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SGB VIII und BTHG: Mehr als Schnittstellenmanagement –
Wie ist eine rechtskreisübergreifende Zusammenarbeit
denkbar?
Von Antje Welke
Der nachstehende Beitrag soll die Schnittstellen zwischen dem Recht der
Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) und dem Recht der Rehabilitation
und Teilhabe (SGB IX) aus Sicht der Praxis näher betrachten. Eingangs
werden zunächst die bestehenden Schnittstellen und die bisherigen Lö
sungsansätze durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) seit dem 01.01.2017
und das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) seit dem 01.07.2021
dargestellt. Sodann werden die Chancen und Hemmnisse für künige Lö
sungen und abschließend die Voraussetzung für die Schaung der inklusi
ven Lösung in dieser Legislaturperiode beschrieben.
Bestehende Bedarfslagen zwischen SGB VIII und SGB IX sowie bisherige
Schnittstellenlösungen
Die Schnittstellenprobleme zwischen der Eingliederungshilfe für Kinder-
und Jugendliche mit seelischer Behinderung nach dem SGB VIII und mit
körperlicher oder sog. geistiger Behinderung nach dem SGB IX beschäi-
gen die Rechtsanwender*innen aus beiden Rechtskreisen seit vielen Jah
ren1. Entsprechend lange wird auch bereits nach besseren Lösungen zur
Bereinigung der Schnittstelle gesucht und diskutiert.
1.
1Vgl. z.B. Deutscher Verein, Diskussionspapier des Deutschen Vereins zur Gestal
tung der Schnittstelle bei Hilfen nach dem SGB VIII und dem SGB XII für junge
Menschen mit Behinderung, DV 21/10 AF IV/II, 2010, letzter Zugri 01.08.2022
unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen
/2010/dv-21-10.pdf
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Was sind die Bedarfslagen zwischen SGB VIII und SGB IX?
Hierfür soll zunächst ein Blick auf die bestehenden problematischen Kon
stellationen an der Schnittstelle zwischen SGB IX und SGB VIII geworfen
werden.
Kinder- und Jugendliche mit unklaren oder Doppeldiagnosen
Seit der Trennung der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche
zwischen dem SGB VIII (seelische Behinderung) und dem SGB IX (körper
liche und geistige Behinderung) wird über die Zuordnung der Leistungen
der Eingliederungshilfe an Kinder und Jugendliche mit unklaren oder
Doppeldiagnosen gestritten, da die Konkurrenzregelung des § 10 Abs. 4
Satz 2 SGB VIII für diese Konstellationen keine eindeutige Regelung tri.
Zu diesen unklaren Diagnosen zählten lange auch Kinder und Jugendli
che mit Autismus-Spektrum-Störungen. Ihre Zuordnung ist mittlerweile
jedoch weitestgehend geklärt, da zumindest der frühkindliche Autismus
nun als tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84) unter den Katalog der
ICD 10-Störungen fällt und somit in der Regel die Kinder- und Jugendhil
fe zuständig ist.2
Strittig ist weiterhin die Trägerscha für Leistungen der Eingliederungs
hilfe für Kinder und Jugendliche, bei denen die Bedarfe nicht eindeutig
der einen oder anderen Beeinträchtigung zuzuordnen sind oder auch bei
denen sich die Bedarfe überschneiden und sog. Doppeldiagnosen / Mehr
fachbehinderungen vorliegen. In diesen häufig für die Kinder und Jugend
lichen sowie ihre Familien ohnehin sehr belastenden Konstellationen sind
lange Zuständigkeitsklärungsverfahren zwischen den Leistungsträgern auf
reibend und unnötig kräezehrend.
Elternassistenz und begleitete Elternscha
Eine andere unklare Zuständigkeit zwischen den SGB VIII-Trägern und
denen der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX besteht im Bereich der El
ternassistenz bzw. der begleiteten Elternscha. Gerade wenn nicht vor al
lem körperliche Einschränkungen bei den Eltern einen Assistenzbedarf
1.1
1.1.1
1.1.2
2 Vgl. Kölch, in: Wiesner/Wapler, SGB VIII Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 82,
83.
