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Das
Politische
System
Österreichs
Basiswissen und Forschungseinblicke
Katrin Praprotnik • Flooh Perlot (Hg.)
© 2023 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205215950| CC BY-NC-ND 4.0
© 2023 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205215950| CC BY-NC-ND 4.0
Katrin Praprotnik und Flooh Perlot (Hg.)
Das Politische System Österreichs
Basiswissen und Forschungseinblicke
Böhlau Verlag Wien Köln
© 2023 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205215950| CC BY-NC-ND 4.0
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ISBN Print: 978-3-205-21594-3
ISBN OA: 978-3-205-21595-0
IN KOOPERATION MIT
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Inhalt
Einleitung
Katrin Praprotnik / Flooh Perlot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Teil 1: Politisches System
Demokratie und Verfassung
Daniela Ingruber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Föderalismus
Peter Bußjäger / Mathias Eller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Teil 2: Akteur*innen
Bevölkerung und Werte
Dimitri Prandner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Politische Parteien und Parteiensystem
Marcelo Jenny. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Medien und Politik – ein Geben und ein Nehmen
Josef Trappel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Teil 3: Institutionen
Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
Katrin Praprotnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
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6Inhalt
Regierung und Regierungsbildung
Michael Imre / Svenja Krauss / omas M. Meyer . . . . . . . . . . 187
Die Länder: Landtage und Landesregierungen
Martin Dolezal / Franz Fallend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Die Gemeinden
Kathrin Stainer-Hämmerle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Der*die Bundespräsident*in
Ludger Helms / Philipp Umek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Die Europäische Union und Österreich
Sarah Meyer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
Gerichtsbarkeit
Martin Dolezal / Klaus Poier / Hedwig Unger. . . . . . . . . . . . . 325
Teil 4: Wahlen und Beteiligung
Wahlrecht
Flooh Perlot / Peter Filzmaier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Wahlkampf
Julia Partheymüller / Lena Maria Huber. . . . . . . . . . . . . . . . 391
Wähler*innen und Wahlverhalten
Sylvia Kritzinger / Markus Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Politische Partizipation abseits von Wahlen
Patricia Oberluggauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
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7 Inhalt
Teil 5: Prozesse
Sozialpolitik
Laurenz Ennser-Jedenastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
Klimapolitik
Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
Migrations- und Integrationspolitik
Sieglinde Rosenberger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521
Autor*innen des Lehrbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
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Einleitung
Katrin Praprotnik / Flooh Perlot
Das Lehrbuch gliedert sich in die fünf Teile Politisches System, Akteur*innen, Institutio-
nen, Wahlen und Beteiligung sowie Prozesse. Zu jedem Teil haben namhafte Autor*innen
Beiträge verfasst. Bei der Auswahl der Autor*innen wurde auf eine möglichst gleich-
berechtigte Einbindung von Frauen und Männern sowie von unterschiedlichen For-
schungsstandorten geachtet. Wir sind froh, dass uns das über weite Strecken gelungen
ist und wir Ihnen einen vielfältigen Blick auf das politische System Österreichs und die
heimische Forschungslandschaft präsentieren können.
Teil 1 Politisches System thematisiert die Grundlagen. Daniela Ingruber (Universität
für Weiterbildung Krems) stellt die österreichische Demokratie und damit in enger
Verbindung die österreichische Bundesverfassung vor. Im Anschluss erklären Peter Buß-
jäger und Mathias Eller (beide Universität Innsbruck/Institut für Föderalismus) den
heimischen Föderalismus. Der Föderalismus ist ein Grundprinzip unserer Verfassung
und sein Verständnis Voraussetzung für jenes des politischen Systems.
Teil 2 widmet sich den zentralen Akteur*innen im politischen System Österreichs.
Es sind dies die Wähler*innen, die politischen Parteien und die Medien. Zu Beginn
beschreibt Dimitri Prandner (Johannes Kepler Universität) die Gesellschaft und Werte
Österreichs. Marcelo Jenny (Universität Innsbruck) stellt die Parteien und das Parteien-
system vor. Er thematisiert damit nicht nur die einzelnen Parteien selbst, sondern auch
deren Zusammenspiel untereinander. Abschließend widmet sich Josef Trappel (Univer-
sität Salzburg) den Medien als vierte Gewalt. Hier werden das Mediensystem und die
Rolle der Medien thematisiert.
Teil 3 präsentiert die Institutionen des politischen Systems. Es beginnt Katrin Praprot-
nik (Universität Graz) mit einer Beschreibung des Parlaments und damit des National-
rats und des Bundesrats. Im Anschluss thematisieren Michael Imre (Universität Mann-
heim), Svenja Krauss und omas M. Meyer (beide Universität Wien) die Regierungen
und Regierungsbildungsprozesse in Österreich. Auf die Länderebene blicken Martin
Dolezal (Universität Salzburg/Universität Graz/Institut für Höhere Studien) und Franz
Fallend (Universität Salzburg). Es werden die Landtage und die Landesregierungen
beschrieben. Kathrin Stainer-Hämmerle (Fachhochschule Kärnten) blickt auf die Ge-
meinden. Ludger Helms und Philipp Umek (beide Universität Innsbruck) widmen sich
dem Amt des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin. Sarah Meyer (Universität für
Weiterbildung Krems) geht auf die Rolle Österreichs in der Europäischen Union ein.
Den Institutionenteil schließen Martin Dolezal (Universität Graz/Universität Salzburg/
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Institut für Höhere Studien), Klaus Poier und Hedwig Unger (beide Universität Graz)
mit dem Kapitel Gerichtsbarkeit. Der Rechtsstaat sowie die Gleichheit aller vor dem
Rechtsstaat sind wesentliche Grundpfeiler unserer Demokratie.
Teil 4 beschreibt mit Wahlen und Beteiligung einen wesentlichen Teil des politischen
Systems und widmet sich den Möglichkeiten für Mitbestimmung im Rahmen von
Wahlen sowie politischer Partizipation abseits von Wahlen. Den Anfang machen Flooh
Perlot und Peter Filzmaier (Universität für Weiterbildung Krems/Universität Graz) mit
dem Beitrag Wahlrecht. Vorgestellt wird das Wahlrecht auf Gemeinde-, Landes-, Bun-
des- und EU-Ebene. Darauf aufbauend folgen Julia Partheymüller und Lena Maria Hu-
ber (beide Universität Wien) mit dem ema Wahlkampf. Sie greifen die Dreigliede-
rung Parteien, Wähler*innen, Medien auf und setzen sie in Kontext zu Wahlen. Sylvia
Kritzinger und Markus Wagner (beide Universität Wien) blicken auf die Bürger*innen
als Wähler*innen sowie deren Wahlverhalten. Patricia Oberluggauer (Universität für
Weiterbildung Krems) beleuchtet die etablierten Instrumente der direkten Demokratie
und damit die Partizipation abseits des Wahlkampfes.
Teil 5 des Buches umfasst die Prozesse des politischen Systems. In diesem Teil werden
konkrete Beispiele für inhaltliche Politik geliefert. Die hier exemplarisch ausgewählten
Prozesse sind jene Politikbereiche, die für Österreich, insbesondere in den letzten Jahren,
bestimmend waren. Die Sozialpolitik ist ein wesentlicher Politikbereich, weil sie dem
Charakter Österreichs, insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg,
als korporatistisches Land Rechnung trägt. Laurenz Ennser-Jedenastik (Universität
Wien) stellt die Sozialpolitik und die Sozialpartnerschaft vor. Mit der Umweltaktivistin
Greta unberg und der Fridays for Future-Bewegung erlangte die Klimapolitik Priori-
tät in der öffentlichen Debatte. Bei der Nationalratswahl 2019 war sie bestimmendes
ema. Sarah Nash (Universität für Weiterbildung Krems) und Reinhard Steurer (Uni-
versität für Bodenkultur Wien) blicken auf diesen emenbereich. Die Flüchtlingskrise
und ihre Auswirkungen bestimmten seit 2015 die öffentliche Debatte, dies fand einen
Höhepunkt bei der Nationalratswahl 2017. Sieglinde Rosenberger (Universität Wien)
erarbeitet die Migrations- und Integrationspolitik in Österreich.
Selbstverständnis
Das Lehrbuch möchte, wie der Titel bereits verrät, Basiswissen und Forschungseinbli-
cke zum politischen System Österreichs vermitteln. Unter dem Begriff Basiswissen ver-
stehen wir die Fakten, Daten und Zahlen zum ema politisches System Österreichs.
Es geht beispielsweise um die Kenntnis der Inhalte der Bundesverfassung, des Partei-
en- und Mediensystems oder der Möglichkeiten zur politischen Partizipation. Dieses
Wissen ist in unseren Augen die Grundlage für das weitere Studium und das spätere
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Berufsleben. Darüber hinaus möchte das Lehrbuch Einblicke in die politikwissenschaft-
liche Forschung geben, denn das Studium der Politikwissenschaft ist nicht die Verlän-
gerung des schulischen Geschichtsunterrichts und spätere Politikwissenschaftler*innen
sind keine Lexika. Das Studium soll dazu befähigen, eigene Forschungsfragen entwi-
ckeln und beantworten zu können. Es geht um die Gestaltungs- und Innovationskraft
der Wissenschaft. Dazu möchten wir mit diesem Lehrbuch einen Beitrag leisten. Die
Autor*innen kombinieren in ihren Beiträgen daher immer Faktenwissen auf der einen
Seite mit konkreten Forschungsergebnissen und Hinweisen auf Forschungsprojekte auf
der anderen Seite.
Struktur der Beiträge
Um einen möglichst einfachen Zugang in die verschiedenen emen zu ermöglichen,
folgen alle Beiträge der selben Struktur entlang der folgenden Hauptkapitel. In der
Einleitung finden Sie jeweils die zentralen Begriffe des vorliegenden Beitrags definiert.
Außerdem werden Sie mit den entsprechenden Konzepten der Analyse vertraut ge-
macht, die im Folgenden angewandt werden. Im Kapitel Gegenwärtige Situation fin-
den Sie eine Darstellung der derzeitigen Lage zum jeweiligen ema. Die derzeitige
Lage definiert sich nicht anhand eines konkreten Datums. Sie ist entweder abgesteckt
durch den gültigen Rechtsrahmen und/oder umfasst jene Ereignisse der jüngeren Ver-
gangenheit, die maßgeblich für eben diese gegenwärtige Situation sind. Das dritte und
vierte Kapitel dienen der Einordnung der gegenwärtigen Situation durch Blicke auf die
österreichische Geschichte einerseits und auf andere Länder andererseits. Im Kapitel
Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund werden die zentralen Entwicklun-
gen seit dem Beginn der 2. Republik aufgearbeitet. Es handelt sich dabei nicht um
eine chronologische Auflistung aller Einzelereignisse, sondern um eine Beschreibung
der wesentlichen Etappen, die für ein besseres Verständnis der gegenwärtigen Situation
notwendig sind. Im Kapitel Einordnung des österreichischen Falls liefern die Autor*innen
Vergleiche mit anderen Ländern. Als Vergleichsländer werden grundsätzlich die Mit-
gliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) herangezogen, wobei je nach ema beziehungsweise auch nach Datenver-
fügbarkeit einzelne oder alle Staaten ausgewählt werden. In der internationalen OECD
sind 38 Länder Mitglied, die sich für Vergleiche aufgrund vieler Gemeinsamkeiten, aber
auch spannender Unterschiede gut eignen. Schließlich widmet sich in allen Beiträgen
das Schlusskapitel den Herausforderungen für die Zukunft. Die Autor*innen thematisie-
ren etwaigen Reformdruck und damit in Verbindung mögliche Entwicklungen in der
kommenden Zeit.
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Darüber hinaus finden Sie in den Beiträgen Informationsboxen zu Forschungsergeb-
nissen, Forschungsprojekten und Anschaulichem. Die Informationsbox Forschungs-
ergebnisse stellt einen Forschungsablauf in kompakter Form dar. Die Verbindung
zwischen einer spannenden Fragestellung und deren Beantwortung durch empirische
Daten wird so sichtbar. Die Informationsbox Forschungsprojekt weißt Sie auf aktuelle
oder abgeschlossene Forschungsprojekte im In- oder Ausland hin. In Summe zeigt sich
dadurch die Bandbreite der politikwissenschaftlichen Forschung. Schließlich liefert die
Informationsbox Anschauliches Interviews, praktische Beispiele oder einfach Spannen-
des zum ema des jeweiligen Beitrags. Mit diesen Einblicken sollen Sie eine weitere
Perspektive bekommen.
Homepage als Lern- und Übungsplattform
Das Lehrbuch wird durch eine Homepage (www.politisches-system.at) unterstützt.
Diese beinhaltet zusätzliches Material, das Sie beim Erarbeiten der Inhalte zum politi-
schen System Österreichs – auch interaktiv – bestmöglich unterstützen soll.
So finden Sie online zu jedem Kapitel die Musterlösungen zu den Übungsfragen.
Die Fragen zielen – ungefähr im Ausmaß von 50:50 – sowohl auf eine reine Wissens-
überprüfung als auch auf das Verständnis der Inhalte ab. Die unterschiedliche Art der
Fragestellung kann durch folgendes Beispiel anschaulich gemacht werden. Die Frage
„Welche Parteien sitzen im österreichischen Nationalrat?“ ist eine andere als „Wieso
wird im Zusammenhang mit der Anzahl der Parteien im Nationalrat von einer Norma-
lisierung des Parteiensystems gesprochen?“. Für die Beantwortung der ersten Frage ist
es ausreichend, sich die Parteinamen zu merken. Zur Beantwortung der zweiten Frage
aber müssen Sie bereits den Zusammenhang zwischen einem Verhältniswahlrechtssys-
tem und der Parteienlandschaft kennen, um zu wissen, dass Ersteres in der Regel mit
einer höheren Anzahl an Parteien einhergeht, als dies in der Geschichte des heimischen
Parteiensystems der Fall war. Durch die Kombination an Wissens- und Verständnis-
fragen können sie selbst überprüfen, ob Sie bestimmte emen lediglich auswendig
gelernt haben oder bereits in der Lage sind, Konzepte korrekt auf neue Fragestellungen
anzuwenden. Beide Elemente sind wichtig. Letzteres braucht es zur Ausbildung der
eigenen Persönlichkeit als Wissenschaftler*in. Außerdem finden Sie Tipps für weiter-
führende Literatur und Daten.
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Zielsetzung
Das vorliegende Lehrbuch möchte die zentralen Aspekte des politischen Systems, sei-
ner Akteur*innen und Institutionen sowie der Prozess verständlich machen. Darüber
hinaus hoffen wir, dass Sie die Verbindung von Basiswissen und Forschungseinblicken
anregt, selbstständig spannende Fragestellungen zu entwickeln und nach Möglichkeiten
zu suchen, wie diese beantwortet werden können.
Und zum Schluss …
Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen bedanken, die uns bei der Umsetzung des
Lehrbuchs im Rahmen des Forschungsprojekts Austrian Democracy Lab (ADL) unter-
stützt haben. Ein herzliches Dankeschön geht insbesondere an die beteiligten Autor*in-
nen. Ihr Fachwissen und ihr Engagement haben dieses Lehrbuch erst möglich gemacht.
Besonderer Dank gilt auch Frau Nadja Pohorely, die die Entstehung dieses Lehrbuch als
studentische Mitarbeiterin begleitet hat. Schließlich möchten wir uns bei Ihnen, liebe
Leser*innen, für Ihr Interesse bedanken.
Wenn Sie Feedback für uns haben, dann melden Sie sich gerne bei uns. Sie finden
unsere Kontaktdaten auf der Homepage des Lehrbuchs. Wir freuen uns, Sie ein Stück
weit in Ihrem Studium begleiten zu können.
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Teil 1:
Politisches System
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Demokratie und Verfassung
Daniela Ingruber
Zusammenfassung
9Dieses Kapitel geht einigen Herausforderungen der Demokratie aus heutiger Sicht nach,
wirft einzelne Blicke auf die Vergangenheit und versucht, eine Verbindung zwischen De-
mokratie und Verfassung herzustellen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Demo-
den Bürger*innen einfordert.
9Österreich ist eine demokratische Republik. Es handelt sich dabei um eine repräsentative
Demokratie mit einzelnen Aspekten von direkter Demokratie.
9Die Österreichische Bundesverfassung ist mit ihren mehr als 100 Jahren verhältnismäßig
alt. Sie basiert auf einem kurzen Basistext, verfasst von Hans Kelsen, der im Laufe der
unübersichtlich und fragmentiert, garantiert aber dennoch – wie aktuelle Krisensituatio-
nen gezeigt haben – eine stabile Demokratie in Österreich.
9Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) beruht auf vier Prinzipien (auch Baugesetze ge-
nannt) und mehreren Staatszielbestimmungen. Die Prinzipien (demokratisch, repub-
likanisch, bundesstaatlich und rechtsstaatlich) haben weit mehr Gewicht als die Ziel-
bestimmungen und können nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Nationalrat plus einer
Volksabstimmung verändert werden (= Gesamtänderung der Verfassung).
9Das wahrscheinlich bekannteste Staatsbestimmungsziel stellt die Neutralität dar. Entge-
-
rechtlich nicht notwendig, politisch aber sehr wohl.
9Durch die österreichische Verfassung zieht sich Pragmatismus. Werte hingegen unterlie-
gen eher dem Interpretationsspielraum, als dass sie direkt in die Verfassung geschrieben
worden wären.
9Neben der Bundesverfassung besitzt jedes Bundesland seine eigene Landesverfassung.
So war die direkte Demokratie in Vorarlberg schon festgeschrieben, als man in manch
anderem Bundesland noch nicht einmal darüber diskutierte.
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18 Daniela Ingruber
1. Einleitung
Ein Lehrbuch zum ema Demokratie muss fast zwangsweise mit drei bekannten Wor-
ten beginnen: „Es war einmal …,“ denn Demokratie befindet sich stets im Wandel,
wird in verschiedenen Ländern, Regionen, Kulturen und zu verschiedenen Zeiten an-
ders interpretiert, gelebt und herausgefordert. Im Namen der Demokratie wird weltweit
viel versprochen, nicht alles gehalten. In ihrem Auftrag werden Kriege geführt, Men-
schen- und Grundrechte verteidigt und viel zu oft verraten. Demokratie schützt das In-
dividuum und geht auf Vielfalt und Diversität ein wie kein anderes Herrschaftssystem
(Görlach 2021, 7), und doch kann sie ihre Bevölkerung nicht vor allem schützen, auch
wenn sie es versuchen muss und der Versuch selbst nicht immer gewünscht ist.
Demokratie gilt als Begriff, der Hoffnungen auf ein gutes Leben beinhaltet und daher
positiv bewertet wird (Lessenich 2019, 7). In vielen Staaten ist das noch immer so, nicht
unbedingt in Österreich, wo sie als etabliertes System lange Zeit kaum wahrgenommen,
sondern für selbstverständlich gehalten wurde. Demokratie, das ist die Idee der Volks-
herrschaft. Konkrete Bedeutung hat das wenig, denn die Umschreibungen von Demo-
kratie waren immer schon schwammig. Kaum eine Staatsform ist mit so hohen – zuwei-
len diffusen – Erwartungen und dementsprechend vielen Enttäuschungen verknüpft,
nicht zuletzt weil sich mit ihr die Vorstellung einer gewissen Heilserwartung verbindet,
dass alles stets besser werden kann. Dementsprechend kommt die Demokratie ins Wan-
ken, wenn dieses Versprechen nicht gehalten wird, wobei nur eine Demokratie Störun-
gen aushält, zumal sie das einzig lernfähige System ist (de Weck 2021, 203 und 218).
In der österreichischen Bundesverfassung ist die Demokratie als Prinzip festgeschrie-
ben, und das gleich im ersten Satz (Art 1 B-VG). Sie wird damit zwar nicht für immer
garantiert, doch dieses Prinzip schützt sie gemeinsam mit anderen Prinzipien, Staats-
zielbestimmungen und weiteren Regeln (siehe Abschnitt 4.). Der Grundstein wurde
in der Verfassung von 1920 gelegt, später Vieles hinzugefügt, teils um die Demokratie
zu stärken, teils um einem Gesetz politischen Nachdruck zu verleihen, und manchmal
einfach, weil eine Demokratie nur dann zeitgemäß bleiben kann, wenn sie angepasst
wird – sofern das nicht zu intensiv geschieht (siehe Abschnitt 3.).
So wenig einheitlich Definitionen sein mögen, so sind einige Aspekte essenziell für
eine Demokratie; allem voran das allgemeine (alle Staatsbürger*innen ab einem be-
stimmten Alter), gleiche (jede Stimme zählt gleichwertig), persönliche (keine Stellver-
treter*innen für die Wahl), geheime (es darf nicht feststellbar sein, wer wen wählt/
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19Demokratie und Verfassung
gewählt hat) und unmittelbare (entweder eine konkrete Person oder eine Gruppe/Partei
wird gewählt) Wahlrecht (u.a. Art 26 B-VG), das die Mitbestimmung des Volkes garan-
tiert. Wobei der Begriff Mitbestimmung irreführend ist, zumal in einer Demokratie das
Volk den Souverän darstellt und jene, die durch Wahlen bestimmt werden, nur seine
Vertreter*innen sind, die jederzeit wieder entlassen werden können – auch das ist fixer
Bestandteil einer Demokratie: die Möglichkeit der Abwahl bzw. Absetzung. In Öster-
reich gibt es hierzu die Besonderheit, dass sich die einzelnen Akteur*innen in gewisser
Weise gegenseitig kontrollieren und auch absetzen können. So kann der*die Bundes-
präsident*in die Bundesregierung entlassen (Art 70 Abs 1 B-VG), muss dabei aber be-
denken, wie die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat sind. Er/sie kann – auf Vorschlag
der Bundesregierung – ebenso den Nationalrat auflösen (Art 29 Abs 1 B-VG), was
unweigerlich zu Neuwahlen führt. Der Nationalrat wiederum kann eine Volksabstim-
mung zur Absetzung des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin in die Wege leiten.
Lehnt die Bevölkerung die Absetzung ab, hat das Folgen für den Nationalrat, der somit
aufgelöst ist (Art 60 Abs 60 B-VG). Was nach einem Spiel klingt, ist nichts anderes
als eine komplexe Absicherung, damit das Volk der Souverän und in Kontrolle dessen
bleibt, was im Staat geschieht.
Als elementar für eine Demokratie gilt die Gewaltenteilung, die in der österreichi-
schen Verfassung verankert ist mit Legislative (die gesetzgebende Gewalt, das Parla-
ment), Exekutive (Regierung und Verwaltung) und Judikative (Gerichte), wobei diese
Aufteilung auch in den Bundesländern gilt. Zudem verlangt eine Demokratie festgelegte
Formen, wie Entscheidungen zu treffen sind. Das sind einerseits Abstimmungen der
Bundesversammlung (Art 38–40 B-VG), die in Österreich aus zwei Kammern, dem
Nationalrat und dem politisch eher schwachen Bundesrat besteht, andererseits eine Re-
gierung, die durch freie Wahlen legitimiert ist, auch wenn sie nicht direkt gewählt wird –
und dazu gehörend ein freies Parteiensystem. Weiters notwendig sind als Minimum ein
Festschreiben der Grundrechte (meist als Teil einer Verfassung) und der Gesetze.
Abgesehen von diesen Mindeststandards kann eine Demokratie direkt/unmittelbar
sein, was bedeutet, dass die Bevölkerung nicht vertreten wird, sondern alle Entschei-
dungen selbst fällt. Österreich hingegen ist eine mittelbare/repräsentative Demokratie.
Seine wahlberechtigte Bevölkerung bestimmt durch Wahlen Personen, die sie für einen
festgelegten Zeitraum vertreten. Das bedeutet nicht, dass die Bevölkerung dadurch ihre
Souveränität aufgibt. Zudem können manche Entscheidungen plebiszitär, über die di-
rekte Demokratie, geregelt werden. In Österreich sind das etwa Volksbegehren, Volks-
befragung und Volksabstimmung. Erst seit Kurzem wird damit experimentiert, diese
verstärkt einzusetzen und um einige Werkzeuge zu erweitern, wie die Bürger*innenräte,
die zwar in Vorarlberg schon lange fest verankert sind, in anderen Bundesländern aber
selten und im Bund erstmals mit dem Klimarat im Jahr 2022 umgesetzt wurden (siehe
dazu Nash/Steurer in diesem Band).
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20 Daniela Ingruber
Das Wort Demokratie ist aus dem Altgriechischen entlehnt und bedeutet wörtlich Volks-
herrschaft und im weiteren Sinne, dass die Bevölkerung regiert. Da sie das in größeren
Verbänden schwer direkt machen kann, werden Vertreter*innen gewählt (= repräsenta-
-
um die Bevölkerung deutlicher an den Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen.
Erbfolge bestimmten Herrschers steht an der Spitze ein*e gewählte*r Präsident*in.
Eine Verfassung stellt das wichtigste Rechtsdokument in einem (demokratischen)
Staat, einem Bundesstaat oder auch einem Staatenbund dar. Sie ist eine Art Vertrag
und aus ihrem Text leitet sich das gesamte Rechtssystem eines Staates ab, wobei dies
kein durchgehender Text sein muss, sondern aus verschiedenen Teilen bestehen kann,
des Staates, die Gewaltenteilung, die elementaren Normen, die wiederum aus Rechten
-
mungen. Verfassungen können geändert und ergänzt werden, doch muss auch dies in
der Verfassung geregelt sein.
Demokratie wird als die Herrschaft des Volkes verstanden, dennoch wird selten von der
Bevölkerung gesprochen, sondern eher über sie. Im Mittelpunkt stehen stattdessen Po-
litiker*innen, Organisationen und Institutionen, Verbände. Die Bevölkerung hingegen,
das sind jene, die zuweilen despektierlich als „der kleine Mann“, „die kleine Frau“ oder
die Normalbürger*innen bezeichnet werden. Dabei gilt Demokratie als jenes politische
System, das der oder dem Einzelnen am meisten Möglichkeit für die Entfaltung des
eigenen Potenzials bietet. Das wird ermöglicht durch gewisse Freiheiten, durch Schutz
und durch Regeln, die diese Freiheiten garantieren, aber auch mit Pflichten im Sinne
der Gemeinschaft versehen. – Hannah Arendt stellte dazu fest, dass es Freiheit ohne Re-
geln nirgendwo geben könne (Arendt 2018, 49). Denn trotz aller individuellen Rechte
bezieht sich Demokratie immer auf die Gemeinschaft (Nancy 2019) – gegenüber an-
deren Staatsformen mit dem feinen Unterschied, dass sie das Individuum nicht vergisst
und dabei auch Minderheiten mitdenkt.
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21Demokratie und Verfassung
Ungefähr so sieht eine liberale Demokratie aus, und es wird viel von ihr verlangt.
Weder wird sie je vollkommen sein noch all die Erwartungen erfüllen können, die in
sie hineininterpretiert werden (Görlach 2021, 1 und 7). Colin Crouch kritisierte dies
nachhaltig: „Solange uns nur die einfache Unterscheidung zwischen Demokratie und
Nichtdemokratie zur Verfügung steht, sind allen Diskussionen um den Gesundheits-
zustand unseres politischen Systems enge Grenzen gesetzt.“ (Crouch 2008, 30).
Einfach ist es tatsächlich nicht, denn die Unterscheidung würde voraussetzen, dass
man Demokratie und Nichtdemokratie ganz klar definieren könne. Manche Wörter
werden allerdings so häufig verwendet, gelobt oder kritisiert, dass irgendwann nicht
mehr klar ist, was sie bedeuten. Demokratie ist solch ein Wort. Schon Hans Kelsen,
der „Vater“ der Österreichischen Bundesverfassung, sah das so: „Gerade darum aber
verliert es – wie jedes Schlagwort – seinen festen Sinn. Weil man es – dem politischen
Modezwang unterworfen – zu allen möglichen Zwecken und bei allen möglichen An-
lässen benützen zu müssen glaubt, nimmt dieser missbrauchteste aller politischen Be-
griffe die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an […]“
(Kelsen 2018, 7). Dennoch existieren einige Voraussetzungen (siehe dazu Box Defi-
nition).
1.3 Nicht jede Demokratie ist liberal
Gegen Ende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als immer mehr Demokratien
entstanden und andere bereits in ihre Jahre kamen, machten sich Gewöhnungseffekte
deutlich. Man musste nicht mehr um die Demokratie kämpfen, denn man hatte sie
ja. So setzte eine gewisse Langeweile ein und mit ihr das Gefühl, dass sich die Demo-
kratiequalität verschlechtere. Zunächst wurde das vor allem in der eorie beschrieben
(Narr 2001, 33-40), später (in den 2010er-Jahren) machte sich die Idee auch in der
Bevölkerung breit. Colin Crouch nahm sich 2004 des emas an und beschleunigte
mit seinem Buch Postdemokratie die Diskussion. „Der Begriff Postdemokratie kann uns
dabei helfen, Situationen zu beschreiben, in denen sich nach einem Augenblick der De-
mokratie Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht haben; in denen
die Repräsentanten mächtiger Interessensgruppen, die nur für eine kleine Minderheit
sprechen, weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger, wenn es darum geht, das poli-
tische System für die eigenen Ziele einzuspannen; […].“ (Crouch 2008, 30). Das Bild
der abgehobenen Politiker*innen, die eher ihre Interessen verfolgen, als im Dienste
des Souveräns, der Bevölkerung, zu agieren, wurde damit nicht erstmals beschrieben
(Weber 1964), doch passte das Buch in eine Zeit des zunehmenden Misstrauens gegen
Eliten im allgemeinen, Politiker*innen im Besonderen und prägte damit sowohl die
Vorstellung von als auch die Kritik an der Demokratie.
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22 Daniela Ingruber
Insgesamt wurde die Demokratie damals – insbesondere auf wissenschaftlicher Ebe-
ne – immer wieder kritisiert, wobei man unterscheiden muss zwischen jenen, die sie
als zu schwach und zu wenig ausgebildet betrachteten, und jenen, die sie als zu liberal
empfanden. Zu Letzteren gehörten und gehören der ungarische Ministerpräsident Vik-
tor Orbán, die polnische Regierung und in den USA der ehemalige Präsident Donald
Trump, um nur einige zu nennen. Sie nützten diese Kritik, um die Demokratie ihrer
Staaten autoritärer zu gestalten, und umschrieben dies mit der Notwendigkeit einer „il-
liberalen Demokratie“, ein Begriff, der Orbán zugeschrieben wird, wobei Orbán selbst
laut Mounk lieber von einer „hierarchischen Demokratie“ spricht. Mounk beschreibt
eine solche so: „Eine hierarchische Demokratie erlaubt es einem gewählten Regierungs-
chef, den Willen des Volkes (zumindest so, wie er ihn selbst interpretiert) umzusetzen,
ohne Zugeständnisse an die Rechte und Interessen von Minderheiten machen zu müs-
sen. […] Was es von einer liberalen Demokratie, wie wir sie kennen, unterscheidet, ist
nicht der Mangel an Demokratie – sondern der Mangel an Respekt für unabhängige
Institutionen und die Rechte des Einzelnen (Mounk 2018, 29). Noch kritischer sieht
es de Weck: „Die illiberale Demokratie ist die Demokratie der Antidemokraten – und
eine neue Art, Diktaturen zu legitimieren“ (de Weck 2021, 19).
Gerade an jenem Punkt, dem fehlenden Respekt oder einer gewissen Ignoranz ge-
genüber den demokratischen Institutionen, leidet ein Teil der Demokratien oder wird
dabei „zu Fall gebracht“ (Levitsky/Ziblatt 2018, 11). Typische Merkmale dafür sind die
polemische Sprache, die sich auch gegen die Demokratie an sich wendet, der Zweifel
an der Legitimität des Agierens der politischen Gegner*innen, die Rücknahme von
Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Schweigen zu oder Tolerieren von Gewalt (Le-
vitsky/Ziblatt 2018, 31). Wenn die Demokratie sich nach rückwärts entwickelt bzw. es
in einigen Staaten derart eingerichtet wird, dass dies vorprogrammiert ist, dann hat die
Bevölkerung immer einen Anteil daran, so Przeworski (2020, 216). Er argumentiert
aber auch, dass das Vorhersehen einer negativen Entwicklung nicht immer leicht ist und
ausgerechnet jene, die von den Entwicklungen zunächst profitieren, vorhersehen müss-
ten, was geschieht (Przeworski 2020, 2014). Somit hat die Bevölkerung immer Anteil
am Niedergang eines Systems oder an negativen Entwicklungen, müsste aber, um dies
aufzuhalten, zuweilen gegen die eigenen Interessen agieren. Manow wiederum schreibt,
dass die Debatte, ja sogar der Streit rund um Demokratie, zu eben dieser gehöre (Ma-
now 2020, 139), und er meint zudem, dass all die Streits und Proteste beweisen, dass
sich die Demokratie verbessert („demokratisiert“) habe. Dies sei der Fall, weil man eben
protestieren und streiten könne, vor allem aber, weil man das nur tue, wenn man sich
seiner Rechte bewusst sei (Manow 2020, 13). Dazu wiederum ist Voraussetzung, dass
es eine Verfassung gibt, in der dies festgehalten ist.
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23Demokratie und Verfassung
2. Gegenwärtige Situation
Die österreichische Demokratie schien lange Zeit sehr stabil. Eine Zäsur gab es am
17. Mai 2019, als der Name einer spanischen Insel zum Symbol für eine Innenpolitik
wurde, die sich weniger an den Wünschen der Bevölkerung orientiert als am Eigen-
interesse. Weber beschrieb dieses Phänomen schon 1919 in seinem berühmten Buch
Politik als Beruf: „Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder:
man lebt ‚für‘ die Politik – oder aber: ‚von‘ der Politik. Der Gegensatz ist keineswegs ein
exklusiver“ (Weber 1964, 15).
2.1 Ibiza-Video und Folgen
Das sogenannte Ibiza-Video, das – im Jahr 2017 heimlich gedreht – zwei österreichi-
sche Politiker im Gespräch mit einer vermeintlich russischen Oligarchentochter zeigt,
wurde einige Jahre später nicht nur zum Objekt polizeilicher Untersuchungen, sondern
führte auch zum Ende der politischen Karrieren der beiden im Video agierenden Poli-
tiker. Brisant dabei war, dass einer von ihnen, Heinz-Christian Strache, zum Zeitpunkt
der Videoveröffentlichung Vizekanzler war. In der Folge kam es wenige Tage später
zum Misstrauensantrag gegenüber der gesamten türkis-blauen Bundesregierung unter
Sebastian Kurz. Bundespräsident Alexander Van der Bellen löste die Regierungskrise,
die wohlgemerkt keine Staatskrise war, zumal die Institutionen und die Bundesverfas-
sung weiterhin einwandfrei funktionierten, indem er eine Übergangsregierung einsetz-
te. Er wählte dafür nicht nur das ungewöhnliche Format einer Expert*innenregierung,
sondern entschied sich auch für eine weibliche Regierungsführung: Am 3. Juni, kaum
zwei Wochen nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos, wurde Brigitte Bierlein als erste
Bundeskanzlerin Österreichs angelobt. Ein Jahr vorher war sie Präsidentin des Verfas-
sungsgerichtshofs geworden, was durchaus ein Argument für diese Kanzlerschaft war,
ging es doch darum, den Staat mithilfe der Verfassung zu schützen. Insgesamt rückte
die Bundesverfassung in jener Zeit, wenige Monate vor ihrem 100. Geburtstag, un-
gewohnt intensiv in das Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung, indem sich der
Bundespräsident mehrfach öffentlich auf sie bezog. Im Zuge dessen bezeichnete er diese
als „elegant“ – ein Begriff, der inzwischen zum geflügelten Wort mutiert ist –, und der
ehemalige Verfassungsrichter Ludwig Adamovich sprach ihr zu, dass es „kein überflüs-
siges Wort“ sowie „kein Pathos“ darin gebe.1 Man kann allerdings davon ausgehen, dass
1 Rosnar, Simon (2019). Adamovich: „Kein überflüssiges Wort, kein Pathos“, Salzburger Nach-
richten, https://www.wienerzeitung.at/_em_cms/globals/print.php?em_no_split=1&em_
ssc=LCwsLA==&em_cnt=2011479&em_loc=67&em_ref=/nachrichten/politik/oester-
reich/&em_ivw=RedCont/Politik/PolitikInland&em_absatz_bold=0 (12.04.2022).
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24 Daniela Ingruber
deshalb nicht unbedingt mehr Bürger*innen die Verfassung lesen. Immerhin aber ist sie
aufgrund der Regierungskrise etwas deutlicher ins Blickfeld gerückt.
2.2 Pandemie und Krieg
Nach den Nationalratswahlen im Herbst 2019 blieb die Übergangsregierung bis 7. Jän-
ner 2020 im Amt. Abgelöst wurde sie von der ersten türkis-grünen Regierung, die
wenig Zeit zum Einarbeiten hatte, weil Ende Februar die COVID-19-Pandemie auch
in Österreich ausbrach und nicht nur das gesamte Land mehr als zwei Jahre in Atem
hielt, sondern auch für Unruhe auf den Straßen sorgte (siehe dazu Box Anschauliches).
