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SGB VIII und BTHG: Mehr als Schnittstellenmanagement – Wie ist eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit denkbar?

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Abstract

The reform of the Child and Youth Welfare Law in 2021 has initiated far-reaching changes towards human rights-oriented, non-discriminatory participation and inclusive child and youth welfare. The coordination of child and youth welfare law (SGB VIII) and of disability rights (SGB IX) for all young people in a structured system with different benefit laws and seven competent agencies is a great challenge and a task for the future, which will be discussed from a legal, socio-educational and sociological perspective, taking into account the practice. With contributions by Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, Prof. i.R. Dr. Kirsten Scheiwe, Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Dr. Eric Van Santen, Prof. Dr. Arne von Boetticher, Prof. Dr. Friederike Wapler, Anke Welke, Prof. Dr. Felix Welti and Prof. Dr. Michael Wrase.
SGB VIII und BTHG: Mehr als Schnittstellenmanagement –
Wie ist eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit
denkbar?
Von Antje Welke
Der nachstehende Beitrag soll die Schnittstellen zwischen dem Recht der
Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und dem Recht der Rehabilitation
und Teilhabe (SGB IX) aus Sicht der Praxis näher betrachten. Eingangs
werden zunächst die bestehenden Schnittstellen und die bisherigen Lö
sungsansätze durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) seit dem 01.01.2017
und das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) seit dem 01.07.2021
dargestellt. Sodann werden die Chancen und Hemmnisse für künige Lö
sungen und abschließend die Voraussetzung für die Schaung der inklusi
ven Lösung in dieser Legislaturperiode beschrieben.
Bestehende Bedarfslagen zwischen SGB VIII und SGB IX sowie bisherige
Schnittstellenlösungen
Die Schnittstellenprobleme zwischen der Eingliederungshilfe für Kinder-
und Jugendliche mit seelischer Behinderung nach dem SGB VIII und mit
körperlicher oder sog. geistiger Behinderung nach dem SGB IX beschäi-
gen die Rechtsanwender*innen aus beiden Rechtskreisen seit vielen Jah
ren1. Entsprechend lange wird auch bereits nach besseren Lösungen zur
Bereinigung der Schnittstelle gesucht und diskutiert.
1.
1Vgl. z.B. Deutscher Verein, Diskussionspapier des Deutschen Vereins zur Gestal
tung der Schnittstelle bei Hilfen nach dem SGB VIII und dem SGB XII für junge
Menschen mit Behinderung, DV 21/10 AF IV/II, 2010, letzter Zugri 01.08.2022
unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen
/2010/dv-21-10.pdf
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Was sind die Bedarfslagen zwischen SGB VIII und SGB IX?
Hierfür soll zunächst ein Blick auf die bestehenden problematischen Kon
stellationen an der Schnittstelle zwischen SGB IX und SGB VIII geworfen
werden.
Kinder- und Jugendliche mit unklaren oder Doppeldiagnosen
Seit der Trennung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche
zwischen dem SGB VIII (seelische Behinderung) und dem SGB IX (körper
liche und geistige Behinderung) wird über die Zuordnung der Leistungen
der Eingliederungshilfe an Kinder und Jugendliche mit unklaren oder
Doppeldiagnosen gestritten, da die Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 4
Satz 2 SGB VIII für diese Konstellationen keine eindeutige Regelung tri.
Zu diesen unklaren Diagnosen zählten lange auch Kinder und Jugendli
che mit Autismus-Spektrum-Störungen. Ihre Zuordnung ist mittlerweile
jedoch weitestgehend geklärt, da zumindest der frühkindliche Autismus
nun als tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84) unter den Katalog der
ICD 10-Störungen fällt und somit in der Regel die Kinder- und Jugendhil
fe zuständig ist.2
Strittig ist weiterhin die Trägerscha für Leistungen der Eingliederungs
hilfe für Kinder und Jugendliche, bei denen die Bedarfe nicht eindeutig
der einen oder anderen Beeinträchtigung zuzuordnen sind oder auch bei
denen sich die Bedarfe überschneiden und sog. Doppeldiagnosen / Mehr
fachbehinderungen vorliegen. In diesen häufig für die Kinder und Jugend
lichen sowie ihre Familien ohnehin sehr belastenden Konstellationen sind
lange Zuständigkeitsklärungsverfahren zwischen den Leistungsträgern auf
reibend und unnötig kräezehrend.