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auslösen, sondern es auch um einen behinderungsbedingten Unterstüt
zungsbedarf in Erziehungsfragen geht, kommen Leistungen beider Träger
in Betracht.3
Unterstützung der Familie als Ganzes
Eine Lücke in der aktuellen getrennten Zuständigkeit bei der Eingliede
rungshilfe für Kinder und Jugendliche liegt auch in der unzureichenden
Betrachtung der Unterstützungsbedarfe für Familien, in denen ein Kind,
Jugendlicher oder auch ein Elternteil mit Behinderung lebt. Diese Famili
en haben häufig Unterstützungsbedarfe in verschiedenen Lebensberei
chen. So beschreibt zum Beispiel auch der aktuelle Teilhabebericht der
Bundesregierung, dass sich für Familien mit Kindern mit Beeinträchtigun
gen unter anderem durch strukturelle Barrieren und gesellschaliche Dis
kriminierungen besondere Herausforderungen ergeben.4 Auch seien Kin
der und Jugendliche mit Beeinträchtigungen im Alter von 14 bis 17 Jahren
deutlich seltener der Ansicht, dass in ihrer Familie alle gut miteinander
auskommen (84 %), als Gleichaltrige ohne Beeinträchtigungen (92 %).5
Bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung
und ihren Familien geht es omals nicht nur um die erforderliche Ein
gliederungshilfe für den Menschen mit Behinderung, sondern auch um
die Unterstützung der Familie insgesamt. Teilweise gibt es auch Überfor
derungssituationen und Unterstützungsbedarfe bei den nicht behinderten
Elternteilen oder Geschwistern, die gesehen und beantwortet werden kön
nen, z.B. durch familienunterstützende Dienste, durch alltagspraktische
Entlastungsleistungen oder auch Beratungsangebote und Möglichkeiten
zum Austausch und zur Vernetzung.
1.1.3
3 Vgl. Deutscher Verein, Empfehlungen des Deutschen Vereins für eine praxisgerechte
Unterstützung von Eltern mit Beeinträchtigungen und deren Kinder,2014, S. 3f.,
letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empf
ehlungen-stellungnahmen/2014/dv-32-13-elternassistenz.pdf.
4Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Dritter Teilhabebericht der Bundesregie
rung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Be
einträchtigung – Behinderung, 2021, S. 89, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://
www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/a125-21-teilhabebericht.
pdf?__blob=publicationFile&v=2.
5 Ebd., S. 90.
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Kind/Jugendliche mit Eingliederungshilfebedarf umfassend in den Blick
nehmen
Schließlich führt die bestehende Trennung der Eingliederungshilfe für
Kinder und Jugendliche mit Behinderung dazu, dass zu o übersehen
wird, dass auch Kinder und Jugendliche mit geistiger und körperlicher Be
hinderung nicht nur Bedarf an Eingliederungshilfe haben, sondern über
dies – wie viele andere Kinder und Jugendliche auch – Angebote der oe-
nen Jugendhilfe nutzen möchten. Daher forderten die Fachverbände für
Menschen mit Behinderung bereits 2017, dass im SGB VIII verbindliche
Standards und angemessene Vorkehrungen verankert werden, damit alle
Kinder und Jugendlichen die gleichen Chancen zur Teilhabe erhalten.6
Bislang gibt es nur sehr wenige inklusive Sport- und Freizeitaktivitäten.
Vielmehr erwarten Anbieter der Oenen Jugendhilfe von den Kindern mit
Behinderung aus dem Rechtskreis des SGB IX in der Regel, dass sie ihre
Assistenzperson – finanziert aus den Mitteln der Eingliederungshilfe nach
dem SGB IX – „mitbringen“, um an den Angeboten der Jugendhilfe teilha
ben zu dürfen. Die Beantragung dieser „mitgebrachten Assistenz“ findet je
doch nach den Erfahrungen aus der Beratungspraxis häufig nicht statt, da
für derlei Assistenzleistungen nach dem SGB IX, die Eltern mit ihrem Ein
kommen und Vermögen herangezogen werden (§ 140 Abs. 1 SGB IX).
Bestehende Schnittstellenlösungen
Bisher gelten zur Bereinigung der bestehenden Schnittstelle folgende Me
chanismen: Zunächst gilt die Vorrang-Nachrang-Regelung des § 10 Abs. 4
Satz 2 SGB VIII. Des Weiteren gilt das Zuständigkeitsklärungsverfahren
nach § 14 f. SGB IX, wobei jedoch die Träger der Eingliederungshilfe und
der öentlichen Jugendhilfe nicht zur Erstattung selbstbeschaer Leistun
gen nach § 18 Abs. 4 SGB IX verpflichtet werden können (§ 18 Abs. 7
SGB IX), weshalb die Leistungsberechtigten über kein besonderes Druck
mittel verfügen, um Leistungsträger zur zeitnahen Bescheiderteilung zu
veranlassen.
1.1.4
1.2
6Vgl. Die Fachverbände, Diskussionspapier Vorstellungen der Fachverbände für
Menschen mit Behinderung zu einer Inklusiven Lösung innerhalb der Reform des
SGB VIII (Stand 15.05.2017), 2017, S. 9, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://w
ww.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2017-05-18-VorstellungenFV-Inklusi
ve-Loesung-final.pdf.
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Lösungsansätze aus dem BTHG
Mit dem BTHG wurden eine Reihe von Verfahrensregelungen getroen,
um Leistungsberechtigte zu stärken und die trägerübergreifende Zusam
menarbeit zu fördern. So wurde die Teilhabeplanung (§ 19 SGB IX) ausge
baut und verpflichtender gestaltet. Die Elternassistenz wurde in den Kata
log der Assistenzleistungen nach § 78 Abs. 3 SGB IX aufgenommen, die
Leistungen zur Teilhabe an Bildung in § 112 SGB IX ausdierenziert und
das Gesamtplanverfahren in § 117 Abs. 1 Nr. 6 SGB IX detailliert neu gere
gelt. Demnach erfolgt nun die Abstimmung der Leistungen nach Inhalt,
Umfang und Dauer in einer Gesamtplankonferenz unter Beteiligung be
troener Leistungsträger, d.h. ggf. auch der Jugendhilfe.
Lösungsansätze aus dem KJSG
Das KJSG wurde unter der Prämisse geschaen, die sog. inklusive Lösung
vorzubereiten. Die überwiegende Mehrheit in der Arbeitsgruppe des Dia
logprozesses „mitreden und mitgestalten“ beim BMFSFJ war der Ansicht,
dass die bloße Bereinigung von Schnittstellen nicht ausreiche und hat für
die sogenannte inklusive Lösung votiert.7
Beratung nach § 10 a SGB VIII
Ein wesentlicher Baustein zur Schaung einer inklusiven Kinder- und Ju
gendhilfe ist die Schaung des neuen Beratungsanspruchs in § 10a
SGB VIII. Demnach soll das Jugendamt junge Menschen, Mütter, Väter
und Personensorgeberechtigte „in einer für sie verständlichen, nachvoll
ziehbaren und wahrnehmbaren Form, auf ihren Wunsch auch im Beisein
einer Person ihres Vertrauens, beraten“. Dies ist eine wichtige Konkretisie
rung der Beratungspflichten aus §§ 14 und 15 SGB I.
Besonders hervorzuheben ist, dass in § 10a Abs. 2 Nr. 8 SGB VIII nor
miert ist, dass die Beratung „soweit erforderlich (…) auch Hilfe bei der An
tragstellung, bei der Klärung weiterer zuständiger Leistungsträger, bei der
2.
3.
3.1
7BMFSFJ, Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten: Die Zukun der Kinder- und
Jugendhilfe, 2020, S. 40, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://www.mitreden-mi
tgestalten.de/sites/default/files/downloads/abschlussbericht-mitreden-mitgestalten-
die-zukunft-der-kinder-und-jugendhilfe-data.pdf..