Parallel dazu gab es mehrere Skandale rund um Korruption, Chats auf Politiker*innen-
telefonen, die illegales Handeln vermuten ließen, und schließlich den Rücktritt von
Bundeskanzler Sebastian Kurz im Oktober 2021. Sein Nachfolger, Alexander Schallen-
berg, blieb weniger als zwei Monate im Amt, ehe er von Innenminister Karl Neham-
mer abgelöst wurde, der im Dezember 2021 die Regierungsgeschäfte übernahm, aber
wiederum wenig Einarbeitungszeit erhielt, weil der ÖVP-Korruptions-Untersuchungs-
ausschuss die Schlagzeilen füllte und am 24. Februar 2022 der Angriffskrieg Russlands
gegenüber der Ukraine begann, der Auswirkungen auf ganz Europa haben sollte.
Anschauliches. Die Coronakrise
Als am 25. Februar 2020 die ersten Infektionen mit SARS-CoV-2 bekannt wurden, konn-
te man nicht ahnen, welche Konsequenzen diese Pandemie für die Demokratie in
Österreich (und in anderen Ländern) haben würde. Im Laufe von ca. zwei Jahren ver-
suchten die Bundesregierung sowie die Landesregierungen einerseits die Bevölkerung
zu schützen (wobei es nicht immer gelang, die Kommunikation mit der Bevölkerung
aufrechtzuerhalten), während auf der anderen Seite Anhänger*innen von Verschwö-
und Verschwörungstheorien füllten (vgl. Nocun/Lamberty 2020). Selbst in der Politik-
so warf der italienische Philosoph Giorgio Agamben den Regierungen vor, den „Aus-
nahmezustand“ zu nützen und zum Normalzustand gegen die Bevölkerung zu machen
(Agamben 2021).
Das Beispiel „Coronakrise“ ist deswegen nachträglich von Bedeutung, weil diese einer-
seits die Spaltung der Gesellschaft (nach den langen Bundespräsidentenwahlen von
2016; siehe dazu Helms/Umek in diesem Band) weitertrieb und andererseits das Ver-
sinken ließ, bis hin zu dem Punkt, dass ein Teil der Bevölkerung für diese aktuell nicht
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25Demokratie und Verfassung
mehr als erreichbar galt – und das in einer Phase, in der die Folgen des Klimawandels
immer deutlicher spürbar wurden und parallel dazu die Weltordnung mit dem Ukraine-
krieg aus den Fugen geriet.
So anekdotisch diese Ereignisse in der Kurzfassung und mit zeitlichem Abstand klingen
mögen, so schwerwiegend waren die Folgen für die österreichische Demokratie. Die Be-
völkerung, stark belastet durch die Pandemie mit weltweit hohen Todeszahlen und die
sogenannten Corona-Maßnahmen, die zu Jobverlusten, weniger Einkommen und viel
Unsicherheit geführt hatten, wandte sich immer mehr von der Politik ab. Im Zuge des-
sen begannen immer mehr Bürger*innen auch an der Integrität der Medien und schließ-
lich sogar an der Wissenschaft zu zweifeln. So zeigt Abbildung 1, wie in den Jahren von
2018 bis 2021 das Vertrauen in das Funktionieren der Demokratie deutlich gesunken
ist. Die Gefahr bei solchen Werten ist, dass sich Teile der Bevölkerung zunehmend von
der Politik und damit auch von der eigenen politischen Partizipation abwenden.
Angaben in Prozent; N=4837/4510/4500/4506/4501/4546/4574/4680, Feldarbeiten 04.06.2018 bis
06.08.2018/16.10.2018 bis 14.12.2018/13.03.2019 bis 16.04.2019/23.10.2019 bis 20.12.2019/19.05.2020 bis
17.07.2020/12.10.2020 bis 15.12.2020/15.03.2021 bis 11.05.2021/21.10.2021 bis 23.12.2021.
Fragestellung: Funktioniert die Demokratie in Österreich aus Ihrer Sicht alles in allem …
Quelle: Perlot et al. (2019a–2021). Demokratieradar Welle 1–8.
Abb. 1 Demokratieradar: Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Österreich
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26 Daniela Ingruber
Demokratiepolitisch lässt sich die Situation mit den Worten der Aktivistin Rahel Süß
zusammenfassen, die sagte, es sei eine Zeit der „einstürzenden Gewissheiten“, aber auch
der neuen Ideen (Süß 2020, 14). Negativer beurteilte es Przeworski: „Wir haben es
nicht einfach mit einer politischen Krise zu tun; diese Krise hat tiefe ökonomische und
gesellschaftliche Wurzeln. Das ist es, was mir Sorgen bereitet“ (2020, 235 f.). Er verwies
damit darauf, dass die ungewisse Situation noch nicht zu Ende sei, und erklärte dies
auch damit, dass eine Gesellschaft Unordnung und Chaos nicht lange ertragen könne
(2020, 194). Ähnliche Argumente wurden von Forscher*innen zu Verschwörungslegen-
den und Fake News verwendet (Nocun/Lamberty 2020).
Deutlich wird das auch in den beiden folgenden Abbildungen, die die Ergebnisse
von zwei Fragen aus dem Demokratieradar des Austrian Democracy Labs vom Frühling
2021 (Welle 7) darstellen: 25 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind „voll und
ganz“ oder „überwiegend“ davon überzeugt, dass die Bundesregierung die Pandemie-
maßnahmen gegen die Demokratie nützt (siehe Abb. 2). In Abbildung 3 sieht man,
dass 28 Prozent glauben, dass die Bundesregierung die Gesellschaft damit verstärkt kon-
trollieren möchte.
Angaben in Prozent; N=4.574, max. Schwankungsbreite +/-1,4, Feldarbeit 15.03.2021 bis 11.05.2021.
Fragestellung: Kommen wir kurz zum Thema Corona-Virus. Bei diesem Thema gibt es sehr unterschied-
liche Ansichten. Ich lese Ihnen einige davon vor, bitte sagen Sie mir jeweils, ob Sie diesen zustimmen
benützt, um die Demokratie zu schwächen.
Quelle: Perlot et al. (2021). Demokratieradar Welle 7.
-
regierung dazu benützt, um die Demokratie zu schwächen.“
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27Demokratie und Verfassung
Angaben in Prozent; N=4.574, max. Schwankungsbreite +/-1,4, Feldarbeit 15.03.2021 bis 11.05.2021.
Fragestellung: Kommen wir kurz zum Thema Corona-Virus. Bei diesem Thema gibt es sehr unterschied-
liche Ansichten. Ich lese Ihnen einige davon vor, bitte sagen Sie mir jeweils, ob Sie diesen zustimmen
oder sie ablehnen: Die Gefahr durch das Corona-Virus wird von der Bundesregierung übertrieben, um
die österreichische Gesellschaft besser zu kontrollieren.
Quelle: Perlot et al. (2021). Demokratieradar Welle 7.
Eine Demokratie, so Crouch, kann nur „gedeihen, wenn die Masse der normalen Bür-
ger wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängi-
ger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und
wenn sie diese Gelegenheit auch aktiv nutzt.“ (Crouch 2008, 8 f.). So recht er damit
haben mag, so problematisch ist gerade in Krisenzeiten der Griff nach Worten wie
dem oben bereits erwähnten „normalen Bürger“, der in schwierigen Phasen eben nicht
in einen Topf mit allen geworfen werden möchte, sondern die Individualität betont
und nach persönlichen Lösungen sucht. In dem Fall war es besonders die Freiheit, die
aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht im gewohnten Maße gewährt wurde. „[…]
inhaltlich bewirken in Krisen gesetzte Maßnahmen typischerweise Restriktionen, was
sie in Spannung zu den Grundrechten setzt. Verfassungen liberaler Demokratien regu-
lieren Krisen daher üblicherweise nicht im Sinne unlimitierter Ermächtigungen, son-
dern setzen gleichzeitig Schranken“ (Gamper 2022, 18). Das setzt voraus, dass sich die
Bevölkerung ihrer Regierung in gewisser Weise unterordnet, obwohl diese im Namen
des Volkes und des Staates sowie zu beider Schutz agieren soll (vgl. Weber 1964, 9)
und dabei die verschiedensten Interessen gewahrt bleiben sollen (Grechenig/Lachmayer
Abb. 3 Demokratieradar: „Die Gefahr durch das Corona-Virus wird von der Bundesregierung
übertrieben, um die österreichische Gesellschaft besser zu kontrollieren.“
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28 Daniela Ingruber
2011). Ludwig Adamovich, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs, argu-
mentiert, dass in einer Demokratie die Einschränkung der Freiheit zwar streng geregelt
sein müsse, um dieses Grundrecht garantieren zu können – und dass dies im B-VG
auch der Fall sei –, dass aber zugleich gelte, dass es vollkommene Freiheit nicht geben
könne (Adamovich 2020).
3. Rahmenbedingungen und historischer Hintergrund
Eine Demokratie wäre nicht denkbar ohne Verfassung, in der die Grundregeln für das
Miteinander niedergeschrieben sind. Mit der zunehmenden Komplexität einer globa-
lisierten und zugleich regional verankerten Welt werden auch die Anforderungen an
Verfassungen immer vielschichtiger. Die Digitalisierung, der Klimawandel und ver-
schiedene Krisen sind nur einige Beispiele, die gänzlich neue Herausforderungen an
Verfassungen stellen. Nicht zuletzt deswegen (immer aber auch aus aktuellen politi-
schen Gründen) ändern Staaten ihre Verfassungen oder lassen neue schreiben. Öster-
reich neigt zwar dazu, ihre alteingeführte Verfassung lediglich zu ergänzen (dies beson-
ders häufig), doch basiert der Hauptteil nach wie vor auf jenem Verfassungstext, der am
1. Oktober 1920 als Bundesverfassungsgesetz (B-VG) verabschiedet wurde und bereits
auf wesentlich ältere Regelungen aus dem 19. Jahrhundert zurückgriff.
3.1 Die Verfassung von Hans Kelsen
Hans Kelsen wurde in einer Zeit mit der Konzeption der österreichischen Verfassung für
den neuformierten Bundesstaat Österreich beauftragt, als kaum jemand annahm, dass
dieser Staat und somit seine Verfassung mehr als eine Übergangslösung sein würden
(Ucakar 1997, 89). Im Gegensatz dazu scheint Kelsen mehr Vertrauen in die Beständig-
keit der Republik gehabt zu haben, ließ aber vielleicht gerade deswegen allen Schmuck
und jegliche Feierlichkeit weg. Er schuf einen Text, der sich sprachlich schlicht zeigt,
einfach nachzuvollziehen ist, auf das Notwendige konzentriert, Regeln für zahlreiche
Eventualitäten zur Verfügung stellt und dabei möglichst viel an Gestaltungsfreiheit für
den Aufbau eines neuen Miteinanders gibt. So besitzt die österreichische Verfassung
keine Präambel und keinen Teil, in dem die Werte, auf denen der Staat beruhen soll, in-
tegriert wären. Sie erschließen sich allerdings durchaus aus den wichtigsten Prinzipien,
den sogenannten Baugesetzen, die die Verfassung und somit den Staat tragen.
Demokratiepolitisch ist heute gerade jener Kerntext, den Hans Kelsen verfasst hat,
besonders interessant – nicht nur, weil er die Grundprinzipien festlegt, denen alles Wei-
tere unterliegt, sondern auch, weil er sich heute noch auf verschiedene Situationen an-
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passen lässt. Das dürfte auch daran liegen, dass sich Kelsen auf das Recht verlässt und
nur das Recht sprechen lässt. Damit zieht sich ein gewisser Pragmatismus durch seinen
Text, der Werte wie die Grund- und Menschenrechte eher aus dem Zusammenhang
erkennen lässt. Erst viel später wurden diese auch als Zusatz in die Verfassung aufge-
nommen. So gilt insgesamt doch: „Der V. [Verfassungsstaat] ist nicht nur ein formales
Organisations- und Normengefüge, sondern ein Wertgefüge, in dem die Nation sich
selbst verwirklicht“ (Fenske 2001, 2).
Jede Verfassung steht untrennbar im Zusammenhang mit der Geschichte ihres Lan-
des (Funk 2000, 53). So ähneln sich Verfassungen verschiedener Länder zwar, weil sie
einer gewissen Struktur folgen, doch letzten Endes sind Form, Sprachstil und die darin
enthaltenen Inhalte immer auch ein Spiegel ihrer Zeit in ihrer Region und damit stets
auch kulturell, politisch und v.a. historisch erklärbar.
3.2 Verfassung – ein Vertrag mit dem Volk
Gerne wird die Verfassung als Vertrag gesehen. Slupik problematisiert diese Vorstellung,
indem sie in Frage stellt, dass die Bevölkerung tatsächlich diesen Vertrag unterschreibt, in-
dem sie zur Wahl geht oder in einer Abstimmung ja oder nein sagt, weil ein Vertrag doch
wesentlich mehr Information benötige. So sieht sie eher das Gesetz im Vordergrund als
den Vertrag (Slupik 2006, 2015–2017). Das alles bedeutet aber nicht, dass eine Verfassung
keinen Machtspielen und innen- wie außenpolitischen Entwicklungen unterworfen wäre.
In einer heute geschriebenen Verfassung würde man das Volk generell öfter anspre-
chen, damals ergab sich viel aus dem Bezug auf die Werte der Monarchie. In diesem
Sinne war das allgemeine Wahlrecht schon eine große Neuerung. Ansonsten wollte
man der Bevölkerung noch nicht allzu viel Entscheidungsmacht zutrauen, sondern eher
regeln, dass sie gut geführt wurde.
Wer aber ist das Volk? In der Verfassung wird einerseits die Staatsbürgerschaft an-
gesprochen, andererseits ist das sogenannte Wahlvolk gemeint. Nicht Wahlberechtigte
werden weitgehend ausgelassen, das betrifft einerseits Bürger*innen, die noch zu jung
sind, um wählen zu können (oder zu alt, zu krank oder strafrechtlich verurteilt), sowie
Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Gerade ihr Wahlrecht wird aktuell
intensiv diskutiert (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem Band).
Anschauliches. Kurze Geschichte der Österreichischen Bundesverfassung
ebenso wie ein Ansatz von Parlament, doch weniger weitgehend als in anderen Staa-
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30 Daniela Ingruber
ten zur selben Zeit. Eine Überarbeitung (Kremsierer Entwurf) folgte bald, wurde aber
nie umgesetzt, im Gegensatz zur Dezemberverfassung von 1867, die bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs galt, als Hans Kelsen bzw. eigentlich die 1919 gewählte Konstitu-
ierende Nationalversammlung mit der Umsetzung einer neuen Version, diesmal nicht
-
stellung des Friedensvertrages von St. Germain abgewartet werden musste.
-
Bis heute sind einige Teile dieser Novellen in der aktuellen Bundesverfassung enthal-
ten. Dazwischen aber gab es eine lange Unterbrechung, nachdem 1934 unter Bundes-
kanzler Dollfuss das B-VG außer Kraft gesetzt sowie durch eine neue Verfassung ersetzt
wurde, die den Ständestaat ermöglichte. 1938 wurde mit dem Anschluss an Deutsch-
land auch diese austrofaschistische Verfassung außer Kraft gesetzt. Es folgte die Zeit
des Nationalsozialismus, die nahezu alles verriet, was in Kelsens Verfassung an Rechten
und Werten festgelegt war.
Noch vor Kriegsende wurde am 27. April 1945 die Unabhängigkeitserklärung publik ge-
macht und die Republik Österreich (im Sinne der Verfassung von 1920) wieder ausge-
rufen. Das war weniger aus Enthusiasmus über jene alte Verfassung als aus Angst vor
-
vertrag im Jahr 1955 gewann diese Verfassung ebenso wie der Staat Österreich wieder
an Realität. Ermöglicht wurde dies u.a. aufgrund der österreichischen Zusage, im Sinne
der Schweizer Neutralität selbst neutral zu werden.
Seit 1955 gab es zahlreiche Ergänzungen, Erweiterungen und mit dem Österreich-
Konvent 2003 bis 2005 eine ernstzunehmende Bemühung, eine neue Verfassung zu
schreiben oder die alte wesentlich zu verändern. Abgesehen von kleineren Änderun-
gen geschah trotzdem nicht viel, da sich im Zuge der Diskussionen vor allem die unter-
schiedlichen Erwartungen und Interessen der verschiedenen Akteur*innen zeigten.
100 Jahre nach ihrer Einsetzung schien man im Jahr 2019 erstmals weitgehend zufrie-
den mit Kelsens Verfassung. Damals begann eine Regierungskrise, die ein stabiles B-VG
benötigte. Seitdem gilt die Bundesverfassung als beliebter denn zuvor, wobei noch
immer zu bezweifeln ist, dass die Bevölkerung sich die Zeit nimmt, das B-VG wirklich
kennenzulernen. Das Vertrauen in die österreichische Bundesverfassung aber ist ge-
stiegen, nicht zuletzt, weil Bundespräsident Alexander Van der Bellen immer wieder
betonte, wie stabil das B-VG und damit die Republik in jener Krisensituation gewesen
sei und ihm geholfen habe, eine Expert*innenregierung (erstmals unter einer Bundes-
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31Demokratie und Verfassung
Wirft man einen weniger rechtswissenschaftlichen als politikwissenschaftlichen Blick
auf die Bundesverfassung, eröffnet sich eine Struktur, die selbst nach 100 Jahren in vie-
len Aspekten zeitgemäß ist und mit aktuellen Herausforderungen umgehen kann, wo-
bei sie der Klimawandel und die zunehmende Technologisierung aller auch politischen
Prozesse an ihre Grenzen führt. Im Laufe der Jahrzehnte hat es mehrfach Versuche ge-
geben, eine neue Verfassung oder eine weitreichende Überarbeitung zu erreichen, doch
letztlich fehlte stets der politische Wille dazu. Der Moment für einen neuen Verfas-
sungsentwurf ist zudem demokratiepolitisch immer heikel, weil er ausgenützt werden
kann, um die Macht jener zu zementieren, die die Überarbeitung in Auftrag gegeben
haben. Auch stellt sich die Frage, ob eine Krise tatsächlich zu einer neuen Verfassung
führen muss oder ob nicht die Verfassung gerade die Aufgabe hat, ein „Kompass in Kri-
senzeiten“ zu sein (Alma Zadić in Österreichischer Juristentag 2022, 2).
In Österreich gab es die letzten großen Bemühungen um eine weitgehende Ver-
fassungsänderung im Jahr 2003/04. Dazu wurde der Österreich-Konvent einberufen.
Eingeladen waren Vertreter*innen der Bundesregierung, der Bundesländer und der
politischen Parteien ebenso wie Interessensvertretungen, Expert*innen, Höchstrich-
ter*innen etc., nicht aber Vertreter*innen der Zivilgesellschaft (Stainer-Hämmerle
2005, 367–370). Die Ergebnisse des Konvents wurden lange diskutiert, doch nur ver-
einzelt umgesetzt. So ist man bis heute bei jener Fassung geblieben, die von manchen
Verfassungsexpert*innen inzwischen als „zersplittert und unübersichtlich“ (Öhlinger/
Eberhard 2019, 27) bezeichnet wird.
Nimmt man dann noch die Besonderheit hinzu, dass manche Grundrechte nicht nur
ein Mal, sondern bis zu drei Mal (und zwar in unterschiedlicher Weise) im B-VG er-
wähnt und garantiert werden, dann könnte man ironisch argumentieren, dass die öster-
reichische Verfassung im Laufe der Zeit immer österreichischer geworden sei und jene
Flexibilität offenbart, die man in Österreich gerne positiv betrachtet, die aber zugleich
auch die Gefahr birgt, sich gar nicht entscheiden zu müssen. Genau das wollte der Vater
des B-VG, Hans Kelsen, verhindern. Nicht all seine Ideen wurden jedoch umgesetzt. So
hatte Kelsen in der Fassung von 1920 ein starkes Parlament vorgesehen, das nicht nur
die Bundesregierung bestellt sondern auch den Bundespräsidenten (Lehner 2010, 29).
Er argumentierte das so: „Die Reform des Parlamentarismus könnte in der Richtung
versucht werden, das demokratische Element wieder zu stärken“ (Kelsen 2018, 59).
Dies wurde noch in den 1920er-Jahren aus der Verfassung zurückgenommen.
Die Neutralität wiederum war nie vorgesehen, kam nach dem Zweiten Weltkrieg
hinzu und wurde zu einer wichtigen Staatszielbestimmung im B-VG (siehe dazu Box
Anschauliches), die später lange niemand mehr anzutasten wagte. Auch andere soge-
nannte Staatsziele, die in der Verfassung stehen, sind historisch begründbar und heute
wahrscheinlich vor allem aufgrund des Verfassungsstatus so selbstverständlich, dass sie
kaum angezweifelt werden.
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32 Daniela Ingruber
3.3 Die Prinzipien der österreichischen Bundesverfassung
Die Bundesverfassung basiert auf vier Prinzipien (Baugesetzen), von denen zwar nur
zwei explizit genannt werden, die sich allerdings eindeutig aus dem Verfassungstext
ergeben. Ihnen ist alles Weitere unterworfen, daher werden sie auch als jener Maßstab
(Öhlinger/Eberhard 2019, 53) betrachtet, dem alles Recht unterworfen ist. Das sind
das demokratische, das republikanische, das bundesstaatliche und das rechtsstaatliche
Prinzip. Sollte eine Änderung eines dieser Prinzipien geplant sein, wird das als Gesamt-
änderung der Bundesverfassung gesehen. Nur wenige Teile des B-VG werden so regel-
mäßig zitiert wie Artikel 44 Absatz 3 B-VG, der das Verhalten für solch eine Gesamtän-
derung festlegt. Sie verlangt nicht nur nach der Zustimmung des Nationalrats, sondern
dass die wahlberechtigte Bevölkerung in einer Abstimmung um ihr Einverständnis ge-
fragt werden muss. Hier sieht man, dass Hans Kelsen gegenüber der Monarchie die
Volkssouveränität als große Änderung verankert haben wollte. Solche Abstimmungen
sind nicht nur aufwendig, sondern auch unberechenbar, dementsprechend selten findet
eine Gesamtänderung der Verfassung statt. Ucakar weist in diesem Zusammenhang
auf einen politisch ebenso heiklen wie positiven Aspekt hin, indem er sagt, dass keine
Bestimmung der österreichischen Verfassung ganz fix beziehungsweise unveränderbar
sei (Ucakar 1997, 93). Das kann in beide Richtungen gehen: Einerseits können solche
Volksabstimmungen wie auch andere Instrumente der direkten Demokratie den Popu-
lismus fördern, andererseits kann die Bevölkerung sich dadurch wehren, wenn politisch
etwas in eine Richtung geht, die sie nicht haben möchte.
Im Juni 1994 wurde aufgrund des Beitritts zur Europäischen Union solch eine
Volksabstimmung zu einer Gesamtänderung der Verfassung durchgeführt. Mit dem
EU-Beitritt hat sich allerdings nicht nur ein Prinzip verändert, sondern mit Ausnahme
des republikanischen Prinzips alle (Funk 2000, 102–108).
3.3.1 Das demokratische Prinzip
Dies ist das erste und zugleich komplizierteste Prinzip der Verfassung, denn eine Demo-
kratie ist mit dem Wort allein noch nicht definiert. Zwar steht im B-VG: „Ihr Recht
geht vom Volk aus“ (Art 1 B-VG), womit die Souveränität des Volkes festgelegt ist.
Dennoch lässt dies viel offen, etwa ob und wie weit das Volk diese Herrschaft an be-
stimmte Personen delegiert. Letzteres ist in Österreich der Fall, womit die Demokratie
„mittelbar“ ist. Doch kann – und das sieht man an vielen internationalen Beispielen –
eine mittelbare Demokratie (= Repräsentativsystem) ganz unterschiedliche Ausprägun-
gen haben. Das ist in der Verfassung nicht vordergründig festgelegt, erschließt sich aber
aus dem Gesamtzusammenhang. Jene Demokratie also, die das B-VG vorsieht, ist eine
repräsentativ-parlamentarische. Gerade das Parlament hielt Kelsen demokratiepolitisch
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33Demokratie und Verfassung
für essenziell. Auch werden im Verfassungstext politische Parteien kaum besprochen.
In einer heute geschriebenen Verfassung wäre das undenkbar. Vor mehr als 100 Jahren
schien es eine Gewissheit, dass Parteien kommen und gehen und andere Akteur*innen
wichtiger sind.
Ebenso als wenig bedeutsam schien damals die direkte Demokratie, die erst im Laufe
der Zeit in Verfassungsgesetzen bunter gestaltet wurde. Für eine Regierung ebenso wie
für den Nationalrat bedeutet das, nicht einfach agieren zu können. Dieses Prinzip ist es
auch, dass aus Regierenden (vom Bürgermeister bis zur Ministerin, vom Bundespräsi-
denten bis zur Bundeskanzlerin und allen Abgeordneten) die Service-Geber*innen für
die Bevölkerung macht. Nicht die Regierenden sollen über das Volk herrschen, sondern
das souveräne Volk verleiht alle Ämter im Zuge des Repräsentativsystems, mit der Auf-
gabe, die Bevölkerung zu vertreten – anstatt über sie zu bestimmen. Eine Demokratie
funktioniert dementsprechend nur, wenn es klare Regeln dafür gibt, wer was wann tun
darf. Insofern bedingen sich die vier Prinzipien untereinander.
3.3.2 Das republikanische Prinzip
Dies ist jenes Prinzip, das die Demokratie erst möglich macht. Zwar gibt es Monarchien
mit demokratischen Wahlen (siehe Großbritannien), doch ist die Abkehr von der Mo-
narchie das tragende Prinzip der österreichischen Verfassung. Dies bedeutet bemerkens-
werterweise zunächst noch keine Demokratie, denn eine Republik muss nicht zwangs-
weise demokratisch organisiert sein. Sie kann auch eine Diktatur darstellen. Während
verschiedene Republiken unterschiedliche Staatsformen haben können, ist eines fix:
Das Staatsoberhaupt wird gewählt und nicht per Erbfolge bestimmt. Mit dem Ende
der Monarchie hatte das nicht nur politische Auswirkungen, sondern es war auch das
kulturelle und wirtschaftliche Ende der Herrschaft durch die Habsburger und den Adel.
Dadurch änderte sich weit mehr als nur das politische System – wobei es lange dauern
sollte, bis dies auch in der Bevölkerung internalisiert wurde und regierende Politiker*in-
nen nicht mehr als eine Art Vorgesetzte wahrgenommen wurden.
Auch die Trennung von Kirche und Staat ist letztlich im republikanischen Prin-
zip verankert, weil alle Aufgaben irdisch geregelt sein wollen (Öhlinger/Eberhard
2019, 56 f.).
3.3.3 Das bundesstaatliche Prinzip
Dieses Prinzip war von Beginn an eine Art Kompromiss, damit sich die einzelnen
Bundesländer nach dem Zerfall des Großreiches nicht abspalten. So gab man ihnen
mehr Kompetenzen, als für ein kleines Land sinnvoll sein konnte und kann. Regionale
Befindlichkeiten werden bis heute ausgespielt und die Landeshauptleute üben dem-
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entsprechend mit Vergnügen ihre Macht gegenüber dem Bund aus. Sie tun das im
Gegensatz zum Bundesrat, der in der Verfassung zwar die offizielle Kammer der Länder
darstellt und als solche auch Gewicht hat, dieses in der Realität allerdings nur äußerst
selten einsetzt. Ganz anders die Landeshauptleute: Sie sorgen dafür, dass auch Rege-
lungen, die zentral mehr Sinn ergeben würden, dezentral gehalten werden und so dem
betreffenden Bundesland mehr Eigenständigkeit verleihen. Politisch lassen sich die Lan-
deshauptleute dementsprechend ihre Zustimmung zu einem ungeliebten Gesetz oder
einer Verordnung nicht selten teuer abgelten (Funk 2000, 95). Das geht so weit, dass
immer wieder behauptet wird, der österreichische Föderalismus sei nicht nur unüber-
sichtlich und politisch motiviert, sondern „für Nichteingeweihte kaum durchschaubar“
(Winkler 2020, 69; siehe dazu Bußjäger/Eller in diesem Band).
Österreich ist ein Bundessstaat und kein Staatenbund. Der Unterschied ist essen-
ziell, da die einzelnen Staaten in einem Staatenbund weit weniger eng miteinander
verbunden sind. In Österreichs Fall hingegen brauchen die Bundesländer den Bund
und umgekehrt. Sie haben laut dem bundesstaatlichen Prinzip nicht nur das Recht auf
eine eigene Verwaltung und auf eigenbestimmte Regelungen und Gesetze, sofern eine
Angelegenheit nicht schon gesetzlich vom Bund geregelt ist, sondern sie haben auch
das Recht auf eigene Finanzmittel und auf eine eigene Landesverfassung. Diese darf die
Bundesverfassung nicht aushebeln, darf aber auch nicht vom Bund beschnitten werden
(Öhlinger/Eberhard 2019, 57). In diesen Landesverfassungen stehen einige Besonder-
heiten, die in anderen Ländern nicht Erwähnung finden oder anders geregelt sind. Erst
in den letzten Jahren hat es hier vermehrt Versuche zur Vereinheitlichung gegeben (z.B.
beim Jugendschutz). Als positives und vorbildliches Beispiel kann die direkte Demo-
kratie Vorarlbergs genannt werden.
Insgesamt bleibt den Bundesländern weit mehr Eigenständigkeit und Macht, als es
einer Bundesregierung lieb sein kann (Heinisch 2020, 68). Die COVID-19-Pandemie
war ein recht deutliches Lehrstück diesbezüglich, indem die Landeshauptleute nicht
immer den Vorstellungen des Gesundheitsministers oder Bundeskanzlers folgen woll-
ten, weil dies regionalpolitisch unbequem für sie gewesen wäre.
3.3.4 Das rechtsstaatliche Prinzip
Eine Demokratie kann nicht funktionieren, wenn sie nicht auf Rechtsstaatlichkeit be-
ruht. Alles politische und staatliche Handeln ist durch sie geregelt und bedeutet, dass
die Regierung ihr Tun an das Recht binden muss. Dieser Rechtsstaatlichkeit unterliegen
auch die Grundrechte und jene Werte, die eine Demokratie ausmachen, wie Freiheit.
Auch der Umgang mit Medien und die Festlegung ihrer Rolle stehen in diesem Zu-
sammenhang. Wenig beachtet, gehört zur Rechtsstaatlichkeit auch, dass Rechtsnormen
verständlich und nachvollziehbar verfasst werden (Öhlinger/Eberh 2019, 85). Auch
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hier gilt: Die Volkssouveränität bedeutet nicht nur die Herrschaft des Volkes, sondern
auch deren Ermöglichung. Dazu gehören Menschen- und Grundrechte ebenso wie die
nachvollziehbare Aufbereitung und tatsächliche Inanspruchnahme des Rechts. Ebenso
notwendig ist die Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit. Für Letztere sind die Gerichtshöfe
zuständig (siehe dazu Dolezal et al. in diesem Band).
3.3.5 Gewaltenteilung und liberales Prinzip
Wenngleich diese beiden sich aus den Texten der anderen Baugesetze ergeben, werden
sie als ergänzende Prinzipien betrachtet. Die Gewaltenteilung legt fest, dass Aufgaben
zugewiesen sind und nicht ein Rechtsträger oder ein staatliches Organ alles allein regeln
darf. So schafft die Verwaltung die Gesetze nicht, sondern führt sie aus, während das
Parlament keine Gesetze exekutiert etc. Dadurch wird rechtsstaatliche Kontrolle erst
möglich (Öhlinger/Eberhard 2019, 273 f.).
Das liberale Prinzip wiederum legt fest, dass das Individuum seine Rechte innehat
und der Staat sich nicht in alles einmischt, was nicht unbedingt gesetzlich geregelt wer-
den muss. Gerade in einer Demokratie ist das von Bedeutung, weil in ihr – anders als
in autoritären Systemen – das Individuum besonderen Wert besitzt. Auf diese Weise ist
das liberale Prinzip eigentlich bereits im demokratischen bzw. rechtsstaatlichen Prinzip
verankert (Öhlinger/Eberhard 2019, 45 und 217; Funk 2000, 84).
3.4 Staatszielbestimmungen
Zu den Baugesetzen der Verfassung sind im Laufe der Jahrzehnte weitere essenzielle
Festlegungen hinzugekommen, die eine Basis für andere Regelungen bilden. Allerdings
würde eine Änderung einer dieser Staatszielbestimmungen keine Gesamtänderung der
Verfassung darstellen und daher auch keine Volksabstimmung verlangen. Schon am
Beispiel der „immerwährenden Neutralität“ kann man feststellen, dass diese Bestim-
mungen bedeutsam oder zumindest teilweise so im Bewusstsein der Bevölkerung ver-
ankert sind, dass einzelne Bestimmungen trotzdem ohne eine Volksabstimmung kaum
abgeschafft werden könnten, zumal sie ideelle Werte für die Bevölkerung darstellen.
Die Neutralität wird im Alltag als typisch österreichisch wahrgenommen, zuweilen fast
wie ein Wahrzeichen. Dabei war sie weder selbstverständlich noch geliebt, als sie am
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Weise wieder unabhängig werden konnte. Die österreichische Neutralität bedeutet,
sich keinen politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Bündnissen anzuschließen
und dabei Aufgaben zu übernehmen, die die Neutralität im Kriegsfall beeinträchtigen
teilzunehmen und muss sich im Falle eines solchen unparteiisch verhalten. Was das
konkret bedeutet, wird immer wieder diskutiert und im Laufe der Jahre manchmal
zaghaft in Frage gestellt. Aufgrund ihrer Beliebtheit wurde dennoch nie ernsthaft eine
Österreichs musste zugegeben werden, dass ein wenig dieser Neutralität aufgeweicht,
eingebüßt bzw. abgelegt worden ist (dies wird von unterschiedlichen Expert*innen
verschieden eingestuft).
Im B-VG ist die Neutralität als Staatsbestimmungsziel festgeschrieben. Da sie – anders
-
-
lich, zumal die Bevölkerung emotional an der Neutralität hängt. Durch ihre Kundma-
chung gilt die Neutralität international. Auch deshalb kann sich Österreich nicht so
einfach von der Neutralität verabschieden, auch wenn dies nicht bedeutet, dass Öster-
reichs „immerwährende“ Neutralität auf Dauer bestehen bleiben wird (Öhlinger/Eber-
hard 2019; Funk 2000).
Das Verbot nazistischer Tätigkeit bildet ebenso eine Staatszielbestimmung, weiters die
umfassende Landesverteidigung. Im Laufe der Zeit hinzugekommen sind auch das
Bundesverfassungsgesetz (BVG; nicht zu verwechseln mit dem Bundes-Verfassungsge-
setz B-VG) für ein atomfreies Österreich sowie die Nichtdiskriminierung (Gleichbe-
handlung von behinderten Personen oder die Gleichstellung von Frau und Mann). Der
Schutz der Volksgruppen (kulturelle Vielfalt) gehört ebenso dazu wie bestimmte Regeln
rund um Schule und Bildung oder der Rundfunk als öffentliche Aufgabe. Die Bedeu-
tung der Staatszielbestimmung „umfassender Umweltschutz“ nimmt seit Jahren zu.
Insgesamt gelten diese Bestimmungen nicht nur als relevant, sondern besitzen emo-
tionale Bedeutung bei der Bevölkerung. Einen weniger hohen Stellenwert wie die Bau-
gesetze haben sie dennoch, was auch daran liegt, dass sie sich bei genauerem Hinsehen
in diese Baugesetze einordnen lassen, wie Funk argumentiert (2000, 84).
3.5 Grundrechte und die Bevölkerung
Mehr im Bewusstsein der Bevölkerung als die Baugesetze oder Staatszielbestimmungen
sind wahrscheinlich die Grund- und Menschenrechte, was auch damit in Zusammen-
hang steht, dass sich demokratische Bewegungen und Parteien der letzten Jahre immer
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mehr mit diesen Rechten auseinandersetzen. Laut Slupik sind die Grundrechte jene
Rechte, die der*dem einzelnen Bürger*in gegenüber dem Staat gewährt werden, sie
können aber auch zwischen Menschen innerhalb eines Staatsgebietes gültig sein (Slupik
2006, 327–331). In gewisser Weise stellen sie derart eine Basis für das Miteinander in
einer Demokratie dar.
Ausgerechnet diese sind im B-VG zwar gleich mehrfach, aber lediglich als Zusätze
enthalten. So wurde die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Öster-
reich 1958 in den Verfassungsrang erhoben, als Österreich Vertragspartei der EMRK
wurde. Zudem gilt seit dem EU-Beitritt die Grundrechtscharta der EU und schließlich
griff man sehr weit zurück in die ehemalige Monarchie, als man deren Grundrechtska-
talog aus dem Jahr 1867 in die Verfassung aufnahm. In diesen Zusätzen werden einige
der Werte kolportiert, für die der Staat Österreich stehen soll. Im Rest der Verfassung
sind sie eher implizit zu verstehen (Winkler 2020, 64). Während die Menschenrechte
in vielen anderen Staaten schon kurz nach ihrer Ausrufung im Jahr 1789 übernommen
worden waren, blieben sie in Österreich lange fast unbeachtet.
Anschauliches. Verfassungsrechtlich verankerte Grundrechte
-
fassungszusätzen verankert. Einige der in der Verfassung von 1920 verankerten Grund-
rechte sind:
− aktives und passives Wahlrecht
− Gleichheitsgrundsatz
− Recht auf ein Verfahren vor einem unabhängigen und gesetzlichen Richter
− Verbot der Todesstrafe
−
-
kommen (z.B. UN-Kinderrechtskonvention) oder sind in Bundes- und Landesverfas-
sungsgesetzen verankert (Hengstschläger/Leeb 2019, 12–23).
