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Psychologie &Gesellschaftskritik, 43 (2), 53-81.
Ulrich Kobbe
Zen-basierte Behandlungsalgorithmen?
Autodafe der spirituellen Grundlagen acht-
samkeitsbasierter Therapien
Neuere achtsamkeitsbasierte Behandlungsansätze beanspruchen, ihre programmati-
schen Wurzeln in der Praxis des —japanischen -Zen zu haben, ohne dies jedoch
explizit auszuweisen. Am Beispiel der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT)
exemplifiziert und diskutiert der Essay die Grundlagen der Zen-Praxis als prinzipiell
ethische Haltung, leitet Übungsprinzipien und Zielvariablen des therapeutischen
Übungskonzepts (Selbstachtsamkeit, aktive Passivität, radikale Akzeptanz, Fokussie-
rung im Hier-und-Jetzt, Loslassen bzw. Nicht-Haften, Selbstvalidierung, Negation des
eigenen Denkens, Fühlens und Handelns usw.) aus dem Zen her und formuliert kriti-
sche Thesen zum spirituellen Anspruch und Erbe achtsamkeitsfundierter und zen-
inspirierter Therapien.
Schlüsselbegriffe: Achtsamkeit, Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), Psychothera-
pie, Spiritualität, Zen
Zen in der Dialektisch-Behavioralen Therapie
Neuere achtsamkeitsbasierte Behandlungsansätze beanspruchen, ihre
maßgeblichen Wurzeln in der Praxis des (japanischen) Zen —zen #—zu
haben. So formuliert Linehan (2008) programmatisch, die Dialektisch-
Behaviorale Therapie (DBT) »wurzele im Zen«, enthalte »in verhaltens-
therapeutische Sprache übersetzte Zen-Elemente« und verfüge »über das
einzige Manual, das von Zen-Meistern autorisiert« sei. Da die Zen-
Fundierung in den jeweiligen Handbüchern andererseits nur angemerkt,
allenfalls flüchtig skizziert wird (Linehan 1996a, S. 23, 107-118, 150-
151), eröffnet dieser —letztlich wertebasierte —Ansatz (ein-)gängiger und
weithin favorisierter Psychotherapieform einige Fragen:
oWas ist dieser Zen??
©Worin besteht die Verbindung zu den oben genannten Thera-
pien?
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©Inwiefern haben Prinzipien der Achtsamkeit, Akzeptanz und Va-
lidierung ihre Basierung im Zen?
oe Welche persönlichen, professionellen und/oder institutionellen
Voraussetzungen erfordert das zen-inhärente Werte-Paradigma?
eWelche impliziten Glaubenssätze, Einstellungen, Paradigmen
enthält —und verschweigt —der zen-spezifische Handlungs- und
Behandlungsansatz?
oe Welchen Stellenwert hat Zen in der DBT*?
ee Wovon profitiert eine zen-inspirierte‘ DBT, was gewinnt —was
riskiert —deren Klientel?
Zen als Praxis
Wenn die Zen-Fundierung achtsamkeitsbasierter Therapien nur in Ver-
weisen auf diese Grundlagen als Referenz angegeben, jedoch nicht diffe-
renzierter ausgearbeitet und exemplifiziert werden, ist dies unter ande-
rem der Tatsache geschuldet, dass der »Geist des Zen« —zenshin fl —
weder theoretisch dargelegt noch intellektuell erörtert werden kann. Auf
charakteristische Weise wird dies in einer Anekdote verdeutlicht, wie sie
in vielen Arbeiten zum Zen-Verständnis enthalten ist:
Als Kakua AN), einer der frühen Zen-Weisen im Japan des 12.
Jahrhunderts, von einer Reise durch Zen-Klöster in China zurück-
kehrte, bat ihn der japanische Kaiser zu sich und trug ihm auf, alles
zu berichten, was er auf seiner Reise erlebt hatte.
Kakua AN verneigte sich tief, schwieg lange, nahm die kleine
Bambus-Flöte aus der Tasche und blies einen einzigen Ton, schwieg
erneut, verneigte sich noch tiefer als vorher und [...] ging.