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Inanspruchnahme von Leistungen sowie bei der Erfüllung von Mitwir
kungspflichten“ umfasst. Dies wäre gerade für Eltern von Kindern und Ju
gendlichen mit Behinderung eine sehr hilfreiche Unterstützung. Aus den
Erfahrungen der Eingliederungshilfeberechtigten ist jedoch bekannt, dass
eine derlei serviceorientierte und umfassende Beratung und Unterstützung
durch die Sozialleistungsträger nicht die Regel ist. Es stellt sich daher die
Frage, ob § 10a SGB VIII nur eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Ju
gendhilfeträgers beinhaltet oder einen subjektiv-rechtlichen einklagbaren
Beratungsanspruch enthält. Wäre letzteres nicht der Fall, steht zu befürch
ten, dass die Norm angesichts eingeschränkter Ressourcen der öentlichen
Jugendhilfe weitgehend bedeutungslos und unwirksam bleibt.
Teilnahme der Jugendhilfe am Gesamtplanverfahren
§10 a Abs. 3 SGB VIII normiert von Seiten der Jugendhilfe, was im § 117
SGB IX bereits verankert war: Bei minderjährigen Leistungsberechtigten
nach § 99 SGB IX, d.h. bei Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe,
nimmt der Träger der öentlichen Jugendhilfe mit Zustimmung des Per
sonensorgeberechtigten am Gesamtplanverfahren nach § 117 Abs. 6
SGB IX beratend teil.
Allerdings besteht nach § 117 Abs. 6 Satz 1 2. Halbsatz SGB IX die Ein
schränkung, dass diese Beteiligung nur erfolgt, „soweit dies zur Feststel
lung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach den Kapiteln 3 bis 6
SGB IX erforderlich ist.“ Von der Beteiligung kann überdies nach § 117
Abs. 6 Satz 2 SGB IX „in begründeten Ausnahmefällen abgesehen werden,
insbesondere, wenn durch die Teilnahme des zuständigen örtlichen Trä
gers der öentlichen Jugendhilfe das Gesamtplanverfahren verzögert wür
de.“
Diese Begrenzungen der Teilnahmepflicht kann verhindern, dass die
Zielstellung eines umfassenden Verfahrens erreicht werden kann. Denn
die Frage, ob die Beteiligung „erforderlich“ ist, „Ausnahmefälle“ vorliegen
oder eine „Verzögerung“ droht, entscheiden die Behörden nach eigenem
Ermessen, ohne dass der oder die Leistungsberechtigte hierauf Einfluss
nehmen kann.
3.2
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Neuregelung zur Zusammenarbeit beim Zuständigkeitsübergang
Junge Menschen mit Anspruch auf Eingliederungshilfeleistungen bedür
fen häufig auch im Erwachsenenalter weitergehender Leistungen. Für den
dafür erforderlich Zuständigkeitsübergang vom Träger der öentlichen Ju
gendhilfe auf den der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX sieht § 36b
SGB VIII folgende Regelung vor: Im Rahmen des Teilhabeplanverfahrens
(§ 19 SGB IX) sollen die Voraussetzungen für die Sicherstellung einer naht
losen und bedarfsgerechten Leistungsgewährung im Anschluss an den Zu
ständigkeitsübergang geklärt werden (§ 36b Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Satz 2
dieser Regelung sieht vor, dass die Teilhabeplanung „frühzeitig, in der Re
gel ein Jahr vor dem voraussichtlichen Zuständigkeitswechsel“ vom Träger
der Jugendhilfe eingeleitet wird. Satz 4 und 5 präzisieren weiter, dass wenn
der Träger der Eingliederungshilfe feststellt, dass seine Zuständigkeit sowie
die Leistungsberechtigung nach dem SGB IX absehbar gegeben sind, er die
Teilhabeplanung vom Träger der öentlichen Jugendhilfe insgesamt über
nehmen und das Gesamtplanverfahren nach den §§ 117 bis 122 SGB IX
durchführen soll.
Auch diese begrüßenswerte Regelung um Leistungslücken und Hilfe
abrisse beim Zuständigkeitsübergang zu vermeiden, bleibt eine objektiv-
rechtliche Verpflichtung des Rehabilitationsträger, die ihre Wirkung und
Umsetzung in der Praxis erst noch beweisen muss.