So zeigt eine Verfassung immer auch, wie die Bevölkerung gesehen wird. Aus der
Monarchie kommend, war es nach deren Ende bereits ein großer Schritt, dass plötz-
lich nicht nur alle Männer eines bestimmten Alters, sondern auch alle Frauen wählen
konnten. Ihnen auch noch zuzutrauen, dass sie bis ins Detail wüssten, was sie tun, ging
damals – zynisch betrachtet – zu weit. So sah Kelsen in einigen emengebieten vor,
dass nicht die Bevölkerung wähle, sondern bestimmte Ämter in ihrem Namen gewählt
würden, etwa der Bundeskanzler (durch den Nationalrat) und bis 1929 auch der Bun-
despräsident (ebenfalls durch den Nationalrat), ehe man ihn – damals in autoritären
Tendenzen vermeintlich – etwas näher an die Bevölkerung rücken wollte.
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3.6 Die Realität der Verfassung
Es existiert stets ein Unterschied zwischen dem, was in einer Verfassung steht, und
dem, was tatsächlich geschieht. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen Akteur*innen
und Organe letztlich doch selbst bestimmen, was rechtens ist, sondern dass die Bestim-
mungen einer Verfassung immer einer gewissen Interpretation unterliegen und damit
im positiven Sinne eine gewisse Freiheit geben, in einer Situation flexibel reagieren zu
können. Im negativen Sinne kann dadurch auch das eine Organ mehr Macht bekom-
men, als es ursprünglich vorgesehen war. Es kann aber auch sein, dass neue Player ins
Spiel kommen, für die es im B-VG noch wenig Regelungen gibt. Ucakar nennt hier
insbesondere die „Bedeutung von politischen Parteien und Interessenverbänden, die
in der Verfassung nicht annähernd adäquat beschrieben ist“ (Ucakar 1997, 85), ebenso
wie die Sozialpartnerschaft, die in den letzten Jahren zwar an Bedeutung eingebüßt hat,
über viele Jahre hindurch jedoch ganz wesentlich zum sozialen Frieden beigetragen hat.
Seit vielen Jahren wird darüber geklagt, dass die Verfassung inzwischen viel zu viele
Zusätze habe und daher nicht mehr gut handhabbar sei (Blümel 2003, 367). Gleich-
zeitig kommt es immer wieder zu Situationen, in denen aus politischem Kalkül ein
bestimmtes Gesetz nicht einfach beschlossen, sondern gleich in den Verfassungsrang ge-
hoben werden soll. Das kann den Grund haben, dass man sichergehen möchte, dass un-
ter anderen politischen Bedingungen das Gesetz nicht sofort wieder aufgehoben wird.
Mehr aber dürfte es sich dabei um ein Werbekonzept handeln. Eine Partei, die für etwas
eintritt, kann mit dem Ruf nach einem Verfassungsgesetz betonen, wie wichtig ihr das
Anliegen ist und dass es auch der Bevölkerung wichtig sein solle. Die FPÖ hat so immer
wieder den Ruf nach der Verankerung des Rechts auf Bargeld festmachen wollen. Geg-
ner*innen der SARS-CoV-2-Impfung wiederum wollten das Verbot einer Impfpflicht
in die Verfassung schreiben lassen. Meist gehen solche Vorhaben nicht durch, werden
aber nichtsdestotrotz jahrelang als Forderung formuliert.
Demokratiepolitisch interessant wird es da, wo Verfassung und politisches Agieren
einander den Weg weisen. So wäre der*die Bundespräsident*in laut Verfassung mäch-
tiger, als dies im Alltag wahrgenommen oder von dem*der jeweiligen Bundespräsiden-
ten*Bundespräsidentin umgesetzt wird. Was aber wäre, wenn ein*e Bundespräsident*in
dies plötzlich tatsächlich einfordern würde? Hier kommt ins Spiel, dass nicht nur Regeln
existieren, sondern dass auch die politische Gewohnheit eine wesentliche Rolle im Um-
gang mit der Verfassung spielt. Gerade an der Figur des*der Bundespräsidenten*Bun-
despräsidentin kann man das festmachen, allerdings auch an jener des Parlaments, das
seine Rolle im politischen Alltag der Regierung gegenüber häufig geschwächt sieht.
Das ist für eine Regierung praktisch, für den Nationalrat ein Problem und bedeutet
für die Bundesverfassung, dass auch sie dem politischen Alltag unterliegt und es nicht
immer klar ist, wer über wen bestimmt, die Verfassung über das politische Tun oder die
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Regierungen über das B-VG. Sollte es allerdings zu einem Punkt kommen, an dem der
Respekt gegenüber der Verfassung verloren geht, braucht es ein Eingreifen des Verfas-
sungsgerichtshofs – sofern das nicht ohnehin über (Neu-)Wahlen geregelt wird.
4. Einordung des österreichischen Falls
Demokratie ist ein wandelbares System, das in jeder Region, Kultur oder jedem Staat
ein wenig anders aussieht. Nichtsdestotrotz wird immer wieder versucht, Demokratien
miteinander zu vergleichen und im Zuge dessen zu bewerten, in welchem Staat die Bür-
ger*innen mehr demokratische Rechte und Freiheiten haben. Daher gibt es zahlreiche
Indizes, die ein Ranking versuchen.
4.1 Demokratieindex
Zu den bekanntesten Rankings gehört jenes der Zeitschrift e Economist, das erst-
mals im Jahr 2006 veröffentlicht wurde und immer im Folgejahr publiziert wird. Fünf
Faktoren werden für jedes Land angeschaut: Pluralismus und Wahlprozesse, Funktions-
weise der Regierung, die politische Kultur sowie die Teilhabe und schließlich die Bür-
ger*innenrechte. Die einzelnen Staaten werden aufgrund der Ergebnisse je einer von
vier Kategorien zugeordnet: vollständige Demokratien, unvollständige Demokratien,
Hybridformen, autoritäre Regime.
Österreich lag im Demokratieindex 2021 von e Economist (2022) gemeinsam mit
Costa Rica auf Platz 20. Auf den ersten Plätzen lagen Norwegen, Neuseeland und Finn-
land: Deutschland folgte auf Platz 15. Hinter Österreich lagen u.a. Frankreich (22),
USA (26), Italien (31), Polen (51), Ungarn (56) und die Schlusslichter bildeten Nord-
korea, Myanmar und Afghanistan auf den Plätzen 165–167.
4.2 Global Freedom Score
Die internationale NGO Freedom House (Sitz in Washington DC) gibt ebenfalls jähr-
lich einige Rankings heraus. Eines davon untersucht die „Freiheit in der Welt“. Im
Ranking von 2022 (Freedomhouse 2022) erhielt Österreich 93 von 100 Punkten und
ist damit eindeutig als freier Staat eingeordnet. Bei den Wahlen schneidet Österreich
gut ab, weniger gut hingegen bei Korruption, Transparenz und Pressefreiheit.
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4.3 Korruptionswahrnehmungsindex
Transparency International (2022) wiederum veröffentlicht jährlich Daten rund um Kor-
ruption, wobei zwölf verschiedene Institute Einzelindizes untersuchen. Erfahrungsgemäß
gehört Österreich auch hier nicht zu den Vorzeigemodellen. Im Jahr 2021 hat Österreich
zwei Plätze verloren und liegt nun an 13. Stelle, gleichauf mit Kanada, Estland, Island
und Irland. Wie in all diesen Statistiken liegt Deutschland (Platz 10) vor Österreich,
während Dänemark vor Neuseeland und Finnland in Führung liegt. Die letzten Plätze
werden in Bezug auf Korruption von Syrien, Somalia und Südsudan besetzt (178–180).
4.4 Pressefreiheitsindex
In Bezug auf die Pressefreiheit kritisiert auch der bekannteste diesbezügliche Index die
Entwicklung in Österreich. Reporter ohne Grenzen veröffentlichen ihren Index seit
2002, jeweils am Internationalen Tag der Pressefreiheit, am 3. Mai. Der für das Jahr
2021 bewertete Index (Report ohne Grenzen 2022) bot für Österreich eine böse Über-
raschung, indem das Land von Platz 17 auf Platz 31 abstürzte und dabei von Staaten
wie Trinidad und Tobago sowie der Dominikanischen Republik überholt wurde, die
beide nicht unbedingt als Oasen der Pressefreiheit gelten.
Diese und andere Demokratiestatistiken kämpfen zum Teil mit unterschiedlichen
Bewertungskriterien in verschiedenen Ländern, doch selbst wenn man sie nur als Ten-
denz berücksichtigt, geben sie Einblick in aktuelle demokratiepolitische Entwicklun-
gen. Österreich hat in den letzten Jahren in all diesen Statistiken Plätze verloren.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Wie sehr sich rechtliche Realität und individuelle Wirklichkeit voneinander unter-
scheiden können, zeigten die Wahrnehmungen rund um die Corona-Pandemie. Gam-
per wies in diesem Zusammenhang darauf hin: „Zum Zwecke der Verwirklichung des
Gemeinwohls kann daher mitunter der Nachteil eines Einzelnen in Kauf genommen
werden, wenn dies das Wohl der Allgemeinheit verlangt.“ (Gamper 2021, 173). Dies
allerdings der Bevölkerung klarzumachen und längerfristig ihr Einverständnis zu er-
halten, ist nicht unbedingt einfach. Mit zunehmenden Krisensituationen wird dies eine
der Herausforderungen für die Zukunft der Demokratie mithilfe der Verfassung sein.
Schon Kelsen wehrte sich dagegen, Demokratie nur als Methode zu sehen, die soziale
Ordnung erzeugen oder erhalten soll, „gerade dann erscheint ihr Wert […] im höchsten
Maße problematisch.“ (Kelsen 2018, 127).
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41Demokratie und Verfassung
Zu einer guten Verfassungskultur in der Demokratie tragen auch, so Gamper, die
Bevölkerung sowie die Medien in hohem Maße bei, sofern sie diese pflegen (Gamper
2022, 25). Dass umgekehrt die österreichische Verfassung „in einer sehr bemerkens-
werten Weise ‚krisenfest‘“ sei, bestätigte (Eberhard 2022, 38). Gamper nennt sie eher
eine „besonders änderungsanfällige Verfassung“ (Gamper 2022, 19). Das zeige auch der
Umgang mit der COVID-19-Pandemie, während der es gleich mehrere Verfassungs-
änderungen gab, weshalb Österreich zu den ganz wenigen Ländern gehört, deren Ver-
fassung diese Erkrankung im B-VG erwähnt (Gamper 2022, 20).
Herausforderungen, so lauten alle Zukunftsprognosen, wird es auch in Zukunft
nicht weniger geben. Wenn man daher heute noch an die Demokratie als das Modell
der Zukunft denken möchte, kann es nur über das Miteinander gehen. Solidarität, der
alte Begriff, wird eines der Werkzeuge dafür sein müssen, denn der Egoismus hat die
Menschheit weder ökologisch noch ökonomisch retten können (Lessenich 2019). Ei-
nen diesbezüglich fast romantischen Aufruf zur Demokratie hat Görlach 2021 geschrie-
ben: „Ihre Legitimität gründet in der Verfassung, die die Menschenwürde in ihrem
Geltungsbereich zur norma normans erhebt. Diese Demokratie verpflichtet sich dem
Aufbau einer fairen und gerechten Gesellschaft und macht die Menschenrechte zum
Maßstab sowohl innen- als auch außenpolitischen Handelns.“ (2021, 97). Dann weist
er auf die Problematik des Klimawandels und die zunehmenden Verteilungsprobleme
auf globaler Ebene hin. Ausschließlich in der Demokratie sieht er das Potenzial, damit
umzugehen, allerdings weder in einer illiberalen, hierarchischen, postdemokratischen
oder nicht notwendigerweise liberalen Demokratie, sondern in einer, die von Empathie
getragen wird (2021, 97). Solidarität sollte man vielleicht hinzufügen. Demokratie ist
ein Prozess und war das schon immer. Sie braucht Entwicklung (vgl. Görlach 2021, 7)
und einen gewissen Enthusiasmus. Ihre Bürger*innen benötigen dafür nicht zuletzt
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Übungsfragen
Was macht Ihrer Meinung nach eine funktionierende Demokratie aus?
Welche Formen der Demokratie kennen Sie und welche halten Sie für aktuell am
geeignetsten, um die Freiheit und den Schutz ihrer Bürger*innen zu garantieren?
Sehen Sie sich die Baugesetze im B-VG an und beschreiben Sie anhand eines konkre-
ten Beispiels, wie diese ineinandergreifen.
Wie sehen Sie die verfassungsrechtliche Zukunft der Neutralität in Österreich?
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45Demokratie und Verfassung
Sehen Sie sich die Staatszielbestimmungen im B-VG an, nehmen Sie dann eine und
beschrieben Sie welche Auswirkungen diese auf den Alltag hat.
Nehmen Sie sich die Landesverfassung Ihres eigenen Bundeslandes (Hauptwohnsitz)
her und interpretieren Sie, welche Werte sich dort verankert finden.
Rufen Sie den digitalen Verfassungstext https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.
wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138 auf und suchen Sie
nach folgenden Stichwörtern: Friede, Freiheit, Gleichheit. In welchem Zusammen-
hang kommen diese Worte vor?
Warum ist ein starker Nationalrat wichtig für eine Demokratie?
Schauen Sie sich an, wie die Pressefreiheit in Österreich geregelt ist.
Angenommen Sie hätten die Möglichkeit, ein Gesetz zu schreiben, das dann in den
Verfassungsrang käme. Argumentieren Sie, warum Sie dies für wichtig genug halten,
um es im B-VG zu verankern.
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Föderalismus
Zusammenfassung
9Der österreichische Föderalismus ist durch seine Entstehungsbedingungen als Verfas-
-
chen, jedoch mit einer starken zentralistischen Ausrichtung.
9Dennoch spielen die Länder eine wichtige Rolle, auch in der Bundespolitik. Weniger im
Rahmen des Bundesrates, der aufgrund seiner schwachen Rechtsstellung die Länderinte-
ressen kaum wirkungsvoll wahrnehmen kann, sondern aufgrund der informellen Struktu-
ren, insbesondere der Landeshauptleutekonferenz.
9Die Kompetenzverteilung ist von einem deutlichen Übergewicht des Bundes geprägt, die
Länder tragen jedoch wesentliche Bereiche der Vollziehung. Insbesondere im Rahmen der
mittelbaren Bundesverwaltung werden Verwaltungsaufgaben des Bundes durch Landes-
behörden besorgt.
9
praktisch keine Steuerautonomie zukommt.
9Herausforderungen für den Föderalismus bestehen im Abbau der Staatsschulden nach
dem Ende der Corona-Pandemie und in der Digitalisierung.
1. Einleitung
Föderalismus spielt in der Lebensrealität der österreichischen Bürger*innen eine nicht
zu unterschätzende Rolle, tritt in vielen gesellschaftlichen Bereichen zutage und ist
Gegenstand verschiedener Wissenschaften. Neben den Rechtswissenschaften sind vor
allem die Ökonomie, die Politikwissenschaft, die Soziologie und die Geschichte zu nen-
nen. Seine staatsrechtliche Ausformung ist der Bundesstaat, der sich durch eine verti-
kale Teilung der Staatsgewalten, insbesondere auch in legislativer Hinsicht auszeichnet.
Die Begriffe Föderalismus und Bundesstaat werden zwar mitunter synonym ver-
wendet,1 dennoch ist zu beachten, dass Föderalismus das abstraktere, übergeordnete
1 So auch grundsätzlich im vorliegenden Beitrag, der zwischen Bundesstaat und österreichi-
schem Föderalismus nicht unterscheidet.
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48
Prinzip darstellt (Gamper 2021, 95). Es handelt sich dabei um ein Prinzip der Vielfalt
in der Einheit (lat. „foedus“ für Bündnis). In einem Bundesstaat manifestiert sich dieses
Prinzip primär darin, dass mehrere Glieder – in Österreich und Deutschland sind das
die Bundesländer, in der Schweiz die Kantone – in einer gesamtstaatlichen Einheit
zusammengeschlossen sind, dabei allerdings nicht in ihr aufgehen, sondern einen Teil
ihrer Souveränität bewahren, was sich insbesondere in der Teilung der Gesetzgebung
auf zwei staatliche Ebenen manifestiert. Das sogenannte Subsidiaritätsprinzip bildet als
Bauanleitung für die Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Gliedern eine
wesentliche Rolle: Grundsätzlich sollte die übergeordnete Ebene nur dann eine Aufgabe
regeln und erfüllen dürfen, wenn diese nicht oder nicht hinreichend von der unterge-
ordneten Ebene erledigt werden kann. Zuweilen, wie im österreichischen Föderalismus,
kommen auch die Gemeinden ins Spiel und erhalten von der gesamtstaatlichen Ver-
fassung explizite Aufgaben zugewiesen (siehe dazu Stainer-Hämmerle in diesem Band).
Föderalismus verläuft zufolge der klassischen eorie des Bundesstaates,2 ausgehend
von den Gemeinden, „bottom-up“, während in Einheitsstaaten das „top-down“-Prin-
zip dominiert.
Föderalismus ist wesentlich vom Gedanken der Machtaufteilung und Verantwor-
tungsteilung auf mehrere Ebenen getragen (sog. vertikale Gewaltenteilung). Damit ein-
her geht ein erhöhtes Maß an Selbstbestimmtheit der Bürger*innen, da maßgebliche
Entscheidungen unter Berücksichtigung der jeweiligen (regionalen) Präferenzen auch
auf gemeindlicher und/oder regionaler Ebene getroffen werden können. Föderalismus
bietet der Bevölkerung vielfältige demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten, während
sein Gegenmodell, der Zentralismus, eine Machtakkumulation durch uniforme Gesetz-
gebung und Vollziehung bewirkt. Dessen staatsrechtliche Ausprägung ist der Einheits-
staat (dazu zählt etwa Frankreich), in dem sich die Rolle dezentraler Körperschaften auf
die Vollziehung der von der zentralstaatlichen Ebene erlassenen Gesetze reduziert und
auch die demokratischen Teilhaberechte der Bürger*innen in der Regel weniger aus-
geprägt sind, als dies in föderalen Staaten der Fall ist.
Sozusagen in der Mitte, zwischen Einheits- und Bundesstaaten verortet, finden sich die
Regionalstaaten. So wird der Regionalismus treffend als kleiner Bruder des Föderalismus be-
zeichnet.
3
Zu den Regionalstaaten zählen beispielsweise Italien und Spanien, die aufgrund
ihrer doch sehr weitgehenden Regionalisierung mitunter sogar als (Quasi)-Bundesstaaten
2 Gemeint ist damit das von Johannes Althusius begründete und später in der Katholischen
Soziallehre weiterentwickelte Subsidiaritätsprinzip, das sich auch in der Kompetenzverteilung
eines Bundesstaats niederschlagen sollte. Allerdings entsprechen die meisten Kompetenzver-
teilungen von Bundesstaaten im internationalen Vergleich diesem Ansatz nicht oder nur teil-
weise (Gamper 2021).
3 Gamper (2021).
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49Föderalismus
bezeichnet werden. Von echten Bundesstaaten unterscheiden sie sich vor allem dadurch,
dass die Gliedeinheiten über keine Verfassungsautonomie verfügen (siehe Abschnitt 2.1).
Nicht zuletzt, weil es sich beim Terminus Föderalismus um einen abstrakt-theoreti-
schen Begriff handelt, ist die Wahrnehmung desselben in der österreichischen Bevölke-
rung bislang allerdings diffus. Einer aktuellen Umfrage des Instituts für Föderalismus
zufolge4 vermögen nur etwa die Hälfte der Befragten den Begriff richtig einzuordnen
beziehungsweise zu erklären (siehe dazu auch Box Forschungsergebnisse).
-
-
wie den Bürger*innen verschiedenste demokratische Partizipationsmöglichkeiten ga-
rantiert. Die Einrichtung eines Bundesstaats als besondere Form der Dezentralisierung
eines Staates ist seine bekannteste Ausprägung.
2. Gegenwärtige Situation
In diesem Kapitel werden die Charakteristika eines Bundesstaats herausgearbeitet und
zudem beleuchtet, in welchen formellen wie informellen Formen der kooperative Föde-
ralismus in der Praxis in Österreich in Erscheinung tritt.
2.1 Charakteristika eines Bundesstaates
In der Bundesstaatstheorie und der vergleichenden Föderalismusforschung (Pernthaler
2004, 294–299) wurden folgende Wesensmerkmale (man spricht von einem föderalis-
tischen Standard) erarbeitet, an denen nach wohl herrschender Lehre auch die öster-
reichische Staatsorganisation zu prüfen ist:
− die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern in Gesetzgebung
und Vollziehung;
− die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung;
− eine Verfassungsautonomie der Gliedstaaten;
− eine (relativ) eigenständige Finanzhoheit;
− verschiedene Formen der Kooperation und Koordination (kooperativer Föderalis-
mus).
4 Projekt Föderalismus Monitor 2021 (im Erscheinen); Institut für Föderalismus (2020).
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50
In Österreich sind die einen Bundesstaat kennzeichnenden Wesensmerkmale zwar
allesamt vorhanden, aber – wie gleich zu zeigen sein wird – zum Teil in nur schwach
ausgeprägter Form.
Im Rahmen der Kompetenzverteilung verfügen die Länder über eigene Kompeten-
zen, die aber in quantitativer sowie qualitativer Hinsicht nicht an jene des Bundes he-
ranreichen. Es sind nicht nur die wichtigsten Gesetzgebungskompetenzen beim Bund
angesiedelt, vielmehr ist für eine allfällige Änderung der Kompetenzverteilung auch der
Bundes(verfassungs)gesetzgeber zuständig (sog. Kompetenz-Kompetenz). Die Bedeu-
tung der Generalklausel des Artikels 15 B-VG, die die verfassungsrechtliche Grundlage
für die meisten Kompetenzen der Länder darstellt, darf in diesem Zusammenhang zwar
nicht unterschätzt werden, verliert mit jedem enumerierten Kompetenztatbestand des
Bundes allerdings an Wirkkraft.
Die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes erfolgt indes indirekt
über den Bundesrat, der als Länderkammer deren Interessen in Bundesgesetzgebungs-
verfahren vertreten sollte (siehe dazu Praprotnik in diesem Band). Seine ihm eigentlich
zugedachte Rolle wird in der Praxis regelmäßig durch parteipolitische Interessen (Klub-
zwang) überlagert. Das Abstimmungsverhalten der Mandatare orientiert sich regelmäßig
an jenem ihrer Parteikolleg*innen im Nationalrat (Schäffer 2004, 49; Hummer 1997,
374 f.; Weiss 1997, 522 f.; Holzinger 2006, 279). Dazu kommt, dass die zweite Kammer
in der Regel nur über ein suspensives Vetorecht verfügt, über das sich der Nationalrat
mittels Beharrungsbeschluss hinwegsetzen kann (Art 42 Abs 4 B-VG). Lediglich bei
Verfassungsänderungen, die zulasten der Länder gingen (Art 44 Abs 2 B-VG; Bußjä-
ger 2001, 7–12) sowie bei Staatsverträgen, die den selbstständigen Wirkungsbereich der
Länder regeln, ist die Zustimmung des Bundesrats unabdingbar. Dennoch ist dieser ver-
fahrensrechtlichen Hürde aus Sicht der Länder eine nicht zu unterschätzende föderale
Bedeutung zuzumessen, zumal sie eine Bremse für den Bundesverfassungsgesetzgeber
darstellt und in der Vergangenheit die Länder vor oftmals schwereren Eingriffen in ihre
Kompetenzen bewahren konnte (Bußjäger 2020b, 125), auch wenn sich das empirisch
de facto nicht nachweisen lässt.
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51Föderalismus
Tab. 1 Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenzen von Bund und Ländern
Haupt-
typen
Gesetz-
gebung
Voll-
ziehung
Kompetenzfelder
Art 10
B-VG
BUND BUND Bundesverfassung; Wahlen zum Nationalrat und zum
Europäischen Parlament; Verfassungsgerichtsbarkeit;
Bundesfinanzen; Geld-, Kredit-, Börse- und Bank-
wesen; Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie;
Kartellrecht; Berg- und Forstwesen; Arbeitsrecht; Wasser-
recht; Bundespolizei; militärische Angelegenheiten; Auf-
rechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit;
Universitäts- und Hochschulwesen uvm.
Art 11
B-VG
BUND LAND
Staatsbürgerschaft; Volkswohnungswesen mit Ausnahme
der Förderung des Wohnbaus und der Wohnhaussanie-
rung; Straßenpolizei; Assanierung; Umweltverträglich-
keitsprüfung für Vorhaben, bei denen mit erheblichen
Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist; Tierschutz,
jedoch mit Ausnahme der Ausübung der Jagd oder
Fischerei; berufliche Vertretungen (mit Ausnahmen)
uvm.
Art 12
B-VG
BUND/
LAND1
LAND Armenwesen; Heil- und Pflegeanstalten; Elektrizitätswe-
sen, soweit es nicht unter Art. 10 fällt
Art 15
B-VG
LAND LAND Landesverfassung; Gemeinderecht; Naturschutz; Raum-
ordnung; Baurecht; Grundverkehr- und Bodenrecht;
Wohnbauförderung; Veranstaltungswesen; Jagd- und
Fischereirecht; Tourismus und Sport; Jugendschutz;
Landwirtschaft; Straßenrecht, soweit nicht Kompetenzen
des Bundes für Bundesstraßen oder Straßenpolizei zur An-
wendung gelangt; Pflegeheime uvm.
1 Im Haupttyp Art 12 B-VG übt der Bund die Grundsatzgesetzgebung und das Land die Ausführungs-
gesetzgebung aus.
Eine konzisiere Darstellung, die im Übrigen auch die Ergänzungen zu den Haupttypen der Kompetenz-
verteilung enthält (z.B. Art 14 B-VG-Schulwesen), ist dem Beitrag von Bußjäger (2016) zu entnehmen.
Quelle: eigene Darstellung; Art 10-15 B-VG (in der Fassung BGBl 235/2021).
Die Befugnis, eigene Landesverfassungen zu etablieren, gilt immer noch als das zentrale
Wesensmerkmal, das Bundesstaaten von dezentralisierten Regionalstaaten wie Spanien
und Italien unterscheidet. Im Regionalstaat gilt das Prinzip der einheitlichen, unteil-
baren Souveränität, wenngleich das Autonomieprinzip hier ein wesentliches Gegenge-
wicht darstellt. Regionale Zuständigkeiten können einseitig begründet beziehungsweise
verändert werden. Die Grenzen zwischen Bundes- und Regionalstaat verschwimmen
aber auch bei diesem Kriterium, wenn man bedenkt, dass etwa Südtirol (welches als
eine der Autonomieregionen über ein eigenes Statut verfügt) im Vergleich zu den öster-
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reichischen Bundesländern über beachtliche Kompetenzen verfügt. Jedenfalls ist es den
Ländern möglich, im Wege der Landesverfassungen (Detail-)Regelungen zu schaffen,
solange dadurch der Bundesverfassung nicht widersprochen wird oder Raum für eine
Regelung besteht. Auf der Grundlage dieser Verfassungsautonomie treffen die Landes-
verfassungen beispielsweise unterschiedliche Regelungen über die Bildung der Landes-
regierungen entweder nach dem Mehrheitsprinzip oder nach dem Proporzsystem, be-
stehen Unterschiede in der Zahl der Abgeordneten der Landtage oder der Dauer der
Legislaturperioden und werden Landesrechnungshöfe eingerichtet. Ebenso wurde etwa
mit der Verbürgung sozialer Grundrechte in einigen Landesverfassungen der vorhan-
dene Gestaltungsspielraum genützt (Art 13 TLO und Art 12 OÖ L-VG; Holoubek
2004, 507).
Für eine relativ eigenständige Finanzhoheit ist eine vollumfängliche Steuerhoheit
gerade nicht erforderlich (Eller 2020, 32; VfSlg 1462/1932). Dennoch ist die Frage,
welche territoriale Ebene über die Kompetenz verfügt, Abgaben zu erheben, wesent-
lich, zumal sich von einem Bundesstaat nur schwerlich sprechen lassen kann, wenn
ausschließlich der Bund die Einnahmen und Ausgaben der föderalen Einheiten (Län-
der und Gemeinden) bestimmt. Die österreichische Finanzordnung weist sehr starke
zentralistische Züge auf. Belege dafür sind etwa die – im Gegensatz zu den Schweizer
Kantonen – fehlende Steuerautonomie der Bundesländer sowie ihr materiell wie for-
mell sehr begrenztes Steuerfindungsrecht (Ruppe 2016, Rz 10–14). In erster Linie ist
der einfache Bundesgesetzgeber für die Ausgestaltung der fiskalischen Kompetenzver-
teilung, die nicht im B-VG, sondern im eigens dafür erlassenen Finanz-Verfassungsge-
setz (F-VG) festgelegt wird, verantwortlich. Allerdings wird die Dominanz des Bundes
durch die Verhandlungskultur des kooperativen Föderalismus im Rahmen der soge-
nannten Finanzausgleichsverhandlungen und die Judikatur des Verfassungsgerichtsho-
fes, die dem auf kooperativem Wege zustande gekommenen Finanzausgleichspaktum
(dazu näher unten) eine besondere Bedeutung beimisst, etwas gebrochen.
2.2 Kooperativer Föderalismus in Österreich
Den österreichischen Föderalismus prägen neben den erwähnten Wesensmerkmalen
gleichermaßen Koordinations- und Kooperationsmechanismen, die in vielfältiger Wei-
se – formell wie informell – in Erscheinung treten. Zu den formellen Koordinations-
mechanismen zählt beispielsweise die wechselseitige Mitwirkung an der Gesetzgebung
der jeweils anderen Gebietskörperschaft. Während – wie oben schon erwähnt – der
Bundesrat den Ländern eine indirekte Mitwirkung an Bundesgesetzgebungsverfahren
ermöglicht, ist in bestimmten Fällen auch ein Mitspracherecht des Bundes im Verfah-
ren zur Erlassung von Landesgesetzen festgelegt. Ein Beispiel dafür bietet § 9 F-VG,
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53Föderalismus
der normiert, dass Gesetzesbeschlüsse der Landtage, die Landes(gemeinde)abgaben
zum Gegenstand haben, unmittelbar nach der Beschlussfassung des Landtages vor ihrer
Kundmachung vom/von der Landeshauptmann/-hauptfrau dem Bundeskanzleramt
bekanntzugeben sind. Wegen Gefährdung von Bundesinteressen kann die Bundesregie-
rung gegen einen solchen Beschluss binnen acht Wochen nach Einlangen im Bundes-
kanzleramt einen mit Gründen versehenen Einspruch erheben. Ein weiteres Exempel
statuiert die Bestimmung des Artikels 97 Absatz 2 B-VG, wonach Landesgesetze, die
eine Mitwirkung von Bundesorganen bei der Vollziehung anordnen, der Zustimmung
der Bundesregierung bedürfen.
Zu den formalen Kooperationsinstrumenten zählen auch die zwischen Bund und
allen oder einzelnen Ländern abgeschlossenen staatsrechtlichen Vereinbarungen auf der
Grundlage von Artikel 15a B-VG, die in jüngerer Vergangenheit ein zunehmend häu-
figer genutztes Instrument darstellen. So wurden allein seit 2010 45 Vereinbarungen
abgeschlossen, woraus sich eine deutliche Zunahme vor allem in den letzten Jahren
ergibt (Institut für Föderalismus 2021, 112). Durch diese Verträge wird eine für Bund
und Länder rechtsverbindliche, aber freiwillige Koordination gleichberechtigter Partner
ermöglicht. Gegenstand einer solchen Vereinbarung können sowohl Angelegenheiten
der Gesetzgebung und Vollziehung, aber auch solche der Privatwirtschaftsverwaltung
sein (VfSlg 14.945/1997). In den finanziellen Angelegenheiten zwischen dem Bund,
Ländern und Gemeinden gelten die Vereinbarungen über einen Österreichischen Sta-
bilitätspakt sowie über einen Konsultationsmechanismus zudem als wesentliche Aus-
prägungen des kooperativen Föderalismus. An diesen Vereinbarungen partizipieren
aufgrund ausdrücklicher bundesverfassungsrechtlicher Ermächtigungen auch der Ös-
terreichische Städtebund und der Österreichische Gemeindebund in Vertretung der
Gemeinden. An diesem im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Beispiel wird die
besondere Rolle der Gemeinden im Bundesstaat deutlich.
Die informalen Kooperationsmechanismen zwischen den Gebietskörperschaften
spielen in Österreich eine noch größere Rolle. Sie manifestieren sich beispielsweise in
der noch näher zu erörternden Landeshauptleutekonferenz als höchstrangige Länder-
konferenz auf exekutiver Ebene sowie der Landtagspräsident*innenkonferenz auf legis-
lativer Ebene.
Darüber hinaus stellen auch politische Vereinbarungen, die zwischen den Gebiets-
körperschaften abgeschlossen werden, eine informelle Zusammenarbeitsform dar. Diese
politischen Absichtserklärungen sind in der Regel rechtlich unverbindlich. Eine wich-
tige Ausnahme bildet jedoch das sogenannte Finanzausgleichspaktum. Darin werden
die wesentlichen Inhalte des Finanzausgleichs festgehalten, auf die sich Bund, Länder
und Gemeinden in Verhandlungen im Vorfeld der Erlassung eines Finanzausgleichs-
gesetzes (FAG) verständigt haben. Der VfGH misst dieser politischen Vereinbarung
große Bedeutung zu. Er hat in ständiger Judikatur festgehalten, dass ein im Zuge der
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Verhandlungen erzieltes Einvernehmen für die Rechtmäßigkeit eines danach ausgerich-
teten Finanzausgleichs spricht (Kofler 2020, Rz 6).
2.3 Außerverfassungsrechtliche Strukturen
Will man die Funktionsweise des österreichischen Föderalismus begreifen und seine
aktuelle Situation bewerten, ist eine auf die (verfassungs-)rechtlichen Grundlagen be-
schränkte Sichtweise nicht sinnvoll. Vielmehr sind hier auch verschiedene, zumeist
informelle und damit nicht verrechtlichte Gremien in den Blick zu nehmen, da die-
se maßgeblich die politische Realität des Föderalismus bestimmen (Fallend/Heinisch
2020, 124–129). Zudem wirken die politischen Parteien maßgeblich auf die Bund-
Länder-Beziehungen ein.
2.3.1 Die Landeshauptleutekonferenz (LHK)
Das wohl wichtigste informelle Gremium stellt die in der Regel zwei Mal im Jahr tagen-
de Landeshauptleutekonferenz (LHK) dar, die nach Meinung vieler Experten (Fallend/
Heinisch 2020, 126; Bußjäger 2003, 91 f.) die Interessen der Länder auf Bundesebe-
ne besser zu vertreten imstande ist als das dafür eigentlich institutionell vorgesehene
Vertretungsorgan, der Bundesrat, auf den oben schon näher eingegangen wurde. Die
Selbstkoordination der Länder dient dem Zweck, durch gemeinsam gefasste Beschlüsse
(es gilt das Einstimmigkeitsprinzip!) einheitlich vor dem Bund aufzutreten, wobei ge-
rade das Prinzip der Stimmeneinhelligkeit im Ergebnis zuweilen Kompromisslösungen
erfordert. In der LHK sind der*die jeweilige Landeshauptmann*Landeshauptfrau so-
wie die Landesamtsdirektor*innen vertreten. Auf Beamtenebene nehmen an diesen in-
formellen Konferenzen auch der*die Leiter*in der Verbindungsstelle der Bundesländer
sowie der*die Leiter*in des Bundeskanzleramt-Verfassungsdienstes, sohin auch ein*e
Vertreter*in des Bundes, teil (Bußjäger 2003, 88). Der Vorsitz in der LHK wechselt
halbjährlich und in alphabetischer Reihenfolge.
Unbestritten gilt die LHK als Korrektiv des nur unzureichend die Interessen der
Länder vertretenden Bundesrates, wobei ihre Bedeutung in der Praxis auch maßgeblich
von den politischen Rahmenbedingungen abhängt (Bußjäger 2003, 84 f.). Ist die ÖVP,
die für ihre föderale Ausrichtung bekannt ist, in der Bundesregierung vertreten, wird
Letztere eher geneigt sein, die in der LHK genannten Beschlüsse, die im Übrigen keine
rechtlichen Wirkungen entfalten, zu beachten als eine Regierung, in der die ÖVP nicht
vertreten ist. Zudem ist zu beachten, dass die LHK sich zumeist darauf beschränkt, aus
Sicht der Länder Unerwünschtes zu verhindern als Gewünschtes durchzusetzen (Karl-
hofer 2011, 320). Ihre Vetomacht ist daher ungleich größer als ihre Gestaltungskraft.
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55Föderalismus
Ihre Bedeutung in der politischen Realität darf daher weder unter- noch überschätzt
werden, es empfiehlt sich folglich eine differenzierte Betrachtungsweise.