Elternassistenz und begleitete Elternscha
Eine andere unklare Zuständigkeit zwischen den SGB VIII-Trägern und
denen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX besteht im Bereich der El
ternassistenz bzw. der begleiteten Elternscha. Gerade wenn nicht vor al
lem körperliche Einschränkungen bei den Eltern einen Assistenzbedarf
1.1
1.1.1
1.1.2
2 Vgl. Kölch, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 82,
83.
Antje Welke
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auslösen, sondern es auch um einen behinderungsbedingten Unterstüt
zungsbedarf in Erziehungsfragen geht, kommen Leistungen beider Träger
in Betracht.3
Unterstützung der Familie als Ganzes
Eine Lücke in der aktuellen getrennten Zuständigkeit bei der Eingliede
rungshilfe für Kinder und Jugendliche liegt auch in der unzureichenden
Betrachtung der Unterstützungsbedarfe für Familien, in denen ein Kind,
Jugendlicher oder auch ein Elternteil mit Behinderung lebt. Diese Famili
en haben häufig Unterstützungsbedarfe in verschiedenen Lebensberei
chen. So beschreibt zum Beispiel auch der aktuelle Teilhabebericht der
Bundesregierung, dass sich für Familien mit Kindern mit Beeinträchtigun
gen unter anderem durch strukturelle Barrieren und gesellschaliche Dis
kriminierungen besondere Herausforderungen ergeben.4 Auch seien Kin
der und Jugendliche mit Beeinträchtigungen im Alter von 14 bis 17 Jahren
deutlich seltener der Ansicht, dass in ihrer Familie alle gut miteinander
auskommen (84 %), als Gleichaltrige ohne Beeinträchtigungen (92 %).5
Bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
und ihren Familien geht es omals nicht nur um die erforderliche Ein
gliederungshilfe für den Menschen mit Behinderung, sondern auch um
die Unterstützung der Familie insgesamt. Teilweise gibt es auch Überfor
derungssituationen und Unterstützungsbedarfe bei den nicht behinderten
Elternteilen oder Geschwistern, die gesehen und beantwortet werden kön
nen, z.B. durch familienunterstützende Dienste, durch alltagspraktische
Entlastungsleistungen oder auch Beratungsangebote und Möglichkeiten
zum Austausch und zur Vernetzung.
1.1.3
3 Vgl. Deutscher Verein, Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine praxisgerechte
Unterstützung von Eltern mit Beeinträchtigungen und deren Kinder,2014, S. 3f.,
letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empf
ehlungen-stellungnahmen/2014/dv-32-13-elternassistenz.pdf.
4Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Dritter Teilhabebericht der Bundesregie
rung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Be
einträchtigung – Behinderung, 2021, S. 89, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://
www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/a125-21-teilhabebericht.
pdf?__blob=publicationFile&v=2.
5 Ebd., S. 90.
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Kind/Jugendliche mit Eingliederungshilfebedarf umfassend in den Blick
nehmen
Schließlich führt die bestehende Trennung der Eingliederungshilfe für
Kinder und Jugendliche mit Behinderung dazu, dass zu o übersehen
wird, dass auch Kinder und Jugendliche mit geistiger und körperlicher Be
hinderung nicht nur Bedarf an Eingliederungshilfe haben, sondern über
dies – wie viele andere Kinder und Jugendliche auch – Angebote der oe-
nen Jugendhilfe nutzen möchten. Daher forderten die Fachverbände für
Menschen mit Behinderung bereits 2017, dass im SGB VIII verbindliche
Standards und angemessene Vorkehrungen verankert werden, damit alle
Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen zur Teilhabe erhalten.6
Bislang gibt es nur sehr wenige inklusive Sport- und Freizeitaktivitäten.
