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Inklusion im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz

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Abstract

The reform of the Child and Youth Welfare Law in 2021 has initiated far-reaching changes towards human rights-oriented, non-discriminatory participation and inclusive child and youth welfare. The coordination of child and youth welfare law (SGB VIII) and of disability rights (SGB IX) for all young people in a structured system with different benefit laws and seven competent agencies is a great challenge and a task for the future, which will be discussed from a legal, socio-educational and sociological perspective, taking into account the practice. With contributions by Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, Prof. i.R. Dr. Kirsten Scheiwe, Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Dr. Eric Van Santen, Prof. Dr. Arne von Boetticher, Prof. Dr. Friederike Wapler, Anke Welke, Prof. Dr. Felix Welti and Prof. Dr. Michael Wrase.
Inklusion im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz1
Albrecht Rohrmann
Einleitung
Der Gesetzgeber beansprucht mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
(KJSG) eine „verbindliche Weichenstellung für die Inklusive Lösung“2 vor
genommen zu haben. Mit dem Gesetz wurden mit Wirkung ab Juni 2021
zahlreiche Regelungen zur inklusiven Ausrichtung von Angeboten der
Kinder- und Jugendhilfe vorgenommen. Spätestens ab 2024 sollen ‚Verfah
renslotsen‘ im Jugendamt als Ansprechpartner*innen für Kinder und Ju
gendliche mit Behinderungen und ihre Erziehungsberechtigten tätig wer
den. Die vorrangige Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle bis
herigen Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche
soll nach dem Gesetz auf der Grundlage von weiteren Untersuchungen im
Jahre 2027 durch ein weiteres Gesetz beschlossen und 2028 implementiert
werden (§ 107 SGB VIII). Die Koalitionsparteien der Bundesregierung in
der 20. Legislaturperiode haben vereinbart, das Verfahren zu beschleuni
gen und eine gesetzliche Regelung bis spätestens 2025 auf den Weg zu
bringen3.
Die geplante Neuregelung schließt an unterschiedliche Diskussionen
an, von denen zwei für diesen Beitrag besonders bedeutsam sind. Zum
einen geht es um die seit der Verabschiedung des Kinder- und Jugendhilfe
gesetzes im Jahre 1990 virulente Frage der Zuständigkeit für Leistungen
für Kinder mit sog. geistigen und körperlichen Behinderungen. Zum
anderen geht es um die durch die UN-Behindertenrechtskonvention ange
stoßene Diskussion um eine inklusive Önung aller Lebensbereiche und
sozialen Hilfen. Mit der zweiten Perspektive wird für Fachkräe, Dienste
und auch die Träger der Jugendhilfe die sehr weitreichende Frage aufge
1.
1Der Beitrag ist zunächst online erschienen als Beitrag zu Impulspapieren zum
KJSG des Bundesverbandes für Erziehungshilfe (AFET) e.V. (https://afet-ev.de/th
emenplattform/impulse). Es wurden Änderungen und Erweiterungen vorgenom
men.
2 Bundestagsdrucksache 19/26107, S. 51.
3SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit,
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025, 2021, S. 99.
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worfen, wie die Kinder und Jugendhilfe zur individuellen Teilhabe und zu
inklusiven Lebensbedingungen für alle jungen Menschen und ihre Famili
en unabhängig von irgendwelchen zugeschriebenen Merkmalen beitragen
kann. Der Beitrag versteht sich als Impuls, die neu geschaenen Rahmen
bedingungen in diesem Horizont zu verstehen und die Chancen dafür
trotz aller Hindernisse zu nutzen. Dazu sollen im Folgenden ausgewählte
Aspekte der Neuregelungen diskutiert werden.
Eine inklusive Perspektive
Die Diskussion um Inklusion wurde in der Kinder- und Jugendhilfe im
Zusammenhang der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen aufgegrien. Im 13. Kinder- und Ju
gendhilfebericht wird eine Perspektive eingenommen, die ein weites, auf
alle Kinder und Jugendlichen bezogenes Verständnis entfaltet. Die Bun
desregierung hat sich diese in ihrer Stellungnahme zu eigen gemacht: „Die
Einnahme einer inklusiven Perspektive verlangt ein Leistungsangebot für
behinderte Kinder und Jugendliche, das sich primär an der Lebenslage
‚Kindheit und Jugend‘ orientiert und erst sekundär nach der Behinderung
oder anderen Benachteiligungen und Belastungen in dieser Lebenslage
dierenziert“4. Die Diskussion wurde von den Akteuren in den Feldern
der Kinder- und Jugendhilfe und der Unterstützung für Menschen mit
Behinderungen ganz überwiegend positiv aufgegrien. Der Schwerpunkt
lag dabei auf möglichen Ausgestaltungen der Gesamtzuständigkeit der
Kinder- und Jugendhilfe für die Leistungen der heutigen Eingliederungs
hilfe.