Damit hatte er den »Kern« des Zen gezeigt. Die Wortwahl des Zeigens
macht bereits deutlich, dass es weder um theoretisierendes Erklären noch
argumentatives Überzeugen oder dozierendes Belehren geht. Denn: Zen
ist eine Praxis, weder »Lehre« noch >»Schule« oder Dogma. So lautet eine
der (ein-)gängigen Metaphern, alle Lehren des Zen seien lediglich »Fin-
ger, die zum Mond zeigen« (Thich Nhat, 1997, S. 54). In diesem Sinne
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verwirklicht Zen definitiv ein »Bewusstsein, das etwas anderes ist als
diskursives Denken, weil es mit intellektuellem Verstehen nichts zu tun
hat« (Chang, 2000, 101). Eine solche Position muss für die Wahrneh-
mung und das Verständnis von >»Wissenschaft« wie von wissenschaftlicher
>Wahrheit« (Kobbe, 2005; 2007) Konsequenzen haben, so mit folgender,
von Jung &Jung (o. J.) wiedergegebener Feststellung des Zen-Meisters
Yung-chia Hsuan-chueh ZZ:
Gelehrte aber haben nur Wissen, nicht Weisheit. Narren sind sie, sie
missverstehen den zeigenden Finger der leeren Hand, verwechseln
den Finger mit dem Mond.
Im Kontext dieser Zen-Metapher ist der jetzige —andernorts (Kobbe,
2010; 2014) bereits vorbereitete —Essay lediglich eine Art intellektuelle
Fingerübung des Zeigens auf den Mond, über die Meister Mu-zhou Dao-
zong Bäla< gesagt hätte: »Bitte belästigt mich nicht mit Euren Klet-
terpflanzen« (Chang, 2000, S. 177), d. h. mit den sich, permanent wei-
terwuchernd, endlos ausbreitenden Argumentationen, von denen er
jedem Zen-Schüler abfordert: »Schneide Deine Kletterpflanzen ab«
(Chang, 2000, 183). Andernfalls würde der naive Leser wie jener
»stumpfsinnige alte Mönch«, dem er vorhält: »[...] jetzt sitzt Ihr hier [...]
und schlingt schwarze Bohnen [mit Tusche geschriebene Schriftzeichen]
herunter!« (Chang, 2000, 191). Was das Studium der schriftlichen Dar-
legungen des Zen betrifft, formuliert Meister Huang-bo Xi-yun EEE
bedingungslos, »es wäre besser, wenn Ihr es aufgrund eigener innerer
Erfahrung auf der Stelle verstehen könntet. Wenn man es mit Worten
ausdrücken wollte, wäre es schon keine [Zen-JLehre mehr« (Chang,
2000, 5; 169).
Entscheidend ist also, dass auch dieser Text nur jenem Finger gleicht,
der auf den Mond zeigt —er ist nicht der Mond selbst, nur ein Fingerzeig
eben. Ohnehin werden in diesem Essay nur höchst eigene Aspekte des
Zen aufgezeigt: Präsentiert wird eine erfahrungsbegründete Position, die
auf (m)einen persönlichen Zen zurückgeht.” Das hier vor- und aufgezeig-
te Bild der psychologischen Theorie, der Therapie wie der Zen-Praxis ist
weder das der konkreten AutorInnen noch das ihrer Schriften noch ihrer
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Denkmodi, sondern das einer persönlichen Erfahrung im Verständnis
theoretisch-therapeutischer Praxen mit PatientInnen, KollegInnen, Lehre-
rInnen, StudentInnen. In Paraphrase einer einleitenden Vorbemerkung
Nasios besteht die weitreichendste Lehre in Zen wie in Psychotherapie
folglich darin, einen Autor —sei er Lehrtherapeut respektive sensei /EAE°
oder eben »Meisterdenker«, »maitre-penseur« (Glucksmann), seiner Wis-
senschaftsdisziplin —bis zu einem Punkt zu be- und zu erarbeiten, dass er
und sein Denken nicht nur rekonstruiert, sondern neu erschaffen werden
(Nasio, 2001, S. 7). In dieser Hinsicht sucht der vorliegende Text über
eine Exegese insbesondere zen-spezifischer Schriften hinauszugehen und
versteht sich als eine Art hermeneutische Praxis.
Zen als Disziplin
Entsprechend wird Zen im Folgenden weder >erklärt« noch umfassend
»beschrieben« oder theoretisch >»analysiert« werden (können); vielmehr
dient dieser Essay lediglich dazu, einige orientierende Anhaltspunkte —
unserem Denken punktuell Halt gebende und ein Anhalten des Denkens
erzwingende Facetten —einzuführen, denn »die beste Hilfe, von Zen
erfasst zu werden« bzw. Zen zu erfassen, »ist >»keine Hilfe«« (Genro &
Fugai, 2000, S. 22). Was Zen als Disziplin im Verhältnis zu westlichen
sinnstiftenden Disziplinen betrifft, ist Zen
©® »weder Psychologie noch Philosophie« (Otto, 1925, S. VIII),
®»keine Theologie oder Religion« (Genro &Fugai, 2000, S. 36),
©»keine religiöse Tradition und auch keine buddhistische Religi-
on« (Jäger, 2009, S. 37),
©»keine Sekte, sondern eine Erfahrung« (Reps, 2004, S. 10),
©eindeutig nicht dazu [geeignet], psychische oder neurologische
Probleme zu beheben« (Sargent, 2004, S. 40), mithin keine Psy-
chotherapie,
©ebenso wenig eine mystische Erfahrung (vgl. Jäger, 2009) und
©auch —siehe unten —- nicht als esoterische Mode geeignet.
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Was die religiöse Einbindung dieser Praxis betrifft, subsumieren die
meisten —allerdings buddhistischen —LehrerInnen ihren Zen als medita-
tive Praxis —zazen’ FE —unter den Zen-Buddhismus. In ihrer lapidaren
Nüchternheit ebenso provokant wie klar, beantwortet Jiho Sargent die
Frage »Was ist Zen?« mit der Feststellung:
Zen ist ein Parfüm, ein Sportwagen, ein Restaurant in Tokyo, ein
Tablett mit Füßen oder ein niedriger Tisch, an dem traditionelle
Mahlzeiten serviert werden, das japanische Wort für alles oder,
wenn es verdoppelt wird (Zenzen), für gar nichts (Sargent, 2004,
191).
Als zen-buddhistische Priesterin fügt sie dann hinzu, »in diesem Buch
bedeutet Zen die Religion der Sötöshü, Rinzaishü (in all ihren Zweigen)
und Öbakushü in Japan sowie von deren direkten Ablegern in anderen
Teilen der Welt« (Sargent, 2004, S. 192). Mit dieser Relativierung deutet
die Autorin bereits an, dass Zen in seiner geschichtlichen Entwicklung
auf nicht nur buddhistischen, sondern >davor« bzw. parallel auf daoisti-
schen (taoistischen) und konfuzianischen, in Japan zudem shintoistischen
Denktraditionen und Praxen fußt, dass Zen also eine in verschiedenen
historischen Sinnsystemen gebräuchliche »Anthropotechnik« mit spezifi-
schen »mentalen und physischen Übungsverfahren« darstellt (Sloterdijk,
2009, S. 22). In einer ihm eigenen drastischen Formulierung radikalisiert
Zen-Meister Sawaki Kodo HE diese Differenz mit der Feststellung,
»alle buddhistischen Schriften« seien »nur Fußnoten zu Zazen« (Sawaki
&Uchiyama, 2007, S. 17).
Dass dieser Übungsweg des Zen —zendö #48 —in seiner Strenge und
Selbstunterwerfung gelegentlich ironisch als hiya meshi omichi RE,
als der »Weg, kalten Reis zu essen«, bezeichnet wird, hat mit seinem We-
sen zu tun: Zen ist Praxis und »wer wissen will, wie Reis schmeckt, muss
Reis essen. Zen ist kein bloßer Denkweg, kein Weg für Lese- und Lehr-
meister, für Gedanken- und Wortemacher«, sprich, für »Buchstaben-
Gucker, Gedanken-Gaffer« (Wohlfart, 1997, S. 25).
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Zen in achtsamkeitsbasierten Therapien
Die aktuellen psychotherapeutischen Entwicklungen favorisieren sowohl
im Indikationsbereich störungsübergreifender wie -spezifischer Verfahren
sogenannte emotionsfokussierte und achtsamkeitsbasierte Therapien, wie
sie als Acceptance and Commitment Therapy (ACT), als Mindfulness-
Based Stress Reduction (MBSR) bzw. Mindfulness-Based Cognitive
Therapy for Depression (MBCT) und als Dialektisch-Behaviorale Thera-
pie (DBT) entwickelt wurden. Gemeinsam ist diesen durchaus unter-
schiedlichen therapeutischen Ansätzen ihre Basierung durch Achtsam-
keitsübungen, sodass im Folgenden -wenngleich arg schematisierend —
ausschließlich auf die DBT als vermutlich in der Psychotherapie- und der
forensischen Behandlungsszene verbreitetstes Behandlungsmodell dieser
Art Bezug genommen wird.