Vielmehr erwarten Anbieter der Oenen Jugendhilfe von den Kindern mit
Behinderung aus dem Rechtskreis des SGB IX in der Regel, dass sie ihre
Assistenzperson – finanziert aus den Mitteln der Eingliederungshilfe nach
dem SGB IX – „mitbringen“, um an den Angeboten der Jugendhilfe teilha
ben zu dürfen. Die Beantragung dieser „mitgebrachten Assistenz“ findet je
doch nach den Erfahrungen aus der Beratungspraxis häufig nicht statt, da
für derlei Assistenzleistungen nach dem SGB IX, die Eltern mit ihrem Ein
kommen und Vermögen herangezogen werden (§ 140 Abs. 1 SGB IX).
Bestehende Schnittstellenlösungen
Bisher gelten zur Bereinigung der bestehenden Schnittstelle folgende Me
chanismen: Zunächst gilt die Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4
Satz 2 SGB VIII. Des Weiteren gilt das Zuständigkeitsklärungsverfahren
nach § 14 f. SGB IX, wobei jedoch die Träger der Eingliederungshilfe und
der öentlichen Jugendhilfe nicht zur Erstattung selbstbeschaer Leistun
gen nach § 18 Abs. 4 SGB IX verpflichtet werden können (§ 18 Abs. 7
SGB IX), weshalb die Leistungsberechtigten über kein besonderes Druck
mittel verfügen, um Leistungsträger zur zeitnahen Bescheiderteilung zu
veranlassen.
1.1.4
1.2
6Vgl. Die Fachverbände, Diskussionspapier Vorstellungen der Fachverbände für
Menschen mit Behinderung zu einer Inklusiven Lösung innerhalb der Reform des
SGB VIII (Stand 15.05.2017), 2017, S. 9, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://w
ww.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2017-05-18-VorstellungenFV-Inklusi
ve-Loesung-final.pdf.
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Lösungsansätze aus dem BTHG
Mit dem BTHG wurden eine Reihe von Verfahrensregelungen getroen,
um Leistungsberechtigte zu stärken und die trägerübergreifende Zusam
menarbeit zu fördern. So wurde die Teilhabeplanung (§ 19 SGB IX) ausge
baut und verpflichtender gestaltet. Die Elternassistenz wurde in den Kata
log der Assistenzleistungen nach § 78 Abs. 3 SGB IX aufgenommen, die
Leistungen zur Teilhabe an Bildung in § 112 SGB IX ausdierenziert und
das Gesamtplanverfahren in § 117 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX detailliert neu gere
gelt. Demnach erfolgt nun die Abstimmung der Leistungen nach Inhalt,
Umfang und Dauer in einer Gesamtplankonferenz unter Beteiligung be
troener Leistungsträger, d.h. ggf. auch der Jugendhilfe.
Lösungsansätze aus dem KJSG
Das KJSG wurde unter der Prämisse geschaen, die sog. inklusive Lösung
vorzubereiten. Die überwiegende Mehrheit in der Arbeitsgruppe des Dia
logprozesses „mitreden und mitgestalten“ beim BMFSFJ war der Ansicht,
dass die bloße Bereinigung von Schnittstellen nicht ausreiche und hat für
die sogenannte inklusive Lösung votiert.7
Beratung nach § 10 a SGB VIII
Ein wesentlicher Baustein zur Schaung einer inklusiven Kinder- und Ju
gendhilfe ist die Schaung des neuen Beratungsanspruchs in § 10a
SGB VIII. Demnach soll das Jugendamt junge Menschen, Mütter, Väter
und Personensorgeberechtigte „in einer für sie verständlichen, nachvoll
ziehbaren und wahrnehmbaren Form, auf ihren Wunsch auch im Beisein
einer Person ihres Vertrauens, beraten“. Dies ist eine wichtige Konkretisie
rung der Beratungspflichten aus §§ 14 und 15 SGB I.
Besonders hervorzuheben ist, dass in § 10a Abs. 2 Nr. 8 SGB VIII nor
miert ist, dass die Beratung „soweit erforderlich (…) auch Hilfe bei der An
tragstellung, bei der Klärung weiterer zuständiger Leistungsträger, bei der
2.
3.
3.1
7BMFSFJ, Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten: Die Zukun der Kinder- und
Jugendhilfe, 2020, S. 40, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://www.mitreden-mi
tgestalten.de/sites/default/files/downloads/abschlussbericht-mitreden-mitgestalten-
die-zukunft-der-kinder-und-jugendhilfe-data.pdf..
