein-Neckar umgesetzt worden ist. Dabei steht die enge Verzahnung des gehobenen Segmentes der beruflichen Ausbildung mit dem anwendungsorientierten Segment der Hochschulbildung im Fokus. Roman Kondurov befasst sich mit der Internationalisierung im Hochschulbereich und legt anhand von
Beispielen dar, mit welchen Aktivitäten die HdBA die internationalen Kompetenzen
der Nachwuchskräfte der BA gezielt fördert. Munkhbat Tegshbuyan, Nergui Doljin,
Bazarvaani Khishignyam, Dagva-Ochir Bumdari, Bishkhorloo Boldsuren und Tumee
Tsendsuren setzen sich mit der Umsetzung von Regierungsbeschlüssen in der Mongolei an allgemeinbildenden Schulen während COVID-19 und den damit verbundenen psychologischen Folgen für Schüler*innen auseinander. Sie berichten über die
Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in die Schüler*innen der Sekundarschule, Eltern und Lehrer*innen eingebunden wurden. Jürgen Seifried, Alexander
Brodsky und Gerald Sailmann beschäftigen sich mit der Kompetenzentwicklung in
dualen Studiengängen, insbesondere mit den Effekten von Praxisphasen. Vor diesem
Hintergrund werden die Praxisphasen zweier dualer Bachelor-Studiengänge an der
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) näher analysiert und ein Überblick
über das Forschungsprojekt gegeben. Lena Holder stellt in ihrem Beitrag die Ergebnisse des ERASMUS+-Projektes AMICO dar und betont die Relevanz der interkulturellen Kompetenz in der Beratung, um im Zuge der Arbeitskräftemobilität ratsuchende Individuen auf das Zielland vorzubereiten.
Der dritte Teil des Bandes beinhaltet persönliche Worte bzw. Erinnerungen, die an den
Jubilar gerichtet sind.
Peter C. Weber skizziert ausgewählte Forschungs- und Lehrschwerpunkte von
Bernd-Joachim Ertelt und zeigt auf, wie diese in einem aktuellen gemeinsamen Forschungsprojekt zur Entwicklung einer KI-Anwendung für die berufliche Beratung
konsequent zusammengeführt werden. Jean Guichard befasst sich mit Konzepten für
die Organisation von Dienstleistungen und Interventionen zur Unterstützung der aktiven Lebensgestaltung und würdigt in diesem Zusammenhang Bernd-Joachim Ertelt,
der – inspiriert von Hegel – einen ganzheitlichen, zukunftsweisenden Ansatz der
Laufbahngestaltung entwickelt hat.
Laura Gressnerova gibt einen Rückblick auf die über 20-jährige Zusammenarbeit
im Rahmen von EU-Projekten, die gemeinsam erzielten Erfolge sowie die Wesensmerkmale des Jubilars, die dazu beigetragen haben, die Qualifizierung von Beratungskräften – insbesondere durch die Konzeptionierung und Umsetzung von Curricula auf der Basis internationaler Standards – weiterzuentwickeln.
Hans-Joachim Bauschke schildert die Entwicklung an den Hochschulen der BA
seit Anfang der 70er-Jahre, die Rolle von Bernd-Joachim Ertelt bei der Etablierung der
Beratungswissenschaften als akademisches Lehrfach sowie die Bedeutung der
Rechtswissenschaften für die Qualifizierung von Beraterinnen und Beratern.
Joanna Górna fasst anhand ausgewählter Stationen die über 30 Jahre bestehende
Zusammenarbeit zwischen der Jan-Długosz-Universität in Częstochowa (UJD) und
der Hochschule der BA (Mannheim) zusammen und würdigt hierbei die Verdienste
von Bernd-Joachim Ertelt bei der Etablierung von Studiengängen, der Organisation
von Studierenden-Mobilitäten sowie den kooperativen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten.
Michael Scharpf gibt einen Rückblick auf ausgewählte internationale Projekte,
die gemeinsam mit Bernd-Joachim Ertelt in den letzten zehn Jahren im europäischen
und außereuropäischen Kontext initiiert, begleitet und geleitet worden sind. Darüber
hinaus wird ein Ausblick auf ein künftiges Projektvorhaben (DIGIGEN) gegeben.
Die Herausgeber danken zuvorderst den Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Frankreich, Kanada, Luxemburg, Mongolei, Polen, Russland, Schweiz, Slowakei
und Spanien für ihre Bereitschaft, sich an diesem Sammelband zu beteiligen. Wir
sehen darin ein sehr positives Signal für die weitere Intensivierung unserer bisherigen – sehr konstruktiven – Zusammenarbeit, die sicherlich noch viele Herausforderungen für die Beratungsforschung und Beratungspraxis bereithält.
Wir möchten jedoch unseren Dank auch all denen aussprechen, die uns bei den
redaktionellen und administrativen Arbeiten unterstützt haben. Nicht nur dem Jubilar, sondern auch der interessierten Fachöffentlichkeit wünschen wir viel Freude beim
Lesen der vorliegenden Publikation.
Michael Scharpf Andreas Frey
Mannheim im Dezember 2021