Zu den weiteren bestimmenden Koordinationsgremien auf Landesebene zählen die
Konferenzen der Landtagspräsident*innen, der Landesfinanzreferent*innen und der
Landesamtsdirektor*innen, die regelmäßig zwei Mal jährlich – bei Bedarf können auch
außerordentliche Sitzungen einberufen werden – stattfinden. Die seit 1951 bestehende
Verbindungsstelle der Bundesländer zeichnet dabei für die Koordinierung, Vorbereitung
und Durchführung der Konferenzen sowie für die Übermittlung der Beschlüsse an die
entsprechenden Adressat*innen verantwortlich. Sowohl auf beamteter als auch politischer
Ebene werden in diesen Gremien gemeinsame Länderinteressen artikuliert, die mehrheit-
lich politische Forderungen an den Bund darstellen (z.B. Verlängerung der Finanzaus-
gleichsperiode aufgrund der COVID-19-Pandemie; Abgeltung Pflegeregress usw.).
2.3.2 Die Rolle der Parteien
Die Bund-Länder-Beziehungen werden darüber hinaus durch die politischen Parteien
eindrücklich geprägt. Im politischen Diskurs und vor wichtigen Entscheidungen (etwa
mögliche Kompetenzverluste der Länder betreffend) stehen daher mitunter nicht nur
Länder- sondern Parteiinteressen im Vordergrund, was sich beispielsweise am Stimm-
verhalten der Bundesratsmandatare in der Vergangenheit belegen lässt. Nicht von un-
gefähr werden die politischen Parteien in der Lehre als „intermediäre Gewalten“ be-
zeichnet, da wesentliche Entscheidungen zwar in den Parlamenten auf Landes- und
Bundesebene formal abgesegnet, die Weichen dafür letztlich aber schon viel früher ge-
stellt werden (Pürgy 2015, 23).
Da sich aufgrund des Überhangs wichtiger Kompetenzen des Bundes die zentral-
staatliche Ebene als Arena des politischen Diskurses herauskristallisiert hat, ist es für die
Länder von Bedeutung, ihre Standpunkte in den Bundesgremien ihrer Parteien entspre-
chend zu transportieren (Fallend/Heinisch 2020, 128 f.). Dieser Austausch, der partei-
intern und im Wesentlichen informell stattfindet, hat aber maßgeblichen Einfluss auf
die nach außen hin vertretenen Positionen einer Partei. Auch strategische Überlegungen
der Landes- oder Bundesparteien, beispielsweise vor Wahlen, dürfen nicht außer Acht
gelassen werden. So wurde vor der Landtagswahl in Oberösterreich im September 2021
von der Einführung strengerer Corona-Maßnahmen sowohl auf Bundes- wie auch auf
Landesebene wohl auch deshalb Abstand genommen, um das Wahlergebnis nicht durch
unpopuläre Maßnahmen zu beeinflussen. Auf diese Weise bleiben Bundes- und Landes-
politik in Österreich stets eng verzahnt.
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56
2.4 Schrittweise Schwächung des österreichischen Föderalismus
Eine vor allem in der Vergangenheit (1980er- und 1990er-Jahre) diskutierte Proble-
matik bildeten die zumeist von den damaligen Bundesregierungen vorangetriebenen
zahlreichen Änderungen der Bundesverfassung zu Lasten der Länder, die – jede für
sich allein genommen – zu wenig einschneidend waren, um eine Gesamtänderung der
Bundesverfassung zu begründen, aber dennoch mit einem kontinuierlichen Abbau der
ohnehin schon sehr eingeschränkten Kompetenzen der Länder verbunden waren und
sind. Die scheibchenweise Reduzierung der Länderkompetenzen führt daher zwangs-
läufig zur Frage, ob damit nicht eine schleichende Gesamtänderung der Bundesverfas-
sung verbunden ist, wenn man alle einzelnen Kompetenzverluste in einer Gesamtschau
betrachtet. Freilich ist eine Grenzziehung äußerst schwierig (Janko 2004, 235–239).
Immerhin hat der VfGH diese Denkfigur im Zuge der Erörterung immunisierender
beziehungsweise erkenntnissanierender Verfassungsbestimmungen übernommen und
ausgesprochen, dass nicht nur schwerwiegende und umfassende Eingriffe in die Grund-
prinzipien gesamtänderungsrelevant sind, sondern auch bloß partiell wirkende Maß-
nahmen – gehäuft vorgenommen – im Effekt zu einer Gesamtänderung führen können
(u.a. VfSlg 11.829/1988; 11.927/1988; 15.938/2000).
Die Position der Länder wird darüber hinaus durch sogenannte „Kompetenzde-
ckungsklauseln“ geschwächt. Es handelt sich dabei um Verfassungsbestimmungen in
einfachen Bundesgesetzen, mit denen sich der Bund Gesetzgebungs- und Vollziehungs-
kompetenz auf einem Gebiet sichert, für das nach der Konzeption des B-VG eigentlich
die Länder zuständig wären. Diese „Kompetenzverteilung hinter der Kompetenzver-
teilung“ (Wiederin 2011, 221–229; Neudorfer 2011, 111–150) höhlt den Zuständig-
keitsbereich der Länder weiter aus. Kompetenzdeckungsklauseln sorgen aber nicht nur
für ein allmähliches Absaugen von Länderzuständigkeiten, sondern begünstigen zudem
die Zersplitterung des Verfassungsrechts an sich. Die Zuständigkeitsregelungen befin-
den sich folglich nicht ausschließlich in der Verfassungsurkunde (B-VG), sondern auch
außerhalb davon in einfachen Bundesgesetzen.
Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Vorgangsweise, Anpassungen der
bundesstaatlichen Kompetenzverteilung und andere föderalistisch relevante Korrektu-
ren der Bundesverfassung in Paketen abzuwickeln, für die Länder auch die Chance mit
sich bringt, eigene Anliegen mit Vorhaben des Bundes zu verknüpfen und im Verhand-
lungswege für beide Seiten akzeptable Lösungen zu erzielen. Die B-VG-Novelle aus
dem Jahr 2019 (BGBl I 14/2019), mit der eine Kompetenzentflechtung zwischen Bund
und Ländern realisiert wurde, dient dafür als namhaftes Beispiel (Bußjäger/Schramek
2019, 11–33). Eine umfassende Föderalismusreform birgt für die Länder im Übrigen
die Gefahr, unter dem Druck der Öffentlichkeit schwerwiegende Eingriffe in ihre Ge-
staltungsfähigkeit hinnehmen zu müssen, bis hin zu einer Gesamtänderung, da sich
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auch die scheinbar hohe Hürde einer Volksabstimmung unter den entsprechenden Um-
ständen als nur wenig taugliches Instrument zur Absicherung des Föderalismus erwei-
sen kann.
2.5 Fazit
Der gelebte Föderalismus in Österreich ist von verschiedenen rechtlichen wie politi-
schen Faktoren abhängig. Dabei spielen informelle Gremien, allen voran die LHK, eine
nicht zu unterschätzende Rolle. In den letzten Jahren hat sich, wenn man auf die rezen-
ten Reformen auf Landes- und Bundesebene blickt, zunehmend die Effizienzsteigerung
in der Verwaltungsorganisation als ema von föderaler Relevanz etabliert, das sich in
Dezentralisierungsbestrebungen (insbesondere auf Landesebene) und der Einrichtung
einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit widerspiegelt. Zudem hat sich die Er-
kenntnis durchgesetzt, dass man sich die mit der Digitalisierung verbundenen Vorteile
auch in der öffentlichen Verwaltung zunutze machen sollte. Neben der Standortun-
gebundenheit erwarten sich die Entscheidungsträger*innen vor allem Effizienzgewinne
durch den vermehrten Einsatz automationsunterstützter Prozesse (Wirthumer 2021,
85). Auch voll automatisierte Entscheidungen unter Einsatz von KI-Systemen sind im
Vordringen begriffen und keinesfalls mehr ein Tabuthema.
Davon abgesehen werden regelmäßig punktuelle Forderungen (zumeist) nach einer
Zentralisierung von Länderkompetenzen erhoben, derzeit aber keine große Staats- und
Verwaltungsreform angestrebt, wie das vor einigen Jahren noch der Fall war.
Das Institut für Föderalismus analysiert die Einstellungen der österreichischen Bevöl-
kerung zum Föderalismus im Rahmen des Projekts Föderalismus Monitor. Es geht um
die Forschungsfrage, wie die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern in den Au-
gen der Bürger*innen verteilt sein sollen. Um diese Frage zu beantworten, wurde im
August 2021 eine repräsentative Telefonumfrage unter 1.000 Personen in Österreich
2020 und September 2019 vor.
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Abb. 1 Problemlösung: Bund vs. Länder
Angaben in Prozent; max. Schwankungsbreite +/- 3,1 Prozent. Fragestellung: Welcher der folgen-
den Aussagen stimmen Sie eher zu? Probleme in den Bundesländern können am besten durch
den Bund geregelt werden, weil der Bund den besten Überblick über die Bundesländer hat.
Bundesland seine Eigenheiten hat.
Quelle: Institut für Föderalismus (2021).
Abb. 2 Zuständigkeiten: Bund vs. Länder
Angaben in Prozent; max. Schwankungsbreite +/- 3,1 Prozent. Fragestellung: Welcher der folgen-
den Aussagen stimmen Sie eher zu? Probleme in den Bundesländern können am besten durch
den Bund geregelt werden, weil der Bund den besten Überblick über die Bundesländer hat.
Bundesland seine Eigenheiten hat.
Quelle: Institut für Föderalismus (2021).
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59Föderalismus
Die Problemlösungskompetenz durch die Länder erhält eine nahezu doppelt so hohe
Zustimmung wie jene durch den Bund (61 % vs. 30 %; 9 % keine Antwort; siehe Abb. 1).
Diese Werte bleiben auch im Zeitverlauf relativ stabil (September 2019: 63 % vs. 27 %;
Insgesamt werden mehr Zuständigkeiten für die Länder befürwortet (52 % vs. 33 %; 15 %
keine Antwort; siehe Abb. 2). Auch diese Werte bleiben in den Vergleichszeiträumen
37%; 14% keine Antwort). Zudem ist festzuhalten, dass das Föderalismusbewusstsein in
Österreich nicht nur im Vergleich zur Schweiz ein anderes ist, sondern auch innerhalb
der nationalen Grenzen stark divergiert. Während die Bevölkerung in den westlichen
Bundesländern mehrheitlich zusätzliche Kompetenzen der Länder unterstützt, befür-
worten die östlichen Bundesländer – relativ betrachtet – mehr Bundeszuständigkeiten.
Außerdem geben die Daten Auskunft darüber, in welchen Bereichen die Bevölkerung
eher dem Bund oder eher den Bundesländern erfolgreiche Arbeit zutraut.
In folgenden Bereichen wird den Ländern eher eine erfolgreiche Arbeit zugetraut:
− Wohnen und Wohnbau (65 % vs. 26 %; 9 % keine Antwort)
− Kinderbetreuung (61 % vs. 30 %; 9 % keine Antwort)
−
− Naturschutz (51 % vs. 42 %; 7 % keine Antwort)
In folgenden Bereichen wird dem Bund eher eine erfolgreiche Arbeit zugetraut:
− Gesundheit und Spitäler (43 % vs. 50 %; 7 % keine Antwort)
− Straßenbau (37 % vs. 55 %; 8 % keine Antwort)
− Bildung und Ausbildung (33 % vs. 57 %; 10 % keine Antwort)
− Soziale Absicherung (21 % vs. 69 %; 10 % keine Antwort)
− Steuern (20 % vs. 68 %; 12 % keine Antwort)
Relativ neutral sind die Ergebnisse in folgenden Bereichen zu werten:
−
− Katastrophenschutz (48 % vs. 46 %; 6 % keine Antwort)
Die Ergebnisse blieben in den Vergleichszeiträumen auch hier relativ stabil.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
3.1 Allgemeines
Das Ende der Monarchie wurde im Oktober/November 1918 besiegelt, als die meis-
ten deutschsprachigen Kronländer Cisleithaniens, also des österreichischen Teils der
Habsburgermonarchie, ihren Beitritt zum Deutsch-Österreichischen Staat erklärten
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(Bußjäger 2018, 25). Am 12. November 1918 proklamierte die Provisorische National-
versammlung die Republik Österreich. Die Konstituierung Österreichs als Bundesstaat
erfolgte mit Inkrafttreten der Bundesverfassung am 1. Oktober 1920 und war ebenso
wie die Ausrufung der 2. Republik im April 1945 von hoher föderalistischer Relevanz.
Mit der Postulation des Bundesstaats in Artikel 2 B-VG ist aber noch nichts über sei-
ne konkrete Ausgestaltung gesagt. Regelmäßig wird in der wissenschaftlichen Literatur
darauf hingewiesen, dass der österreichische Bundesstaat im Vergleich zu Deutschland
und der Schweiz durch einen „zentralistischen Grundzug“ gekennzeichnet (Adamovich
et al. 2020, 160) beziehungsweise die „schwache föderale Ausgestaltung unübersehbar“
sei (Berka 2018, 51). In der Tat ist dieser Befund berechtigt und wird auch in ver-
gleichenden politikwissenschaftlichen Studien regelmäßig erneuert (Fallend/Heinisch
2020, 124). Die rechtliche Ausformung des Föderalismus ist historisch begründet, ha-
ben wesentliche Inhalte des B-VG doch Kompromisscharakter, da bei der Kreation
der Bundesverfassung die Vorstellungen der föderalistische Zielsetzungen verfolgenden
Christlichsozialen mit jenen der nach Zentralismus strebenden Sozialdemokraten in
Einklang zu bringen waren (Schambeck 2014, 46–48). Eindrucksvoll manifestiert sich
dieses Spannungsverhältnis in der Kompetenzverteilung, die am 1. Oktober 1925 –
und damit erst fünf Jahre nach Inkrafttreten des B-VG – im Zuge einer B-VG-Novelle
(BGBl 268/1925) in Kraft trat, sowie in der Konzeption des Bundesrates, der nur eine
schwache Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung ermöglicht.
3.2 Vom großen Wurf zu kleinen Reformschritten
Eine umfassende Föderalismusdebatte, vergleichbar mit den zwischen 2003 und 2005
im Rahmen des Österreich-Konvents5 vorgenommenen Beratungen über Vorschläge
einer grundlegenden Staats- und Verwaltungsreform, deren Umsetzung immerhin in ei-
nigen wenigen Teilbereichen erfolgte (z.B. Verabschiedung eines Demokratie-Pakets im
Jahr 2007: Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, Einführung der Briefwahl, Verlänge-
rung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre; Neuorganisation der Verwaltungsge-
richtsbarkeit), findet derzeit nicht statt. Das verdeutlicht auch ein Blick in das aktuelle
Regierungsprogramm 2020–2024, das aus föderalistischer Sicht wenig bis keine spek-
takulären Vorhaben bereithält, obwohl gerade der Klimaschutz wichtige Bezugspunkte
zum Föderalismus aufwirft. Auch die Kritik an der Leistungsfähigkeit des Föderalismus
in der Pandemie, ob berechtigt oder nicht, hat bisher keine solche Diskussion in Gang
gesetzt.
5 Zusammensetzung, Arbeitsinhalte und Ergebnisse, http://www.konvent.gv.at/K/Willkom-
men_Portal.shtml (16.02.2022).
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61Föderalismus
Eine umfassende Föderalismusreform ist schon aufgrund massiver divergenter An-
schauungen über das Ziel einer solchen Reform auch in naher Zukunft nicht zu er-
warten. Dafür spricht schon der pragmatische Grund, dass kleinere Reformen allein
deshalb wahrscheinlicher sind, weil sich hierfür die politischen Mehrheiten leichter
finden lassen. Als Schranke gegen eine Föderalismusreform zu Lasten der Länder stellt
sich im Übrigen das bundesstaatliche Bauprinzip der Bundesverfassung dar, würde eine
derartige Verfassungsänderung doch gemäß Artikel 44 Absatz 3 B-VG neben den er-
forderlichen erhöhten Quoren für Verfassungsänderungen eine obligatorische Volks-
abstimmung nach sich ziehen. Die häufig postulierte Forderung der Abschaffung des
Bundesrates, die den Ländern aktuell eine indirekte Teilhabe an der Bundesgesetzge-
bung ermöglicht, wäre ohne Schaffung einer gleichwertigen Alternative zweifelsohne
ein solcher Anwendungsfall.
In den letzten Jahren sind dennoch vereinzelt größere und kleinere Reformen ver-
abschiedet worden. Ein bedeutsamer Reformschritt wurde im Zuge der B-VG-Novelle,
BGBl I 14/2019, gesetzt, der eine Kompetenzentflechtung im Bereich des Artikels 12
B-VG und den Entfall wechselseitiger Zustimmungsrechte des Bundes und der Länder
zum Inhalt hatte. Aus Sicht der Länder fielen mit den Tatbeständen „Bodenreform, ins-
besondere agrarische Operationen und Wiederbesiedelung“ (bisher Art 12 Abs 1 Z 3
B-VG) und „Schutz der Pflanzen gegen Krankheiten und Schädlinge“ (bisher Art 12
Abs 1 Z 4 B-VG) auch qualitativ bedeutende Kompetenzen in ihren alleinigen Zustän-
digkeitsbereich.
Mit der Einführung der Landesverwaltungsgerichte im Jahr 2014 ist dagegen die
umfassendste und aus föderalistischer Perspektive wichtigste Reform der jüngeren Ver-
gangenheit realisiert und die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit einem grund-
legenden Systemwandel unterzogen worden (Schramek 2017, 1–37). Nunmehr sind
insgesamt elf Verwaltungsgerichte (neun Landesverwaltungsgerichte und zwei Verwal-
tungsgerichte des Bundes = 9+2-Modell) für die Überprüfung verwaltungsbehördlicher
Entscheidungen zuständig, während ein verwaltungsinterner Instanzenzug nur mehr in
vereinzelten Fällen besteht. Die Installierung von Verwaltungsgerichten in den Ländern
war im Übrigen auch eines jener emen, welches beim Österreich-Konvent Gegen-
stand der Debatten war. Nunmehr partizipieren die Länder auch an der Gerichtsbar-
keit, obwohl eine gliedstaatliche Gerichtsbarkeit bundesstaatstheoretisch kein Wesens-
element eines Bundesstaates darstellt (Schramek 2017, 84–87). Will man rückblickend
Bilanz ziehen, so kann festgehalten werden, dass sich die Verwaltungsgerichte als neue
Rechtsschutzinstanzen gut etabliert haben und diese ihre Aufgaben auch verantwor-
tungsbewusst wahrnehmen, was sich nicht zuletzt in relativ kurzen Verfahrensdauern
niederschlägt (Segalla/Grubner 2015, 296 f.).
Schwer abzuschätzen ist indes, in welchen Politikfeldern zeitnah weitere föderalis-
tisch relevante Reformen zur Umsetzung gelangen könnten. Vor dem Hintergrund des
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die Medien laufend beherrschenden emas Klimaschutz und Energiewende wurde
vereinzelt schon eine Zentralisierung beim Bund in diesem Bereich gefordert, beispiels-
weise durch Einführung eines Kompetenztatbestandes Energiewesen in Artikel 10 Ab-
satz 1 B-VG (Urbantschitsch/Mader 2019, 110 f.). Auch die Zuständigkeiten für die
Krankenanstalten, derzeit in der Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes sowie
der Ausführungsgesetzgebungskompetenz der Länder (Art 12 Abs 1 Z 1 B-VG) sind
immer wieder, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung,
Gegenstand von Diskussionen.
Auf Landesebene ist die Schaffung leistbaren Wohnraumes ein aktuelles ema des
politischen Diskurses, vor allem in den westlichen Bundesländern. Die Problemlagen
sind in diesem Bereich äußerst komplex und können mit den Ländern gegenwärtig zur
Verfügung stehenden hoheitlichen Instrumentarien nur unzureichend gelöst werden. Vor
diesem Hintergrund wurde und wird die Übertragung von den bislang nicht ausgeschöpf-
ten Bundeskompetenzen Volkswohnungswesen und Assanierung (Art 11 Abs 1 Z 3 und
5 B-VG) in die Landeskompetenz gefordert. Dabei argumentiert man auf Länderebene,
dass zum einen die Beibehaltung dieser Kompetenzen als Bundeskompetenzen offen-
bar funktionslos sei, eine Übertragung in den Zuständigkeitsbereich der Länder dagegen
eine zielgerichtete und von den jeweiligen Bedürfnissen auf Landesebene abhängige und
daher notwendigerweise differenzierte Steuerung ermöglichen würde. Durch eine Über-
tragung dieser Kompetenzen würden den Ländern (weitere) hoheitliche Instrumente zur
Beschaffung von Bauland zur Verfügung stehen (z.B. Vorsorge für die Bereitstellung von
Klein- und Mittelwohnungen durch Enteignung unter bestimmten Voraussetzungen).
Von beachtlicher föderalistischer Relevanz ist auch das ema der Informations-
freiheit. Die Bestrebungen, ein umfassendes Informationsfreiheitsgesetz zu erlassen,
erstrecken sich auch auf Informationen im Verfügungsbereich von Ländern und Ge-
meinden. Neuregelungen auf diesem Gebiet werden daher auch zu entsprechenden in-
tensivem Zusammenwirken von Bundes- und Landesorganen führen (Bußjäger/Eller
2021, 320–322).
3.3 Dezentralisierungstrends in der Verwaltung
Neben Fragen der bundesverfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung sind auch As-
pekte der Verwaltungsorganisation emenstellungen des föderalen Diskurses. Wäh-
rend dem Verlangen nach einer Ansiedelung beziehungsweise Verlagerung von Bun-
desbehörden in die Länder bislang aber nur unzureichend Rechnung getragen wurde
– beispielweise ist immer noch unklar, ob das Umweltbundesamt wie geplant von Wien
nach Klosterneuburg übersiedeln wird –, sind in den Ländern selbst zunehmend De-
zentralisierungstrends auszumachen. Als Paradebeispiel dient Salzburg, das bereits Ende
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63Föderalismus
2019 eine Dezentralisierungsoffensive startete, mit dem Ziel, qualifizierte Arbeitsplätze
in den Bezirken Salzburgs zu schaffen und vormals infrastrukturschwache Regionen zu
beleben. Konkret sollen künftig etwa in Tamsweg das Landesabgabenamt, in Zell am
See die Landesforstdirektion oder in Hallein die Referate Gemeindeaufsicht und Ge-
meindepersonal angesiedelt werden.
Bei den Bezirkshauptmannschaften ist ein Trend zur Einrichtung regionaler Kompe-
tenz-Zentren zu erkennen, der durch eine Änderung des B-VG im Jänner 2019 – Ar-
tikel 15 Absatz 10 B-VG ermöglicht nunmehr eine sprengelübergreifende Kooperation
– maßgeblich begünstigt wurde (Heissenberger 2020, 23–29). Im Wege von Verwal-
tungskooperationen soll nicht mehr jede Bezirkshauptmannschaft dieselben Aufgaben
erledigen, sondern können von einer Bezirkshauptmannschaft schwergewichtig Aufgaben
für eine andere Bezirkshauptmannschaft wahrgenommen werden. Das bietet sich etwa
bei (vorwiegend elektronisch geführten) Massenverfahren, wie der administrativen Be-
handlung von Verkehrsstrafsachen, an. In Kärnten bearbeitet beispielweise die Bezirks-
hauptmannschaft Hermagor alle in- und ausländischen Verkehrsstrafen und bereitet diese
entscheidungsreif vor. Die Ausfertigung einer solcherart erzeugten Entscheidung erfolgt
durch die jeweils örtlich zuständige Bezirkshauptmannschaft, sodass die gesetzliche Zu-
ständigkeitsordnung gewahrt bleibt (Bußjäger 2020a, 43–48). Die fortschreitende Digita-
lisierung, der tendenziell eine zentralisierende Wirkung innewohnt, wird in Zukunft aber
auch weitere Auswirkungen auf die Verwaltungsorganisation zeitigen, zumal die Standort-
relevanz zunehmend an Bedeutung verliert. Deutlich vor Augen geführt hat dies etwa die
Organisationsreform in der Finanzverwaltung, die eine Zusammenfassung aller Finanz-
ämter in das Finanzamt Österreich mit Sitz in Linz zum Inhalt hatte (Bußjäger 2020a, 51).
Demgegenüber treten derzeit aktuell Diskussionen rund um die Bereinigung der Be-
hördenlandschaft des Bundes in den Ländern und die Übertragung der Aufgaben dieser
Organisationseinheiten in die Landesverwaltung (Stichworte: Eingliederung etwa der
Wildbach- und Lawinenverbauung oder des Sozialministeriumservice in die Landesver-
waltung), die in der Vergangenheit recht intensiv geführt wurden, in den Hintergrund.
Dazu trägt auch die Pandemiesituation bei, die dadurch geprägt ist, dass Bundes- und
Landesvollziehung mit der Bewältigung der von ihr hervorgerufenen Herausforderun-
gen beschäftigt ist.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Mit Methoden unterschiedlicher Fachrichtungen wird seit geraumer Zeit versucht, den
Grad der Dezentralisierung föderaler Staaten zu messen. Insgesamt gibt es dafür eine
Vielzahl an Herangehensweisen, Messparametern und Zielsetzungen, wobei sich der
RAI („Regional Authority Index“) von Hooghe et al. (2016) als bisher umfangreichstes
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Werk entpuppt, welches regionale Dezentralisation erfasst (81 Staaten – Beobachtungs-
zeitraum 1950–2010). Für die lokale Ebene ist der LAI („Local Autonomy Index“) der
wohl bekannteste Index zur Messung des Dezentralisierungsgrades der subregionalen
Ebene (für eine detaillierte und kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen
Indizes sowie eine Einordnung Österreichs siehe Bußjäger/Starchl (2020, 1–56)).
Die Messung des Dezentralisierungsgrades erfolgt, abhängig von der gewählten
Methode, nach verschiedenen Parametern. Diese lassen sich grob in vier verschiedene
Kategorien einteilen: fiskalische, administrative, legislative und politische. Im Aufbau
der Studienparameter ist immer wieder – besonders im RAI – die Aufteilung „self-ru-
le“ und „shared-rule“ zu finden. Es handelt sich dabei um ein Grundkonzept födera-
ler Ausgestaltung von Staaten. „Self-rule“ erfasst das Ausmaß von Kompetenzen der
subnationalen Ebenen (Autonomiewert), während „shared-rule“ die Beteiligung an ge-
meinsamen Institutionen auf nationaler Ebene sowie die Mitwirkung an der nationalen
Entscheidungsfindung erfasst.
Einige Studien, so zum Beispiel der RAI, konzentrieren sich im Wesentlichen nur auf
die Regionen beziehungsweise Gliedstaaten, andere wiederum, so zum Beispiel der LAI,
beschränken sich auf die Bewertung der lokalen Ebene (Gemeinden). Für die Einordnung
der Staaten wird methodisch primär auf öffentlich zugängliche Dokumente zugegriffen,
beispielsweise auf Rechtsquellen wie Verfassungen, Gesetze und Verordnungen. Darüber
hinaus werden auch öffentliche Daten zu Budgets sowie andere staatliche Informationen
bei der Bewertung berücksichtigt. Bei komplexen, vor allem juristischen Fragestellungen,
werden ergänzend auch Expertenmeinungen eingeholt, die in die Endergebnisse mitein-
fließen. Sowohl RAI als auch LAI drücken den Dezentralisierungsgrad eines Staates an-
hand eines Punktesystems aus: je höher der Wert, desto höher der Dezentralisierungsgrad.
Der RAI enthält je erfasster Region eine Punkteskala von 0 bis maximal erreich-
baren 30 Punkten. Die Gesamtergebnisse der Staaten können den Maximalwert von
30 Punkten – wie am Beispiel Deutschlands ersichtlich – durch Addition der regionalen
Ergebnisse überschreiten. Für „self-rule“ können maximal 18 Punkte erreicht werden,
für „shared-rule“ 12 Punkte. Nach Errechnung der einzelnen Werte pro Region werden
diese nach der Größe der Bevölkerung zunächst gewichtet und anschließend addiert,
die Summe ergibt den insgesamten RAI-Wert des jeweiligen Landes (Hooghe et al.
2016, 106 f.). Im LAI können die Staaten eine Maximalpunktezahl von 37 Punkten
erreichen (Ladner et al. 2015, 58; Ladner et al. 2016, 321–357).6
Festzuhalten ist, dass sich Österreichs RAI weitgehend konstant hält. Am Ergebnis
aus dem Jahr 2010 mit 23 Punkten hat sich auch bis in das Jahr 2018 nichts geändert.7
6 Codebook, http://local-autonomy.andreasladner.ch/wp-content/uploads/2022/05/LAI-2.0_
codebook.pdf (31.05.2022).
7 Schakel, Arjan (2022). Regional Authority Index (RAI), https://www.arjanschakel.nl/index.
php/regional-authority-index (16.06.2022).
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65Föderalismus
Damit liegt Österreich im Spitzenfeld der EU-Mitgliedsstaaten. Auffallend ist, dass sich
mit Belgien und Italien zwei europäische Bundes- beziehungsweise Regionalstaaten
im RAI deutlich verbessert haben und auch an Österreich vorbeigezogen sind (siehe
Abb. 3). Im Bereich der Finanzdezentralisierung schneidet Österreich dennoch nur be-
scheiden ab, was sich mit den Ausführungen zur föderalistischen Finanzordnung und
dessen zentralistischem Einschlag begründen lässt (Pitlik 2014, 53). Deutschland war
und ist auch aktuell das Land mit dem höchsten RAI.
Abb. 3 Regional Authority Index
Quelle: Schakel (2022).
Die konstant gebliebenen Ergebnisse sind insgesamt wenig überraschend, da in Ös-
terreich in den letzten Jahren auch keine signifikante Föderalismus- beziehungsweise
Staatsreform in Angriff genommen wurde. Bei genauerer Betrachtung wäre sogar eine
höhere Bewertung Österreichs im RAI gerechtfertigt gewesen, zumal mit der im Jahr
2014 eingeführten Landesverwaltungsgerichtsbarkeit die Länder nunmehr auch an der
Gerichtsbarkeit unmittelbar partizipieren. An diesem Beispiel zeigen sich augenschein-
lich auch die Unschärfen der Dezentralisierungsindizes.
Im LAI performt Österreich ebenso konstant gut und hält sich seit 2014 bei knapp
über 25 Punkten. Damit kann sich Österreich zu jenen Staaten zählen, welche hohe
Werte an lokaler Autonomie verzeichnen (Bußjäger/Starchl 2020, 30).
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5. Herausforderungen für die Zukunft
Der österreichische Föderalismus steht in der Zukunft vor weiteren Herausforderungen.
Der Abbau der pandemiebedingten Staatsschulden wird auch auf der Ebene der Län-
der wie der Gemeinden großer Anstrengungen bedürfen. Ob dies dazu führt, dass der
Bund in Form von Steuerautonomie Gestaltungskompetenz auf diese Ebenen verlagert,
ist fraglich, wenngleich der Stand der Wissenschaft zum Finanzföderalismus für eine
solche Maßnahme sprechen würde (Sutter 2010, 167; Schratzenstaller 2020, 99–110).
Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern verbleibt als eine perma-
nente Baustelle. Anstehende Reformdiskussionen werden sich mit den Kompetenzen
für die Spitäler und für leistbares Wohnen befassen müssen. Inwieweit die Erfahrungen
der Pandemie dazu führen, im Krisenmanagement Änderungen vorzunehmen, bleibt
abzuwarten.
Schließlich wird die Bundesverwaltung dahingehend zu untersuchen sein, welche
der Aufgaben, die derzeit von Bundesbehörden in den Ländern erledigt werden, in die
Landesverwaltungen eingegliedert werden können, mit dem Ziel, Synergien zu erzielen.
Auch werden Dienststellen, die derzeit in Wien angesiedelt sind, im Interesse einer aus-
gewogenen Entwicklung territorial in die Länder zu verlagern sein.
Eine besondere Herausforderung wird die Digitalisierung mit sich bringen. Sie führt
bereits derzeit zu einer Ausdünnung des Leistungsangebots des Staates durch Dienst-
stellen vor Ort. Eine föderalistische Antwort auf die Digitalisierung besteht in verstärk-
ter Verwaltungskooperation und Flexibilität in der Leistungserbringung vor Ort.
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licher Entscheidungen, Wien/Hamburg, S. 83–129.
Übungsfragen
Anhand welcher Kriterien lässt sich in der vergleichenden Föderalismusforschung
überprüfen, ob ein Staat bundesstaatlich organisiert ist?
Was ist der zentrale Unterschied zwischen einem Regional- und einem Bundesstaat?
Warum ist der Bundesrat in Österreich permanenter Kritik ausgesetzt?
Wie wird die Schwäche des Bundesrates in Österreich realpolitisch kompensiert?
Welche rechtlichen Folgen hätte eine ersatzlose Abschaffung des Bundesrates?
Warum führen sogenannte Kompetenzdeckungsklauseln zu einer Aushöhlung der
Landeskompetenzen?
Das ema der Schaffung leistbaren Wohnraums scheitert aus Sicht der Länder un-
ter anderem auch an der geltenden Kompetenzverteilung. Was ist mit dieser Aussage
gemeint?
Erklären Sie, warum die österreichische Finanzordnung starke zentralistische Züge
aufweist.
Welche Dezentralisierungstrends sind in der Landesverwaltung aktuell zu beobach-
ten? Erklären Sie diese anhand von zwei Beispielen.
Was versteht man unter RAI und LAI und was wird damit gemessen?
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Teil 2:
Akteur*innen
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Bevölkerung und Werte
Dimitri Prandner
Zusammenfassung
9Werte sind handlungsleitende Grundüberzeugungen von Individuen und werden als Be-
urteilungsgrundlage für das gesellschaftlich als gut und richtig verstandene Verhalten her-
gezogen. Entsprechend sind Werte ein zentrales Thema in der sozial- und politikwissen-
schaftlichen Forschung.
9 -
Werte nach Schwartz herangezogen. Insbesondere das von Schwartz entwickelte Port-
-
niert aktuell die empirische Werteforschung.
9Die Werthaltung der österreichischen Bevölkerung ist grundsätzlich von einer altruisti-
schen, gemeinschaftsorientierten und solidarischen Einstellung gekennzeichnet, gefolgt
von dem Wunsch, dass existierende gesellschaftliche Strukturen bewahrt werden. Der
Wert von Wandel und Veränderungen wird vergleichsweise skeptisch beurteilt, wobei
9Werte stehen in engem Zusammenhang mit der Bevölkerung und insbesondere der Bevöl-
kerungsstruktur (Sozialstruktur). Das Wechselspiel aus Werten und Sozialstruktur zeigt
sich insbesondere darin, dass Alter, Geschlecht und Bildungsstand oftmals zentrale Er-
klärungsgrößen für bestimmte Ansichten und Weltbilder sind.
9Zentrale Entwicklungen in der österreichischen Sozialstruktur sind das steigende Durch-
schnittsalter (2000: 39 Jahre; 2020: 43 Jahre) und eine kontinuierliche Bildungsexpansion
(2020 hatten mehr als 19 % der Bevölkerung einen Tertiärabschluss). Insbesondere bei
Frauen haben tertiäre Bildungsabschlüsse im Zeitraum von 2000 bis 2020 stark zugenom-
men.
9 -
nach Österreich.
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74 Dimitri Prandner
1. Einleitung
Die Debatte über gesellschaftliche Werte hat eine lange Tradition (Joas 1999), deren
Ursprünge in westlichen Gesellschaften zumindest bis in das sechste Jahrhundert vor
Christus und die philosophischen Schriften der römischen und griechischen Antike
rückverfolgt werden können (Verwiebe 2019, 3). Auch in den letzten beiden Jahrzehn-
ten kam es in vielen, thematisch unterschiedlich gelagerten Kontexten zu einem um-
fassenden Diskurs über Werte, Werthaltungen und Wertesysteme. Als Beispiele können
der „War on Terror“, der Arabische Frühling, der lange Sommer der Migration 2015,
der Ukrainekrieg 2022, aber auch die andauernde Klimakrise genannt werden (Bou-
man et al. 2020; Inglehart 2017; Verwiebe 2019). Diese gesellschaftlich bedeutsamen
Ereignisse und Entwicklungen führten auch in der österreichischen Gesellschaft dazu,
dass die Bedeutung – also der Wert – von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit disku-
tiert sowie die Relevanz von Solidarität, Toleranz, Gleichheit und Freiheit hervorgestri-
chen wird (Verwiebe 2019). Aber wie gestaltet sich die sozialwissenschaftliche Debatte
hinter diesen Begrifflichkeiten? Wie wird das Konzept der Werte unter wissenschaft-
lichen Kriterien gefasst? Welche Bedeutung kommt dabei der Bevölkerungsstruktur zu?
Der folgende einleitende Abschnitt gibt einen Überblick zu diesen Fragestellungen.
In den Sozialwissenschaften werden Werte als erworbene Grundüberzeugungen ver-
standen, die handlungsleitenden Charakter haben (Verwiebe 2019; Welzel 2009). Der
Individuums zu beschreiben, zum Beispiel Alter, Geschlecht und Bildungsstand (Gesis
2022). Die Sozialstruktur ist die Summe an und Verteilung von soziodemographischen
1.1 Werte, Werthaltungen und Wertesysteme
In den Sozialwissenschaften wird davon ausgegangen, dass Werte und in weiterer Folge
Werthaltungen als identitätsstiftende Vorstellungen, Ideale und Überzeugungen zu fas-
sen sind, die sich Individuen in Gesellschaften über sogenannte Sozialisationsprozesse
aneignen (Verwiebe et al. 2019, 286). Sozialisationsprozesse sind, vereinfacht ausge-
drückt, die Summe an Erfahrungen und Eindrücken, die im Verlauf des Lebens durch
Individuen gesammelt werden. Entsprechend breit können Werte gefasst werden. Auf
individueller Ebene stellt im Allgemeinen jede explizite wie auch implizite Form von
handlungsrelevanter Zielvorstellung einen Wert dar. Ein Beispiel für eine solche Ziel-
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75Bevölkerung und Werte
vorstellung – also ein Wert – ist die Ansicht, dass alle Menschen gleichwertig sind.