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Inanspruchnahme von Leistungen sowie bei der Erfüllung von Mitwir
kungspflichten“ umfasst. Dies wäre gerade für Eltern von Kindern und Ju
gendlichen mit Behinderung eine sehr hilfreiche Unterstützung. Aus den
Erfahrungen der Eingliederungshilfeberechtigten ist jedoch bekannt, dass
eine derlei serviceorientierte und umfassende Beratung und Unterstützung
durch die Sozialleistungsträger nicht die Regel ist. Es stellt sich daher die
Frage, ob § 10a SGB VIII nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Ju
gendhilfeträgers beinhaltet oder einen subjektiv-rechtlichen einklagbaren
Beratungsanspruch enthält. Wäre letzteres nicht der Fall, steht zu befürch
ten, dass die Norm angesichts eingeschränkter Ressourcen der öentlichen
Jugendhilfe weitgehend bedeutungslos und unwirksam bleibt.
Teilnahme der Jugendhilfe am Gesamtplanverfahren
§10 a Abs. 3 SGB VIII normiert von Seiten der Jugendhilfe, was im § 117
SGB IX bereits verankert war: Bei minderjährigen Leistungsberechtigten
nach § 99 SGB IX, d.h. bei Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe,
nimmt der Träger der öentlichen Jugendhilfe mit Zustimmung des Per
sonensorgeberechtigten am Gesamtplanverfahren nach § 117 Abs. 6
SGB IX beratend teil.
Allerdings besteht nach § 117 Abs. 6 Satz 1 2. Halbsatz SGB IX die Ein
schränkung, dass diese Beteiligung nur erfolgt, „soweit dies zur Feststel
lung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Kapiteln 3 bis 6
SGB IX erforderlich ist.“ Von der Beteiligung kann überdies nach § 117
Abs. 6 Satz 2 SGB IX „in begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden,
insbesondere, wenn durch die Teilnahme des zuständigen örtlichen Trä
gers der öentlichen Jugendhilfe das Gesamtplanverfahren verzögert wür
de.“
Diese Begrenzungen der Teilnahmepflicht kann verhindern, dass die
Zielstellung eines umfassenden Verfahrens erreicht werden kann. Denn
die Frage, ob die Beteiligung „erforderlich“ ist, „Ausnahmefälle“ vorliegen
oder eine „Verzögerung“ droht, entscheiden die Behörden nach eigenem
Ermessen, ohne dass der oder die Leistungsberechtigte hierauf Einfluss
nehmen kann.
3.2
Antje Welke
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Neuregelung zur Zusammenarbeit beim Zuständigkeitsübergang
Junge Menschen mit Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen bedür
fen häufig auch im Erwachsenenalter weitergehender Leistungen. Für den
dafür erforderlich Zuständigkeitsübergang vom Träger der öentlichen Ju
gendhilfe auf den der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX sieht § 36b
SGB VIII folgende Regelung vor: Im Rahmen des Teilhabeplanverfahrens
19 SGB IX) sollen die Voraussetzungen für die Sicherstellung einer naht
losen und bedarfsgerechten Leistungsgewährung im Anschluss an den Zu
ständigkeitsübergang geklärt werden (§ 36b Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Satz 2
dieser Regelung sieht vor, dass die Teilhabeplanung „frühzeitig, in der Re
gel ein Jahr vor dem voraussichtlichen Zuständigkeitswechsel“ vom Träger
der Jugendhilfe eingeleitet wird. Satz 4 und 5 präzisieren weiter, dass wenn
der Träger der Eingliederungshilfe feststellt, dass seine Zuständigkeit sowie
die Leistungsberechtigung nach dem SGB IX absehbar gegeben sind, er die
Teilhabeplanung vom Träger der öentlichen Jugendhilfe insgesamt über
nehmen und das Gesamtplanverfahren nach den §§ 117 bis 122 SGB IX
durchführen soll.
Auch diese begrüßenswerte Regelung um Leistungslücken und Hilfe
abrisse beim Zuständigkeitsübergang zu vermeiden, bleibt eine objektiv-
rechtliche Verpflichtung des Rehabilitationsträger, die ihre Wirkung und
Umsetzung in der Praxis erst noch beweisen muss.