Die Regelung der Gesamtzuständigkeit erfordert weitreichende Eingrif
fe in die Architektur des SGB VIII. Nachdem ein 2016 bekannt geworde
ner Arbeitsentwurf zur gesetzlichen Regelung aus dem Ministerium auf
grund der fachlichen Kritik in der 18. Legislaturperiode nicht weiterver
folgt wurde5, hat sich der Gesetzgeber entschlossen, eine Vorbereitungszeit
einzuplanen und erst zum Ende dieser Phase eine gesetzliche Regelung zu
treen. Es überrascht allerdings, dass der Gesetzgeber bei der Gestaltung
der Eingliederungshilfe in § 35a SGB VIII im Übergang an einem Behinde
rungsverständnis festhält, das im Zuge der Rezeption der UN-BRK im So
zialrecht (§ 2 SGB IX) aufgegeben wurde. Das Verständnis von Behinde
2.
4 Bundestagsdrucksache 16/12860, S. 12.
5 vgl. https://kijup-sgbviii-reform.de/archiv-reformprozess-2016-2017 (08.07.2021).
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rungen als eine Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigun
gen und einstellungs- sowie umweltbedingten Barrieren ist mittlerweile
leitend für das Rehabilitationsrecht (§ 2 SGB IX) und hat an anderer Stelle
auch Eingang in das SGB VIII (§ 7 Abs. 2) gefunden.
Die noch geltende getrennte Zuständigkeit gilt nur für die Leistungen
der Eingliederungshilfe, die für Kinder mit sog. seelischen Behinderungen
im SGB VIII und für Kinder mit sog. ‚geistigen‘ und ‚körperlichen‘ Behin
derungen im SGB IX (bzw. bis zum 31.12.2020 im SGB XII) geregelt sind.
In allen anderen Bereichen sind ganz unabhängig davon alle jungen Men
schen und ihre Familien Adressat*innen der Kinder- und Jugendhilfe. Das
gilt für die Förderung der Erziehung, für Kindertageseinrichtungen, für
die Jugendarbeit, für die Hilfen zur Erziehung und alle anderen Aufgaben
der Kinder- und Jugendhilfe. Es ist ein Verstoß gegen das Diskriminie
rungsverbot, dass Kinder mit Behinderungen „kaum bis gar nicht mitge
dacht sind, sodass sie faktisch diese Leistungen doch nicht – oder nur mit
einer supplementären, dann aber zusätzlich kostenpflichtigen Eingliede
rungshilfe (…) – in Anspruch nehmen können“6. Insofern geht es bei den
gesetzlichen Neuregelungen durch das KJSG um Bekräigungen des beste
henden und an zahlreichen Stellen bereits leitenden Aurags der Kinder-
und Jugendhilfe und die Überwindung von Diskriminierungen.
Schaut man sich den aktuellen Gesetzestext an, so kommt der Begri
der Inklusion als Substantiv gar nicht und als erläuterndes Adjektiv nur an
wenigen Stellen vor7. Die inklusive Ausrichtung der Kinder- und Jugend
hilfe lässt sich also nicht einfach aus dem Gesetzestext ablesen und umset
zen. Es handelt sich vielmehr um eine menschenrechtliche Zielvorgabe,
die den bestehenden Strukturen und Konzepten als kritisches Korrektiv
gegenübertritt. Damit erweitert das Thema Inklusion die Menschenrechts
orientierung in der Ausgestaltung von Hilfen, die bisher in der Kinder-
und Jugendhilfe vor allem durch die Kinderrechtskonvention und deren
zentrales Thema der Partizipation geprägt ist. Im Folgenden sollen die He
rausforderungen beispielha an den Themen der Hilfeplanung, der Gestal
tung sozialer Dienste und der Entwicklung einer inklusiven Infrastruktur
skizziert werden.
6Schönecker, Exklusive Kinder- und Jugendhilfe als Verstoß gegen völkerrechtliche
Diskriminierungsverbote, in: Scheiwe/ Schröer/ Wapler/ Wrase (Hrsg.), Der
Rechtsstatus junger Menschen im Kinder- und Jugendhilferecht. Beiträge zum ers
ten Forum Kinder- und Jugendhilferecht, 2021, S. 163, 166.
7Hopmann, SGB VIII-Reform und Inklusion, Sozial extra, 2021, S. 414, 415.
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Inklusive Hilfeplanung gestalten
Die Weiterentwicklung der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII ist eines der
zentralen und kontrovers diskutierten Themen im Zusammenhang der in
klusiven Ausgestaltung der heutigen Hilfen zur Erziehung und der Ein
gliederungshilfe8. Der bereits erwähnte, letztendlich gescheiterte Arbeits
entwurf zur Neuregelung der Gesamtzuständigkeit wollte die Hilfen in
einem neuen Abschnitt unter dem Titel ‚Leistungen zur Teilhabe und Ent
wicklung‘ zusammenführen. Die stark ausgeweiteten Vorgaben für die
Hilfeplanung sollten, angelehnt an entsprechende Vorschrien im SGB IX,
diagnostische Verfahren zur Bedarfsermittlung und -feststellung in den
Vordergrund stellen9.
Die Hilfeplanung im SGB VIII und die Teilhabeplanung der Reha-Trä
ger sowie die Gesamtplanung in der Eingliederungshilfe haben unter
schiedliche Traditionen und folgen verschiedenen Logiken. In der Jugend
hilfe steht die partizipative Verständigung über geeignete Hilfen im Vor
dergrund. Die Verfahren im Bereich der Rehabilitation verfolgen das An
liegen über standardisierte, an der Internationalen Klassifikation der Funk
tionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) orientierte Verfahren,
Bedarfe personenzentriert zu ermitteln, Leistungsansprüche gegenüber
den verschiedenen Leistungsträgern verbindlich zu klären und das Leis
tungsgeschehen zu steuern. In beiden Feldern besteht Entwicklungsbedarf,
um zu einer verständigungsorientierten Einschätzung von Bedarfslagen
und zu einer Vereinbarung über geeignete Unterstützungsmaßnahmen zu
gelangen. Es wird in beiden Bereichen mit teilweise stigmatisierenden Ka
tegorien gearbeitet, um Hilfen zu begründen10. Das Partizipationsgebot
wird nur unzureichend eingelöst1112. Die Hilfeplanung und auch die Hil
feplangespräche sind für die Hilfesuchenden bzw. Leistungsberechtigten
3.
8vgl. z.B. die Beiträge in: Hollweg/Kieslinger (Hrsg.), Hilfeplanung inklusiv ge
dacht. Ansätze, Perspektiven, Konzepte, 2021.
9vgl. Rohrmann, Sozialpädagogische Perspektiven auf eine inklusive Kinder- und
Jugendhilfe, in: Reimer (Hrsg.), Sozialpädagogische Blicke, 2019, S. 242, 248f.
10 vgl. Molnar/Oehme/Renker/Rohrmann, Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder
und Jugendliche mit und ohne Behinderung. Eine vergleichende Untersuchung,
2021.
11 vgl. Messmer, Barrieren von Partizipation: Der Beitrag empirischer Forschung für
ein realistisches Partizipationsverständnis in der Sozialen Arbeit, in: Dobslaw
(Hrsg.), Partizipation – Teilhabe – Mitgestaltung, 2018, S. 109.
12 Molnar/Oehme/Renker/Rohrmann, Kategorisierungsarbeit in Hilfen für Kinder und
Jugendliche mit und ohne Behinderung. Eine vergleichende Untersuchung,
S. 178 .
Albrecht Rohrmann
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in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung häufig belastend. Die Vorbereitung
der Gesamtzuständigkeit kann daher dafür genutzt werden, an der Ent
wicklung eines inklusiven Hilfeplanverfahrens zu arbeiten. Eine inklusive
Hilfeplanung bedeutet, dass alle Aspekte eines Unterstützungsbedarfes in
ihrem Zusammenhang in den Blick genommen werden und stigmatisie
rende, auf die Person bezogene Zuschreibungen vermieden werden.
Einen guten Ansatzpunkt dazu bietet die mit dem KJSG eingeführte Re
gelung, dass die Träger der Jugendhilfe in die Gesamtplanung nach dem
SGB IX einbezogen werden. Auch wenn Fragen der Ausgestaltung dieser
Einbeziehung noch oen sind13, bietet die Vorgabe eine Möglichkeit für
einen Erfahrungsaustausch und eine reflexive Weiterentwicklung. Insbe
sondere in Kommunen, in denen die Eingliederungshilfe nach dem
SGB IX für Kinder und Jugendliche bereits im Jugendamt angesiedelt ist,
kann an den Verfahren in beiden Bereichen weitergearbeitet werden. Die
wachsende Anzahl von Schulbegleitungen wird bereits jetzt in einigen
Kommunen zur Erprobung neuer, übergreifender Verfahren genutzt. Hier
kann auch die Frage geklärt werden, wie infrastrukturelle Leistungen in
Schulen in ein passendes Verhältnis zu einem individuellen Leistungsan
spruch gesetzt werden können.
Spätestens ab 2024 sollen Verfahrenslots*innen in den Jugendämtern
junge Menschen und ihre Familien dauerha bei der Beantragung und
Inanspruchnahme von Leistungen begleiten und über ihre Erfahrungen
regelmäßig berichten. Dies kann von den Jugendämtern als Ansatzpunkt
genutzt werden, die Weiterentwicklung der Hilfeplanung in Zusammenar
beit mit Leistungsberechtigten und Leistungsanbietern zu planen und zu
erproben.
Neue Angebote partizipativ entwickeln
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat im Feld der Unterstützungs
dienste die Diskussion über eine notwendige inklusive Neuausrichtung
von Angeboten dringlich gemacht. Es wurde deutlich, dass die Ausge
staltung von Hilfen zu den Faktoren gehören kann, die in Wechselwir
kungen mit individuellen Beeinträchtigungen die volle, wirksame und
4.
13 vgl. Bochert/Schönecker/Urban-Stahl, "Jugendamt goes Gesamtplanung". Implika
tionen und Herausforderungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes, in:
Hollweg/Kieslinger (Hrsg.), Hilfeplanung inklusiv gedacht. Ansätze, Perspekti
ven, 2021, S. 66.