Der Terminus technicus der Achtsamkeit, über das englische mind-
fulness aus den zen-buddhistischen Meditationspraxen abgeleitet, bein-
haltet zusammengefasst (1) eine gerichtete Aufmerksamkeitslenkung, (2)
auf den gegenwärtigen Moment (Hier-und-Jetzt), (3) ohne dabei zu wer-
ten. Mit den Prinzipien der Gegenwart, der Wertungsfreiheit und der
Bewusstheit der Gedanken und Gefühle entstammt das Achtsamkeits-
konzept der buddhistischen Zen-Praxis, wo es darauf hinausläuft, ganz
im Hier-und-Jetzt der Gegenwart zu sein und sich seiner Gefühle, Ge-
danken, Phantasien und Handlungsimpulse in jedem Augenblick »gebün-
delt« voll bewusst zu sein, ohne diese —einem >Zeugen« eigenen Erlebens
gleich —zu beurteilen. In diesem Sinne ist die Entwicklung und Schulung
von Achtsamkeit eine allgemeine menschliche Fähigkeit und nicht an eine
bestimmte therapeutische Schule oder Technik gebunden
Folglich ist nicht nur zwischen Achtsamkeit und Konzentration zu
unterscheiden, sondern muss zugleich die deutsche Übersetzung des
englischen mindfulness als zumindest missverständlich kritisiert werden:
Innerhalb der Achtsamkeitsübungen wendet man sich —im Unterschied
zu Konzentrationsübungen —mit ungeteilter Aufmerksamkeit seinem
gesamten Wahrnehmungsspektrum zu und »erweitert« daher jene weit-
offene Achtsamkeitshaltung, die u. a. als »Achtsamkeit« bezeichnet wird.
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Indem Achtsamkeit die Bereitschaft beinhaltet bzw. voraussetzt, jede
aufkommende Regung, jeden Gedanken und jedes aufkommende Gefühl
zuzulassen (zu akzeptieren), jeden Gedanken und jedes Gefühl wieder
loszulassen, erweisen sich Achtsamkeit und Akzeptanz als eng miteinan-
der verbundene Konzepte, die innerhalb ihrer psychotherapeutischen
Konzeptualisierung dann allerdings zu Prinzipien der >»Emotionsmodula-
tion« funktionalisiert werden. Als wesentliche Faktoren der Achtsamkeit
lassen sich dabei folgende Eigenschaften bzw. Fähigkeiten unterscheiden:
1. Nicht-Werten, 2. Geduld, 3. Anfänger-Geist, 4. Vertrauen, 5. Nicht-
Greifen, Nicht-Haften, 6. radikale Akzeptanz, 7. Loslassen. Die Zen-
Basierung dieser Faktoren lässt sich dabei in einigen charakteristischen
Aspekten punktuell nachzeichnen:
1. Nicht-Werten
Für die Verdeutlichung des idealerweise beweglichen, durch Wertungen
unbeschwerten, freien Geistes nutzt Issai Chozan (4411 folgendes
Spiegel-Beispiel:
Ein Spiegel ruht in sich und ist leer, lässt aber zehntausend Dinge
sich in ihm reflektieren und ihre Form manifestieren. Wenn diese
Dinge weiterziehen, bleibt keine Spur von ihnen im Spiegel zurück.
Auch das Bild vom Mond im Wasser steht dafür (Chozan, 2007, 5.
38):
Dieses Spiegel-Motiv wird häufig anhand der Spiegelung des Mondes im
Wasser variiert und bezieht sich unter anderem auf dieses Thema reflek-
tierende Verse des 75. japanischen Tennö Sutoku ZXRE:
Obwohl der Mondsich spiegelt,
denkt er nicht daran,
und auch das Wasser hegt keine solche Absicht im Teich von Hiro-
sawa (Chozan, 2007, S. 38).
Mit diesen Versen spielt der Dichter darauf an, dass der allein am Him-
mel stehende Vollmond sich zwar »zehntausend« Mal in allen Gewässern
spiegelt, sich dabei aber dennoch nicht aufteilt, sodass ihm »nichts weg-
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genommen und nichts hinzugefügt« wird (Chozan, 2007, S. 39). Das
Wasser seinerseits ist Voraussetzung dieser die Wirklichkeit ohne Bewer-
tung duldenden Spiegelung, die unmittelbar und allgemein —ohne Aus-
wahl des Gewässers —erfolgt. Die Zen-Vorstellung vom >erleuchteten«,
aus dem >»Nicht-Geist« heraus handelnden Geist wird innerhalb dieses
Gedichts auf traditionell sinnbildliche Weise verdeutlicht und für das
>»Nicht-Geist-Prinzip«, für den »Geist des Nicht-Geistes« -mushin no shin
LO—fortgeführt, der ohne eitles Eigeninteresse Voraussetzungen
für eine (von Bewertungen) freie oder (von Wertvorstellungen) unabhän-
gige Existenz des Subjekts schafft.
2. Geduld
Analog soll im Zen ein Zustand des muga-mushin KEHEL erreicht
werden, das als eine Kombination aus muga 4% (Nicht-Selbst) und
mushin %> (Nicht-Geist), als Negation jeglichen ziel- oder ergebnisfi-
xierten Strebens, als Unabhängigkeit von thematischen Vorlieben oder
Abneigungen, als quasi gleichschwebend achtsamer Präsenz auf eine
quasi >absichtslose«, geduldige -und damit unabhängige oder >freie« —
Existenz des Subjekts hinzielt.
3. Anfänger-Geist
Zen impliziert das Erreichen eines Zustandes, in dem der Übende zu
einem Level gelangt, auf dem seine Praxis als »Nicht-Technik« bezeichnet
werden kann: Dies gleicht einem »Einswerden« von Subjekt, Tätigkeit und
Objekt, bei dem sich das Prinzip der »Nicht-Technik« (no-technique) des
Fortgeschrittenen grundlegend von dem Untechnischen (non-technique)
der Übungspraxis des noch Ungeübten unterscheidet (Lowry, 2000, S.
138). Diese zunächst paradox erscheinende (Auf-)Forderung, zwar einer-
seits Übungspraxis zu erwerben, andererseits keine »technische« Routine
zu entwickeln, arbeitet Zen-Meister Shunryu Suzuki GA als Prinzip
des Anfängergeistes —- shoshin 4)ı& —aus. Er erläutert, Zen sei eine Pra-
xis des Anfänger-Geistes, einer Geisteshaltung, die »leer«, d. h. frei von
den (Denk-)Gewohnheiten des Experten ist, die also die ursprüngliche
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Natur der Dinge wahrzunehmen vermag, weil sie -Augenblick für Au-
genblick -das Wahrgenommene (wie) zum ersten Mal entdeckt:
Für Zen-Schüler ist es das Wichtigste, nicht dualistisch zu sein. Un-
ser »ursprünglicher Geist« enthält alles in sich. Er [...] genügt sich
selbst. Diesen euren selbstgenügsamen Geisteszustand solltet ihr
nicht verlieren. Damit ist kein verschlossener Geist gemeint, son-
dern dass er wirklich leer und bereit ist. Wenn euer Geistleerist, ist
er stets für alles bereit; er ist offen für alles. Im Anfänger-Geist gibt
es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige. Wenn ihr
zu viele Unterscheidungen trefft, begrenzt ihr euch selbst. Wenn ihr
zu viel verlangt oder zu gierig seid, ist euer Geist nicht reich und
selbstgenügsam. [...] Im Anfänger-Geist gibt es keinen Gedanken:
»Ich habe etwas erreicht«. Alle selbstbezogenen Gedanken grenzen
unseren weiten Geist ein. Wenn wir nicht daran denken, etwas zu
erreichen, nicht an uns selbst denken, sind wir wahre Anfänger.
Dann können wir etwas lernen. [...] Das also ist das Schwierigste,
immer den Anfänger-Geist beizubehalten (Suzuki, 2002, S. 22f.).
4. Vertrauen
Trotz der Konsequenz(en) einer radikal zu akzeptieren Wirklichkeit
insistiert Zen-Meister Weishan Lingyu }LI%%% darauf, dass diese Welt
»kein Ort des Schreckens, sondern ein Zuhause ist, dem wir uns gelassen
anvertrauen können« (Roloff, 2008, S. 316). Für die Zen-Praxis bedeutet
dies unter anderem, dass die zur ersten Orientierung —und zugleich
Desorientierung —vorgesetzten Koane ZA (paradoxe In-
/Fragestellungen) als hingehaltene »Rettungs- oder Halteseile« fungieren,
denn Koane sind, so Dumoulin (1975, 135), im Zen »ihrem Inhalt nach
belanglos« und eher Fingerzeig oder »ans Tor klopfende Ziegelsteine«,
Anders formuliert, ist ein Koan nichts anderes als »der Schatten der
Lampe« der Achtsamkeit, der Zen jedoch »die Lampe selbst« (Thich
Nhat, 1997, 87). In der Tat fungieren Koane keineswegs als eine Art
Rätsel, sondern als Hilfe, »um den ganzen intellektuellen Prozess kurzzu-
schließen. Man kann einen Koan nicht wirklich durch lineares, sequenti-
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elles Denken betrachten; man muss von einem anderen Aspekt des Den-
kens Gebrauch machen« (Loori, 1988, S. 16). Von da aus ließe sich in
der Übungspraxis auch ohne soliden Boden sicher gehen, indem jeder
Schritt —dem Anfängergeist vertrauend —so zu setzen ist, als ob er der
erste wäre. Indem es um Vertrauen, Selbstvertrauen wie Sich-Trauen
geht, klingt Erkenntnis als ein Sich-Vorwagen ins Unvertraute an. Zu
sehr bestehe eine Tendenz, dies durch theoretische Planung oder Analyse
abzusichern; so kommentiert Soko Morinaga KAM ein Lehrgedicht
des 6. Jahrhunderts Shinjinmei {308 (Inschrift vom Vertrauen in den
Geist) dahingehend, Zen-Praxis verhalte »sich zu Zen-Theorie wie das
Löschblatt zur Tinte: sie saugt sie auf und löscht sie aus« (Wohlfart,
1997: 5: 24):
5. Nicht-Haften
Zen leitet dazu an, sich der aufkommenden, einschießenden Gedanken
nicht nur bewusst zu werden, sondern an ihnen nicht zu haften, sich
nicht auf sie zu fixieren. Im Versuch, sich ihrer zu entledigen, wird dies
unausweichlich immer wieder der Fall sein. Als eine Praxis des zazen ZE
{4 zielt das Üben darauf hin, die Gedanken- und Bilderflut einzudäm-
men, die kognitiven Inhalte und Vorstellungen >»abzutöten« und auch
vermeintlich »heilige« Vor-Bilder aus dem Weg zu sich selbst zu räumen.
So fokussiert Zen-Meister Linji Yixuan Ma dieses Prinzip in einer
Provokation: »Wenn dir so ein Buddha begegnet, so töte Buddha, wenn
dir ein Patriarch begegnet, so töte den Patriarchen« (Dumoulin, 1975, S.
38). Was dieses »Triffst-Du-Buddha-unterwegs«-Prinzip (Kopp, 1979)
beinhaltet, ist »die Aufforderung des Zazen [...], alle Empfindungen und
mentalen Ereignisse hinter sich zu lassen. [...] Im Zazen sollen wir diese
Menschen vollständig aufgeben« und auch nicht an >»heiligen« Repräsen-
tanzen haften. Wir sollen >»Buddha«, aber eben auch »Vater«, >»Mutter«
usw. »als Konzepte durchschauen, die wir uns machen, als Gedanken,
Bilder, Erinnerung ohne Bedeutung« (Roloff, 2008, S. 354).
Mit diesem >Nichts-ist-Wichtig« verweist Zen quasi auf nichts und
bietet Zen nichts, weder eine Lehre noch objektivierbares Wissen noch
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definitive Antworten. So formuliert Zen-Meister Ikkyu Sojun —44
(Blyth, 1978) in einem Koan einem Sinnsuchenden gegenüber:
Ich würde gerne irgendetwas anbieten, um dir zu helfen, aber im
Zen haben wir überhaupt nichts.
Zen zielt auf ein unmittelbares Selbsterleben, das durch Affekte, Kogniti-
onen, Erwartungen (Einstellungen), Phantasien, (Deck-)Erinnerungen
usw. und dem repetitiven Haften an ihnen blockiert, »verdunkelt« oder
»verblendet« bleibt. Ohne Anhaftung an körperlicher Existenz, ohne
Intentionalität und ohne Ziel ist dieses angestrebte Bewusstsein einer
Form der oben als >»gleichschwebend« paraphrasierten Achtsamkeit ver-
gleichbar,
Dies heißt konsequenterweise: »Zen-Geist ist Gegenwartsgeist, Geis-
tes-Gegenwart« ohne erinnerndes Anhaften (Wohlfart, 1997, S. 13), und
bedeutet, »dass Zen weder an der Vergangenheit noch an der Zukunft
interessiert«, in beidem nicht verhaftet ist: »Sein gesamtes Interesse gilt
der Gegenwart«, und diese »gehört nicht der Zeit an«. Dies gelingt nicht
mit rational(isierend)er Kognition, denn der Verstand ist »niemals in der
Gegenwart«, sondern »hüpft ständig hin und her —aus der Vergangen-
heit in die Zukunft, aus der Zukunft in die Vergangenheit« (Osho, 2005,
S. 168), doch Weg, Schranke und Tür des Zen öffnen sich ausschließlich
in die Gegenwart: »Der ganze Ansatz des Zen ist einer der Unmittelbar-
keit« (Osho, 2005, S. 12). In dieser Unmittelbarkeit eröffne sich, so im 2.