Verfahrenslotse
Ab dem 01.01.2024 bis zum 31.12.2027 gilt § 10b SGB VIII. Die Regelung
setzt den Verfahrenslotsen ein. Der Verfahrenslotse ist von all den neuen
zur Verbesserung des Schnittstellenmanagements zwischen SGB VIII und
SGB IX das aufwendigste, aber auch erfolgversprechendste Instrument. Es
soll einerseits individuell Wirkung entfalten, in dem es den Leistungsbe
rechtigten bei der Antragstellung, Verfolgung und Inanspruchnahme sei
ner Leistungen unterstützt und begleitet und dabei unabhängig auf die In
anspruchnahme seiner Rechte hinwirkt. Überdies entfaltet der Verfahrens
lotse systembezogene Wirkungen, in dem er die öentliche Jugendhilfe
bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach
dem SGB IX und dem SGB VIII unterstützt. Es ist daher richtig und sinn
voll, dass im Koalitionsvertrag bereits angekündigt ist, dass Modellpro
3.3
3.4
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gramme auf den Weg gebracht und die Verfahrenslotsen schneller und un
befristet eingesetzt werden sollen.8
Hemmnisse beim Schnittstellenmanagement zwischen SGB VIII und SGB IX
Die oben beschriebenen Maßnahmen haben verschiedene Umsetzungs
hemmnisse:
Eines der wesentlichen sind die unterschiedlichen Systemlogiken zwi
schen dem Recht der Kinder- und Jugendhilfe einerseits und dem Recht
der Rehabilitation und Teilhabe andererseits. Während die Jugendhilfe ein
Hilfeangebot unterbreitet, das von den Kindern, Jugendlichen oder Eltern
teilweise auch nicht ohne Vorbehalte angenommen bzw. teils auch abge
lehnt wird, ist das Recht der Rehabilitation und Teilhabe von Leistungsan
sprüchen geprägt. Die Leistungsberechtigten nach § 99 SGB IX fordern
ihre Unterstützung ein und betonen häufig selbstbewusst, dass diese Leis
tungen Nachteilsausgleiche darstellen, die ihnen auch auf der Grundlage
der UN-Behindertenrechtskonvention – insbesondere der Artikel 19 (Un
abhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinscha), Artikel
24 (Bildung), Artikel 27 (Arbeit und Beschäigung) und Artikel 28 (Ange
messener Lebensstandard und sozialer Schutz) – zustehen.9
Auch zwischen der Hilfeplanung im SGB VIII und der Teilhabe- und
Gesamtplanung im SGB IX sowie der Bedarfsermittlung in der Eingliede
rungshilfe bestehen systematische Unterschiede: Während in der Jugend
hilfe das „Kooperationsprinzip“ gilt und die Verfahren oen und flexibel
sind, gelten im SGB IX ausdierenzierte Regeln, die dem Leistungsberech
tigten seinen Anspruch auf bedarfsdeckende Leistungen sichern sollen. Es
besteht also eine Bedarfsfeststellungspflicht des Trägers.
Hemmnisse für die inklusive Lösung
Das KJSG hat die inklusive Lösung vorbereitet und ist damit weitergekom
men, als es in 30 Jahren zuvor möglich war. Dennoch gibt es ein großes
4.
5.
8SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit,
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025, 2021, S. 99.
9Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere zu den spezifischen Rechten aus
der UN-BRK sind auf der Webseite der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechts
konvention unter www.institut-fuer-menschenrechte.de abruar.
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Hemmnis für die nächste Reformstufe. Dieses ist in § 107 Abs. 2 SGB VIII
niedergelegt. Danach sollen einerseits „(…) keine Verschlechterungen für
leistungsberechtigte oder kostenbeitragspflichtige Personen und anderer
seits keine Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten sowie des
Leistungsumfangs im Vergleich zur Rechtslage am 1. Januar 2023 (…)“
herbeigeführt werden. Diese Aussage droht dazu zu führen, dass es mit der
inklusiven Lösung nur zu einer Verfahrensverlagerung vom Träger der
Eingliederungshilfe auf den der Jugendhilfe kommt, ohne dass damit auch
Veränderungen bei den Leistungen einhergehen. Das sollte im Sinne der
Familien mit Kindern, Jugendlichen oder Eltern mit Behinderung jedoch
vermieden werden. Denn es geht bei der inklusiven Lösung nicht um eine
reine Verwaltungsreform, in der der Trägerwechsel ein Selbstzweck ist.