Eine Person, die diesen Wert vertritt, behandelt alle Menschen auf gleiche Art und
Weise, unabhängig von der jeweiligen Ethnizität, Religion oder sexuellen Orientierung.
Auf dieser Ebene können Werte also als „allgemeine Richtlinien in Bezug auf das, was
Menschen für sich selbst und ihre Gesellschaften als richtig und gut erachten“ defi-
niert werden (Haller/Müller-Kmet 2019, 51). Im gesellschaftlichen Kontext kommt
es zu einer Beurteilung und auch Positionierung hinsichtlich dieses Werturteils, das
von Individuen getroffen wird. Diese Positionierung wird in der Literatur grundsätz-
lich als Werthaltung bezeichnet (Welzel 2009, 112). Die individuellen Überzeugungen
– die Werte, die eine Person hat – werden auf Grundlage gesellschaftlicher Rahmen-
bedingungen verortet. Die individuellen Haltungen von Personen können dabei mehr
oder minder gut den gesellschaftlich erwarteten Werthaltungen bzw. dem Wertesystem
einer Gesellschaft entsprechen. Als Wertesysteme werden die Abhängigkeiten von und
Hierarchien zwischen einzelnen Werten gesehen (Inglehart/Welzel 2009, 37). Also ob
beispielsweise der Wert der Freiheit im Vergleich als wichtiger gesehen wird als der Wert
der Solidarität. Diese Systematisierung kann sowohl auf Ebene von einzelnen Personen
als auch ganzen Gesellschaften nachvollzogen werden.
Entsprechend werden Werte in den Sozialwissenschaften im Allgemeinen als er-
worbene und entwickelte Grundüberzeugungen gesehen, die Individuen und darauf
aufbauend gesamte Gesellschaften im Verlauf der Zeit entwickeln (Verwiebe 2019;
Welzel 2009). Sie stellen Orientierungspunkte dar, um individuelles Verhalten, soziale
Interaktionen und Positionen zu Um- und Mitwelt zu beurteilen (Haller/Müller-Kmet
2019, 51 f.). Somit sind Werte beispielsweise eine relevante Grundlage für Wahlent-
scheidungen, Parteimitgliedschaft, die Beteiligung an Demonstrationen oder aber auch
die Wahl des präferierten Nachrichtenmediums oder sogar der eigenen Partnerin oder
des Partners (Wurthmann 2021, 1001).
Dadurch dass sich individuelle Erfahrungen innerhalb von Gesellschaften nicht de-
cken müssen, weil eben bestimmte Erfahrungen konkreten Personen oder auch Per-
sonengruppen vorbehalten bleiben, sind in einer Gesellschaft unterschiedliche Werte
und Werthaltungen vorzufinden (Inglehart/Welzel 2009). Als Beispiele dafür können
Gleichberechtigung und Solidarität herangezogen werden. Personen die eine Schlech-
terbehandlung aufgrund von Ethnizität, Geschlechterzugehörigkeit oder Konfession er-
leben oder zumindest erkannt haben, setzen sich in der Regel eher dafür ein, dass Unge-
rechtigkeiten unterbunden werden, als Personen, die diese Erfahrungen nicht gemacht
oder erkannt haben (Hofmann 2019, 274; Mohiyeddini/Schmitt 1997, 350 f.). Es ist
festzuhalten, dass Werte nicht nur über Erfahrungen, sondern auch durch Einsicht oder
Erkenntnis erschlossen werden können.
Da es, wie bereits skizziert, eine Vielzahl an Werten gibt und Menschen nicht alle
diese Werte im selben Ausmaß vertreten können, kommt es in der Regel zu einer relati-
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76 Dimitri Prandner
onalen Beurteilung, wie Werte zueinander positioniert werden (Inglehart 1997; Welzel
2009). So können Individuen beispielsweise entscheiden, ob das Konzept von Solida-
rität für sie über dem Konzept von individueller Freiheit steht oder auch umgekehrt.
Und diese Werte können im Rahmen eines Wertesystems wiederum im Vergleich zu der
Relevanz der Rechtsstaatlichkeit positioniert werden.
1.2 Der Wertediskurs in den Sozialwissenschaften
Die Konzeption von Werten als etwas gesellschaftlich Wünschenswertes und Erstre-
benswertes ist spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts Bestandteil sozialwissenschaft-
licher Arbeiten (Kluckhohn 1951; Pöge/Seddig 2018). Sowohl die sozialpsychologi-
schen Abhandlungen von Milton Rokeach (1973) und Shalom H. Schwartz (1992), die
politikwissenschaftlichen Schriften von Roland Inglehart (1977) und die soziologischen
Arbeiten von Helmut Klages (1984) greifen diese, ursprünglich von Clyde Kluckhohn
1951 formulierte, Annahme auf. Auch wenn bei der konkreten empirischen Umsetzung
der Forschenden unterschiedliche Begrifflichkeiten zur Anwendung kommen (Verwie-
be 2019, 6).
Entsprechend ist die theoretische und empirische Auseinandersetzung mit der Viel-
falt an Werten in modernen Gesellschaften, Wertorientierungen und dem damit ver-
bundenen Wertewandel fester Bestandteil der aktuellen sozial- und geisteswissenschaft-
lichen Forschung (Feldman 2003; Hofstede 2001; Inglehart/Baker 2000; Schwartz et
al. 2014; Inglehart/Welzel; 2010). Trotz vorhandener Abweichungen in den Begriff-
lichkeiten und empirischen Operationalisierungen werden Werte primär in Form von
quantitativen Bevölkerungsumfragen – sogenannten „Surveys“ – erforscht. Beispiele
dafür sind die European Values Study (EVS) und der European Social Survey (ESS;
siehe dazu Boxen Forschungsprojekt).
Forschungsprojekt
Die European Values Study (EVS) ist ein länderübergreifendes Umfrageprogramm, das
seit 1981 alle neun Jahre grundlegende Daten zur Werthaltung in Europa vergleichbar
erhebt und eine länger getaktete Dauerbeobachtung des europäischen Wertewandels
ermöglicht. Zur Kontextualisierung werden zusätzlich Daten über Lebenssituation, Fa-
milie, Arbeit, Religion und Politik gesammelt. Österreich nimmt seit 1990 an dem Pro-
gramm teil. Die Erhebung im Jahr 2017 wurde gemeinsam mit dem World Values Survey
(WVS) durchgeführt.
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77Bevölkerung und Werte
Forschungsprojekt
Der European Social Survey (ESS) ist ein länderübergreifendes Umfrageprogramm, das
seit 2002 alle zwei Jahre grundlegende Daten zur Lebensrealität der Europäer*innen
vergleichbar erhebt und eine engmaschige Dauerbeobachtung der Gesellschaft er-
möglicht. Es werden Daten zur Lebenssituation, Familie, Arbeit, Religion und Politik ge-
sammelt und das Portrait Value Questionnaire (PVQ) von Schwartz zur Wertemessung
eingesetzt. Die im ESS genutzte PVQ-Version umfasst 21 Aussagen, die von den Teil-
nehmenden beurteilt werden müssen. Der ESS ist eines der qualitativ hochwertigsten
Umfrageprogramme Europas.
Von den zuvor genannten Wertekonzepten sind heute international die Postmateria-
lismus/Materialismus Skala von Roland Inglehart – die zum Beispiel in der EVS zu
finden ist – und das Modell universeller menschlicher Werte nach Shalom H. Schwartz
am prominentesten. Insbesondere letztgenannter Ansatz dominiert gegenwärtig die
empirische Forschung und das nicht nur, weil das Modell vielfältige Analysemöglich-
keiten bietet, sondern auch, weil es seit Beginn zentraler Bestandteil des ESS war und
ist (Schwartz 2003; Verwiebe 2019, 5 f.).
Inhaltlich baut das Modell von Inglehart auf einer Dichotomie von Postmaterialis-
mus/Materialismus auf und beruht im Kern auf seinen Studien zum politischen Wandel
in den Industriestaaten des Westens in den 1970er-Jahren (Inglehart 1977). Inglehart
testete damit ursprünglich die Annahme, ob in Wohlstandsgesellschaften materielle Si-
cherheit an Bedeutung verliert und Individualismus und Selbstverwirklichung an Be-
deutung gewinnen. Das Konzept der universellen menschlichen Werte von Schwartz
verfolgt die Annahme, dass gesellschaftliche Werte sich aus biologischen Grundbedürf-
nissen sowie koordinierbarer, funktionierender sozialer Interaktion ergeben (Schwartz
1994, 21). Werte sind in dem Verständnis von Schwartz ein Steuerungsmechanismus
für das Funktionieren von Gesellschaften.
1.2.1 Die Postmaterialismus/Materialismus Skala nach Inglehart
Die Arbeiten zu Postmaterialismus/Materialismus von Inglehart (1977) stützen sich auf
drei sogenannte Fragebatterien, die genutzt werden, um die jeweilige Werthaltung einer
Person zu erheben. Fragebatterien sind dabei Zusammenstellungen mehrerer Fragen,
die ähnliche Fragestellungen behandeln und identische Antwortmöglichkeiten bieten.
Im Fall von Inglehart beschäftigen sich alle Fragen eben mit Postmaterialismus/Mate-
rialismus. Materialismus steht dabei für eine Werthaltung, die Zugang zu materiellen
Gütern und soziale Ordnung in den Vordergrund stellt, während die gesellschaftliche
Teilhabe und die Chance zur Selbstverwirklichung im Bereich des sogenannten Post-
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78 Dimitri Prandner
materialismus zu finden sind. Jede der drei Batterien von Inglehart inkludiert zwei ma-
terialistische (z.B. Sicherheit im Land und Preiskontrolle) und postmaterialistische (z.B.
der Wert der freien Meinungsäußerung oder politische Mitbestimmungsrechte) Ziele.
Es werden grundlegende Fragen wie das Empfinden von Sicherheit, die Möglichkeit auf
F028 pa02 a
Wie stark interessieren Sie sich für Politik -
Vorgaben bitte vorlesen!
>sehr stark,
>stark,
>mittel,
>wenig oder
>überhaupt nicht?
KA
F029 Abgeleitete Variablen: va01, va02, va03, va04, ingle
Auch in der Politik kann man nicht alles auf einmal haben. Auf dieser Liste finden Sie einige
Ziele, die man in der Politik verfolgen kann.
Liste 29 vorlegen!
F029A: Wenn Sie zwischen diesen verschiedenen Zielen wählen müssten, welches Ziel
erschiene Ihnen persönlich AM WICHTIGSTEN?
F029B: Und welches Ziel erschiene Ihnen am ZWEITWICHTIGSTEN?
F029C: Und welches Ziel käme an DRITTER Stelle?
F029D: Und welches Ziel käme an VIERTER Stelle?
Nur eine Nennung möglich!
A Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in diesem Land
B Mehr Einfluss der Bürger auf die Entscheidungen der Regierung
C Kampf gegen die steigenden Preise
D Schutz des Rechtes auf freie Meinungsäußerung
Weiß nicht
KA
Quelle: GESIS – ALLBUS Datenbank (2019, 21).
Abb. 1 Ranking-Skala nach Inglehart
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79Bevölkerung und Werte
Konsum, die Chance auf politische Teilhabe und Diskurs zur Beurteilung – zum Ran-
king – bereitgestellt. Befragte müssen die genannten Ziele in eine Prioritätenordnung
bringen und können im Anschluss als reine Materialisten, reine Postmaterialisten und
Mischtypen mit Tendenz zum Materialismus oder Postmaterialismus klassifiziert wer-
-
Quelle: Kritzinger et al. (2019).
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80 Dimitri Prandner
den. Auf Grundlage der Antworten können theoriegeleitet Indizes für Werte berechnet
werden. Dieses Vorgehen wird grundsätzlich als Ranking-Methode bezeichnet, weil es
den Antwortenden abverlangt, eine klare Abstufung in der Beurteilung von Werten
vorzunehmen (siehe Abb. 1).
Als Alternative zu diesem Konzept existiert eine mehrstufige Postmaterialismus vs.
Materialismus-Fragebatterie. Bei dieser Version können Personen ihre Überzeugungen
in verschieden Bereichen (z.B. Arbeit ist eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft)
mittels einer fünfteiligen Rating-Skala zum Ausdruck bringen (Welzel 2009). Dieses
Format ist für Studienteilnehmende einfacher zu beantworten und wird in einer Viel-
zahl von Umfragen – wie beispielsweise der European Values Study – eingesetzt. Zu-
sätzlich bietet dieses Datenerhebungsmethode flexiblere Möglichkeiten für den Einsatz
multivariater Analyseverfahren, wie beispielsweise der explorativen oder konfirmatori-
schen Faktorenanalyse für die Wertebestimmung (siehe Abb. 2).1
Diese Messmethode wird jedoch von Vertreter*innen des Postmaterialismus/Mate-
rialismus-eorems seltener eingesetzt als das zuvor vorgestellte Modell der Prioritäten-
zuordnung (Welzel 2009). Diese Haltung beruht auf den Annahmen von Inglehart,
dass Werte nicht in einem gleichen Ausmaß realisiert werden können und immer in
Konflikt stehen, wenn es um konkrete Handlungsentscheidungen geht (Welzel 2009).
Sie steht im Widerspruch zur methodischen Umsetzung mittels einer Rating-Skala, wo
einzelne Werte als gleich bedeutsam dargestellt werden können. So könnten beispiels-
weise mehre Fragen in der Skala mit derselben Antwort versehen werden, was keine
weitere Abstufung ermöglicht (Welzel 2009).
1.2.2 Die Theorie der universellen menschlichen Werte nach Schwartz
Die eorie der universellen menschlichen Werte von Shalom H. Schwartz folgt in
Teilen den grundlegenden Ausführungen von Roland Inglehart. Jedoch kombiniert
Schwartz in seinem Zugang die Prioritätenstruktur von Werten mit der Annahme, dass
sowohl Zusammenhänge als auch Widersprüche zwischen Werthaltungen existieren
(Schwartz 2012). Von dieser Position ausgehend argumentiert Schwartz, dass universelle
menschliche Werte existieren, weil Menschen einerseits als Individuen ihre biologischen
1 Faktorenanalysen sind statistische Verfahren, die mehrere direkt – manifest – gemessene In-
formationen (z.B. Fragebogenfragen) in eine oder mehrere indirekt – latent – zu messen-
de Informationsbündel zusammenfassen. Diese Informationsbündel werden als Faktoren
bezeichnet und können messtechnisch bessere Eigenschaften aufweisen. Während bei der
konfirmatorischen Faktorenanalyse ein vorab klar formuliertes Modell existiert, wie einzel-
ne manifeste Informationen in latente Faktoren überführt werden, wird bei der explorativen
Faktorenanalyse die Bündelung basierend auf den konkreten Daten ohne vorgegebene Mo-
delle durchgeführt (Fields 2005, 619 f.).
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81Bevölkerung und Werte
Bedürfnisse zum Überleben erfüllen müssen und andererseits der Notwendigkeit ausge-
setzt sind, sich in Gemeinschaften zu organisieren, um dieses Ziel zu erreichen (Schwartz
2012). Auf Grundlage dieser Ausgangsposition postuliert Schwartz einen Wertekreis, der
zehn Basiswerte inkludiert: Anpassung, Sicherheit, Tradition, Solidarität, Naturschutz,
Kreativität, Stimulation, Genuss, Reichtum, Macht. Ein Teil dieser Werte stellt sicher,
dass Personen in Gemeinschaften überleben können, während ein anderer Teil die Be-
dürfnisse der Individuen abdeckt. Zur empirischen Erfassung dieser Werte hat Schwartz
ursprünglich seinen Values Survey und später unterschiedliche Versionen des Portrait
Value Questionaire (PVQ) entworfen (Schwartz 2003). Im ESS kommt beispielsweise
eine Version des PVQ mit 21 Fragen zum Einsatz, diese wird als PVQ21 bezeichnet.
Im Rahmen des PVQ werden den Teilnehmenden kurze Personenbeschreibungen
vorgelegt. Die Befragten müssen diese Beschreibungen dahingehend beurteilen, inwie-
weit sie der beschriebenen Person gleichen oder nicht (siehe Abb. 3). Aufbauend auf
diesen Urteilen, die die zehn Basiswerte messen, werden darüberliegende Werte höherer
Ordnung in Form von Wertorientierungen abgeleitet und die inhärenten Widersprüche
zwischen bestimmten Werten zum Ausdruck gebracht (Schwartz 2003). Dieses Modell
unterscheidet zwischen einer Offenheit für Veränderung und dem Wunsch, die existie-
rende Ordnung zu bewahren, beziehungsweise dem ego-bezogenen Wunsch der Status-
erhöhung und dem altruistischen Konzept der Selbsttranszendenz (Schwartz 2012).
Methodisch eröffnet die Nutzung dieser Annahmen diffizilere Vorgehensweisen, als
es bei den Modellen nach Inglehart möglich ist: Um Antwort-Tendenzen von Indivi-
duen zu berücksichtigen – zum Beispiel, wenn konsistent niedrige, mittlere oder hohe
Übereinstimmungsmuster zu den beschriebenen Personen berichtet werden – kommt
es vor der Auswertung der Antworten zu einer Mittelwert-Standardisierung aller Urteile
eines Individuums. So können die Antworten von Individuen in eine entsprechende
relative Position gebracht werden und ein Vergleich zwischen Individuen wird unab-
hängig vom konkreten Antwortverhalten gezogen. Dies vereinfacht auch den interkul-
turellen Vergleich, weil teils kulturell bedingte Antwortmuster wie zum Beispiel die
Tendenz, eher positiv oder auch konformistisch zu antworten, abgeschwächt werden
(Schwartz 2003). Die Übertragung der standardisierten Ergebnisse in den Wertekreis
selbst findet mittels einer sogenannten multidimensionalen Skalierung (MDS) statt.2
Die vier Wertebereiche des Wertekreises (siehe Abb. 4), die Wertorientierungen bezie-
hungsweise Werte höherer Ordnung darstellen, sind dabei wie folgt zu interpretieren
2 Die multidimensionale Skalierung stellt ein statistisches Verfahren dar, dass Ähnlichkeiten
beziehungsweise Unähnlichkeiten von Objekten (z.B. Fragen in einer Umfrage) visualisiert.
So können die Abstände zwischen einzelnen Objekten berechnet und dargestellt werden
(Kruskal/Wish 1978). Der Wertekreis von Schwartz stellt ein Anwendungsszenario für das
Verfahren dar.
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82 Dimitri Prandner
(Schwartz 2012):
−
Offenheit für Veränderung: Sie steht dafür, dass man versucht, unabhängig zu sein,
Neues zu entdecken und zu erforschen, sich zu vergnügen und auch Risiken ein-
13
60.�Ich besch reibe Ihnen nun einige fiktive Personen und möc hte Sie bitten, mir an Hand dieser Liste anz u-
geben, wie sehr Ihnen diese gleicht oder nicht gleicht. (KARTE) (Durchfragen)
�
Gleicht
mir
sehr
Gleicht
mir
Gleicht
mir
etwas
Gleicht
mir
wenig
Gleicht
mir nicht
Gleicht
mir gar
nicht
Kann ich
nicht
sagen
A
Es ist ihr wichtig, neue Ideen zu entwi-
ckeln und kreativ zu sein. Sie unter-
nimmt alles gern e auf seine eigene Art
und Weise.
1 2 3 4 5 6 8
B
Reichtum ist ihr wichtig. Sie möchte viel
Geld und Luxusgüter besitzen.
1 2 3 4 5 6 8
C
Es ist ihr wichtig, in einer sicheren Um-
gebung zu lebe n. Sie vermeidet alles,
das ihre Sicherheit gefährden könnte.
1 2 3 4 5 6 8
D
Sie nutzt jede Gelegenheit, um Spaß zu
haben. Es ist ihr wichtig, Dinge zu tun,
die ihr Vergnügen bereiten.
1 2 3 4 5 6 8
E
Es ist ihr wichtig, den Menschen in ihrer
Umgebung zu helfen. Sie möchte sich
um deren Wohlergehen sorgen.
1 2 3 4 5 6 8
F
Es ist ihr wichtig, sehr erfolgreich zu
sein. Sie hofft, dass andere Leute ihre
Leistungen anerkennen.
1 2 3 4 5 6 8
G
Sie ist auf Abenteuer aus und nimmt
dafür R isiken auf s ich. Sie möch te ein
aufregendes Leben führen.
1 2 3 4 5 6 8
H
Es ist ihr wichtig, ein anständiges Leben
zu führen. Sie möchte alles vermeiden,
was Leute als Fehltr itt bezeichnen
könnten.
1 2 3 4 5 6 8
I
Sie ist überzeugt, dass sich die Men-
schen um ihre Umwelt kümmern sollen.
Umweltschutz ist ihr wichtig.
1 2 3 4 5 6 8
J
Traditionen sind ihr wichtig. Sie möchte
jene Sitten und Gebräuche befolgen,
die ihr durch Re ligion oder die Famili e
überliefert wurden
1 2 3 4 5 6 8
61.�
Denken Sie nun bitte zurück an die Zeit als Sie etwa 15 Jahre alt, also als Sie am Ende Ihrer Schulpflicht wa-
ren: Mit welchem Elternteil haben Sie damals zusammengelebt?
mit beiden leiblichen Eltern ........................................................................... 1
nur mit Ihrer Mutter ...................................................................................... 2
nur mit Ihrem Vater ...................................................................................... 3
mit einem leiblichen Elternteil und dessen/deren Partner/in ...................... 4
mit wem anderen, und zwar (Notieren) ........................................................ 5
62.�
Wie war damals die finanzielle Lage in Ihrer Familie bzw. in Ihrem Haushalt? (Vorlesen, 1 Nennung)
wir hatten genug Geld, um ein angenehmes Leben zu führen ....................... 1
wir kamen mit dem Geld aus, konnten aber keine großen Sprünge machen . 2
es reichte zum Leben, aber es war ziemlich knapp ......................................... 3
wir wussten oft nicht, wie wir durchkommen sollen ...................................... 4
keine Angabe ................................................................................................... 8
Quelle: Bacher et al. (2018).
Abb. 3 Auswahl an Fragen aus dem Portrait Value Questionnaire von Schwartz
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83Bevölkerung und Werte
zugehen. Die Fragen A und G aus Abbildung 3 sind Beispiele für diesen Werte-
bereich.
− Bewahren von Bewährtem: Dieser Bereich ist der Gegenpol zur Offenheit. Hohe
Werte implizieren, dass es wichtig ist, sich an Regeln zu halten, etablierte Traditio-
nen weiterzuleben und finanzielle wie auch körperliche Sicherheit zu haben. Die
Fragen C und J aus Abbildung 3 sind Beispiele für diesen Wertebereich.
− Statuserhöhung: Dieser Wertebereich steht für das Anerkennen von Leistung und
das Streben nach Macht. Hohe Werte in diesem Feld implizieren, dass finanzieller
und gesellschaftlicher Status als wichtig wahrgenommen werden. Die Fragen B und
F aus Abbildung 3 sind Beispiele für diesen Wertebereich.
− Selbsttranszendenz: Der letzte Wertebereich ist schlussendlich der Gegenpol zur Sta-
tuserhöhung. Hier wird ein Wert auf die Gemeinschaft, die Um- wie auch Mitwelt
gelegt und dem Leben an sich Bedeutung zugesprochen. Hohe Werte gehen mit
einer Betonung von Selbstlosigkeit und Altruismus einher. Die Frage I aus Abbil-
dung 3 ist ein Beispiel für diesen Wertebereich.
Konformität
Tradition
Offenheit
für
Veränderung
Status-
erhöhung
Bewahren von
Bewährtem
Selbst-
transzendenz
Vergnügen
Eigene Darstellung.
Quelle: Schwartz (1992).
Abb. 4 Wertekreis nach Schwartz
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84 Dimitri Prandner
Die graphische Darstellung des Wertekreises zeigt, wie sich die zehn Werte in Form
von Kreissegmenten auf den vier darüberliegenden Wertebereiche zuordnen lassen.
Der Wert des Vergnügens wirkt dabei auf zwei Wertebereiche: Statuserhöhung und
Offenheit für Veränderung. Entsprechend wird das Kreissegment, dass die Messung von
Vergnügen darstellt in der graphischen Darstellung auch durch eine der Haupttrenn-
linien in zwei Teile gespalten. Der Wertebereich, der die Bewahrung von Bewährtem
ausdrückt, enthält drei Einzelwerte und ist demensprechend am größten in der Visua-
lisierung. Schwartz (2012) argumentiert, dass Konformität und Tradition gemeinsame
Grundhaltung ausdrücken. Entsprechend positioniert er sie übereinander und nicht
nebeneinander, wie die anderen Einzelwerte. Die konkrete Positionierung im Kreis be-
gründet er damit, dass Konformität weniger im Wiederspruch zu den Werten steht,
die Offenheit für Veränderung ausdrücken, und daher näher am Zentrum positioniert
werden kann als der Wert der Tradition, der einen starken Widerspruch zu Veränderung
ausdrückt (Schwartz 2011).
Neben diesen beiden hier diskutierten dominierenden Modellen existieren noch
weitere, teils in unterschiedlichen Sprachräumen vertretene Ansätze. So ist beispiels-
weise der Werte-Ansatz von Helmut Klages (1984) im deutschen Sprachraum durchaus
prominent vertreten. Dieser geht mit den Ausführungen von Inglehart d’accord, dass
in den Industriegesellschaften ein Wertewandel stattgefunden hat und in modernen
Gesellschaften Werte wie Gehorsamkeit und Unterordnung weniger Relevanz haben
als Selbstständigkeit und freier Wille. Begründet wird dies von Klages (1984) durch
den hohen beziehungsweise steigenden Bildungsgrad und die damit verbundene Selbst-
ermächtigung.
1.3 Werte und Bevölkerungsstruktur
Was alle Ansätze, die in den vorherigen Abschnitten vorgestellt wurden, gemein ha-
ben, ist ihr starker Bezug zur Bevölkerungsstruktur. Dieser Bezug fußt auf der Ein-
sicht, dass Werte in Gesellschaften entstehen und dementsprechend die Struktur der
Gesellschaften bedeutend für die gesellschaftliche Werthaltung ist (Haller/Müller-Kmet
2019; Bacher et al. 2019). In der Literatur wird dies meist mit dem Konzept der Sozio-
demographie beschrieben. Soziodemographie und die daraus abgeleitete Sozialstruktur
stellt dabei eine Sammlung an Hintergrundmerkmalen zu Personen beziehungsweise
Bevölkerungen dar. Typischerweise werden darunter Merkmale wie Geschlecht, Al-
ter, Bildungsstand, Familienstand und Migrationsstatus verstanden (Gesis 2022). Die
genaue Zusammensetzung relevanter Merkmale wird in der Regel durch die gegen-
ständlichen Forschungsfragen bestimmt. Im Bereich der Werteforschung werden dabei
oftmals Alter, Geschlecht und Bildung als die zentralen, zu diskutierenden Einfluss-
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85Bevölkerung und Werte
größen wahrgenommen (Verwiebe 2019, 14). Während der Migrationsstatus oder die
ethnische Zugehörigkeit in vielen Diskussionen auch hervorgehoben wird, treten je-
doch in der Analyse oftmals methodologische und methodische Herausforderungen
auf: Migrantische Bevölkerungsgruppen sind in allgemeinen Bevölkerungsumfragen, in
denen Wertemessungen meist stattfinden, nur schwer erfassbar, da sie nur einen kleinen
Teil der Bevölkerung ausmachen und in sich sehr heterogen sind (Prandner/Weichbold
2019, 3).
Die Sozialstruktur ist zusätzlich noch mit dem Konzept des Wertewandels verbunden
(Müller-Kmet/Weicht 2019): Einerseits sind Erfahrungen und Ereignisse, die Personen
in bestimmten Lebensabschnitten machen und erleben, durchaus unterschiedlich und
wirken sich unterschiedlich auf die Lebensrealitäten von Personen aus, was zu regio-
nalen und generationenbedingten Unterschieden führt, anderseits ändern sich auch
soziale Rahmenbedingungen, in denen diese Erfahrungen überhaupt gemacht werden
können. Personen die beispielsweise den Fall der Berliner Mauer und des Ostblocks nur
als Kleinkinder erlebt haben, werden das Ereignis anders beurteilen als jene, die es als
Erwachsene beobachtet haben. Genauso wirkte die Wirtschaftskrise der 2010er-Jah-
re anders auf die Generation, die gerade den Berufseinstieg realisieren musste, als auf
jene, die schon länger erwerbstätig war. Gemeinsam mit diesen ereignisgetriebenen Er-
fahrungen können Veränderungen in der Sozialstruktur – zum Beispiel durch erhöhte
Lebenserwartung, Bildungsexpansion etc. – auch zu einem (langsamen) Wertewandel
in Gesellschaften führen, obwohl Werte in der sozialwissenschaftlichen Forschung als
eher stabil gegenüber kurzfristigen gesellschaftlichen Umbrüchen gelten (Verwiebe et
al. 2019, 300; Aschauer et al. 2022, 211).
2. Gegenwärtige Situation
Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wurden die enge Verbundenheit von Werthaltun-
gen mit gesellschaftlichen Entwicklungen an sich besprochen und Werte vor dem Hin-
tergrund der Sozialstruktur illustriert. Entsprechend werden folgend die soziodemo-
graphischen Eckdaten der österreichischen Wohnbevölkerung dargelegt und dann die
aktuellen Werthaltungen in Österreich diskutiert
Ein erster entscheidender Punkt hinsichtlich der österreichischen Sozialstruktur ist,
dass das Land eine Wachstumsgesellschaft darstellt. Zwischen 2001 und 2020 ist die
Bevölkerung von Österreich von knapp 8 Millionen auf ca. 9 Millionen angewachsen
(Statistik Austria 2022a). Ein substanzieller Anteil dieses Wachstums steht mit Migra-
tion im Zusammenhang: Der Anteil an Personen, die keine österreichische Staatsbür-
gerschaft hatten – also Migrant*innen sind –, stieg zwischen Ende 2001 und Ende 2020
von zirka 9,5 Prozent auf 16,7 Prozent (Statistik Austria 2022a). Dies ist deutlich über
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86 Dimitri Prandner
dem EU-Durchschnitt von zirka 7,9 Prozent (Eurostat 2022). Gleichzeitig ist zu be-
obachten, dass das formale Bildungsniveau in der Bevölkerung deutlich anstieg: Hatten
2001 nur zirka zehn Prozent der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren einen tertiä-
ren Bildungsabschluss, waren es 2020 mehr als 19 Prozent (Statistik Austria 2022b).
Insbesondere bei Frauen zeigte sich, dass sie hohe formale Qualifikationen anstreben:
2019 hatten bereits knapp 22 Prozent der Frauen in der Alterskohorte zwischen 25 und
64 einen post-sekundären Bildungsabschluss (Statistik Austria 2022b). Bei den Män-
nern waren es etwas mehr als 18 Prozent (Statistik Austria 2022b).
Betrachtet man die Werthaltung der österreichischen Bevölkerung vor dem Hinter-
grund der Sozialstruktur, können über eine Vielzahl an existierenden Umfragen Unter-
schiede aufgezeigt werden. Diese umfassen unter anderem die European Values Study,
die Values in Crisis Study, den Social Survey Österreich genauso wie den European
Social Survey.
Für die empirischen Analysen und Darlegungen wird im Folgenden die neunte Wel-
le European Social Survey (ESS 2018) herangezogen, in der das PVQ21 von Shalom
Schwarz zur Wertemessung eingesetzt wurde. Der ESS 2018 stellt eine qualitativ hoch-
wertige Face-2-Face-Umfrage dar. Die persönliche Befragung gilt als Goldstandard in
der Sozialforschung, ist aber seit Beginn der Corona-Krise nur schwer oder kaum rea-
lisierbar.
Die Wertemessungen auf Grundlage des ESS zeigen, dass den Österreicher*innen
grundsätzlich der Wertebereich der Selbsttranszendenz am wichtigsten ist und demen-
sprechend Solidarität, Altruismus und Gemeinschaftsbedanken betont werden (für Er-
gebnisse im Detail siehe auch Abb. 5, die die genauen Ergebnisse für Schwartz’ Werte-
bereiche beinhaltet). Diese Werthaltungen sind besonders stark bei jüngeren Personen
(bis dreißig), Frauen und Personen mit tertiären Bildungsabschlüssen vorhanden. An
zweiter Stelle folgt – durchaus aber mit auffälligem Abstand – der Wunsch, dass das
Bewährte geschützt wird. Dieser Wert ist besonders bei der Bevölkerungsgruppe über
sechzig, Personen mit niedrigen formalen Bildungsabschlüssen und wiederum Frauen
ausgeprägt und deutet darauf hin, dass für diese Personengruppen der Wunsch nach
Sicherheit, Traditionen und bekannten Strukturen gegeben ist. Der Wunsch nach Wan-
del ist im Gegensatz dazu wiederum bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe bis dreißig,
Männern und jenen mit höheren formalen Bildungsabschlüssen ausgeprägt. Das Kon-
zept der Statuserhöhung ist insgesamt am wenigsten stark ausgeprägt. Vergleichsweise
hohe Zustimmungswerte erreicht es aber dennoch bei den Männern und jüngeren Per-
sonengruppen. Personen mit geringer formaler Bildung ist dieser Wert tendenziell am
wenigsten wichtig.
Diese Feststellungen zeigen auch, wie eng die Struktur der Bevölkerung mit be-
stimmten Werthaltungen einhergeht und dass sich der zu Beginn des Abschnitts illust-
rierte demographische Wandel auch auf das vorherrschende Wertebild auswirken kann.
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87Bevölkerung und Werte
Vergleicht man die Gruppen nach Geschlecht (Männer vs. Frauen), Bildungsabschluss
(Abschlüsse, die ohne Matura enden, vs. Matura und post-sekundäre Abschlüsse vs.
tertiäre Bildungsabschlüsse) oder Alter (linear aufsteigend) sind die Unterschiede als
statistisch signifikant zu beurteilen (p < 0,05; nicht-parametrischer Gruppenvergleich
nach Kruskal und Wallis3).
3 Der H-Test nach Kruskal und Wallis ist ein Gruppenvergleich zwischen mehr als zwei Grup-
von eins auf der Y-Achse würde bedeuteten, dass der Wertebereich für die jeweilige Gruppe gar nicht
wichtig ist, ein Wert von sechs dahingegen, dass er sehr wichtig ist. Lesebeispiel: Vergleicht man die
der Wertebereich Selbsttranszendenz am wichtigsten ist. Frauen bewerten diesen mit einem Gruppen-
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage des ESS 2018 (N= 2.486 ~ 2.490) mittels Syntax von
Schwartz (2021, 5 f.), invertiert und gewichtet.
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88 Dimitri Prandner
es jedoch ein bekanntes Problem, dass migrantische Bevölkerungsteile sehr heterogen
und nur schwer in Umfragen zu erfassen sind (Prandner/Weichbold 2019). Um eine Ver-
-
-
tig, da einerseits die Bevölkerung migrationsskeptisch ist, andererseits das Land aber
ein Zuwanderungsland darstellt (Prandner 2018, 84 f.). Die Daten der Statistik Austria
zeigen, dass alleine zwischen 2010 und 2020 der Anteil von Nicht-Staatsbürger*innen
von 10,5 Prozent auf 16,6 Prozent angestiegen ist (Statistik Austria 2022a). Die größte
Gruppe an Zugewanderten kommt aus Deutschland, gefolgt von Rumänien, Serbien
einzelnen Gruppen an Zuwandernden zu klein, um ihre Werthaltungen in allgemeinen
Bevölkerungsumfragen im Detail zu erfassen (Prandner/Weichbold 2019). Existierende
-
grund Wertunterschiede existieren, wobei diese weniger stark ausgeprägt sind als die
bereits diskutierten Aspekte Alter, Geschlecht oder Bildung (Verwiebe 2019, 13).
Forschungsergebnisse. Werte in der Krise? Die Values in Crisis.
Die Corona-Pandemie verhinderte die Umsetzung der für das Jahr 2020 geplanten
Befragungen von Forschungsprogrammen wie dem European Social Survey und dem
Social Survey Österreich. Die World Values Survey Forschungsgruppe initiierte daher
das Values in Crisis-Programm, wo Forschende weltweit während der Pandemie mittels
-
jahr 2021 jeweils eine Umfrage zu der Werthaltung der Österreicher*innen während der
Umfragen online erreicht werden können – von der Wohnbevölkerung unterscheidet
pen, wenn die Testvariable nicht metrisch oder intervall-skaliert ist (Fields 2005, 542 f.). Der
Test überprüft auf Grundlage von Rangsummen, ob sich unterschiedliche Personengruppen
(z.B. Altersgruppen) statistisch signifikant unterscheiden. Statistische Signifikanz bezeichnet
in dem Zusammenhang, dass sich die Werte zwischen den Gruppen (unter Berücksichtigung
einer Irrtumswahrscheinlichkeit) so weit voneinander unterscheiden, dass der Unterschied
nicht mehr als zufällig, sondern systematisch zu werten ist (Fields 2005, 31 f.).
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89Bevölkerung und Werte
und die Ergebnisse nur eingeschränkt mit anderen Studien vergleichbar sind (Prandner
2022), geben die Daten der Values in Crisis-Studie einen Einblick in die Situation wäh-
-
für Veränderung und (4) Statuserhöhung entspricht dem langfristigen Trend und die
Ränge haben sich auch während der beiden Erhebungen in der Krise nicht verändert.
sich schließen, dass die Krise – in diesem Fall zumindest indirekt – konservative Werte-
Bewahrung von Bewährtem konstant blieb (Aschauer et al. 2022).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Die Frage, was Werte sind, woher sie stammen, wie sie sich verbreitet haben und wie
konsistent beziehungsweise volatil sie sind, ist von großer Bedeutung. Wissenschafts-
theoretisch gibt es hierzu – insbesondere, wenn es um die Vorstellung von sogenannten
europäischen Werten geht, die den europäischen Kontinent oder auch die Staaten der
Europäische Union von anderen Weltregionen unterscheiden – durchaus unterschiedliche
Perspektiven, die auf religiöse und ideengeschichtlich-politische Entwicklungen zurück-
Abb. 6 Relevanz von Wertebereichen während der Corona-Krise 2020 und 2021
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der Values in Crisis-Österreich-Paneldaten (N= 1.222)
mittels Syntax von Schwartz (o.J., 5 f.), invertiert und gewichtet.
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90 Dimitri Prandner
geführt werden (Verwiebe 2019). Wie der Soziologe Roland Verwiebe (2019, 6 f.) treffend
schreibt, finden sich die Wurzeln europäischer Demokratien im antiken Griechenland,
fußt das moderne Verständnis von Rechtsstaatlichkeit auf dem römischen Recht und die
christlich-jüdische Tradition etablierte Konzepte wie Nächstenliebe, Gewaltlosigkeit und
Menschenwürde als grundlegende Werthaltungen. Mit dem Zeitalter der Aufklärung und
der Französischen Revolution wurden die Freiheit des Einzelnen, die Gleichheit oder das
Recht zentraler Bestandteil europäischer Werte. Schließlich hat das Überwinden der leid-
vollen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diesen Kanon um Werte wie Toleranz, Inner-
lichkeit, Selbstverwirklichung und eine Verpflichtung auf soziale Gerechtigkeit erweitert
(Joas 1999; Kaelble 2007; Mau/Verwiebe 2009; Vobruba 2017). Diese grundlegenden
Annahmen waren es auch, die die Werte-Modelle geprägt haben, die eingangs beschrieben
wurden.
Betrachtet man die Werteentwicklung in Österreich, ist davon auszugehen, dass
hierfür in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus mehrere relevante Aspekte
hervorzuheben sind. Obwohl sich die Zweite Republik als neutral zwischen den Block-
mächten positionierte, folgten die gesellschaftlichen und insbesondere gesellschafts-
politischen Entwicklungen jenen der westeuropäischen Länder, was durch den Beitritt
zur Europäischen Union 1995 nochmals unterstrichen wurde (Bischof 2021; Rathkolb
2015). Neben einem starken wirtschaftlichen Aufschwung kam es zu einer umfang-
reichen Bildungsexpansion, einer starken Zunahme von Frauen im Erwerbsleben und
einem kontinuierlichen Bevölkerungswachstum (Verwiebe/Bacher 2019, 486). Dieses
wurde wie bereits angesprochen Großteils über Migrationsbewegungen realisiert, die
in mehreren Wellen geschahen – zuerst durch türkischstämmige Arbeitsmigrant*innen
und später durch Personen mit Wurzeln in der Region des heutigen Bosnien, Serbien
und Kosovo (Haller/Aschauer 2019).
Kontinuierliche Wertemessungen finden in Österreich seit Beginn des 21. Jahrhun-
derts in Form des alle zwei Jahre durchgeführten European Social Survey statt, wobei
aber bereits davor in den Jahren 1990 und 1999 der European Values Study durch-
geführt wurde und die Umfragen des Social Survey Österreich (SSÖ) 1986 und 1993
Wertemessungen enthielten. Dabei zeigt sich sowohl in den Untersuchungen des spä-
ten 20. Jahrhunderts als auch den Daten des ESS, dass die Österreicher*innen Selbst-
transzendenz durchgängig als die relevanteste Werthaltung beurteilen und soziale Ver-
antwortung als höchsten Wert positionieren, während Statuserhöhung und materielle
Gratifikationen weniger Bedeutung haben (Haller/Müller-Kmet 2019, Aschauer et al.
2022). Betrachtet man die ESS-Daten aus den ersten 20 Jahren des aktuellen Jahr-
hunderts, ist auffällig, dass die Bedeutung von Altruismus zwischen 2002 und 2010,
also dem Zeitraum, der durch den War On Terror und dann die weltweite Finanzkrise
dominiert war, sank, sich dann Anfang der 2010er-Jahre wieder erholte und 2014 ihre
höchsten Zustimmungswerte erreichte, aber nach dem langen Sommer der Migration
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91Bevölkerung und Werte
(2015) im Jahr 2016 wieder stark schwand. 2018 stieg die Bedeutung von Selbsttrans-
zendenz erneut an und erreichte vergleichsweise den Höchstwert (siehe Abb. 7).
Die Werthaltungen, dass die Gesellschaft offen für Veränderungen sein sollte be-
ziehungsweise Bewährtes bewahrt, blieb über weite Teile der letzten 20 Jahre weitest-
gehend konstant. Erst ab 2014 zeichnet sich ab, dass konservative – Ordnung und Tra-
ditionen bewahrende – Werthaltungen deutlich mehr Zustimmung erfahren als jene,
die für progressive Ideen und Erneuerung stehen. Dies geht mit einer breiteren, viele
Demokratien betreffenden Zuwendung zu konservativen Wertebildern einher (Aschau-
er et al. 2022, 211). Diese Positionierung ist auch an den vielen negativen, oftmals
rassistisch motivierten Reaktionen zu den Migrationsströmen aus dem Mittleren Osten
ab 2014 zu sehen.
Schlussendlich muss festgehalten werden, dass Statuserhöhung und Leistung – kon-
tinuierlich der am wenigsten relevante Wert für die Österreicher*innen – bis zum Jahr
2013 leicht an Bedeutung gewannen und 2013 fast gleichbedeutend eingeschätzt wur-
Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der ESS1, 2, 3, 4, 5, 7, 8 und 9 Daten (N= 1.795 ~ 2.493)
mittels Syntax von Schwartz (o.J., 5 f.), invertiert und gewichtet.
Abb. 7 Veränderung und Entwicklung der Werthaltung in Österreich zwischen 2002 und 2018
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den wie progressive und konservative Werte. Ab 2014 wird dieser Wertebereich wieder
deutlich weniger relevant für die Österreicher*innen. In der Zeitlinie geht dies mit der
Stabilisierung der europäischen Wirtschaft nach der Finanzkrise der späten 2000er-Jah-
re und den aufkommenden Debatten über Klima- und Migrationskrise einher.
Hinsichtlich der Sozialstruktur sind die Tendenzen durchgängig konstant und kon-
sistent mit den zuvor präsentierten Messungen des ESS aus 2018. So ist Selbsttranszen-
denz typischerweise bei Frauen von zentralerer Bedeutung und Statuserhöhung ist für
Jüngere und Männer von Relevanz. Die Bewahrung von bewährten Strukturen ist für
Ältere, Frauen und Personen mit niedrigerem Bildungsabschluss wichtig, während die
Offenheit für Neues und progressive Einstellungen eher bei jüngeren Personen hohe
Zustimmung erfahren. Die Ergebnisse des ESS entsprechen dabei auch jenen des Social
Survey Österreich 2016, wo Haller und Müller-Kmet (2019, 65) vergleichbare Resul-
tate präsentierten.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Betrachtet man die Entwicklungen von Österreich gleichen sie im Großen und Gan-
zen jenen anderer westeuropäischer Länder. Nachdem Bildungsstand und materieller
Wohlstand über die letzten Jahrzehnte gestiegen sind, stellen sich eine alternde Bevölke-
rung und die Gefahr einer zunehmend wieder aufklaffenden sozialen Schere als zentrale
Probleme heraus (Verwiebe/Bacher 2019). Probleme, denen sich Österreich genauso
wie Deutschland, die Schweiz, aber auch Frankreich oder Dänemark stellen muss. Im
Vergleich zu südeuropäischen Ländern wie Portugal, Spanien, Italien und Griechenland
hat man die Finanzkrise der späten 2000er-Jahre gut gemeistert. Der im internationalen
Vergleich hohe Anteil an Personen mit Migrationshintergrund – bei zeitgleich starker
Fremdenskepsis –, vergleichsweise lange (Aus-)Bildungszeiten und systematische Be-
nachteiligung von Frauen werden aber oftmals als zentrale Merkmale von Österreich
dargelegt (Verwiebe/Bacher 2019, Bacher/Moosbrugger 2019, Bacher et al. 2022).
Vergleicht man die Wertorientierungen der Österreicher*innen vor diesem Hinter-
grund mit den anderen europäischen Staaten, die 2018 am ESS teilnahmen, zeigt sich,
dass bei Nutzung der vier Wertebereiche nach Schwartz die Wertepositionierung – die
Rangordnung – dem europäischen Mittel ähnlich ist. Genauso wie in Österreich steht
der Altruismus an erster Stelle, gefolgt von dem Wunsch, dass Ordnung und Traditionen
bewahrt werden. An dritter Position ist die Offenheit für Veränderung und abgeschlagen
an letzter Position ist der Wunsch nach Statuserhöhung (siehe Abb. 5 und Abb. 8).
Hinsichtlich ihrer Zustimmungswerte sind diese Angaben auch sehr nahe an jenen, die
die deutschen, belgischen, spanischen und französischen Teilnehmenden des ESS genannt
haben. Einzig der Wunsch nach Statuserhöhung ist bei den deutschen, spanischen und
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93Bevölkerung und Werte
französischen Befragten nochmals signifikant geringer (p < 0,05; jeweils ein nicht parame-
trischer U-Test nach Mann und Whitney).4 Im Gegensatz dazu legen die Schweizer*innen
mehr Wert auf den Bereich der Veränderung als auf den der Bewahrung. In den Nach-
barländern Italien, Ungarn und Tschechien fällt die Bewertung Großteils verhaltener aus.
Es ist signifikant weniger Zuspruch zum solidarischen und altruistischen Wertebereich zu
sehen (p < 0,05; jeweils ein nicht-parametrischer U-Test nach Mann und Whitney). Ins-
besondere der Vergleich mit den ehemaligen Ostblock-Staaten Ungarn und Tschechien ist
hier auffällig. Insgesamt zeigt sich deutlich, dass hier eine starke Nähe von Österreich zur
europäischen – beziehungsweise westeuropäischen – Werthaltung zu finden ist.
Abb. 8 Werthaltungen nach Schwartz im europäischen Vergleich 2018
Quelle: Eigene Berechnungen für die ausgewiesenen Länder auf Grundlage des ESS 9 mittels Syntax
von Schwartz (o.J., 5 f.), invertiert und gewichtet.5
4 Der U-Test nach Mann und Whitney ist ein Gruppenvergleich zwischen zwei Gruppen,
wenn die Testvariable nicht metrisch oder intervall-skaliert ist (Fields 2005, 522 f.). Der Test
überprüft auf Grundlage von Rangsummen, ob sich unterschiedliche Personengruppen (z.B.
Männer und Frauen) statistisch signifikant unterscheiden.
5 Für eine einheitliche Darstellung im Kapitel wurden nicht-zentrierte Messwerte abgebildet.
Visualisierte Ergebnisse stimmen mit zentrierten Werten überein.
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94 Dimitri Prandner
5. Herausforderungen für die Zukunft
Aufgrund von Migration, Veränderungen in den Altersstrukturen und der zunehmend
beobachtbaren Polarisierung der Gesellschaft ist in den nächsten Jahren von einem
spürbaren Wertewandel auszugehen. Dass die Dimension des Alters für alle Werte hö-
herer Ordnung nach Schwartz eine zentrale Einflussgröße darstellt, muss dabei hervor-
gehoben werden, da dies auch das Potenzial für einen nachhaltigen Generationenkon-
flikt birgt.
Diskussionen über Wahlausgänge, den Umgang mit Krisen und generell die ge-
sellschaftliche Verfasstheit deuten darauf hin, dass sich auf einer Makroebene eine auf
Wandel ausgerichtete Jugend mit älteren, teils auch formal schlechter gebildeten Ge-
sellschaftsteilnehmenden auseinandersetzen muss, die etablierte Strukturen bewahren
möchten.
Krisen wie der Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 werden zusätzlich neben
dem Klimawandel und Unruhen im Nahen Osten weitere Migrationsströme nach
Europa und somit auch in das migrationsskeptische Österreich bringen und die Frage
nach europäischen Werthaltungen weiter befeuern.
Empirische Daten zeigen, dass diese Werte stark in der Tradition der Selbsttranszen-
denz, also des Altruismus und des sozialen Zusammenhalts verankert sind. Hier gibt es
unterschiedliche Tendenzen, die in Zukunft bedacht werden müssen: Einerseits haben
die letzten zwei Jahrzehnte auf ein zunehmendes Auseinanderdriften europäischer Na-
tionen hingedeutet, andererseits hat sich der europäische Wertekorpus und die Priori-
tätensetzung als stabil erwiesen. Es ist also weiter davon auszugehen, dass im europäi-
schen Kontext das soziale Miteinander und daraus abgeleitete sozialstaatliche Ideen von
zentralen Bedeutung bleiben werden. Aber neben diesem grundlegenden Konsens, dass
soziale Unterstützung von Relevanz ist, ist das Potenzial für einem Konflikt zwischen
jenen, die den Wert der Veränderung - der Progression - bevorzugen, und jenen, die das
Etablierte bewahren wollen, gegeben.
Literatur
Aschauer, Wolfgang/Eder, Anja/Höllinger, Franz (2022). Konservative Schließung oder
neue Solidarität? Wertewandel und Zukunftsvorstellungen in Zeiten der Corona-Krise,
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sis Austria – Wave 1 and Wave 2 Data combined (SUF edition), doi:10.11587/6YQASY.
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95Bevölkerung und Werte
Bacher, Johann/Beham-Rabanser, Martina/Forstner, Matthias (2022). Can work value
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Bacher, Johan/Beham-Rabanser, Martina/Grausgruber, Alfred/Haller, Max/Höllinger,
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vey Austria 2016 – Codebook, doi:10.11587/EHJHFJ.
Bacher, Johann/Moosbrugger, Robert (2019). Bildungsabschlüsse, Bildungsmobilität und
Bildungsrenditen: Entwicklungen, in: Johann Bacher et al. (Hrsg.): Sozialstruktur und
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Bouman, ijs/Verschoor, Mark/Albers, Casper J./Böhm, Gisela/Fisher, Stephen D./Poor-
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Übungsfragen
Erklären Sie den Begriff der Sozialstruktur!
Erklären Sie wie der Begriff Werte in den Sozialwissenschaften allgemein verstanden
wird!
Welche Rolle spielt Migration für die sozialstrukturellen Veränderungen in Öster-
reich seit Beginn des Jahrtausends?
In den Sozialwissenschaften wird unter anderem davon ausgegangen, dass sich Werte
im Verlauf sogenannter Sozialisationsprozesse bilden. Was bedeutet der Begriff So-
zialisation?
Wieso bevorzugt die von Inglehart geprägte Werteforschung ein Ranking-System im
Vergleich zu einem Rating-System, wenn es um Werthaltungen geht?
Welche Aspekte kennzeichnen die materialistischen und postmaterialistischen Werte
bei Ingleharts Modell?
Schwartz geht von vier Werten höherer Ordnung aus, die er mithilfe seines Werte-
kreises abbildet – welche sind das?
Personen mit höherer formaler Bildung sind in Österreich eher offen für Verände-
rung und Selbsttranszendenz. Erklären Sie die Bedeutung dieser Feststellung!
Welche Besonderheiten unterscheiden die Bevölkerung der drei D-A-CH-Länder
Österreich, Deutschland und Schweiz hinsichtlich ihrer Werte höherer Ordnung
nach Schwartz?
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Politische Parteien und
Parteiensystem
Zusammenfassung
9
-
re in der Legislative und in der Exekutive, gelangen.
9Parteien fördern, stützen und beenden politische Karrieren als Institutionen mit etablier-
9Eine politische Partei unterstützt ihre Kandidat*innen im Wahlkampf und danach im Amt
bei Entscheidungsprozessen in politischen Institutionen. Dabei steht die Partei mit ande-
ren Parteien in einem dauernden Wettbewerb: um die Stimmen der Wähler*innenschaft
-
liche Politikgestaltung.
9Parteien liefern in ihren Parteiprogrammen und, stärker auf aktuelle Streitfragen kon-
zentriert, in ihren Wahlprogrammen eine (Kurz-)Darstellung ihrer Themenpositionen und
die ein Parteiensystem mit einer gewissen Dauerhaftigkeit strukturieren. Ideologisch ähn-
liche Parteien aus verschiedenen politischen Systemen werden zu Parteifamilien zusam-
mengefasst.
9
-
lasst bestehende Parteien zur Reaktion auf die neue Konkurrenz, während die neue Partei
ihre Parteiorganisation errichtet und an der Positionierung im Parteiensystem arbeitet. An
diesen Herausforderungen scheitert manche neue Partei nach kurzer Zeit.
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102
1. Einleitung
Demokratien der Gegenwart sind – mit wenigen Ausnahmen sehr kleiner politischer
Systeme – Parteiendemokratien (Anckar/Anckar 2000).1 Das heißt, politische Parteien
sind die wichtigsten politischen Akteurinnen in der repräsentativen Demokratie. Partei-
en schaffen durch ihre Delegierten eine Verbindung vom Wahlergebnis zur Umsetzung
von Politikinhalten durch die Verwaltung (Müller 2000). Auch in autoritären Regimen
sind Parteien bedeutsame Akteurinnen. Allerdings variiert ihr Einfluss in diesen je nach
Regimetyp sehr stark. In Demokratien gelten politische Parteien mittlerweile als für
das Funktionieren des Staates notwendige Institutionen, was ihre Förderung durch den
Staat rechtfertigt (van Biezen 2004; Corduwener 2018).
Eine Partei ist gemäß Sartori (1976) eine politische Gruppierung mit eigener Bezeich-
nung, die fähig ist, mit Kandidat*innen an Wahlen für politische Ämter teilzunehmen.
-
schen Parteien und ihre gegenseitigen – durch unterschiedliche Grade von Kooperation
Politische Parteien sind in der Neuzeit in Regimen mit repräsentativen Institutionen
entstanden und haben die Politik dieser Staaten zunächst nur beeinflusst, als Gegnerin-
nen oder Unterstützerinnen einer Regierung, die vom monarchischen Staatsoberhaupt
bestellt und diesem verantwortlich war. Mit der idealtypischen Entwicklung europäi-
scher Staaten von der absoluten Monarchie zum Verfassungsstaat, der Durchsetzung
des Prinzips der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Exekutive, der Bedeutungs-
zunahme parlamentarischer Wahlen und der Ausdehnung des Wahlrechts nahmen
politische Parteien immer größeren Einfluss auf die Gestaltung staatlicher Politik. Die
Amtsträger*innen kamen zunehmend aus ihren Reihen. Die Unterstützung ihrer Partei
brachte sie in ein politisches Amt und gab ihnen Rückhalt während der Amtsausübung
1 Das Kapitel behandelt politische Parteien und das Parteiensystem Österreichs in aller Kürze.
Umfangreichere Darstellungen zu den wichtigsten Parteien und zur Entwicklung des Par-
teiensystems liefern die Beiträge in den bekannten Handbüchern zum politischen System
Österreichs der Ersten und Zweiten Republik (Dachs et al. 1991; Tálos et al. 1995; Dachs
et al. 2006). An diese Vorbilder angelehnt wurden einige Datenaktualisierungen vorgenom-
men. Kompakte Überblicksdarstellungen zu politischen Parteien bieten die Lehrbücher von
McCormick, Hague und Harrop (2019) und Caramani (2020). Einen Überblick über die
vergleichende Parteienforschung liefert das Handbook of Party Politics von Katz und Crotty
(2006).
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103Politische Parteien und Parteiensystem
(Cox 1987; von Beyme 1999; Colomer 2001; Przeworski 2009a & 2009b; Aldrich
2011; Koß 2018; Cheibub/Rasch 2022).
Auf ihrem Weg von oppositionellen Regimekritikerinnen zu staatstragenden Akteu-
rinnen sind politische Parteien wiederholt heftig kritisiert und verteidigt worden (Ignazi
2017). Zu den frühen prominenten Verteidigern der parteiendominierten Demokratie
zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählt der österreichische Verfassungsrechtler Hans Kel-
sen (Kelsen 1929; Baume 2018). Parteien, insbesondere Regierungsparteien, stehen in
der Öffentlichkeit und sind häufiges Objekt medialer Berichterstattung. Im Wahlkampf
können Kandidat*innen vom Image ihrer Partei, der politischen Marke, profitieren.
Umgekehrt kann jedes einzelne Parteimitglied das Parteiimage durch eigenes Verhalten
schädigen. Unbefriedigende Leistungen, oder gar Fehlverhalten, von Repräsentant*in-
nen wirken sich auf die Wertschätzung der Partei und auf die allgemeine Bewertung
von Parteien aus. In Bevölkerungsumfragen liegen politische Parteien daher bei der
Frage nach dem Vertrauen oft hinter staatlichen Institutionen und anderen politischen
Akteur*innen.
Aufgrund ihrer organisatorischen Formenvielfalt ist es nicht leicht, das Phänomen
politische Partei eindeutig zu fassen. Eine bekannte Definition stammt von Giovanni
Sartori (1976, 63): „any political group identified by an official label that presents at
elections, and is capable of placing through elections (free or nonfree), candidates for
public office“. Eine Partei ist eine politische Gruppierung mit eigener Bezeichnung,
die fähig ist, mit Kandidat*innen an Wahlen für politische Ämter teilzunehmen. Die
Teilnahme an Wahlen mit Kandidat*innen unterscheidet politische Parteien von Inte-
ressenorganisationen. Letztere versuchen wie politische Parteien Einfluss auf staatliche
Politikgestaltung zu nehmen ohne sich an Wahlen zu beteiligen.
Bemerkenswert an Sartoris Definition ist die Betonung der Fähigkeit zur Wahlteil-
nahme mit erkennbaren Parteikandidat*innen. Das berücksichtigt politische Parteien,
denen eine Teilnahme oder auch nur die sichtbare Zuordnung von Kandidat*innen zu
ihrer Partei durch staatliches Verbot unmöglich gemacht wurde, ebenso wie Parteien,
die mitunter eine Teilnahme an einer Wahl verweigerten, um mit dieser Form des Pro-
tests die Legitimität einer Wahl zu untergraben.
Der Soziologe Max Weber betonte in einer älteren bekannten Definition das Stre-
ben nach Macht als zentrales Ziel politischer Parteien und listete bereits Merkmale zur
Unterscheidung verschiedener Typen von Parteien auf.
§ 18. Parteien sollen heißen auf (formal) freier Werbung beruhende Vergesellschaftungen
mit dem Zweck, ihren Leitern innerhalb eines Verbandes Macht und ihren aktiven Teil-
nehmern dadurch (ideelle oder materielle) Chancen (der Durchsetzung von sachlichen
Zielen oder der Erlangung von persönlichen Vorteilen oder beides) zuzuwenden. Sie kön-
nen ephemere oder auf Dauer berechnete Vergesellschaftungen sein, in Verbänden jeder
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Art auftreten und als Verbände jeder Form: charismatische Gefolgschaften, traditionale
Dienerschaften, rationale (zweck- oder wertrationale, ‚weltanschauungsmäßige‘) Anhän-
gerschaften entstehen. Sie können mehr an persönlichen Interessen oder an sachlichen
Zielen orientiert sein. Praktisch können sie insbesondere offiziell oder effektiv ausschließ-
lich: nur auf Erlangung der Macht für den Führer und Besetzung der Stellen des Verwal-
tungsstabes durch ihren Stab gerichtet sein (Patronage-Partei). Oder sie können vorwie-
gend und bewußt im Interesse von Ständen oder Klassen (ständische bzw. Klassen-Partei)
oder an konkreten sachlichen Zwecken oder an abstrakten Prinzipien (Weltanschauungs-
Partei) orientiert sein. Die Eroberung der Stellen des Verwaltungsstabes für ihre Mit-
glieder pflegt aber mindestens Nebenzweck, die sachlichen ‚Programme‘ nicht selten nur
Mittel der Werbung der Außenstehenden als Teilnehmer zu sein. (Weber 1922, 167)
Sartoris Parteiendefinition lenkte den Fokus auf Wahlen. Allerdings wurde der Einfluss
politischer Parteien in Parlamenten früher wahrgenommen als ihre Rolle in Wahlen
(Ignazi 2017; Katz 2020). Maurice Duverger (1954) hat die Unterscheidung zwischen
intern und extern gegründeten politischen Parteien bekannt gemacht. Eine intern ent-
standene Partei ist eine Gruppe von Abgeordneten, die ein koordiniertes oder sogar zen-
tral gesteuertes Verhalten in Debatten und Abstimmungen zeigen. In der historischen
Entwicklung des Parlamentarismus wurde eine zunehmende Dauerhaftigkeit solcher
Abgeordnetengruppen bemerkt. Anstatt ständig wechselnder Abstimmungskoalitionen
entstand eine ‚lange Koalition‘ derselben Abgeordneten als parlamentarische Partei (Al-
drich 2011). Als extern entstandene Partei wird eine Gruppe von Personen bezeichnet,
die durch Kooperation, Koordination oder Zentralisierung des Wahlkampfs versucht,
manche ihrer Kandidat*Innen in Ämter zu bringen.
Dass Politiker*innen sich durch hierarchische Unterordnung unter die Führung einer
Partei zentral steuern lassen, ist nicht selbstverständlich. Die Parlamentsklubs im öster-
reichischen Reichsrat in der konstitutionellen Monarchie waren von einer großen Mit-
gliederfluktuation gekennzeichnet und ihr Zusammenhalt in Abstimmungen lag weit
unter dem Niveau des Zusammenhalts der Klubs im Nationalrat der Zweiten Republik
(Höbelt 2000; Schefbeck 2006; Müller/Jenny 2004 & 2013; Jenny/Müller 2021).
Eine Zusammenarbeit als Gruppe von Abgeordneten im Parlament ist nicht auto-
matisch mit einer Zusammenarbeit als Kandidierende im Wahlkampf verbunden. Wie
groß der Anreiz für Personen mit Ambitionen auf eine politische Karriere ist, „unter
dem Dach“ einer politischen Partei anzutreten, um im Wahlkampf vom Markenimage
der Partei, von den Politikvorschlägen ihres Wahlprogramms, den Ressourcen ihrer Par-
teiorganisation und der Mitarbeit ihrer Parteiaktivist*innen zu profitieren, wird von
einer Reihe von Faktoren beeinflusst, darunter der Art des Wahlsystems und des Me-
diensystems. Die Bedeutung der politischen Parteien nahm in der Vergangenheit durch
Reformen wie der Ausdehnung des Wahlrechts vom Privileg Weniger zum allgemeinen
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105Politische Parteien und Parteiensystem
Wahlrecht, dem in vielen Staaten erfolgten Wechsel von einem Mehrheitswahlsystem zu
einem Proportionalwahlsystem mit Parteilisten und durch die Entstehung neuer Mas-
senmedien und neuer Techniken der Wahlkampfführung zu (Aldrich 2011). Neuere
Entwicklungen wie die Kapitalintensität moderner Wahlkämpfe oder die Auslagerung
von Wahlkampfleistungen an darauf spezialisierte Unternehmen haben die Bedeutung
von Parteien für Personen mit politischen Ambitionen verändert oder sogar reduziert
(Panebianco 1988; Hlousek et al. 2020).
2. Gegenwärtige Situation
Die österreichische Rechtsordnung hat die Bedeutung politischer Parteien erst mit dem
Parteiengesetz von 1975 (auch verfassungsrechtlich als Verfassungsbestimmung) expli-
zit anerkannt und im zweiten Parteiengesetz 2012 konkretisiert (z.B. Kostelka 1983;
Schaden 1983; Raschauer 1988; Stelzer 2007; Eisner et al. 2019). Eine frühere verfas-
sungsrechtliche Kenntnisnahme des Parteienstaates gab es in Staaten wie Deutschland
oder Italien, die sich nach 1945 neue Verfassungen gaben (van Biezen 2012; Corduwe-
ner 2018).
Die Bundes-Verfassung von 1920, die die Grundlage der österreichischen Demo-
kratie bildet, ging bereits von der Existenz politischer Parteien aus, schenkte ihnen aber
keine besondere Aufmerksamkeit. Die Parlamentsparteien des letzten Parlaments der
Monarchie hatten diese Verfassung nach der Revolution 1918 verhandelt und beschlos-
sen. Während der konstitutionellen Monarchie ab 1867 hielten die Bestimmungen des
Vereinsrechts politische Parteien wie die Sozialdemokratische Arbeiterpartei davon ab,
sich in der vom Staat gewünschten Form als politischer Verein zu registrieren. Politi-
sche Vereine waren lokal, durften sich nicht landesweit organisieren, Frauen nicht als
Mitglieder aufnehmen und waren rechtlich einfach zu verbieten. So entwickelten sich
Parteiorganisationen in der Monarchie in einer rechtlichen Grauzone, eingebettet in
ein Netzwerk ideologisch nahestehender Vereine mit vordergründig nicht politischen
Zielsetzungen (Maderthaner 1996). Auch 1945 lag eine besondere Situation vor. Für
die Teilnahme an den ersten demokratischen Wahlen war de facto die Genehmigung
einer Partei durch die Besatzungsmächte notwendig. Nach Wiedereinführung der Bun-
desverfassung (in der Fassung von 1929) beließen es die zugelassenen Parteien ÖVP,
SPÖ und KPÖ allerdings dabei. „Die Gründung bzw. Neugründung der ‚Parteien der
ersten Stunde‘ erfolgte – im April 1945 – ohne jede rechtliche Grundlage. Als nach dem
April 1945 wiederum das österreichische Vereinsrecht in Geltung stand, fanden es diese
Parteien nicht der Mühe wert, sich gehörig anzumelden – und sich damit der vereins-
behördlichen Aufsicht zu unterwerfen. […] Lediglich die später gegründete FPÖ wurde
nach den Bestimmungen des Vereinsgesetzes errichtet“ (Raschauer 1988, 557).
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Das erste Parteiengesetz im Jahr 1975 hielt im Rang einer Verfassungsbestimmung
fest: „Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der
demokratischen Ordnung der Republik Österreich.“ (Bundesgesetz über die Aufga-
ben, Finanzierung und Wahlwerbung politischer Parteien, BGBl 404/1975, Art 1, § 1,
Abs 1) und deklarierte im zweiten Absatz: „Zu den Aufgaben der politischen Parteien
gehört die Mitwirkung an der politischen Willensbildung.“ Das Parteiengesetz 2012
hat diesen Absatz mit einer Definition der politischen Partei ergänzt und ihre Aufga-
ben konkretisiert: „Eine politische Partei ist eine dauernd organisierte Verbindung, die
durch gemeinsame Tätigkeit auf eine umfassende Beeinflussung der staatlichen Wil-
lensbildung, insbesondere durch die Teilnahme an Wahlen zu allgemeinen Vertretungs-
körpern und dem Europäischen Parlament, abzielt und deren Satzung beim Bundes-
ministerium für Inneres hinterlegt ist.“ (BGBl 56/2012, § 1, Abs 2).
Neben der politischen Partei gab es in der österreichischen Rechtsordnung seit lan-
gem auch die Begriffe der wahlwerbenden Partei (oder Wahlpartei) und Klub als Be-
zeichnung für eine parlamentarische Partei oder Fraktion. Sie sind im Parteiengesetz
mittlerweile sogar verankert. Die Wahlpartei wird im Gegensatz zur politischen Partei
nicht als dauerhafter Akteur betrachtet, sondern nur als solange existierend wie für die
Abwicklung einer Wahl erforderlich. Es liegt nahe, dass eine politische Partei mit ihren
Kandidat*innen als eine Wahlpartei kandidiert und ihre gewählten Abgeordneten dann
den Klub dieser politischen Partei bilden. Das ist häufig so, allerdings nicht in immer.
Eine Wahlordnung, wie die Nationalrats-Wahlordnung 1992 (BGBl 471/1992), legt
die Bedingungen für die Teilnahme von „wahlwerbenden“ Parteien oder Wahlparteien
an einer Wahl fest. Zwei oder mehr politischen Parteien können sich zu einer Wahl-
allianz mit einer gemeinsamen Listenbezeichnung und gemeinsamen Kandidat*innen
zusammenschließen (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem Band). Die KPÖ trat bei
Nationalratswahlen nach 1945 häufig in einer Wahlallianz mit anderen kleinen linken
politischen Parteien an. Eine politische Partei könnte auch in Form mehrerer wahlwer-
bender Parteien mit unterschiedlichen Listenbezeichnungen an einer Wahl teilnehmen.
Das geschieht in Österreich sehr selten. Eine Ausnahme bildet die ÖVP bei Gemeinde-
vertretungswahlen in Tirol, in denen das Wahlsystem einen Mechanismus der Listen-
koppelung bei der Mandatsverrechnung nach der Wahl bietet. Ansonsten überwiegen
im Wahlkampf und bei der Mandatsverrechnung die Nachteile mehrerer Listen einer
Partei gegenüber den Vorteilen.
Die Geschäftsordnung einer Körperschaft, wie jene für die Kammern des österrei-
chischen Parlaments, legt Bedingungen fest, unter denen sich Abgeordnete zu einem
Klub oder einer Fraktion zusammenschließen können. Mit der Anerkennung als Klub
oder Fraktion sind typischerweise Vorteile für diese Gruppe von Abgeordneten in Form
einer finanziellen Fraktionsförderung, Bereitstellung von Infrastruktur und Personal,
bei der Vertretung in Ausschüssen und in Leitungsgremien sowie bei der Zuteilung
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107Politische Parteien und Parteiensystem
von Redezeiten in Debatten verbunden. Bei der finanziellen Förderung legt das Klub-
finanzierungsgesetz 1985 (BGBl 156/1985) des Bundes eine gemeinsame Förderung
„für die parlamentarischen Klubs der Abgeordneten zum Nationalrat und Mitglieder
des Bundesrates sowie des Europäischen Parlaments“ fest. Die Geschäftsordnung einer
Körperschaft legt eine Untergrenze für die Gruppengröße fest, ab der Klub- oder Frak-
tionsstatus zuerkannt wird. Diese liegt im Nationalrat des österreichischen Parlaments
derzeit bei fünf Abgeordneten derselben Wahlpartei. In der Vergangenheit konnte ein
neuer Klub aus mindestens fünf Abgeordneten aus verschiedenen wahlwerbenden Par-
teien durch Mehrheitsbeschluss des Nationalrats anerkannt werden (siehe dazu Praprot-
nik in diesem Band).
Das LIBERALE FORUM und das TEAM STRONACH sind zwei Beispiele für
intern entstandene Parteien. Das heißt die parlamentarische Partei existierte vor der
politischen Partei. Das LIBERALE FORUM wurde im Jahr 1993 von fünf FPÖ-Abge-
ordneten gegründet, die sich von ihrem Klub und ihrer Partei durch Austritt trennten
(Fischer 1993; Kratky 2009). Ein paar Monate vor der offiziellen Gründung der politi-
schen Partei TEAM STRONACH im September 2012 verfügte der Unternehmer und
Parteigründer Frank Stronach über die Unterstützung von vier Abgeordneten im Natio-
nalrat, die für zwei verschiedene Wahlparteien kandidiert hatten (drei Abgeordnete für
das BZÖ, ein Abgeordneter für die SPÖ) und ihren Klubs nicht mehr angehörten. Die
Zuerkennung des Klubstatus für die heterogene Gruppe durch Mehrheitsbeschluss im
Nationalrat war für eine neue Konkurrenzpartei ein Jahr vor der nächsten Nationalrats-
wahl nicht zu erwarten. Erst als sich zwei weitere BZÖ-Abgeordnete der Gruppierung
anschlossen, war das alternative Kriterium für den Klubstatus erfüllt. Die Anerkennung
als Klub war für die neue politische Partei TEAM STRONACH im Wettbewerb äußerst
wertvoll. Damit konnte man sich vor der nächsten Nationalratswahl in der Öffentlich-
keit profilieren und eine gleichberechtigte Vertretung in den TV-Duellen der Kandi-
dat*innen im Wahlkampf sichern. Der frühere SPÖ-Abgeordnete blieb ohne Klubzuge-
hörigkeit, unterstützte den neuen Klub im Nationalrat aber in Abstimmungen.
Die Geschäftsordnung des Nationalrats wurde danach geändert (GOG-NR-Novelle
2013) und das Zeitfenster für die Bildung eines Klubs auf einen Monat nach Konsti-
tuierung des neuen Nationalrats nach der Wahl reduziert. Abgeordnete einer wahlwer-
benden Partei können seither auch nur noch einen Klub bilden. Unter den aktuell gel-
tenden Regeln wäre somit die Klubgründung von LIBERALEM FORUM und TEAM
STRONACH nicht möglich gewesen. Diese Regeln verhinderten auch die Bildung
eines Klubs der LISTE PILZ vor der Nationalratswahl 2017 (Müller 2018).
Insgesamt zeigt sich, dass die politischen Parteien als zentrale Akteurinnen der öster-
reichischen Politik lange kaum reguliert waren. Erst in der letzten Dekade hat sich die
Regelungsdichte besonders zu Fragen der Parteienfinanzierung und des Wahlkampfs
deutlich erhöht (Eisner et al. 2019).
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2.1 Funktionen, die Parteien erfüllen (sollen)
Zu den Funktionen, die Parteien für ihre Mitglieder, ihre Wählerschaft und für das
politische System insgesamt leisten (sollen), wird aus einer Vielfalt an variierenden
Funktionskatalogen in der Literatur jener von Richard Katz exemplarisch dargestellt.
Katz (2020, 217–218) unterscheidet folgende Funktionen:
a) Koordinierung
b) Durchführung von Wahlkampagnen und Strukturierung des politischen Wettbe-
werbs
c) Personalauswahl und -rekrutierung sowie
d) Repräsentation
Eine politische Partei koordiniert ihre Abgeordneten im Parlament und je nach Status
als Regierungs- oder Oppositionspartei auch die Zusammenarbeit zwischen ihren Ab-
geordneten und ihren Regierungsmitgliedern. Das ist die Koordinierung ihrer Eliten in
zwei zentralen staatlichen Institutionen. Eine klassische Funktion bildet die Koordinie-
rung innerhalb der Parteiorganisation zwischen Parteiführung, Parteifunktionär*innen
(Personen mit einem Amt in der Parteiorganisation), aktiven (Parteiaktivist*innen) und
weniger aktiven Parteimitgliedern und zwischen der Parteiführung und den territoria-
len Gliederungen einer Partei. Die innerparteiliche Koordinierung vom Sondieren des
Meinungsspektrums in der Partei zu einer aktuellen politischen Frage bis zum Ent-
scheiden und Kommunizieren der offiziellen Parteiposition nach innen und nach außen
ist in einem föderalen und korporatistischen Mehrebenensystem herausfordernd (De-
schouwer 2006; Detterbeck 2012).
Darüber hinaus haben politische Parteien die Funktion, Wahlkampagnen durch-
zuführen und den politischen Wettbewerb zu strukturieren. Der Wahlkalender in
Österreich ist gefüllt mit Bundespräsidentenwahl, Wahl zum Europäischen Parlament,
Nationalratswahl, Landtagswahlen, Gemeindevertretungs- und Bürgermeisterwahlen
und Kammerwahlen, die zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden und für verschie-
dene Elemente einer Parteiorganisation mehr oder weniger wichtig sind. Es gibt immer
wieder Episoden, in denen eine „vielstimmige“ innerparteiliche Demokratie oder weni-
ger positiv interpretiert innerparteiliche Konflikte über emenpositionen einer Partei
wahrgenommen werden, zwischen der Bundespartei und einer Landesparteiführung,
zwischen verschiedenen Landesparteien, zwischen Minister*in und Parteiaktivist*innen
oder zwischen Parteikandidat*innen, die in direkter Konkurrenz um ein Amt mitein-
ander ringen. Das Wahlprogramm bei Nationalratswahlen ist hilfreich für die innerpar-
teiliche Kommunikation und natürlich um nach außen mit einer einheitlichen Position
der Partei im Wettbewerb mit den anderen aufzutreten (Eder et al. 2017).
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109Politische Parteien und Parteiensystem
Eng mit der Funktion der Durchführung von Wahlkampagnen und der Strukturie-
rung des politischen Wettbewerbs verbunden ist die Funktion der Personalrekrutie-
rung und -auswahl (Hazan/Rahat 2010; Jenny 2018).
Schließlich sollen Parteien die Funktion der Repräsentation erfüllen. Dabei geht
es um die Repräsentation von Interessen, die Bündelung dieser Interessen zu Politik-
angeboten und letztlich um die Umsetzung dieser Interessen im Rahmen der Politik-
gestaltung (Müller 2000). Parteien setzen sich auch mit Fragen der soziodemographi-
schen Repräsentation einer (Partei-)Wählerschaft durch ihre Abgeordneten und mit
dem Repräsentationsverständnis der Wähler*innen einerseits, und ihrer Politiker*innen
andererseits auseinander (Goodin 2004; Müller/Saalfeld 2007; Bengtson/Wass 2010;
Rehfeld 2011; Viera 2017). Eine in der Parteienforschung enorm einflußreiche Darstel-
lung von Parteizielen ist Strøms (1990) Ziel-‚Dreieck‘: Streben nach politischen Ämtern
(„office-seeking“) nach der Umsetzung politischer Inhalte („policy-seeking“) und nach
möglichst vielen Stimmen bei Wahlen („vote-seeking“). Doch diese Ziele lassen sich
äußerst selten gleichzeitig maximieren. Parteien müssen entscheiden, welches der Ziele
für sie gerade vorrangig und welche Ziele weniger wichtig sind (Müller/Strøm 1999).
Trotz der Unterschiede im Format nationaler Parteiensysteme lassen sich über die
Grenzen der politischen Systeme hinweg ideologische Ähnlichkeiten zwischen Parteien
erkennen, die mit Hilfe des Konzepts der Parteifamilie untersucht werden (von Beyme
1984; Mair/Mudde 1998; Camia/Caramani 2012; Ennser 2012).
2.2 Gründung und Anzahl politischer Parteien
Die Hürden für die Gründung einer politischen Partei sind in Österreich sehr nied-
rig. Es genügt aktuell die Hinterlegung der Parteistatuten im Bundesministerium für
Inneres und ihre Veröffentlichung im Internet. Im Parteistatut sind Angaben über die
Parteiorgane (mit mindestens einem Leitungsorgan, einer Mitgliederversammlung und
einem Aufsichtsorgan), zu Rechten und Pflichten der Mitglieder, zur Art der Partei-
organisation sowie über das Procedere bei einer freiwilligen Selbstauflösung der Partei
anzuführen.
Österreich ist ein Vielparteienstaat, gemessen an der Anzahl der nach dem Parteien-
gesetz ab 1975 gegründeten politischen Parteien. Mit Stand 4. April 2022 umfasste
das öffentlich einsehbare Parteienverzeichnis des Innenministeriums 1.247 Einträge mit
Zählnummer. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Anzahl der beim Innenministe-
rium registrierten Parteien von 1975 bis zur Gegenwart. Die bisher höchste Zahl an
Parteigründungen lag bei 63 im Jahr 1990. Anhand der Parteinamen kann man auf
variierende Ambitionen schließen. Manche fokussieren nur auf ein Bundesland oder
sogar nur eine Gemeinde. In einzelnen Fällen ist die Inspiration für die Wahl des Par-
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teinamen nachvollziehbar. Auf Wahlerfolge neuer Parteien in anderen Staaten folgte die
Registrierung einer Partei gleichen Namens in Österreich.
Abb. 1 Anmeldungen politischer Parteien seit 1975 (jährlich und gesamt)
Parteienverzeichnis; Stand: 04.04.2022.
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2022).
Nimmt man das Kriterium der Teilnahme an Wahlen, dann sind weit über 90 Prozent
der registrierten politischen Parteien nur Karteileichen. Die Teilnahme an einer Wahl
konfrontiert eine politische Partei mit deutlich höheren Hürden in Form von Unterstüt-
zungserfordernissen von Wahlberechtigten und finanziellen Kosten. Die Einreichung
von Kandidat*innenlisten erfordert den Nachweis von Unterstützungserklärungen von
Bürger*innen für die Wahlpartei im Ausmaß von mehreren Dutzend Unterschriften bei
Gemeindewahlen (variabel nach Bundesland und Gemeindegröße), mehreren hundert
Unterschriften bei einer Landtagswahl (variabel nach Bundesland) bis zu 2.600 Unter-
stützungserklärungen für die bundesweite Kandidatur bei einer Nationalratswahl oder
bei der Wahl zum Europäischen Parlament.
Für bereits im Nationalrat, Landtag oder im Europäischen Parlament vertretene Par-
teien genügen alternativ die Unterschriften weniger Abgeordneten für die Einreichung
einer Kandidat*innenliste. Für eine Kandidatur bei einer Wahl zum Europäischen Par-
lament reicht die Unterschrift eines Mitglieds des Europäischen Parlaments. Bei einer
Nationalratswahl reichen die Unterschriften von drei Nationalratsabgeordneten. Nach
innerparteilichen Konflikten, die mit Austritten oder Ausschlüssen von Abgeordneten
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111Politische Parteien und Parteiensystem
aus einer Fraktion endeten, waren neue politische Parteien mehrmals Nutznießerinnen
derartiger Konflikte, indem sie sich die Unterstützungsunterschriften dieser Abgeord-
neten für ihre Kandidatur sicherten.
Häufiger steht eine neue Wahlpartei aber mit dem Werben und Sammeln von Unter-
stützungserklärungen von Wahlberechtigten bereits vor der Herausforderung einer ge-
wissen Mobilisierungsfähigkeit für ihre Anliegen und ihre Kandidat*innen. Zusätzlich
hat sie auch eine finanzielle Hürde für ihre Wahlteilnahme zu bewältigen, die in den
Wahlordnungen als Beitrag zu den Kosten des Wahlverfahrens oder der Produktion der
amtlichen Stimmzettel bezeichnet wird. Dieser Kostenbeitrag liegt für eine bundes-
weite Kandidatur bei einer Nationalratswahl bei 3.915 Euro und bei der EU-Wahl bei
3.600 Euro. Bei Landtagswahlen variiert der Kostenbeitrag sehr. Der Kostenbeitrag für
ein landesweites Antreten bei einer Tiroler Landtagswahl liegt bei 2.700, in Oberöster-
reich bei nur 200 Euro. Unterstützungserfordernisse und Kostenbeiträge sollen von
einer Kandidatur rein zum Spaß abschrecken.
Derzeit sind im Nationalrat, im Bundesrat, im Europäischen Parlament und in
den Landtagen Fraktionen von neun politischen Parteien vertreten (ÖVP, SPÖ, FPÖ,
GRÜNE, NEOS, KPÖ, MFG, LISTE FRITZ, TEAM KÄRNTEN). Sieben weitere
Kleinparteien (darunter die BIER-PARTEI, LINKS und TEAM HC STRACHE) ha-
ben Mandate in Wiener Bezirksvertretungen. Berücksichtigt man wahlwerbende Par-
teien, die in diesen Wahlen in der vergangenen Dekade ohne Mandatsgewinn blieben,
waren in Österreich 20 bis 30 politische Parteien zumindest für die Zeitspanne eines
Wahlkampfs aktiv tätig. Aus Gemeindevertretungswahlen kommen einige weitere poli-
tische Parteien mit rein lokaler Präsenz hinzu. Ihre konkrete Zahl zu bestimmen, ist
schwierig. Lokale Listen vermeiden manchmal zum Zweck der Stimmenmaximierung
eine erkennbare Zuordnung zu einer existierenden politischen Partei. Auch Wahlbünd-
nisse von Parteien oder von Parteien mit parteifreien Kandidat*innen kommen in Lo-
kalwahlen häufig vor. Die Antwort auf die Frage, wie viele politische Parteien es in
Österreich gibt, hängt also auch von den Zählkriterien ab, die man anwendet.
2.3 Staatliche Parteienförderung
Das Parteiengesetz erlaubt die staatliche Förderung politischer Parteien durch Bund,
Länder und Gemeinden für politische Parteien, die in einem „allgemeinen Vertretungs-
körper“ oder im Europäischen Parlament mit Mandaten vertreten sein. Allgemeine
Vertretungskörper sind in Österreich der Nationalrat, die Landtage, die Bezirksvertre-
tungen in Wien und die Gemeindevertretungen. Darüber hinaus gefördert werden in
Österreich auch die politischen Akademien von Parteien, die im Nationalrat mit Klub-
stärke vertreten sind (Parteiengesetz 2012, Parteien-Förderungsgesetz 2012; Publizistik-
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förderungsgesetz 1984) und die Beschäftigung von Mitarbeiter*innen der Abgeordne-
ten (Parlamentsmitarbeiterinnen- und Parlamentsmitarbeitergesetz). Klubförderungen
gibt es auch Landesebene.
Anschauliches. Staatliche Parteienförderung
-
wirkung an der politischen Willensbildung in Bund, Ländern und Gemeinden jährlich
Fördermittel zuwenden (Verfassungsbestimmung). Dazu dürfen den politischen Par-
teien, die in einem allgemeinen Vertretungskörper vertreten sind, insgesamt je Wahl-
berechtigem zum jeweiligen allgemeinen Vertretungskörper mindestens 3,10 Euro,
höchstens jedoch 11 Euro gewährt werden. Die Länder können ihre Förderungen inner-
Willensbildung auf Bezirks- und Gemeindeebene sicherzustellen. Für die Ermittlung der
Anzahl der Wahlberechtigten ist jeweils auf die bei der letzten Wahl zum allgemeinen
Vertretungskörper Wahlberechtigten abzustellen. Eine darüber hinausgehende Zu-
wendung an politische Parteien und wahlwerbende Parteien zur Bestreitung von Wahl-
werbungskosten bei Wahlen zu allgemeinen Vertretungskörpern ist unzulässig. Förder-
mittel des Bundes für politische Parteien sind durch ein besonderes Bundesgesetz zu
regeln (Parteiengesetz 2012, § 3).
2.4 Parteiorganisation und Parteimitglieder
Zur Einbeziehung ihrer Mitglieder in innerparteiliche Prozesse unterhalten Parteien
Parteiorganisationen. Die Struktur von Parteiorganisationen orientiert sich an der ter-
ritorialen Staatsorganisation mit den Ebenen Bund, Land, Bezirk und Gemeinden. Es
gibt ergänzend andere Kriterien der Organisation wie die emeninitiativen bei der
SPÖ. In der ÖVP ist die Territorialorganisation zusätzlich noch nach den Bünden ge-
gliedert. Die großen Parteien unterhalten auch kleinere Organisationseinheiten unter-
halb der Gemeindeebene, zum Beispiel die Sektionen in der SPÖ. Der Bedeutung der
nationalen und der Länderebene entsprechend sind die Bundespartei und die Landes-
parteien die wichtigsten Ebenen einer Parteiorganisation. Bei den größeren Parteien
sind die Landesparteien rechtlich eigenständig und durch die Parteistatuten mit der
Bundespartei verknüpft.
Auf lokaler Ebene unterscheiden sich die Parteiorganisationen sehr stark. Die ÖVP
ist derzeit die einzige Partei mit einem flächendeckenden Netz von Ortsorganisatio-
nen. Sie ist praktisch in allen Gemeinden Österreichs vertreten, oft sogar in mehrfacher
Form durch ihre Teilorganisationen.
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113Politische Parteien und Parteiensystem
Patrick Seyd und Paul Whiteley (1992; Whiteley et al. 1994) haben in ihrem Modell
der Anreize für eine Parteimitgliedschaft zwischen materiellen, prozessbezogenen und
ideologischen Anreizen unterscheiden. Diese Komponenten tragen auch zur Erklärung
der Parteimitgliedschaft bei österreichischen Parteien bei. SPÖ und ÖVP waren nach
1945 extrem erfolgreich bei der Werbung von Parteimitgliedern. Die von den beiden
dominierenden Regierungsparteien auf nationaler und regionaler Ebene ausgeübte
Schutz- und Leistungsfunktion in Form von Patronage im verstaatlichten Sektor der
Wirtschaft, im Bildungswesen und in der Verwaltung und die Gewährung klientelisti-
scher Leistungen bildeten wesentliche, aber nicht die einzigen Anreize für eine Partei-
mitgliedschaft (Urban/Zeidner 1983; Müller 1988 & 2006 & 2007).
Die Ämterpatronage durch Parteien hat sich mittlerweile von der Massenpatronage
zur Elitenpatronage verändert (Treib 2012; Ennser-Jedenastik 2013). Die Förderung
der beruflichen Karriere in der Verwaltung, in staatsnahen Unternehmen und Einrich-
tungen, inklusive des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, stellt bis heute einen Anreiz
für eine Parteimitgliedschaft dar. Allerdings umfasst dies einen deutlich kleineren und
in den soziodemographischen Kriterien verschiedenen Personenkreis als die Massen-
patronage der Vergangenheit.
Natürlich gibt es auch weiterhin das Motiv einer politischen Karriere. Für eine Kan-
didatur bei Wahlen auf einer Listenposition mit einer realistischen Aussicht auf ein
Mandat setzen Parteien, von prominenten Ausnahmen abgesehen, in der Regel eine
Parteimitgliedschaft voraus. Allerdings dürfte dieser Personenkreis nicht besonders groß
sein. Die Anzahl an Personen, die eine Partei bei Teilnahme an den diversen Wahlen
in Österreich für ihre Kandidat*innenlisten benötigt, liegt geschätzt im drei- bis vier-
stelligen Bereich.
Mit der Zunahme der staatlichen Parteienförderung und der Professionalisierung
von Wahlkämpfen ist die Bedeutung der finanziellen Beiträge von Parteimitgliedern
und der Mitarbeit von Parteiaktivist*innen in Wahlkämpfen tendenziell zurückgegan-
gen (siehe Müller 1996 am Beispiel der SPÖ). Allerdings sind beide Formen der Unter-
stützung bis in die Gegenwart wertvoll, insbesondere für Kleinparteien mit einer sehr
kleinen Parteiorganisation und geringen finanziellen Ressourcen und sogar noch mehr
für neue Parteien, die gerade erst in den Wettbewerb bei Wahlen eintreten.
Bei der Anzahl der Parteimitglieder liegt Österreich bis heute im internationalen
Vergleich im Spitzenfeld, auch wenn es ab den 1980er-Jahren – ebenso wie in vielen
anderen westlichen Demokratien – einen steten Rückgang in den Mitgliederzahlen gab
(Katz/Mair 1992; Dalton/Wattenberg 2000; van Biezen et al. 2012; Scarrow 2014).
Bei den Parteimitgliedschaften gibt es einen zentralen Unterschied zwischen der
ÖVP und anderen Parteien. Die Mitgliedschaft in der ÖVP erfolgt überwiegend in-
direkt durch Beitritt zu einem oder mehreren ihrer Bünde, die Teilorganisationen
der Partei darstellen. Anfänglich bestand die ÖVP aus drei Teilorganisationen, in der
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Bauern*Bäuerinnen, selbstständige Wirtschaftstreibende sowie Arbeiter*innen, An-
gestellte und Beamt*innen organisiert waren. Später kamen Teilorganisationen für
junge Erwachsene, Frauen sowie Senior*innen hinzu. Nach dem aktuellen Bundespar-
tei-Organisationstatut besteht die ÖVP auf den folgenden Teilorganisationen: Junge
ÖVP, Österreichische Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund, Österreichischer
Bauernbund, ÖVP Senioren, Österreichischer Wirtschaftsbund und ÖVP Frauen (§
5, ÖVP 2021). Der ständige Vorbehalt beim Vergleich der Mitgliederzahlen der ÖVP
mit jenen anderer Parteien ist, dass Angaben zur ÖVP die Summe der Bündemitglied-
schaften und wegen der Mehrfachmitgliedschaften nicht die Personenzahl darstellen.
Auch die Unterscheidung in Vereinsmitglieder und Parteimitglieder bei ÖVP-Bünden
ist relevant, kann aber hier mangels Daten nicht weiterverfolgt werden.
Ein Vergleich der Mitgliederzahlen verschiedener Parteien ist auch zunehmend
schwieriger geworden, weil die österreichischen Parteien – einem internationalen Trend
folgend (Scarrow 2014) – unterschiedliche Kategorien einer Mitgliedschaft entwickelt
haben, beispielsweise eine Probemitgliedschaft oder eine Fördermitgliedschaft.
Die folgenden beiden Grafiken versuchen unter diesen Vorbehalten trotzdem eine
vergleichende Darstellung der Mitgliederzahlen. Die erste Grafik zeigt die ältesten fünf
Parteien im Nationalrat ab 1945. Die nächste Grafik mit anderer Skalierung zeigt die
Mitgliederzahlen späterer Parlamentsparteien im Vergleich zur FPÖ. Unterschiede in
den Mitgliederzahlen der in den letzten zwei Jahrzehnten gegründeten Parteien wären
ansonsten kaum zu erkennen. Die Zeitreihen von 1945 bis Anfang der 1990er stammen
aus den fundamentalen Studien von Wolfgang C. Müller (1992 & 1994). Die jüngeren
Daten sind aus Beiträgen zu Parteien und Parteiensystem (Luther 1997 & 1999; Dachs
et al. 2006), Anfragen an die Parteien und aus Medienberichten zusammengetragen.
Letztere enthalten häufig stark gerundete Angaben der Parteien.
SPÖ und ÖVP hatten nach Wiedererrichtung der Zweiten Republik rasch einen
enormen Zustrom an Mitgliedern und verzeichneten innerhalb weniger Jahre jeweils
mehr als eine halbe Million Parteimitglieder. Während die SPÖ in diesem Vergleich
zunächst meist vor der ÖVP lag, zog Letztere in den 1970er-Jahren nach der Aufwer-
tung von Seniorenbund, Frauenbewegung und Junger ÖVP von Vorfeldorganisationen
zu Teilorganisationen der ÖVP in der Brutto-Mitgliederzahl mit der SPÖ gleich und
überholte sie dann.
Die SPÖ verzeichnete ab den 1980er-Jahren einen Rückgang bei den Mitgliedern,
der sich in der darauffolgenden Dekade noch deutlich beschleunigte. Die ÖVP ver-
zeichnete ebenfalls einen Rückgang in der Mitgliederzahl seit den 1980er-Jahren, aber
weniger drastisch und mit zwischenzeitlichen Zunahmen. Die ÖVP liegt seither auf
Basis der Brutto-Mitgliederzahl deutlich vor der SPÖ. Allerdings werden Ältere mit
Sympathie zur Partei bei der SPÖ in einer Vorfeldorganisation, dem Pensionistenver-
band, aufgenommen, während sie bei der ÖVP in der Teilorganisation Seniorenbund
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115Politische Parteien und Parteiensystem
Abb. 2 Parteimitgliederzahlen von SPÖ, ÖVP, KPÖ, VdU und FPÖ
Abb. 3 Parteimitgliederzahlen der jüngeren Parteien
(2006-2022); eigene Anfragen an die Parteiorganisationen.
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und damit in der Mitgliederzahl der Partei berücksichtigt sind. Wenn man bei der
ÖVP die rund 300.000 Mitglieder des Seniorenbunds abzieht oder bei der SPÖ die
rund 350.000 Mitglieder des Pensionistenverbands hinzufügt, ist die Größenordnung
weiterhin ähnlich.
Die bündische Gliederung der ÖVP ist wiederholt als Wettbewerbsnachteil gegen-
über anderen Parteien eingestuft worden, da sie innerparteiliche Konflikte fördert
und die Ausrichtung auf stimmenmaximierende Wahlkämpfe behindert (Müller et al.
2004). Allerdings lässt die thematische Konzentration eines Bundes auf Interessenpoli-
tik für einen Teil der Gesellschaft und die Verbindung zwischen Teilorganisation und
ihrer Kandidatur bei der jeweiligen Kammerwahl die Vorteile der Mitgliedschaft in
einem ÖVP-Bund klarer hervortreten als die Mitgliedschaft in einer Partei mit weniger
klar identifizierbaren Adressaten. Ein Mitgliedsbeitrag bei einer beruflichen Interessen-
vertretung ist im Gegensatz zu einer Parteimitgliedschaft in Österreich steuerlich ab-
setzbar. Bei der ÖVP sind Mitgliedsbeiträge für Ihre Teilorganisationen Wirtschafts-
bund, Bauernbund und Seniorenbund, die auch als Interessenvertretungen anerkannt
sind, steuerlich absetzbar (Fritzl 2022). Bei anderen Parteien kommt eine steuerliche
Absetzbarkeit des Mitgliedsbeitrags nur der jeweiligen ideologisch verbundenen Vor-
feldorganisation zugute, die bei einer Kammerwahl kandidiert und in der Kammer
Interessenpolitik betreibt.
Die KPÖ war in den ersten paaren Jahren der Zweiten Republik sehr erfolgreich in
der Mitgliederwerbung. Ihren Höhepunkt mit rund 150.000 Mitgliedern erreichte sie
Ende der 1940er-Jahre. Nach Ausbruch des Kalten Krieges gingen die Mitgliederzahlen
rasch zurück und das Ende der Besatzungszeit beschleunigte den Rückgang nochmals.
Zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion und des Ostblocks hatte die bis da-
hin ideologisch immer an der sowjetischen Mutterpartei orientierte KPÖ weniger als
10.000 Mitglieder. 2013 gab sie rund 3.000 Mitglieder an.
Vergleiche der Mitgliederzahlen von Parteien beziehen häufig den Vergleich mit ih-
ren Wähler*innenstimmen ein und berechnen Indikatoren des Organisationsgrads, der
organisatorischen Durchdringung der Wähler*innenschaft durch eine Partei. Aus Platz-
gründen wird hier mit einer Ausnahme davon abgesehen. Die KPÖ hält den Rekord
als die größte Partei mit dem höchsten Organisationsgrad. Gemessen an der Relation
zwischen Wähler*innenstimmen bei der Nationalratswahl 1949 und Mitgliedern, wa-
ren nahezu drei Viertel der Wähler*innen der KPÖ auch Parteimitglieder.
Der kurzlebige Verband der Unabhängigen (1949–1956) hatte rund 15.000 Partei-
mitglieder. Die ideologisch verwandte Nachfolgepartei FPÖ erlebte von diesem Niveau
aus in den folgenden Jahrzehnten ein langsames Wachstum. In der Ära der rechts-
populistischen Wende unter Parteiobmann Jörg Haider erreichte sie die Marke von
50.000 Mitgliedern, parallel zum großen Wahlerfolg bei der Nationalratswahl 1999.
Der Höchststand liegt bei rund 55.000 FPÖ-Mitgliedern. In Relation zu den Mit-
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117Politische Parteien und Parteiensystem
gliederzahlen von SPÖ und ÖVP war die FPÖ immer eine kleine Partei. Mittlerweile
ist der Abstand zu diesen Parteien deutlich kleiner geworden. Gleichzeitig ist die FPÖ
im Vergleich mit allen später gegründeten Parteien in einer eigenen Größenordnung.
Keine der jüngeren Parteien, denen ab den 1980er-Jahren der Einzug in den National-
rat gelangen, kam bei der Anzahl der Mitglieder über den vierstelligen Bereich hinaus.
Ein interessanter Fall ist die während der Covid19-Pandemie entstandene Partei MFG,
die bei ihrem ersten Antreten bei der oberösterreichischen Landtagswahl 2021 in den
Landtag einzog. Die MFG hatte nach eigenen Angaben zum Jahresanfang 2022 über
20.000 Mitglieder.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Nach der klassischen Definition von Sartori (1976) erfasst der Begriff des Parteien-
systems die Menge der in einem politischen System existierenden politischen Parteien
und ihre gegenseitigen – durch unterschiedliche Grade von Kooperation und Konflikt
– geprägten Beziehungen.
In diesem Abschnitt beschränkt sich die Darstellung der Parteiensysteme auf Bun-
des- und Landesebene nur auf die Parteien mit einer parlamentarischen Repräsentation
und allein auf die Betrachtung der numerischen Komponente (siehe Caramani 2020 für
eine breitere komparative Darstellung von Parteiensystemen und ihrer Entwicklung).
Abbildung 4 zeigt die Anzahl der in den gesetzgebenden Institutionen vertretenen
Parteien auf Basis der Nationalrats- oder Landtagswahlen seit 1945. Den ganzzahligen
Zähldaten wurde für die graphische Darstellung etwas zufälliges Rauschen beigefügt.
Nach bis zu drei Fraktionen auf Basis der ersten Wahlen 1945 waren nach den Ergeb-
nissen der folgenden Wahlen in den ersten beiden Dekaden der Zweiten Republik bis
zu vier Fraktionen im Nationalrat oder Landtag (ÖVP, SPÖ, KPÖ, VdU und später
FPÖ) vertreten. Nach dem Ausscheiden der in Wahlen zunehmend erfolglosen KPÖ in
den 1950er-Jahren waren maximal drei Fraktionen (SPÖ, ÖVP, FPÖ) in den parlamen-
tarischen Institutionen vertreten. Manche Landtage hatten sogar nur zwei Fraktionen
(ÖVP, SPÖ). Der Landtag Niederösterreichs besaß von 1959 bis 1988 ein Zweipar-
teiensystem. Die maximale Konzentration der Parteiensysteme zeigte sich sowohl auf
Bundes- als auch auf Landesebene in den 1970er-Jahren mit den zwei regional unter-
schiedlich dominanten Großparteien ÖVP und SPÖ und der Kleinpartei FPÖ. Mit
der schrittweisen parlamentarischen Etablierung der grünen Bewegung ab den 1980er-
Jahren nahm die Anzahl der Fraktionen in Österreich wieder zu. Nach Gründung des
LIBERALEN FORUMS gab es in Wahlen der 1990er-Jahre erste Fünf-Parteien-Kör-
perschaften. In der letzten Dekade steigerte sich die Anzahl der Fraktionen durch wei-
tere neue im Nationalrat (BZÖ, TEAM STRONACH, NEOS, LISTE PILZ) oder
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in einzelnen Landtagen vertretenen Parteien (BZÖ, DIE FREIHEITLICHEN IN
KÄRNTEN, TEAM KÄRNTEN in Kärnten, LISTE FRITZ in Tirol, KPÖ in der
Steiermark, MFG in Oberösterreich) weiter auf bis zu sechs Fraktionen.
Der Index der effektiven Parteienzahl (Laakso/Taagepera 1979) fasst die Anzahl der
Parteien und ihre relativen Größen in einer Maßzahl zusammen.2 Abbildung 5 liefert
Zeitreihen der effektiven Parteienzahl auf Basis erzielter Mandate für den Nationalrat
und die neun Landtage im Vergleich seit 1945. Die Landtage sind nach der durch-
schnittlichen effektiven Parteienzahl im gesamten Zeitraum gereiht. Das am stärksten
konzentrierte Parteiensystem wies der Landtag Niederösterreichs auf, gefolgt von Bur-
genland und Tirol. Die im Durchschnitt am wenigsten konzentrierten Parteiensysteme
waren jene in den Landtagen von Salzburg, Kärnten und Oberösterreich, weil die FPÖ
(davor bereits der VdU) in diesen Ländern etwas bessere Wahlergebnisse erzielte.
2 Der Index der effektiven Parteienzahl nach Laakso und Taagepera (1979) berücksichtigt die
relative Größe der Parteien in einem Parteiensystem. Hierzu ein Beispiel: Gibt es in einem
Land zwei gleich starke Parteien im Parlament, dann entspricht die effektive Parteienzahl der
Anzahl der Parteien und liegt ebenfalls bei zwei. Ist eine Partei größer als die andere Partei,
dann bildet der Index das ungleiche Stärkeverhältnis ab und sinkt unter den Wert von zwei.
Der Index kann auf Basis der Mandatsanteile im Parlament oder auf Basis der Stimmenanteile
der wahlwerbenden Parteien berechnet werden. Die Berechnungsart hängt vom Forschungs-
interesse ab.
Abb. 4 Anzahl der Parteien im Nationalrat und in den Landtagen seit 1945
Stand: 2021.
Quelle: Homepages des Parlaments sowie der Landtage.
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119Politische Parteien und Parteiensystem
Der Index der effektiven Parteienzahl wurde auf Basis der Mandatsanteile der Par-
teien nach dem Wahlergebnis (Nationalratswahl, Landtagswahl) berechnet. Neben den
mittleren Maßen (arithmetischer Mittelwert und Median) ist die Variation in der histo-
rischen Entwicklung interessant. Das Parteiensystem im Tiroler Landtag war über vier
Jahrzehnte wegen der besonders guten Wahlergebnisse für die ÖVP das am stärksten
konzentrierte Parteiensystem Österreichs. Das änderte sich ab 1989, als das regionale
Wahlverhalten instabil wurde, sichtbar in zwei Phasen einer starken Dekonzentration
des Parteiensystems.
LTW (Landtagswahl), NRW (Nationalratswahl); eigene Berechnung nach Laakso/Taagepera (1979);
Stand: 2021.
Quelle: Homepages des Parlaments sowie der Landtage.
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Gemessen am Konzentrationsgrad lag das Parteiensystem im Nationalrat nach 1945
mehrere Dekaden nur im mittleren Bereich. Erst ab den 1980er-Jahren wurde der Na-
tionalrat Spitzenreiter in der Dekonzentration der Parteiensysteme. Die Erfolge neuer
Parteien und Rückgänge in den Mandatsanteilen der bisher dominierenden Großpar-
teien SPÖ und ÖVP zeigten sich nun in den nationalen Wahlen früher und stärker als
in den regionalen Wahlen.
Die Analyse der Veränderungen in Parteiensystemen mithilfe des Index der effek-
tiven Parteienzahl stößt rasch an Grenzen, wie das folgende Beispiel illustriert. Die
FPÖ verzeichnete in Landtagswahlen in den verschiedenen Bundesländern sehr unter-
schiedliche Ergebnisse. Weitaus am erfolgreichsten war sie in Kärnten. Dort wurde sie
unter Parteiobmann Jörg Haider in den Landtagwahlen 1999 und 2004 stärkste Par-
tei. Die von Haider mitbegründete neue Partei BZÖ, eine FPÖ-Abspaltung, wurde
bei der Kärntner Landtagswahl 2009, ein halbes Jahr nach Haiders Unfalltod auch
stärkste Partei, bevor Konflikte zwischen der BZÖ-Bundesführung und ihrer wichtigs-
ten Landespartei den Niedergang für das BZÖ und für ihre Kärntner Abspaltung DIE
FREIHEITLICHEN IN KÄRNTEN (FPK) einläuteten. Seither ist die SPÖ in Kärn-
ten – wie vor 1999 – wieder die regional stärkste Partei. Qualitative Analyse und Er-
gänzung durch weitere quantitative Kennzahlen ermöglichen weitergehende Einblicke
in die Entwicklung nationaler und regionaler Parteiensysteme (Dachs 1992 & 2006;
Jenny 2013).
4. Einordnung des österreichischen Falls
Der Index der effektiven Parteienzahl (Laakso/Taagepera 1979) kann auch für einen
Vergleich des Formats des österreichischen Parteiensystems mit den Parteiensystemen
anderer Länder herangezogen werden. Abbildung 6 zeigt die Mitgliedsländer der OECD
gereiht nach der effektiven Parteienzahl in der nationalen Legislative. Österreich liegt
hier mit einem Indexwert von 3,9 im Mittelfeld. Die höchste Zahl an effektiven Partei-
en in einem Parteiensystem weist Belgien mit fast zehn Parteien auf, die niedrigste Zahl
Serbien mit weniger als zwei Parteien.
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121Politische Parteien und Parteiensystem
-
tive vor dem Jahr 2022 berechnet (z.B. für Österreich: Ergebnis der Nationalratswahl 2019).
Quelle: Casal Bértoa (2022).
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5. Herausforderungen für die Zukunft
Die politische emenlandschaft wird ständig durch neue Konfliktthemen erneuert,
auf die politische Parteien auf unterschiedliche Weisen reagieren: mit Pro/Contra-Posi-
tionen, durch die Betonung oder Verleugnung ihrer Wichtigkeit und andere Strategien.
Dazu gehört auch wie Parteien bei der Rekrutierung und Förderung politischer Talente
vorgehen, beispielsweise bei der Förderung der politischen Karrieren von Frauen. Sehr
ambitionierte Personen mit einem Wunsch nach einer politischen Karriere vergleichen
die politischen Parteien am Markt und die Karrierechancen, die sie bieten. Viele werden
jedoch nach wie vor von einer Partei zum Einstieg in die Politik eingeladen: durch das
Angebot einer Kandidatur bei einer Wahl.
Wie in der Vergangenheit werden technologische Veränderungen auf die Entwick-
lung von Parteien und Parteiensystemen Einfluss nehmen. Wo künftige Innovation
stattfindet, die Organisationsprozesse in der Politik, parteiinterne Kooperation und
Kommunikation, Spezialisierung und Führung beeinflusst, ist kaum abschätzbar. Dass
sie ständig stattfindet ist, ist allerdings klar (Jungherr et al. 2020).
Jede Partei steht in einem ständigen Wettbewerb mit den anderen existierenden Par-
teien. Bei jeder Wahl droht auch die Herausforderung durch neue Konkurrenten. Wie
empfänglich der Wählermarkt in der vergangenen Dekade für Angebote neuer Parteien
war, zeigte sich an mehreren Fällen. TEAM STRONACH war eine Unternehmerpar-
tei, gegründet und geleitet vom Unternehmer Frank Stronach. Sie hatte keine nennens-
werte Parteiorganisation, eine diffuse Programmatik, war aber mit sehr großen finan-
ziellen Ressourcen ausgestattet, die in den Wahlkampf für die Nationalratswahl 2013
investiert wurden. Finanziell sehr viel schlechter ausgestattet, dafür programmatisch
vorbereitet und organisatorisch auf die Mitarbeit von Aktivisten gestützt, kam auch
NEOS bei derselben Wahl neben TEAM STRONACH in den Nationalrat. Bei der
darauffolgenden Nationalratswahl 2017 lieferte die LISTE PILZ eine weitere Variante
eines Rezepts für den Einzug in den Nationalrat. Parteigründer Peter Pilz hatte mini-
male Finanzmittel für den Wahlkampf, keine Parteiorganisation und wenige Aktivisten,
aber als Spitzenkandidat verfügte Pilz über wesentliche Stärken. Durch die langjährige
parlamentarische Karriere war er national bekannt, hatte Medien- und Wahlkampf-
erfahrung und verband als Spitzenkandidat die neue Partei mit einem klaren emen-
und Kompetenzprofil. Das Antreten der LISTE PILZ war maßgeblich für das Scheitern
der GRÜNEN an der Eintrittshürde für den Nationalrat 2017 verantwortlich.