Verfahrenslotse
Ab dem 01.01.2024 bis zum 31.12.2027 gilt § 10b SGB VIII. Die Regelung
setzt den Verfahrenslotsen ein. Der Verfahrenslotse ist von all den neuen
zur Verbesserung des Schnittstellenmanagements zwischen SGB VIII und
SGB IX das aufwendigste, aber auch erfolgversprechendste Instrument. Es
soll einerseits individuell Wirkung entfalten, in dem es den Leistungsbe
rechtigten bei der Antragstellung, Verfolgung und Inanspruchnahme sei
ner Leistungen unterstützt und begleitet und dabei unabhängig auf die In
anspruchnahme seiner Rechte hinwirkt. Überdies entfaltet der Verfahrens
lotse systembezogene Wirkungen, in dem er die öentliche Jugendhilfe
bei der Zusammenführung der Leistungen der Eingliederungshilfe nach
dem SGB IX und dem SGB VIII unterstützt. Es ist daher richtig und sinn
voll, dass im Koalitionsvertrag bereits angekündigt ist, dass Modellpro
3.3
3.4
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gramme auf den Weg gebracht und die Verfahrenslotsen schneller und un
befristet eingesetzt werden sollen.8
Hemmnisse beim Schnittstellenmanagement zwischen SGB VIII und SGB IX
Die oben beschriebenen Maßnahmen haben verschiedene Umsetzungs
hemmnisse:
Eines der wesentlichen sind die unterschiedlichen Systemlogiken zwi
schen dem Recht der Kinder- und Jugendhilfe einerseits und dem Recht
der Rehabilitation und Teilhabe andererseits. Während die Jugendhilfe ein
Hilfeangebot unterbreitet, das von den Kindern, Jugendlichen oder Eltern
teilweise auch nicht ohne Vorbehalte angenommen bzw. teils auch abge
lehnt wird, ist das Recht der Rehabilitation und Teilhabe von Leistungsan
sprüchen geprägt. Die Leistungsberechtigten nach § 99 SGB IX fordern
ihre Unterstützung ein und betonen häufig selbstbewusst, dass diese Leis
tungen Nachteilsausgleiche darstellen, die ihnen auch auf der Grundlage
der UN-Behindertenrechtskonvention – insbesondere der Artikel 19 (Un
abhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinscha), Artikel
24 (Bildung), Artikel 27 (Arbeit und Beschäigung) und Artikel 28 (Ange
messener Lebensstandard und sozialer Schutz) – zustehen.9
Auch zwischen der Hilfeplanung im SGB VIII und der Teilhabe- und
Gesamtplanung im SGB IX sowie der Bedarfsermittlung in der Eingliede
rungshilfe bestehen systematische Unterschiede: Während in der Jugend
hilfe das „Kooperationsprinzip“ gilt und die Verfahren oen und flexibel
sind, gelten im SGB IX ausdierenzierte Regeln, die dem Leistungsberech
tigten seinen Anspruch auf bedarfsdeckende Leistungen sichern sollen. Es
besteht also eine Bedarfsfeststellungspflicht des Trägers.
Hemmnisse für die inklusive Lösung
Das KJSG hat die inklusive Lösung vorbereitet und ist damit weitergekom
men, als es in 30 Jahren zuvor möglich war. Dennoch gibt es ein großes
4.
5.
8SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit,
Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021–2025, 2021, S. 99.
9Zahlreiche Stellungnahmen und Positionspapiere zu den spezifischen Rechten aus
der UN-BRK sind auf der Webseite der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechts
konvention unter www.institut-fuer-menschenrechte.de abruar.