Vielmehr soll die inklusive Lösung auch inklusive Leistungen, Angebote
und Strukturen schaen. Eine solche Reform kann es nicht ohne Verände
rungen am Personenkreis und an den Ressourcen geben. Es ist daher eine
wichtige Voraussetzung für eine gelingende inklusive Lösung, die auch in
der Praxis als Mehrwert ankommt und akzeptiert wird, dass die erforderli
chen Ressourcen für die Reform bereitgestellt werden.
Chancen aus dem KJSG
Chancen aus dem KJSG für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe stellen
neben dem Verfahrenslotsen und der Beteiligung an der Gesamtplanung
(s.o) die Stärkung der Beteiligung und Selbstvertretung (§ 4a SGB VIII) der
Kinder und Jugendlichen dar.
Ein anderer sehr wichtiger Aspekt sind die Änderungen in den §§ 77 .
SGB VIII. Die Tatsache, dass Inklusion als Qualitätsmerkmal in den Leis
tungsvereinbarungen der Jugendhilfe aufgenommen wurde, trägt dafür
Sorge, dass eine inklusive Ausrichtung von Jugendhilfeangeboten auch re
finanzierbar wird. Das ist für die Veränderung der Angebotslandscha viel
leicht die wichtigste Regelung des KJSG. Sie spiegelt sich auch in der neu
en Berücksichtigung inklusiver Aspekte in der Jugendhilfeplanung nach
§80 Abs. 2 SGB VIII wider.
6.
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Voraussetzungen für die Schaung der inklusiven Lösung in dieser
Legislaturperiode
Voraussetzungen für eine gelingende Reform des SGB VIII ist zum einen,
dass die Finanzierung gesichert wird und die Beteiligten Einvernehmen
dazu erzielen, dass es eine kostenneutrale Lösung nicht geben kann.
Zum anderen ist die Reform zur Zusammenführung der Leistungen
für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung unter dem
Dach der Kinder- und Jugendhilfe durch einen partizipativen Prozess
vorzubereiten. Diesen Beteiligungsprozess hat das Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 27.06.2022 mit einer digitalen
Auaktveranstaltung „Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive
Kinder- und Jugendhilfe!“ bereits gestartet.10
Bis Ende 2024 soll die gesetzliche Ausgestaltung der inklusiven Lösung
verabschiedet sein. Es bleibt zu hoen, dass die konstruktive und ho-
nungsvolle Atmosphäre der Auaktveranstaltung durch den gesamten Pro
zess trägt und alle Akteure das Ziel – mehr Inklusion und Teilhabe für
alle Kinder und Jugendliche mit Behinderung – nicht aus dem Fokus
verlieren.
Literaturverzeichnis
BMFSFJ (2022): Gemeinsam zum Ziel: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe gestalten,
letzter Zugri 01.12.2022 unter: https://gemeinsam-zum-ziel.org
BMFSFJ (2020): Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten: Die Zukun der Kin
der- und Jugendhilfe, 2020, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://www.mitred
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Deutscher Verein (2010): Diskussionspapier des Deutschen Vereins zur Gestaltung
der Schnittstelle bei Hilfen nach dem SGB VIII und dem SGB XII für junge
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ter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen
/2010/dv-21-10.pdf
7.
10 Vgl. BMFSFJ, Gemeinsam zum Ziel: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe gestalten,
2022, letzter Zugri 01.12. 2022 unter: https://gemeinsam-zum-ziel.org.
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SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für
Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025, letzter
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ertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
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Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine praxisge rechte Unterstützung von Eltern mit Beeinträchtigungen und deren Kinder
  • Deutscher Verein
Deutscher Verein (2014), Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine praxisge rechte Unterstützung von Eltern mit Beeinträchtigungen und deren Kinder, letzter Zugriff 01.08.2022 unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/e mpfehlungen-stellungnahmen/2014/dv-32-13-elternassistenz.pdf
Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025, letzter Zugriff 01.08.2022 unter: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsv ertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf