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Gustav Brühl: Gegen das Vergessen
Ein zu Unrecht fast vergesssener HNO-Arzt und sein Lehrbuch
„Denn ihre Werke folgen ihnen nach“, dieser Satz trit auch auf den heute weitgehend vergessenen
und daher unterbewerteten Ohrenarzt Gustav Brühl zu. Brühl hat mit seinem „Lehrbuch und Atlas zur
Ohrenheilkunde“ von 1901 mehr zur Verbreitung des damals jungen Spezialfaches getan, als allgemein
bekannt ist. Er hat auch einige Instrumente entwickelt und eine wichtige Modifkation unseres bekann-
ten Stirnreektors vorgenommen.
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es
zahlreiche Versuche, der allge-
meinen Ärztescha in reich be-
bilderten Büchern das junge Spezialfach
der Ohrenheilkunde nahe zu bringen.
Hier ist primär das damalige Standard-
werk von Professor Adam Politzer
(1835–1920) zu nennen. Politzers Atlas
„Beleuchtungsbilder des Trommelfells“
von 1863 bzw. 1898 enthält zwar Hun-
derte von Politzer selbst mit Aquarellfar-
ben angefertigte farbige Handzeichnun-
gen (Abb. 1), aber die Bilder sind nur ca.
1 × 1 cm groß. Der Informationswert war
entsprechend gering.
So wundert es nicht, dass Politzer das
Vorhaben seines Schülers Gustav Brühl
intensiv unterstützte, einen neuen, üppig
ausgestalteten Atlas der HNO-Krank hei-
ten herauszubringen. Er sollte besonders
wegen seiner hervorragenden Abbildun-
gen – in Form von großen Chromolitho-
graen (Mehrfarbensteindruck) – ein
Meilenstein in der Verbreitung des Wis-
sens um die Otologie darstellen. Die
Chromolithograe war sehr teuer und
aufwendig. Farbe für Farbe (bis zu 20
oder mehr) musste separat gedruckt wer-
den, wobei die grasche Eigenart der
Originale erhalten blieb. Das gab den Bil-
dern eine bis dato nicht bekannte Trans-
parenz und Strahlkra (Abb. 2).
Gustav Brühl, Adam Politzer und
ihr Verleger
Der in Berlin geborene Gustav Ernst
Brühl (1871–1939) war nach seiner ohr-
ärztlichen Ausbildung in Freiburg unter
Emil Bloch (1847–1920) und in Wien un-
ter Gruber und Politzer sowie bei dem
Anatomen Emil Zuckerkandel (1849–
1910) in Prag leitender Ohrenarzt am St.
Maria-Victoria-Krankenhaus in Berlin.
Nach der Promotion 1894 in Berlin
und dem Beginn seiner ohrenärztlichen
Tätigkeit 1898 bekam er ebenfalls 1898
von der Verlagsbuchhandlung J. F. Leh-
mann in München den Aurag, für die
Reihe medizinischer Handatlanten den
Band Nr. 24 „Atlas und Grundriss der
Ohrenheil kunde“ zu verfassen. Da seine
eigene Sammlung besonders für die
Darstellung von anatomisch-pathologi-
schen Präparaten des Ohres für diese
Aufgabenstellung nicht ausreichte,
wandte er sich an seinen früheren Leh-
rer Politzer in Wien. Dieser erönete
ihm seine fulminante Sammlung von
Felsenbeinpräparaten und begleitete die
textliche Abfassung mit seinem enor-
men Wissen und seiner Erfahrung.
Nach dem Erscheinen des Buches
(Abb. 3), das er seinem Freund und
Berliner Kollegen Professor Dr. Arthur
Hartmann (1849–1931) widmete, habili-
tierte Brühl sich 1903 in Berlin und wur-
de 1908 zum Professor an der Charité
ernannt. Von ihm stammen neben eini-
gen HNO-Instrumenten eine wichtige,
vielleicht sogar die endgültige Modika-
tion unseres bekannten Stirnreektors
sowie ein Untersuchungsstuhl (
Abb. 4
),
mit dem auch Vestibularisprüfungen
durchgeführt werden konnten.