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gleichberechtigte Teilhabe behindern können. Im Folgenden sollen ohne
Anspruch auf Vollständigkeit einige aktuelle Diskussionen und Verände
rungsnotwendigkeiten skizziert werden.
Hilfen außerhalb von Sondereinrichtungen
Junge Menschen mit Behinderungen und ihre Familien finden häufig nur
in stark spezialisierten Sondereinrichtungen Unterstützung. Dies beginnt
mit der Frühförderung und setzt sich in der Schule, im Freizeitbereich in
der Familienunterstützung, in wohnbezogenen Hilfen und in Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben fort. Eine Ausnahme bilden Kindertagesein
richtungen, die überwiegend von Kindern mit und ohne Behinderungen
gemeinsam besucht werden. Auch hier ist dies jedoch – ähnlich wie in Re
gelschulen – häufig nur mit der Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen der
Eingliederungshilfe in Form von individuellen Integrationshilfen möglich.
Inklusionsförderliche Hilfen sollen grundsätzlich an den Orten erbracht
werden, an denen junge Menschen gemeinsam aufwachsen. Wenn spezi
elle therapeutische oder pädagogische Kompetenzen für die Förderung
und Begleitung von Kindern und Jugendlichen notwendig werden, so
können diese durch Fortbildung oder Erweiterungen in multiprofessionel
len Teams aufgebaut und verankert werden oder durch Kooperationsver
einbarung mit anderen Diensten erbracht werden.
Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Freizeitinteressen von Jugendlichen
mit Behinderungen nicht grundlegend verschieden zu denen aller Jugend
lichen sind14. Ein Problem stellt jedoch die Inanspruchnahme von inklusi
ven Angeboten dar. Viele Kinder und Jugendliche mit Behinderungen be
suchen daher mangels Alternative Freizeitangebote von Einrichtungen
und Diensten speziell für Menschen mit Behinderungen. Daher ist eine
weitere inklusive Önung der Angebote der Jugendarbeit (§ 10 f SGB VIII)
für alle jungen Menschen notwendig. Die prinzipielle Oenheit für alle
Jugendlichen wurde vom Gesetzgeber mit dem KJSG nochmals unterstri
chen. In § 11 Abs. 2 wird nun im dritten Satz ausgeführt, dass die „Zugäng
lichkeit und Nutzbarkeit für junge Menschen mit Behinderungen sicher
gestellt werden“ soll. Dieser Zusatz darf nicht auf die Erfüllung von Krite
rien einer baulichen Barrierefreiheit verengt werden.
4.1
14 Austin-Cli/Hartl/Shih-ceng/Gaupp, Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Ju
gendlichen mit Behinderungen. Ergebnisse der Jugendstudie, 2022.
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In einer empirischen Erhebung zur oenen Kinder- und Jugendarbeit
kommen Forscher*innen aus dem Deutschen Jugendinstitut zu dem Er
gebnis, dass diese zwar durchaus oen für Kinder und Jugendliche mit
Behinderungen ist, aber in ihrer konzeptionellen Ausrichtung noch nicht
als inklusiv bezeichnet werden kann15. Für alle Bereiche der Jugendarbeit
mit ihrem starken Anspruch der Partizipation und Selbstorganisation gilt,
dass Inklusion nicht verordnet werden kann, sondern „entsprechend ihrer
bewusst subjekt- und interessenorientierten Anlage aus dem Miteinander
der Kinder und Jugendlichen selbst entstehen“16 muss. Dafür kann die
professionelle Begleitung Gelegenheiten herstellen, durch die Anregung
und Begleitung von inklusiven Prozessen, die Verankerung von Modulen
zur Inklusion in den Qualifikationsmaßnahmen für Jugendleiter*innen,
die Adressierung von allen jungen Menschen bei Ferienspielen und ande
ren Angeboten und vieles mehr.
Eine besondere Herausforderung stellt die Inklusion im Handlungsfeld
der ‚Hilfen zur Erziehung‘ dar. In Familien mit Mitgliedern, die als behin
dert gelten, kann im Einzelfall ganz selbstverständlich ein Anspruch auf
Leistungen der Eingliederungshilfe bestehen und auch ein Anspruch auf
Hilfen zur Erziehung. Im Prozess des Aufwachsens der Kinder können
sich, wie in allen anderen Familien auch, erzieherische Herausforderungen
stellen, die die Inanspruchnahme des gesamten Spektrums der erzieheri
schen Hilfen sinnvoll und geeignet erscheinen lassen.
In Bezug auf Eltern mit Behinderungen hat die UN-Behindertenrechts
konvention die Vertragsstaaten zu Maßnahmen aufgefordert, die zur Besei
tigung der Diskriminierung beitragen in allen Fragen, die Ehe, Familie,
Elternscha und Partnerscha betreen (Art. 23 UN-BRK).
Nach der Reform des SGB VIII haben Eltern nun einen verbindlichen
Rechtsanspruch auf die ‚Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsi
tuationen‘ (§ 20). Eltern mit Behinderungen haben wie andere Eltern das
Recht ihre Kinder zu erziehen. Sie haben dabei gegebenenfalls Anspruch
auf ‚Hilfen zur Erziehung‘ nach § 27 . SGB VIII. In bestimmten Fällen ha
ben sie auch Ansprüche auf ‚Haushaltshilfe‘ nach § 38 SGB V und vor al
lem auf Assistenz nach § 78 SGB IX. Dabei gibt es große Unterschiede, ob
15 Seckinger/Pluto/Peucker/van Santen, Einrichtungen der oenen Kinder- und Ju
gendarbeit. Eine empirische Bestandsaufnahme, 2016, 209 .
16 Voigts, Auf dem Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien: Beteiligung junger
Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen der Oenen Kinder- und Ju
gendarbeit, in: Rusack/Schilling/Lips/Herz/Schröer (Hrsg.), Schutzkonzepte in
der Oenen Jugendarbeit. Persönliche Rechte junger Menschen stärken, 2022,
S. 120, 122.
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es sich beispielsweise im Falle einer körperlichen Beeinträchtigung um die
„vollständige oder teilweise Übernahme von Handlungen zur Alltagsbe
wältigung“ (§ 78 Abs. 2 Punkt 1) oder beispielsweise im Falle einer kogniti
ven Beeinträchtigung um die „Befähigung der Leistungsberechtigten zu
einer eigenständigen Alltagsbewältigung“ (§ 78 Abs. 2 Punkt 2)17 handelt.
Wieder anders müssen Leistungen gestaltet sein, wenn es beispielsweise im
Falle von psychischen Krisen um eine dauerhae Begleitung oder um die
Unterstützung in bestimmten Krankheitsphasen geht18.
Die unterschiedlichen Logiken der Hilfesysteme und deren unterschied
liche Fokussierung auf Risiken und Unterstützungsbedarfe sowie fehlende
flexible Angebote erschweren häufig die Entwicklung passender Unterstüt
zungsarrangements. Im Sinne einer Inklusionsorientierung ist hier die
Entwicklung von Netzwerkstrukturen auf kommunaler Ebene notwendig,
um die unterschiedlichen Leistungsansprüche zusammenführen und flexi-
ble Hilfen leisten können. Ansatzpunkt hierfür können auf kommunaler
Ebene bestehende psychosoziale Arbeitsgemeinschaen (PSAG) sein. Auch
Arbeitsgemeinschaen nach § 78 SGB VIII könnten ein geeigneter Ort
sein, wenn sie auch für Träger der Eingliederungshilfe geönet würden.
Bedeutsam ist in jedem Fall die Einbeziehung der Selbsthilfe bzw. selbstor
ganisierter Zusammenschlüsse nach § 4a SGB VIII.
In allen genannten Unterstützungsbereichen ist im Sinne einer Inklu
sionsorientierung nicht der Verweis auf spezielle Angebote geboten, son
dern die vom Einzelfall ausgehende Aneignung von Kompetenzen zur in
dividuellen Begleitung und Unterstützung von Eltern und ihren Kindern
bei den öentlichen Trägern und bei den regionalen Anbietern von Hilfen
notwendig. Dies setzt voraus, dass sich Einrichtungen und Dienste im Feld
der Hilfen zur Erziehung mit der Begleitung von Eltern, Kindern und
Jugendlichen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen ganz im Sinne
von Ansätzen wie der Lebensweltorientierung ausgehend von der indivi
duellen Lebenssituation auseinandersetzen und mit den Adressat*innen
gemeinsam ein Unterstützungsarrangement erarbeiten.
17 vgl. dazu die Beiträge in: Düber/Remhof/Riesberg/Rohrmann/Sprung (Hrsg.),
Begleitete Elternscha in den Spannungsfeldern pädagogischer Unterstützung,
2021.
18 vgl. dazu: Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.: Abschlussbericht-der Ar
beitsgruppe Kinder-psychisch-kranker-Eltern, Hannover 2022, letzter Zugri
11.07.2022 unter: https://www.ag-kpke.de/wp-content/uploads/2020/02/Absch
lussbericht-der-AG-Kinder-psychisch-kranker-Eltern.pdf.
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Übergänge begleiten
Leistungen der Jugendhilfe enden für junge Menschen spätestens in der
für die Entwicklung bedeutsamen Lebensphase des jungen Erwachsenen
alters19. Es gibt jedoch Menschen, die lebenslang auf Begleitung und
Unterstützung angewiesen sind. Wenngleich die Übergänge von jungen
Menschen mit Behinderungen aus dem Zuständigkeitsbereich der Kinder-
und Jugendhilfe bislang noch schlecht erforscht sind20, so weisen Studien
darauf hin, dass für sie ein sehr hohes Exklusionsrisiko besteht21.
Für junge Menschen mit Behinderung kann mit Erreichen der Volljäh
rigkeit eine rechtliche Betreuung nach § 1896 . BGB eingerichtet werden.
Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in Artikel 12 deutlich gemacht,
dass diese im Erwachsenenalter dabei unterstützt werden sollen die gleich
berechtigte Rechts- und Handlungsfähigkeit auszuüben. Dies unterstreicht
die fachliche Herausforderung, das mit dem KJSG neu in § 1 SGB aufge
nommene Recht auf der Entwicklung und Erziehung zu einer selbstbe
stimmten Persönlichkeit ernst zu nehmen.
Der Gesetzgeber verpflichtet die Träger der öentlichen Jugendhilfe
nach der Änderung durch das KJSG (§ 36 b Abs. 2 SGB VIII) bei einem
voraussichtlichen Zuständigkeitswechsel in die Eingliederungshilfe ein
Jahr zuvor dies im Rahmen eines Teilhabeplanverfahrens vorzubereiten.
Für die inklusive Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung ist es
notwendig, dass auch Einrichtungen und Dienste in die Übergangsgestal
tung einbezogen werden. Einrichtungen können Leistungsvereinbarungen
sowohl mit dem Träger der Kinder- und Jugendhilfe als auch mit dem Trä
ger der Eingliederungshilfe abschließen, um bei Bedarf eine weitere Un
terstützung in der gleichen Einrichtung auch nach einem Zuständigkeits
wechsel für eine begrenzte Zeit fortzuführen. Für die Betroenen ist im
Übergang die „Zurverfügungstellung einer Vertrauensperson als feste*n
Ansprechpartner*in, mit dem*der sie ihre Zukun über die Hilfe hinaus
besprechen und planen können, der*die sich in den für die jungen Men
4.2
19 Stauber/Walther, Junge Erwachsene – eine Lebenslage des Übergangs?, in: Schröer
Stauber Walther Böhnisch Lenz (Hrsg.), Handbuch Übergänge, 2013, S. 270.
20 Schönecker/Seckinger/Eisenhardt/Kuhn/van Driesten/Hahne/Horn/Strüder/Koch, Inklu
sive Weiterentwicklung außerfamiliärer Wohnformen für junge Menschen mit
Behinderungen, 2021, S. 32, letzter Zugri 06.02.2022 unter: https://igfh.de/sites/
default/files/2021-03/Sch%C3%B6necker_Seckinger_Inklusion_Heimerziehung_2
021.pdf.
21 Braenne-Bennwik/Oterholm, Policy values related to support for care leavers with
disabilities, in: European Journal of Social Work, 2021, S. 884.
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schen relevanten Bereichen gut auskennt, sie über ihre Rechte beraten, im
Umgang mit Behörden coachen oder auch mal dahin begleiten kann“22
von besonderer Bedeutung. Für die Übernahme einer solchen Aufgabe
sind rechtliche Betreuer*innen gegenwärtig nicht mit den notwendigen
Ressourcen ausgestattet.
Aus fachlicher Sicht ist es notwendig, dass für die jungen Menschen
zugleich eine Kontinuität und eine Weiterentwicklung der Unterstützung
erfahrbar werden. Dies gilt in Bezug auf eine selbstbestimmte Lebensfüh
rung, verbunden mit den Möglichkeiten sich die dafür notwendigen Kom
petenzen anzueignen, und für das Verhältnis zu der Herkunsfamilie und
den dauerhaen Umgang mit professionellen Unterstützungsleistungen.
Es liegen bereits zahlreiche Erfahrungen mit der Entwicklung von
inklusiven Angeboten vor. Sie haben bislang jedoch eher modellhaen
Charakter. Vor allem die großen Trägerorganisationen haben sich im Zu
ge der Ökonomisierungen sozialer Dienstleistungen zu ausdierenzierten
aber stark feldspezifisch agierenden Sozialunternehmen entwickelt. Es fällt
ihnen nun schwer auf fachliche Anforderungen zur inklusiven Weiterent
wicklung ihrer Angebote zu reagieren23.
Peer Support
Im Feld der Behindertenpolitik hat sich die Selbstorganisation von Men
schen mit Behinderungen und ihren Angehörigen in der Selbsthilfe, in
Verbänden und in Interessenvertretungen auf unterschiedlichen politi
schen Ebenen dynamisch entwickelt. Einen starken Impuls zur Veranke
rung von Ansätzen des Peer Support hat die UN-Behindertenrechtskon
vention gegeben. In Artikel 26 der Konvention zum Thema Habilitation
und Rehabilitation werden die Vertragsstaaten aufgefordert, die Unterstüt
zung durch andere Menschen mit Behinderungen im Rehabilitationssys
tem zu verankern. Vor diesem Hintergrund wurde bei der neu eingeführ
ten Förderung von ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstellen
(EUTB) die „Beratung von Betroenen für Betroene“ als Förderkriterium
4.3
22 Schönecker/Seckinger/Eisenhardt/Kuhn/van Driesten/Hahne/Horn/Strüder/Koch, Inklu
sive Weiterentwicklung außerfamiliärer Wohnformen für junge Menschen mit
Behinderungen, 2021, S. 32, letzter Zugri 06.02.2022 unter: https://igfh.de/sites/
default/files/2021-03/Sch%C3%B6necker_Seckinger_Inklusion_Heimerziehung_2
021.pdf.
23 vgl. Wasel, Inklusion – eine strategische Herausforderung für Sozialunternehmen,
in: Teilhabe, 2012, S. 85.
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berücksichtigt (§ 32 Abs. 3 SGB IX). Auch in anderen Bereichen der Reha
bilitation werden Menschen mit Behinderung und Erfahrungen mit Un
terstützungsangeboten tätig, auch wenn ihr Status in professionellen
Teams häufig noch nicht befriedigend geklärt ist.
Ansätze der Partizipation bei der individuellen Planung der Hilfen, in
Einrichtungen und auch auf politischer Ebene beispielsweise in Kinder-
und Jugendparlamenten sind auch in der Kinder- und Jugendpolitik seit
langem verankert. Das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz hat nun die Be
deutung von selbstorganisierten Zusammenschlüssen deutlich akzentuiert
4a SGB VIII). Die Einbeziehung solcher selbstorganisierten Zusammen
schlüsse und Interessenvertretungen auf kommunaler Ebene in die Arbeit
von Diensten und Einrichtungen und vor allem auch in die Angebotsent
wicklung bietet weitreichende Entwicklungsperspektiven für die Überwin
dung der Versäulung von Angeboten. Dies bezieht sich auf die inklusive
Önung der Jugendarbeit, auf eine aufeinander abgestimmte Beratungs
landscha und auch auf spezialisierte Unterstützungsangebote.
Die Leistungsform des Persönlichen Budgets
Auf der individuellen Ebene der Inanspruchnahme von Leistungen zur
Teilhabe wurde bereits 2001 die Leistungsform des Persönlichen Budgets
eingeführt, um den Leistungsberechtigten ein höheres Maß an Selbstbe
stimmung durch selbstorganisierte und flexible Hilfen zu ermöglichen.
Bisher bleibt die Inanspruchnahme solcher Budgets deutlich hinter den Er
wartungen zurück und kommt in der Kinder- und Jugendhilfe für Leistun
gen nach § 35a SGB VIII nur sehr selten vor24. Bereits in einem Beitrag aus
dem Jahre 2012 hat Gila Schindler die Träger der öentlichen Jugendhilfe
aufgefordert diese neue Leistungsform aktiver auszugestalten25.
Durch ein persönliches Budget können nicht alle notwendigen Hilfen
sinnvoll erbracht werden; die Leistungsform ersetzt vor allem nicht eine
fachliche Angebotsplanung. Die Möglichkeit eines solches Budgets als Al
ternative zur Inanspruchnahme von teilweise nicht verfügbaren und teil
4.4
24 vgl. Bundesarbeitsgemeinscha für Rehabilitation e.V., 3. Teilhabeverfahrensbericht,
2021, S. 203.
25 Schindler, Persönliches Budget als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe – oder:
Nur Mut zum Unbekannten! 2012, letzter Zugri 24.05.2021 unter: https://www.
reha-recht.de/fileadmin/download/foren/d/2012/D4-2012_Pers%C3%B6nliches_B
udget_Kinder_Jugendhilfe.pdf.
Inklusion im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
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weise zu wenig flexiblen Angeboten wahrzunehmen, kann jedoch wichtige
Impulse für die Weiterentwicklung von Hilfen leisten.
Gemeinsame Anlaufstellen im Gemeinwesen
Im Zusammenhang einer inklusiven Jugendhilfe ist es bedeutsam, dass
die zahlreichen aber sehr unterschiedlichen Anlaufstellen für junge Men
schen mit Behinderungen und ihre Familien und die Leistungsträger sie
zur Inanspruchnahme ermutigen und diese bei Bedarf begleiten. Einen
wichtigen Beitrag leisten hier die bereits erwähnten 2018 eingeführten
Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen mit ihrem Konzept
der Peer-Beratung (www.teilhaberatung.de). Es stellt sich die Frage, wie
diese zukünig in die Kinder- und Jugendhilfe einbezogen werden. Ein
unabhängiges, der Peer-Beratung verpflichtetes Angebot wäre zudem auch
ein wichtiger Baustein im heutigen Feld der ‚Hilfen zur Erziehung‘.
Jugendhilfeplanung und Inklusion
Wie kann nun der inklusiven Weiterentwicklung der Kinder- und Jugend
hilfe ein verbindender Rahmen gegeben werden? In einem Zwischenruf
hat der AFET 2019 darauf hingewiesen, dass es dazu einer qualifizierten Ju
gendhilfeplanung bedarf und zugleich festgestellt, dass diese gegenwärtig
nicht in allen Kommunen den hohen Anforderungen und Erwartungen
entsprechen kann26.
Mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wurde in § 80 Abs. 2 Punkt
2 SGB VIII eine Präzisierung des Planungsaurages vorgenommen. Dien
ste und Einrichtungen sollen demnach so geplant werden, dass „ein mög
lichst wirksames, vielfältiges, inklusives und aufeinander abgestimmtes
Angebot von Jugendhilfeleistungen gewährleistet ist“. Nach Punkt 4 sollen
sie so gestaltet sein, dass junge Menschen mit und ohne Behinderungen
„gemeinsam unter Berücksichtigung spezifischer Bedarfslagen gefördert
werden können“. Die Jugendhilfeplanung kann sich damit zu einem Mo
4.5
5.
26 vgl. Bundesverband für Erziehungshilfe e.V.: Ohne qualifizierte Jugendhilfepla
nung keine inklusive Jugendhilfe?! Ein Zwischenruf zur aktuellen Reformdebatte
des SGB VIII 2019, letzter Zugri 27.01.2022 unter: https://afet-ev.de/assets/theme
nplattform/2019_09_10-AFET-Position-zum-Arbeitspapier_Mehr-Inklusion_Mitre
den-Mitgestalten.pdf.
Albrecht Rohrmann
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tor für die Entwicklung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe entwi
ckeln.
Entgegen einer ‚sozialtechnologischen‘27 Verengung des Planungsaura-
ges kann eine sozialwissenschalich fundierte Beschreibung der Ausgangs
situation in Verbindung mit einer partizipativ angelegten Entwicklung
und Erprobung neuer Konzepte zur Irritation bestehender Strukturen bei
tragen und Innovationen befördern28.
Die Ratifizierung und Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven
tion hat einen starken Planungsimpuls in Kommunen ausgelöst. Das dort
entfaltete Verständnis von Behinderung als Folge einer Wechselwirkung
zwischen Menschen mit Beeinträchtigung und umwelt- sowie einstellungs
bedingten Barrieren verweist auf sozialräumliche Strukturen und Bezie
hungen. In der Folge wurden in vielen Kommunen Aktionspläne zur Um
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention erstellt oder umfassendere
Teilhabeplanungsprozesse aufgenommen29. Die Ausgestaltung einer inklu
siven Kinder- und Jugendhilfe bietet die Chance, die Jugendhilfeplanung
im Zusammenhang der Entwicklung von inklusiven Strukturen im Ge
meinwesen weiter zu profilieren. Die Jugendhilfe soll dazu beitragen, „po
sitive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie
eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaf
fen“ 1 Abs. 3 SGB VIII). Dieser politische Aurag lässt sich nicht anders
als inklusiv denken. Er führt die Verantwortung für ein zugängliches und
für alle nutzbares Angebot an Fachdiensten mit der Verantwortung für
eine inklusive kommunale Infrastruktur zusammen.
Inklusion gestalten
Der Beitrag muss und will am Ende oenlassen, was eine inklusive Kin
der- und Jugendhilfe zukünig sein wird. Wichtiger erscheint es, auf
den unterschiedlichen Ebenen der individuellen Planung von Hilfen, der
Entwicklung inklusiver Angebote und der kommunalen Planung einer
6.
27 Merchel, Joachim,Jugendhilfeplanung: ein Ort zur Erzeugung von entwicklungs
notwendigen Irritationen in der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe, in: Daig
ler, Claudia (Hrsg.): Profil und Professionalität der Jugendhilfeplanung, Wiesba
den 2018, S. 39, 40.
28 a.a.O., S. 43.
29 vgl. Rohrmann, Albrecht: Kommunale Teilhabeplanung, Bonn 2019, letzter Zu
gri 06.03.2022 unter: https://www.socialnet.de/lexikon/Kommunale-Teilhabepla
nung.
Inklusion im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz
29
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inklusiven Infrastruktur partizipative Lernprozesse in Gang zu setzen, die
sich von dem menschenrechtsbasierten Ansatz der Inklusion kritisch inspi
rieren lassen.
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https://doi.org/10.5771/9783748938460-17, am 10.02.2023, 17:55:19
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Chapter
Der Beitrag nimmt den Bewertungsaspekt von Jugendhilfeplanung zum Ausgangspunkt und entwickelt daraus das Qualitätsmerkmal von Irritation und Störung als zentrales Entwicklungsmoment in den strukturkonservativen Anlagen von Organisationen. Herausgearbeitet werden insbesondere Konsequenzen für die Qualifikationsanforderung an die Planungsfachkraft und das Gesamtprofil von Jugendhilfeplanung im Rahmen einer planungsfreundlichen Organisationskultur.
Abschlussbericht-der Arbeitsgruppe Kinder-psychisch-kranker-Eltern
  • V Bundesverband Für Erziehungshilfe E
Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. (2022): Abschlussbericht-der Arbeitsgruppe Kinder-psychisch-kranker-Eltern, Hannover, letzter Zugriff 11.07.2022 unter: https://www.ag-kpke.de/wp-content/uploads/2020/02/Abschlussbericht-der -AG-Kinder-psychisch-kranker-Eltern.pdf.
SGB VIII-Reform und Inklusion. Sozial extra
  • Benedikt Hopmann
Hopmann, Benedikt (2021): SGB VIII-Reform und Inklusion. Sozial extra, S. 414.