Koan des Cong-rong-Iu {R&F (Aufzeichnungen [aus der Klause] der Ge-
lassenheit) »grenzenlose Weite, nichts Heiliges!« (Roloff, 2008, S. 16).
Damit ist da »nichts, wohin Ihr Euch um Zuflucht wenden könnt, nichts,
das Euch erhebt und verklärt; da ist nur Leere, nach allen Seiten endlos
offen, von Geborgenheit kann keine Rede sein« (Roloff, 2008, S. 19).
6. Radikale Akzeptanz
Im Zen bedeutet (radikale) Akzeptanz den Versuch, offen und empfäng-
lich zu sein und alles, was man sieht, fühlt oder hört, ohne Wertung oder
Interpretation so zu akzeptieren, wie es ist. Hierfür bietet Zen-Meister
John Daido Loori Aj]E—)) folgenden Hinweis an:
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Verstehst du? Du kannst nicht mit Deinem Kopf, mit Deinem Intel-
lekt verstehen. Der einzige Weg, dies zu durchdringen, besteht da-
rin, zu sein. Der einzige Weg, eine Schranke, eine dich blockierende
Mauer [...] zu durchbrechen, besteht darin, diese zu sein! (Loori,
1988, 5. 66).
Das Bestreben der Zen-Übungen bestehe also darin, den »Geist einer
Geste« (Cousergue, 2009, S. 57) als Praxis eigenaktiv vernachlässigter
Werte, als Anstrengung einer Strenge gegen sich selbst, einer Konfronta-
tion mit der (ur-jeigenen Angst, mit der (fehlenden) Ausdauer und der
(nachlassenden) Beharrlichkeit, in quasi radikaler Akzeptanz einzuüben,
sodass jede Wiederholung der Übung »ein kleiner Tod« (Inoue, 2008, S.
114) —- mithin Bewusstwerdung seines Selbst, seiner Anhaftungen, Kondi-
tionierungen, Abhängigkeiten, Illusionsbildungen —sei.
7. Loslassen
Für das Zen praktizierende Subjekt geht es darum, »eins zu sein in Za-
zen«, d. h. nicht nur das unterscheidende Denken mit den Dichotomien
von Subjekt/Objekt, Innen/Außen, Vorher/Nachher usw. aufzulösen und
von sich selbst abzusehen, sondern sich auch von dem Denken zu lösen
und »Nicht-Geist« —munen-muso EEE —zu entwickeln, mithin eben
auch »Zazen nicht zu einem Objekts [s]eines Bewusstseins [zu] machen«
(Sawaki, 2005, S. 102), sprich, sich auch von dem Gedanken, sich von
den Gedanken befreien zu müssen —nenso 8—zu lösen. Zen-Meister
Sawaki Ködo FAME radikalisiert dieses dem >Nicht-Haften« komple-
mentäre Prinzip eines gelassenen Lassens, des Los- und Ablassens, hin-
sichtlich der angestrebten Einheit in Geistes- und Körperhaltung weiter:
Wenn du Zazen praktizierst, dann darf da noch nicht einmal ein
Rest von Zazen übrig bleiben. Es ist wesentlich, dass die Praxis
selbst in deiner Praxis verschwindet. Wenn sich der Geschmack von
>Zazen« ganz aufgelöst hat, ist deine Praxis endlich natürlich, nüch-
tern und ganz bei Sinnen. [...] Dieser Punkt ist wichtig: Du darfst
nicht Zazen machen. Du musst von Zazen gemacht werden (Sawa-
ki, 2005; S. 102).
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Zen-basierte Behandlungsalgorithmen?
Das Verhältnis Zen: DBT in der Kritik
Zunächst bleibt festzustellen, dass Zen eine Haltung, Zazen als Zen-
Praxis eine praktizierte Haltung ist. Für die Dialektisch-Behaviorale
Therapie bliebe demzufolge zu schlußfolgern, dass auch DBT eine thera-
peutische Haltung, mithin weder Methodik noch Technik wäre. Als
solche impliziert DBT achtsame, validierende und radikal akzeptierende
Haltungen des Behandlers zu/mit sich selbst, der BehandlerInnen unter-
einander und der BehandlerInnen mit ihren PatientInnen.