Vier Auagen bis 1923
Gerade diese extrem wertvolle Mita rbeit
– man sollte wohl besser von einer Mit-
autorenscha sprechen – von Politzer
ließ dem Buch eine große Anerkennung
zuteil werden. Auf dieses handliche
Buch schienen die angehenden Otologen
gewartet zu haben, es wurde geradezu
begeistert aufgenommen. Neben Über-
setzungen ins Englische, Französische
und Russische gab es bis 1923 bereits vier
Auagen der deutschen Ausgabe (1.Auf-
lage 1901, 2.Auage 1905, 3.Auage 1913,
4.Au age 1923).
Verfolgung als Jude
Sein Verleger Julius Friedrich Lehmann
(*1864 in Zürich; +1935 in München an
einer Mittelohrentzündung) gab in sei-
nem Verlag J. F. Lehmann medizinische
Publikationen heraus. Mit dem Zeit-
punkt der Erstauage hatte Gustav
Brühl großes Glück. Denn im Laufe der
Jahre wurde Lehmann als Mitglied der
Nationalsozialistischen Deutschen Ar-
beiterpartei (NSDAP) zu einem fanati-
schen Ant isemiten. Entsprechend brach-
te er in seinem Verlag nun auch rassis-
tisch-antisemitische Literatur he raus
und duldete in den dreißiger Jahren we-
der jüdische Autoren noch jüdische Mit-
Abb. 1: aus Politzer A: „Atlas der Beleuch-
tungsbilder des Trommelfells“; 1898
HNO- NACHRICHTEN 2022; 52 (6) 57
Prisma
arbeiter. Als Juden hätten Gustav Brühl
und Adam Politzer Anfang der dreißiger
Jahre also sicher keine Chance gehabt,
bei Lehmann zu veröentlichen. So er-
schien die letzte deutsche Auage von
Brühls Buch auch 1923.
Im Jahr 1933 wurde Brühl wegen sei-
nes Glaubens von der Charité entlassen,
gleichzeitig wurde ihm die Lehrbefugnis
entzogen. Das gleiche Schicksal teilten
die jüdischen HNO-Professoren der
Charité Franz Kobrak (1879–1955) und
Heinrich Haike (1864-1934). Von Haike
konnten wir außer einem Eintrag im
Berliner Adressbuch (Tauentzienstr. 7b)
wenig Spuren nden. Auch existiert
noch ein Zeugnis für eine Kranken-
schwester seiner Privatklinik. Über den
Lebenslauf von Kobrak ist mehr be-
kannt. 1938 ging er nach beruichen
und persönlichen Schikanen wegen sei-
ner jüdischen Abstammung nach Lon-
don und wurde englischer Staatsbürger.
Später arbeitete er in Schweden. 1945
kam er nach Deutschland zurück und
wurde 1949 auf dem HNO-Kongress in
Karlsruhe zum Ehrenmitglied der der
Deutschen HNO-Gesellscha ernannt.
Der Vergessenheit entrissen
Wie konnte es sein, dass in einem aufge-
klärten Land wissenschaliche Erkennt-
nisse und Errungenschaen nur auf-
grund einer bestimmten Religionszuge-
hörigkeit nicht anerkannt wurden? Viel-
leicht haben dieses menschenverachtende
„Totschweigen“ und das entehrende Ne-
gieren wegweisender Veröentlichungen
durch die Machthaber in der NS-Dikta-
tur und ihrer willfährigen Mitläufer und
Sympathisanten eine spätere wissen-
schaliche Würdigung von Brühls bahn-
brechendem Werk verhindert.
Und dennoch: „Sein Werk folgt ihm
nach“ und ist somit der Vergessenheit
entrissen. Das Buch „Atlas und Lehr-
buch der Ohrenheilkunde“ bleibt der
Nachwelt erhalten und ist eine wertvolle
Zierde in jeder Bibliothek. Also: „Too
good to be forgotten“.
Literatur bei den Verfassenden
Dr. Wolf Lübbers
Facharzt für HNO-Heilkunde
Ringelnatzweg 2, 30419 Hannover
w.luebbers@dr-luebbers.de
Dr. med. Christian W. Lübbers
Facharzt für HNO Pöltnerstr. 22
82362 Weilheim i. OB
www.dr-luebbers.de
Abb. 2: aus Brühl G: Atlas der Ohrenheilkunde; 1901
Prisma
a b c d
Abb. 3: Brühl G. „Atlas der Ohrenheil-
kunde“; 1901
Abb. 4: Dreh- und Operationsstuhl nach
Gustav Brühl
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