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Hemmnis für die nächste Reformstufe. Dieses ist in § 107 Abs. 2 SGB VIII
niedergelegt. Danach sollen einerseits „(…) keine Verschlechterungen für
leistungsberechtigte oder kostenbeitragspflichtige Personen und anderer
seits keine Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten sowie des
Leistungsumfangs im Vergleich zur Rechtslage am 1. Januar 2023 (…)“
herbeigeführt werden. Diese Aussage droht dazu zu führen, dass es mit der
inklusiven Lösung nur zu einer Verfahrensverlagerung vom Träger der
Eingliederungshilfe auf den der Jugendhilfe kommt, ohne dass damit auch
Veränderungen bei den Leistungen einhergehen. Das sollte im Sinne der
Familien mit Kindern, Jugendlichen oder Eltern mit Behinderung jedoch
vermieden werden. Denn es geht bei der inklusiven Lösung nicht um eine
reine Verwaltungsreform, in der der Trägerwechsel ein Selbstzweck ist.
Vielmehr soll die inklusive Lösung auch inklusive Leistungen, Angebote
und Strukturen schaen. Eine solche Reform kann es nicht ohne Verände
rungen am Personenkreis und an den Ressourcen geben. Es ist daher eine
wichtige Voraussetzung für eine gelingende inklusive Lösung, die auch in
der Praxis als Mehrwert ankommt und akzeptiert wird, dass die erforderli
chen Ressourcen für die Reform bereitgestellt werden.
Chancen aus dem KJSG
Chancen aus dem KJSG für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe stellen
neben dem Verfahrenslotsen und der Beteiligung an der Gesamtplanung
(s.o) die Stärkung der Beteiligung und Selbstvertretung (§ 4a SGB VIII) der
Kinder und Jugendlichen dar.
Ein anderer sehr wichtiger Aspekt sind die Änderungen in den §§ 77 .
SGB VIII. Die Tatsache, dass Inklusion als Qualitätsmerkmal in den Leis
tungsvereinbarungen der Jugendhilfe aufgenommen wurde, trägt dafür
Sorge, dass eine inklusive Ausrichtung von Jugendhilfeangeboten auch re
finanzierbar wird. Das ist für die Veränderung der Angebotslandscha viel
leicht die wichtigste Regelung des KJSG. Sie spiegelt sich auch in der neu
en Berücksichtigung inklusiver Aspekte in der Jugendhilfeplanung nach
§80 Abs. 2 SGB VIII wider.
6.
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Voraussetzungen für die Schaung der inklusiven Lösung in dieser
Legislaturperiode
Voraussetzungen für eine gelingende Reform des SGB VIII ist zum einen,
dass die Finanzierung gesichert wird und die Beteiligten Einvernehmen
dazu erzielen, dass es eine kostenneutrale Lösung nicht geben kann.
Zum anderen ist die Reform zur Zusammenführung der Leistungen
für alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung unter dem
Dach der Kinder- und Jugendhilfe durch einen partizipativen Prozess
vorzubereiten. Diesen Beteiligungsprozess hat das Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 27.06.2022 mit einer digitalen
Auaktveranstaltung „Gemeinsam zum Ziel: Wir gestalten die Inklusive
Kinder- und Jugendhilfe!“ bereits gestartet.10
Bis Ende 2024 soll die gesetzliche Ausgestaltung der inklusiven Lösung
verabschiedet sein. Es bleibt zu hoen, dass die konstruktive und ho-
nungsvolle Atmosphäre der Auaktveranstaltung durch den gesamten Pro
zess trägt und alle Akteure das Ziel – mehr Inklusion und Teilhabe für
alle Kinder und Jugendliche mit Behinderung – nicht aus dem Fokus
verlieren.
Literaturverzeichnis
BMFSFJ (2022): Gemeinsam zum Ziel: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe gestalten,
letzter Zugri 01.12.2022 unter: https://gemeinsam-zum-ziel.org
BMFSFJ (2020): Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten: Die Zukun der Kin
der- und Jugendhilfe, 2020, letzter Zugri 01.08.2022 unter: https://www.mitred
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ter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen
/2010/dv-21-10.pdf
7.
10 Vgl. BMFSFJ, Gemeinsam zum Ziel: Inklusive Kinder- und Jugendhilfe gestalten,
2022, letzter Zugri 01.12. 2022 unter: https://gemeinsam-zum-ziel.org.
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Kommentar. München: Beck (6. Aufl.), 2022
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