Problematischerweise unterwirft sich dieselbe DBT nicht nur einem
evidenzbasierenden Wissenschaftsdiskurs, sondern entwickelt in ihren
modularisierten und skill-didaktischen Vorgaben (Linehan, 1996b; Bo-
hus &Wolf, 2009) eine instrumentelle —und sich selbstinstrumentalisie-
rende —Zielsetzung, mit der sie sich nicht nur von Zen-Denken entfernt,
sondern Zen auch in der Gleichsetzung mit Psychologie und/oder Psy-
chotherapie manifest verkennt: Auf die Frage, ob Zen dasselbe bewirke
wie Psychotherapie, antwortet Loori (1988, S. 22), »in gewissem Sinne
»Ja<, und in gewissem Sinne »nein««, und hebt hervor, dass beiden Praxen
eine beziehungsregulierende Wirkung eigen sei, dass dies im Zen jedoch
als ein »Nebenprodukt« anzusehen sei, da Zen über Zielsetzungen des
physischen und psychischen (Wohl-)Befindens hinausgehe, indem es
grundlegende Seinsfragen, spirituelle Sinnsuche und existentielle Reali-
tätserkenntnis zum Inhalt habe: »Andernfalls verschwendet man seine
Zeit«, denn »alles andere ist nur eine Imitation, keine reale Angelegen-
heit« (Loori, 1988, S. 22).
Andererseits bleibt aber ebenso kritisch nachzufragen, ob bei einer
solchen Integration in Verfahren wie der Dialektisch-Behavioralen The-
rapie (DBT), der Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR), der
Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) und/oder der Acceptance
and Commitment Therapy (ACT) nicht doch nur »eventuell eine sehr
verdünnte Form von Achtsamkeit« vermittelt wird und PatientInnen so
der Chancen beraubt werden, »die die Achtsamkeit an spiritueller Kraft
birgt«. Das heißt »mit anderen Worten: Wieviel Spiritualität ist unseren
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Patienten im Rahmen der Psychotherapie zumutbar?« (Bohus &Hup-
pertz, 2006, S. 274).
Die anscheinend versuchte >Synergie« von Psychotherapie und Zen in
der DBT wird in ihrer Kombination von Huppertz (2003, 380) insofern
als verdienstvoll gelungen beurteilt, als Linehan »den Respekt vor der
Besonderheit der Zen-Erfahrung« durchhalte, als sie den kaum erwähn-
ten Zen-Buddhismus »nicht psychologisier[e] «und nicht nur »in vielen
Details wie in der Gesamtanlage dem Zen« folge, sondern »auch den
typischen Respekt vor dem therapeutischen Alltag« durchhalte. In positi-
ver Konnotation dieses von der paradigmatischen Anlage her kognitiv-
emotional-verhaltenstherapeutischen Konzepts schreibt er:
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Der Patient steht in der Regel bis zu den Haarspitzen in festgezurr-
ten Mustern des Denkens, Handelns und Fühlens. Die DBT trägt
dem zunächst einmal Rechnung, indem sie Fertigkeiten einsetzt, die
für den Patienten unmittelbar hilfreich sind, z.B. zur Linderung un-
erträglicher Spannungszustände oder zur Lösung zwischenmensch-
licher Konflikte. Sie bleibt aber nicht bei diesen unmittelbaren Zie-
len stehen, sondern fügt eine zusätzliche Dimension in die Therapie
ein -so wie der Übungsweg des Zen dem Alltag etwas hinzufügt.
Schauen wir uns das zunächst an einigen Beispielen aus dem Fertig-
keitentraining an: Stresstoleranztechniken dienen natürlich dazu,
Spannungszustände abzubauen und Selbstverletzungen zu verhin-
dern, aber sie sind gleichzeitig nur der Beginn eines Wegs zu einer
anderen Einstellung den eigenen Gefühlen und der Umwelt gegen-
über. Wenn es darum geht, Verwundbarkeit durch gute Ernährung,
Bewegung etc. zu verringern, so geht es nicht nur darum, dass der
Patient dadurch schon gesünder wird, so erfreulich das sein mag.
Eine geringere Verwundbarkeit ist darüber hinaus eine Vorausset-
zung für einen anderen Umgang mit sich selbst und der Umwelt.
Die Aufdeckung und Diskussion von >»Mythen« ist ein Gewinn für
sich, aber gleichzeitig nur ein Schritt dazu, sich über den