Dass zwei der drei genannten Parteien nicht mehr existieren – nur NEOS schaffte
eine Konsolidierung, den Aufbau einer territorialen Parteiorganisation und den Einzug
in Landtage –, zeigt die Herausforderungen, die Parteien jenseits von Wahlkämpfen
zu bewältigen haben. Wahlkämpfe sind intensive, aber kurze Phasen im Leben einer
Partei. Je nach Eingrenzung der Wahlkampfphase handelt es sich um einige Wochen
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123Politische Parteien und Parteiensystem
oder Monate. Es überwiegt der große Teil einer mehrjährigen Legislaturperiode, in der
eine Partei als Oppositions- oder als Regierungspartei beschäftigt ist, sich intern zu ko-
ordinieren und nach außen kollektiv zu handeln, um ihre Ziele in dieser langen Phase
umzusetzen, bevor der nächste Wahlkampf kommt.
Im internationalen Vergleich liegen die Veränderungen im Wahlverhalten in Öster-
reich von Wahl zu Wahl noch im gemäßigten Bereich. Mehr Volatilität im Wahlver-
halten wäre durchaus möglich. Es spricht auch mehr für weitere Instabilität als für ein
längerfristiges „Einfrieren“ und damit eine „Institutionalisierung“ der aktuellen Partei-
systeme. Doch man sollte die Elemente der Stabilität nicht übersehen. Im Vergleich
zu früheren Dekaden sind SPÖ und ÖVP deutlich kleiner und es gibt mehr Parteien
als früher. Es gibt neue Mehrheitskoalitionen auf nationaler und regionaler Ebene in
Form von Zweierkoalitionen mit einer dieser Parteien, zunächst mit der FPÖ, dann
mit den GRÜNEN, mittlerweile auch mit NEOS in Wien. Allerdings sind SPÖ und
ÖVP immer noch groß genug, dass parlamentarische Mehrheiten ohne die Beteiligung
mindestens einer der beiden Parteien bisher nicht möglich waren. Die Bezeichnung
„Staatspartei“, die sie auch wegen ihrer langjährigen Tätigkeit in Regierungsfunktionen
erhalten haben, könnten SPÖ und ÖVP noch länger tragen.
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Übungsfragen
Wie lassen sich die Begriffe „Partei“ und „Parteiensystem“ definieren?
Was unterscheidet eine Partei von einer Interessensvertretung?
Was sind intern entstandene Parteien? Erläutern Sie zwei Beispiele.
Welche vier Funktionen sollen Parteien erfüllen? Erklären Sie zwei davon näher.
Beschreiben Sie die Herausforderungen neuer Wahlparteien.
Wie funktioniert die staatliche Parteienförderung in Österreich?
An welcher Organisation orientiert sich die übliche Struktur von Parteiorganisatio-
nen?
Erläutern Sie die Anreize für eine Parteimitgliedschaft.
Inwiefern unterscheidet sich die Parteimitgliedschaft bei der ÖVP im Vergleich zu
anderen Parteien?
Welche Aspekte stellen künftige Herausforderungen für Parteien und Parteiensyste-
me dar?
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Medien und Politik –
ein Geben und ein Nehmen
Josef Trappel
Zusammenfassung
9
9
ORF aus.
9-
me beschränkt.
9
-
gen auf.
9Ökonomische Verwerfungen aufgrund veränderter Nutzungsgewohnheiten und das ten-
1. Einleitung
Ohne Medien hätte die jüngere Zeitgeschichte Österreichs ein ganz anderes politisches
Gesicht. Da war im Mai 2019 der damalige Vize-Kanzler Heinz-Christian Strache auf
einem Video in einer Finca auf Ibiza in wenig vorteilhafter Pose auf allen Medienkanälen
zu sehen – bekannt gemacht durch die Süddeutsche Zeitung und die Zeitschrift Falter
aus Wien. In der Folge trat Strache von allen politischen Ämtern zurück, die Regie-
rungskoalition zwischen der FPÖ und der ÖVP unter Bundeskanzler Sebastian Kurz
zerbrach. Zwei Jahre später war die Reihe an Sebastian Kurz selbst, den Rücktritt von
allen politischen Ämtern zu erklären. Nach Neuwahlen im Herbst 2019 hatte die türkise
ÖVP eine Koalition mit den GRÜNEN gebildet. Um Medienangelegenheiten kümmer-
te sich gemäß der Geschäftsordnung der Regierung der Bundeskanzler Kurz selbst. Zum
politischen Verhängnis wurden ihm nicht zuletzt die Verbindungen zu der Tageszeitung
Österreich, die er mit umfangreichen Werbeschaltungen der Regierung bedachte.
Das Phänomen ist nicht auf Österreich beschränkt. In den Nachbarländern Ungarn,
Tschechien und Slowenien herrscht wenig Distanz zwischen der Regierung und den
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130 Josef Trappel
Medien des Landes. In Ungarn erklärte Ministerpräsident und Regierungschef Vik-
tor Orbán 2018 per Dekret die Mitteleuropäische Presse- und Medien-Stiftung, in der
480 regierungstreue Medien zusammengefasst sind, zu einer Angelegenheit von natio-
naler strategischer Bedeutung (Neue Zürcher Zeitung 10.12.2018). In Tschechien gelten
die zwei größten Tageszeitungen Mladá fronta Dnes und Lidové noviny als Instrumente
der politischen Agenda des Ministerpräsidenten Andrej Babiš (2017–2021), zu dessen
Mischkonzern Agrofert die beiden Zeitungen gehören (Motal 2021, 782).
Und das Phänomen ist nicht neu. 1994 machten die Wählerinnen und Wähler die
Partei Forza Italia zur stärksten politischen Kraft Italiens und den „cleveren Selfmade-
man“ Silvio Berlusconi (Muzik 1989, 159) zum ersten Mal zum Ministerpräsidenten.
Zu diesem politischen Erfolg hat nicht zuletzt die Unterstützung durch sein umfang-
reiches „fast unüberschaubar gewordenes“ Firmenimperium Fininvest beigetragen, zu
dem damals die Fernsehsender Canale Cinque, Italia Uno, Rete Quattro, die Tageszei-
tung Il Giornale sowie der Buchverlag Mondadori gehörten (Baukloh/Wittmaack 2003,
267–269). Durch seine Wahl erlangte Berlusconi indirekt auch bestimmenden Einfluss
auf das öffentliche Fernsehen Radiotelevisione italiana (RAI).
Derart enge Verflechtungen zwischen Politik und Medien widersprechen im Grund-
satz der Rollenverteilung von Akteuren in demokratischen Rechtsstaaten. Diese Rol-
lenverteilung besteht aus einem Sozialvertrag, abgeleitet aus dem durch den Staat
garantierten Menschenrecht der freien Meinungsäußerung (Art 10 Europäische Men-
schenrechtskonvention, Europarat 1950; Art 18 Allgemeine Erklärung der Menschen-
rechte, Vereinte Nationen 1948; Art 11 Charta der Grundrechte der Europäischen
Union 2000). Dieser ungeschriebene Sozialvertrag verpflichtet die Staaten, die Medien-
freiheit zu respektieren, gleichzeitig verpflichten sich die Medien, die Staatsbürger*in-
nen durch ihre Leistungen zur demokratischen Teilhabe zu befähigen (Strömbäck 2005,
332). In erster Linie betrifft dies die Informationsleistung, um Wähler*innen mit rele-
vanten Informationen auszustatten, die informierte, also gute Wahlentscheidungen er-
lauben. Curran (2011, 63–83) weist darauf hin, dass auch Unterhaltung in den Medien
einen politischen Charakter aufweist, oder zumindest aufweisen kann. Unterhaltung
transportiere Identität, aber auch gesellschaftliche Normen und Werte und sei daher
hochpolitisch. Beide, Informations- und Unterhaltungsmedien, tragen also grundle-
gend dazu bei, politisches Handeln nach demokratischen Regeln zu ermöglichen.
Aufgrund dieses ungeschriebenen Sozialvertrages übernehmen Medien Verantwor-
tung und üben Macht aus. In der Literatur und im politischen Diskurs werden die
Medien häufig als vierte Gewalt bezeichnet (High Level Group on Media Freedom and
Pluralism 2013; Voltmer 2008). Eine genauere Betrachtung dieser Zuschreibung wirft
allerdings Fragen auf. So spielt die vierte Gewalt auf eine Ausdehnung der Gewalten-
teilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative an. Im Gegensatz zu diesen drei
Gewalten sind die Medien aber weder demokratisch legitimiert noch sind Mediennut-
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zer*innen Rechtsunterworfene und für die Entscheidungen innerhalb von Medienor-
ganisationen gilt kein Transparenz- und Legitimationsgebot. Ebenso wenig eignet sich
die Metapher des vierten Standes („forth estate“) für die angemessene Beschreibung der
Rolle der Medien in einem Rechtsstaat. Medien stehen keineswegs gleichwertig neben
Adel, Klerus und dem gemeinen Volk, entlehnt aus einem längst überholten angel-
sächsischen und französischen Staatsverständnis. Die Verwendung dieser Begrifflichkeit
erzeugt ein rundweg falsches, ja „irreführendes“ Bild (Burkart 2021, 133). Die Medien
sind keine Staatsmacht, sondern „sie dienen der Kritik und Kontrolle staatlicher Macht“
(Beck 2018, 383, Hervorhebung im Original).
Die Begrifflichkeit ändert freilich nichts an der Tatsache, dass Medien einflussreiche
und mächtige Akteure des öffentlichen und politischen Lebens darstellen. Schon durch
ihre Kontrollfunktion sind sie in der Lage, politische Entscheidungen zu beeinflus-
sen, zu befördern oder auch ganz zu verhindern: „Bereits die Publikation allein (oder
die Angst vor einer Veröffentlichung) kann zu einer Verhaltensänderung von Macht-
inhabern führen, weil sie Reputationsverlust oder auch potenzielle Sanktionen durch
entsprechende Gremien (Verurteilung, Abwahl etc.) befürchten“ (Burkart 2021, 133).
Übertragen auf eine Zeitachse erscheint die Annahme gut begründet, dass die Me-
dien zunehmend an Einfluss auf verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens
gewinnen, nicht nur auf die Politik, sondern auch auf Bereiche wie Sport, Wirtschaft,
Kirche und Kultur. Die Logik der Medien (Altheide/Snow 1979) breitet sich aus, was
in der Literatur unter dem Begriff der Mediatisierung (oder Medialisierung) diskutiert
wird (Imhof 2006; Lundby 2009). Darunter ist ein Prozess zu verstehen, in dem öffent-
liche Kommunikation und der mediale Diskurs über gesellschaftliches Handeln ständig
an Bedeutung gewinnen.
Angesichts ihrer zentralen Position im politischen Institutionengefüge besteht also
hinreichend Anlass, sich mit den Ausprägungen der Akteursgruppe Medien näher aus-
einanderzusetzen. Was ist aber nun unter Medien zu verstehen?
Der Medienbegriff umfasst in einer ersten Näherung einen bunten Strauß zuge-
schriebener Bedeutungen. So gilt Sprache als Medium erster Ordnung (keine techni-
sche Vermittlung erforderlich), die Presse als Medium zweiter Ordnung (für die Her-
stellung sind technische Vorkehrungen erforderlich, Druckmaschinen, Zustellung) und
leitungsgebundene Medien als Medien dritter Ordnung, weil sie sowohl auf der Seite
der Herstellung als auch auf der Seite der Rezeption technische Vorkehrungen (Emp-
fangsgeräte, Computer) erfordern. Medien zweiter und dritter Ordnung werden auch
als Massenmedien bezeichnet.
Während der Begriff der Massenmedien einst auf „Einrichtungen der Gesellschaft
[…], die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfäl-
tigung bedienen“ (Luhmann 1996, 10), beschränkt war, nimmt ein zeitgemäßes Ver-
ständnis den institutionellen Charakter von Massenmedien ebenso in den Blick und
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erfasst den gesamten Prozess entlang der einschlägigen Wertschöpfungskette. Massen-
medien überwinden räumliche und zeitliche Distanzen unter Einsatz von Technolo-
gie, sie weisen einen hohen Grad an Einseitigkeit (Sender*in – Empfänger*in) auf, sie
schließen niemanden a priori von der Nutzung aus, sie erzeugen Inhalte in industrieller
Masseproduktion und sie sind auf Dauer angelegt.
-
hänge, die sich komplexer Kommunikationskanäle und -techniken bedienen und in
-
-
tion erbringen“ (Trappel 2007, 32).
Nicht zuletzt durch ihre massenhafte Nutzung stellt sich die Frage, ob nun digitale
Kommunikationsplattformen („social media“) als Massenmedien zu betrachten sind.
Zweifellos sind diese Plattformen auf Dauer angelegt, institutionalisiert, großbetrieb-
lich, technisch vermittelt und bedeutungsvoll, wie etwa die Verwendung von Twitter
als bevorzugter öffentlicher Kommunikationskanal des US-amerikanischen Präsidenten
Donald Trump (2017–2021) belegt. Was digitale Plattformen in der Regel von redak-
tionellen Massenmedien unterscheidet, ist ihr Verzicht auf die eigenständige Herstel-
lung von publizistischen Inhalten. Vielmehr erzeugen die User*innen die Inhalte, die
dann von den Plattformen algorithmisch gefiltert an andere User*innen weitergegeben
beziehungsweise freigegeben werden. Mark Zuckerberg, CEO von Metaverse (umfasst
u.a. Facebook, WhatsApp, Instagram), stellte sich ursprünglich auf den Standpunkt, seine
Plattformdienste seien lediglich technische Einrichtungen zur Durchleitung von Inhal-
ten. Er hat seine Position aber unterdessen geändert und erkannte in dem Kongress-Hea-
ring im April 2018 auch eine inhaltliche Verantwortung für seine Dienstleistungen an.
Eine solche Verantwortung erfasst zumindest jene Inhalte, die strafrechtlich un-
zulässig sind (z.B. Verhetzung, Verleumdung, Beleidigung), aber auch gewaltverherr-
lichende, misogyne, rassistische, pornographische und auf andere Art herabwürdigende
Inhalte. Zumindest in groben Fällen greifen digitale Kommunikationsplattformen in
die Inhalte ein, löschen oder blockieren sie und übernehmen so basale redaktionelle
Aufgaben. Auch wenn die digitalen Kommunikationsplattformen das Gefälle zwischen
jenen, die Inhalte herstellen und verbreiten, und jenen, die solche Inhalte rezipieren, ab-
geflacht haben, so gelten sie dennoch als Massenmedien, wenn auch nicht als klassische
redaktionelle Medien wie Radio, Fernsehen, Presse und Online-Medien.
Von der Definition zumindest teilweise erfasst sind auch jene redaktionsungebunde-
nen Formen internetbasierter öffentlicher Kommunikation, die ausschließlich den Ver-
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breitungsweg Internet benutzen. Als redaktionsungebunden gelten jene Medien, deren
Inhalte nicht von einer Redaktion hergestellt werden, in der journalistische Professio-
nalitätsprinzipien (z.B. Redaktionsstatut, Chefredaktion, Qualitätssicherung, Ausbil-
dung) zur Anwendung kommen. Dazu zählen etwa YouTuber ebenso wie Influencer auf
anderen digitalen Kanälen, die sich mit Fragen oder Ereignissen des öffentlichen Lebens
befassen. Solche oft unkonventionellen Formen der Nachrichtenverarbeitung sind vor
allem in jüngeren Bevölkerungsgruppen beliebt. Allerdings genügen viele solche Diens-
te nicht der definitorischen Anforderung der Dauerhaftigkeit.
Redaktionsgebundene gleichwohl wie redaktionsungebundene Massenmedien sind
neben ihrer publizistischen Charakteristik auch wirtschaftliche Subjekte. Meist als Un-
ternehmen organisiert, unterliegen sie – jedenfalls in den westlichen Ländern – der
marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnung ebenso wie deren Zwängen. In der Regel
über Erlöse aus dem Verkauf oder der Nutzung von Inhalten sowie durch den Verkauf
der so generierten Kontakte an die werbungtreibende Wirtschaft finanziert, weist die
Ökonomie der Massenmedien dualen Charakter auf zweiseitigen Märkten auf (De-
wenter/Rösch 2015; Kiefer/Steininger 2014). Metaphorisch sind Medien daher Diener
zweier Herren, was Herbert J. Altschull mit seinem „second law of journalism“ auf den
Punkt bringt: „e content of the news media always reflects the interests of those who
finance the press“ (Altschull 1995, 440).
Die ökonomische Verfasstheit der Medien ruft neben inhaltlichen Einschränkun-
gen auch handfeste Zwänge hervor. Fixkostendegression, Netzwerkeffekte, Skalen- und
Verbundeffekte sowie die fortschreitende Konvergenz sind ursächlich für den Zusam-
menschluss von Medienunternehmen oder deren Ausscheiden aus dem Markt (Noam
2016). Die resultierende Medieneigentumskonzentration zieht nicht nur den Wettbe-
werb zwischen immer weniger, dafür aber immer größeren Unternehmen in Mitleiden-
schaft, sondern vermindert auch die publizistische Vielfalt. Was bei den redaktions-
gebundenen Medien mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen hat, vollzog sich bei
den redaktionsungebundenen digitalen Kommunikationsplattformen innerhalb weni-
ger Jahre: die Ausbildung und Dominanz von genreübergreifenden Oligopolen und
Monopolen. Die als GAFAM bezeichnete digitale Medienindustrie (zusammengesetzt
aus Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft) dominiert nach Belieben den globa-
len Wettbewerb der Kommunikationsplattformen und hebt den Grad an Markt- und
Eigentumskonzentration der Medienbranche auf ein historisch beispielloses Niveau.
Eine Besonderheit im Hinblick auf die Institutionalisierung stellen öffentlich-recht-
liche Medien („public service media“, PSM) dar, die gesetzlich eingerichtet und in aller
Regel auch öffentlich finanziert sind (Gebührenfinanzierung). In manchen Ländern
sind PSM von der Finanzierung durch Werbung ausgeschlossen (u.a. Großbritannien,
Norwegen, Schweden), andere Länder sehen eine Mischfinanzierung aus Gebühren
und Werbeeinnahmen vor (Österreich, Schweiz, Australien, Belgien, Finnland, Italien,
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Niederlande, Portugal) (van den Bulck et al. 2018). Im Gegensatz zu privaten Medien-
unternehmen haben PSM einen gesetzlich festgelegten Auftrag zu erfüllen. Sie handeln
redaktionell unabhängig vom Staat und auf eigene Verantwortung. Sie sind also keine
Staatsmedien.
2. Gegenwärtige Situation
Die österreichische Medienstruktur weist vier Gruppen von Akteuren auf: nationale
und regionale Tageszeitungsverlage, kleinere und mittelgroße private Fernseh- und Ra-
dioveranstalter, den ORF und eine Vielzahl von Kleinmedien. Diese Unterscheidung
bildet sich sowohl in ökonomischer Hinsicht ab als auch bei der Mediennutzung. Eine
eigenständige und unabhängige Gruppe von Online-Medien hat sich in Österreich bis-
her nicht entwickelt.
Die Gruppe der Tageszeitungsverlage ist klein, aber bedeutsam. Sie zerfällt einer-
seits in nationale und regionale Zeitungen, andererseits in sogenannte Qualitäts- und
Boulevardzeitungen. Beide Unterscheidungen sind nicht ganz trennscharf. Zum einen
erscheint zum Beispiel die Kronen Zeitung als nationale Zeitung in fast allen Bundes-
ländern in einer Regionalausgabe. Die Salzburger Nachrichten wiederum sind eine Re-
gionalzeitung mit nationalem Anspruch, der durch eine ausgebaute Redaktion in Wien
eingelöst wird. Zum anderen lassen sich nicht alle österreichischen Zeitungen eindeutig
als Qualitäts- oder Boulevardzeitungen qualifizieren. Erstere zeichnen sich durch eine
faktenbasierte, nüchterne, textlastige und generell ausführlichere Berichterstattung in
den klassischen Ressorts Außenpolitik, Innenpolitik, Wirtschaft, Kultur, Sport und
einem kleinen Anteil an vermischten Meldungen („Human Interest“) aus. Boulevard-
medien hingegen berichten kürzer und emotionaler, konzentrieren sich oft auf Perso-
nen und Schicksale, setzen diese großflächig ins Bild und pflegen generell einen mehr
an Sensation als an der Aufklärung von Hintergründen orientierten Journalismus-Stil.
Als nationale Qualitätszeitungen können die Presse, der Standard, und die Wiener
Zeitung gelten. Sie haben alle ihren Redaktionssitz in Wien und vertreiben dort auch
den Großteil der Auflage. Die Zeitungsexemplare sind aber österreichweit erhältlich.
Die Presse erscheint (mit Unterbrechungen) seit 1884 und steht im Eigentum der Styria
Media Group mit Sitz in Graz. Die Tageszeitung Der Standard wurde 1988 von dem
Journalisten Oscar Bronner gegründet, der bis heute über seine Familienstiftung die
Zeitung besitzt. In den drei Jahrzehnten seines Bestehens haben auch die Axel Sprin-
ger AG sowie der Verlag der Süddeutschen Zeitung während mehrerer Jahre Anteile an
der Zeitung besessen. Die Wiener Zeitung gilt als älteste, noch erscheinende Tageszei-
tung der Welt (gegründet 1703) und steht im Eigentum der Republik Österreich. Die-
se ungewöhnlichen Eigentumsverhältnisse haben die Redaktion veranlasst, die eigene
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Unabhängigkeit durch ein Redaktionsstatut abzusichern. Die Wiener Zeitung vertreibt
nach eigenen Angaben rund 10.000 Stück pro Tag, was eine zu kleine Basis für einen
ökonomischen Zeitungsbetrieb darstellt. Als Amtsblatt profitiert die Zeitung von der
Querfinanzierung durch kostenpflichtige amtliche Einschaltungen.
Zur Gruppe der nationalen Boulevardzeitungen zählen die Kronen Zeitung und der
Kurier sowie die Gratiszeitungen Österreich und Heute. Die Kronen Zeitung wurde 1959
von Hans Dichand (geb. 1921) gegründet, der die Zeitung in Doppelfunktion als Chef-
redakteur und Verleger rasch zu der mit Abstand größten Zeitung Österreichs machte
und diese bis zu seinem Tod 2010 auch operativ führte. Die Zeitung erscheint im Klein-
format und hat ihren Redaktionssitz in Wien Heiligenstadt, in einer eher unansehnlichen
Industriegegend. 1987 verkaufte Dichand knapp die Hälfte der Anteile an die deutsche
Funke-Gruppe (ehem. Westdeutsche Allgemeine Zeitung, WAZ), die bis heute Anteile hält,
die Hälfte davon aber 2018 an den österreichischen Immobilienunternehmer René Ben-
ko verkauft hat. Der Kurier bewegt sich inhaltlich an der Grenze zwischen Qualitäts- und
Boulevardmedium. Die Eigentumsverhältnisse sind vergleichsweise komplex. Bestim-
mende Eigentümer sind die Bankengruppe Raiffeisen und ebenfalls die deutsche Fun-
ke-Gruppe (wieder zusammen mit René Benko). Kronen Zeitung und Kurier betreiben
gemeinsam den Verlag Mediaprint, der das Druck-, Logistik- und Anzeigengeschäft für
beide Zeitungen betreibt. Die Tageszeitung Österreich wurde von den Brüdern Helmuth
und Wolfgang Fellner 2006 als Konkurrenzprodukt zur Kronen Zeitung gegründet und
seither zu einem Multimedia-Format unter der Marke oe24, einschließlich eines On-
line-Fernsehkanals, ausgebaut. Der weitaus größte Teil der Print-Auflage wird über Ent-
nahmeboxen im östlichen Teil Österreichs kostenlos verteilt, ein kleiner Teil auch im
Abonnement verkauft. Zur Gänze über solche Entnahmeboxen wird seit 2004 die Gratis-
zeitung Heute verteilt, deren Eigentümerstruktur nie vollständig offengelegt wurde. Zu
den Eigentümerinnen zählt auch die Chefredakteurin Eva Dichand, die mit dem Sohn
des Gründers der Kronen Zeitung und aktuellen Chefredakteur, Christoph Dichand, ver-
heiratet ist. Seit 2006 ist der Schweizer Verlag TX Group (ehem. Tamedia, Tages-Anzeiger)
zu einem Viertel an der Zeitung und zu 51 Prozent an der Online-Variante Heute.at be-
teiligt. Auch Heute wird nur in den östlichen Landesteilen verteilt.
Die regionalen Qualitätszeitungen haben die österreichischen Bundesländer unter-
einander aufgeteilt, was den Zeitungswettbewerb auf regionaler Ebene (mit Ausnahme
des Großraums Wien) praktisch eliminiert hat. In Niederösterreich und im Burgen-
land erscheint keine eigene regionale Tageszeitung. Die Styria Group betreibt neben der
Presse in Wien auch die auflagenstarke Kleine Zeitung in Kärnten und in der Steiermark.
Hinter diesem Verlag steht als Eigentümerin die Katholische Medien Verein Privat-
stiftung (ehem. Katholischer Pressverein der Diözese Graz-Seckau). In Linz betreibt
das eigentümergeführte Medienhaus Wimmer (Familie Cuturi) die 1945 gegründeten
Oberösterreichischen Nachrichten. In diesem Bundesland erscheint auch die letzte ver-
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bliebene Parteizeitung der ÖVP, das Oberösterreichische Volksblatt. Aufgrund der be-
scheidenen Auflage stellt das Volksblatt für den regionalen Marktführer keinen nen-
nenswerten Wettbewerber dar.
Auch in den drei westlichen Bundesländern Salzburg, Tirol und Vorarlberg domi-
niert je eine eigentümergeführte Tageszeitung den regionalen Markt. Die Salzburger
Nachrichten (SN) konkurrieren lediglich mit der Regionalausgabe der Kronen Zeitung.
Die SN wurden 1945 mit Zustimmung der US-amerikanischen Armee gegründet und
seither von der Familie Dasch betrieben. Im Druckzentrum an der Salzburger Peri-
pherie teilen sich die beiden Konkurrenten die Kapazität. In Innsbruck betreibt der
Schlüsselverlag (Moser Medienholding) die seit 1945 bestehende Tiroler Tageszeitung
(TT). Daneben erscheint in Tirol auch noch eine kostenlose Kompaktausgabe der TT.
Ebenfalls seit 1945 erscheint in Vorarlberg die Tageszeitung Vorarlberger Nachrichten,
die von der Familie Russ geführt wird. Der Russmedia Verlag betreibt daneben noch
die Zweitzeitung Neue Vorarlberger Tageszeitung, die aber keine relevante Marktgröße
aufweist. In diesem westlichsten Bundesland spielt selbst die sonst auch regional gut
verankerte Kronen Zeitung keine wettbewerbliche Rolle – Vorarlberg ist publizistisch
praktisch zur Gänze in der Hand der Familie Russ.
Zeitungstitel 2011 2021 Veränderung
(in Prozent)
Kronen Zeitung 796.174 639.330 -19,7
Kleine Zeitung 277.445 276.150 -0,5
Kurier 145.355 114.019 -21,6
Oberösterreichische Nachrichten 104.745 104.077 -0,6
Tiroler Tageszeitung 84.560 72.832 -13,9
Salzburger Nachrichten 66.621 70.016 5,1
Die Presse 63.344 66.670 5,3
Der Standard 64.069 54.363 -15,1
Vorarlberger Nachrichten 61.217 54.354 -11,2
Neue Vorarlberger Tageszeitung 5.377 6.658 23,8
Wiener Zeitung1k.A. k.A. k.A.
Oberösterreichisches Volksblatt1k.A. k.A. k.A.
k.A. (keine Angabe); Die Daten geben die Resultate der Erhebungswelle der ersten Jahreshälfte wieder.
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Gratiszeitungen 2011 2021 Veränderung
(in Prozent)
Heute 587.137 478.651 -18,5
Österreich 427.536 460.419 7,7
TT Kompakt - 9.392 -
Die Daten geben die Resultate der Erhebungswelle der ersten Jahreshälfte wieder.
Die Tabellen 1 und 2 geben die Ergebnisse der Österreichischen Auflagenkontrolle
(ÖAK) wieder, die zweimal jährlich auf der Grundlage (stichprobengeprüfter) Meldun-
gen der Zeitungshäuser die Auflagenstatistik veröffentlicht. Die Ergebnisse 2011 zei-
gen, dass 44 Prozent der verkauften Auflage der österreichischen Tageszeitungen alleine
auf die Kronen Zeitung entfallen, im Jahr 2011 waren das noch 48 Prozent. Die acht
kleinsten Tageszeitungen kamen 2021 zusammen auf 37 Prozent der Gesamtauflage
aller Zeitungen, die an der Österreichischen Auflagenkontrolle teilnehmen. In dem hier
betrachteten Jahrzehnt haben die beiden großen Boulevardzeitungen (Kronen Zeitung,
Kurier) am stärksten an verkaufter Auflage verloren, während die regionalen Zeitungen
deutlich weniger Verluste hinnehmen mussten. Zu erklären ist dies einerseits mit einem
generellen Trend zu weniger Zeitungslektüre in der Bevölkerung, andererseits mit der
starken Marktpositionierung der beiden großen Gratiszeitungen Heute und Österreich.
Jedoch kommen beide 2021 nicht einmal mit ihrer jeweiligen Druckauflage an die ver-
kaufte Auflage der Kronen Zeitung heran.
Praktisch alle österreichischen Tageszeitungen, die einen Verkaufspreis aufweisen, er-
halten Presseförderung, die der Absicherung der Presse- und Meinungsvielfalt dient.
Abgestuft nach ihrer Stellung im Wettbewerb erhalten Tageszeitungen entweder nur
einen Sockelbetrag (Vertriebsförderung, auch an marktführenden Zeitungen, gemäß
§ 6 Presseförderungsgesetz; im Jahr 2021 pro förderungsberechtigtem Zeitungstitel
zwischen 160.000 und 201.000 Euro) oder zusätzlich eine besondere Förderung für
ihre Leistung zur Erhaltung der regionalen Vielfalt (nach § 8 PresseFG; 2021 pro Titel
zwischen 650.000 und 1 Million Euro; RTR).
Trotz dieser Vielfaltsförderungen ist der im internationalen Vergleich sehr kleine ös-
terreichische Tageszeitungsmarkt als hoch konzentriert zu klassifizieren, mit ausgepräg-
ter Marktmacht der über die Mediaprint verbundenen Titel Kronen Zeitung und Kurier.
Die Marktdominanz hat sich im letzten Jahrzehnt in einem insgesamt rückläufigen
Umfeld kaum verkleinert. Im Hinblick auf die Marktvielfalt stuft der „Media Pluralism
Monitor“ Österreich als Hochrisikogebiet ein (Seethaler/Beaufort 2021, 12).
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Die Struktur des Radio- und Fernsehmarktes in Österreich ist von der Dualität
zwischen öffentlichen und privaten Veranstaltern geprägt. Der durch das ORF-Gesetz
determinierte Österreichische Rundfunk (ORF) hat einen Programmauftrag zu erfüllen.
Zur Kostendeckung tragen die österreichischen Haushalte, die ein Empfangsgerät be-
sitzen, durch die (verpflichtende) Radio- und Fernsehgebühr bei. 2001 ermöglichte
der Gesetzgeber daneben auch die Zulassung von privaten Veranstaltern, die in der
Programmgestaltung und Geschäftsführung weitgehend freie Hand haben, aber keine
Basisfinanzierung über Haushaltsgebühren erhalten. Ihre Haupterlösquelle ist die Wer-
bung.
Der ORF ist das mit Abstand größte Medium in Österreich und auf den drei wich-
tigsten Kanälen Hörfunk, Fernsehen und Online präsent, ergänzt durch das weiter-
hin sehr populäre Nachrichtenmedium Teletext. Der ORF erzielt pro Jahr Erlöse von
rund einer Milliarde Euro, die sich zu 60 Prozent aus Gebühreneinnahmen, und je zu
20 Prozent aus Werbe- und sonstigen Erlösen zusammensetzen. Der Programmauftrag
ist im ORF-Gesetz (ORF-G) festgeschrieben, das den ORF ermächtigt, seine Leistungen
in den drei genannten Vertriebskanälen und im Teletext anzubieten, ihm gleichzeitig
aber enge Schranken für die Tätigkeit in den digitalen Kommunikationsplattformen
auferlegt. Das ORF-Gesetz legt als Organisationsform eine Stiftung fest, in deren obers-
tem Entscheidungsgremium (Stiftungsrat, 35 Mitglieder) Vertreter*innen der Bundes-
regierung, der im Nationalrat vertretenen Parteien, der Bundesländer, des Betriebsrates
sowie des ORF Publikumsrates vertreten sind (§ 20 ORF-G). Sie wählen (und entlassen)
den*die Generaldirektor*in für eine fünährige Funktionsperiode, in der die gewählte
Person aufgrund ihrer Bestellung und im Rahmen der ihr übertragenen Geschäftsfüh-
rung unabhängig entscheiden kann. Der ORF ist gesetzlich verpflichtet, Landesstudios
zu betreiben. Inhaltlich haben seine Programme für die „umfassende Information der
Allgemeinheit über alle wichtigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen
und sportlichen Fragen“ zu sorgen, und dabei alle Altersgruppen, Menschen mit Behin-
derungen, Familien, Kinder und Jugendliche, die Gleichberechtigung von Frauen und
Männern sowie Kirchen und Religionsgemeinschaften angemessen zu berücksichtigen
(§ 4 ORF-G). Neben Information ist der ORF auch dazu verpflichtet, Unterhaltung
und Kultur anzubieten.
Der Markt des privaten Fernsehens ist in Österreich noch mehr konzentriert als jener
der Tageszeitungen. Gerade zwei Veranstalter stehen mit dem ORF im Wettbewerb,
Puls4/ATV und ServusTV. Während ServusTV zum Red Bull Media House, und damit
zum Medienimperium des Österreichers Dietrich Mateschitz zählt, gehört Puls4/ATV
der deutschen ProSiebenSat.1-Gruppe. ATV war 2003 als österreichisches Programm
gegründet worden, wurde dann aber – mit Billigung der österreichischen Bundeswett-
bewerbsbehörde – 2017 an Puls4 und damit an die deutsche Gruppe verkauft. Puls4
selbst war 2004 als Wiener Stadtsender Puls TV gegründet worden, drei Jahre später
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übernahm ProSiebenSat.1 den Sender, der heute auch noch den Informationssender
Puls24 betreibt. Ergänzt wird das Angebot an österreichischem Privatfernsehen durch
die nur über die Verbreitungsplattform Internet empfangbaren Veranstalter KroneTV
(Kronen Zeitung), SchauTV (Kurier) und oe24TV (Österreich). Ihre Marktanteile sind
gering.
Fernsehprogramm 2011 (in Prozent) 2021 (in Prozent)
ORF 2 23 22,1
ORF 1 14 10,2
ZDF (Deutschland) 4 3,9
Servus TV k.A. 3,7
VOX (Deutschland) 5 3,2
Puls 4 3 3,1
RTL (Deutschland) 7 3,1
ATV 4 3,0
ARD (Deutschland) 3 3,0
ProSieben (Deutschland) 5 2,7
k.A. (keine Angabe); Erwachsene ab 12 Jahren.
Tabelle 3 zeigt, dass der ORF mit seinen beiden Hauptprogrammen deutlich die Nut-
zungszeit des österreichischen Fernsehpublikums dominiert. Zusammengenommen er-
reicht der ORF einen Marktanteil von 32,3 Prozent. Die drei österreichischen Program-
me ServusTV, Puls4 und ATV kommen je über 3,7 Prozent, oder zusammengerechnet
9,8 Prozent, nicht hinaus. Deutlich mehr Sendezeit entfällt auf die deutschen Program-
me ZDF und RTL, fast gleich intensiv wird der Sender ARD genutzt.
Eine dritte Gruppe bilden jene Fernsehveranstalter in Österreich, die entweder lo-
kal tätig sind, oder sich dem dritten Sektor zurechnen, also dem nichtkommerziellen
Fernsehen. Die für die Zulassung zuständige Behörde Rundfunk und Telekom Regu-
lierungs-GmbH (RTR) hat mehreren Dutzenden solcher Sender eine Lizenz erteilt, die
aber selbst in ihrem Verbreitungsgebiet keine namhaften Marktanteile erzielen können
(z.B. DorfTV, gotv, Kanal 3, Ländle TV, LT1 , Okto, RTS, Tirol TV, TV1, W24). Vie-
le dieser kleinen Sender, aber auch die größeren privaten Veranstalter, erhalten direk-
te Fördermittel aus unterschiedlichen Fördertöpfen der RTR (Privatrundfunkfonds,
Nichtkommerzieller Rundfunkfonds, Digitalisierungsfonds, Fernsehfonds).
Die Struktur der österreichischen Radiolandschaft stellt sich vergleichsweise vielfältig
dar. Neben den marktdominanten ORF-Programmen Ö1 (Kultur- und Nachrichten-
orientierung), Ö2 (Regionalprogramm), Ö3 (Sender für junge Erwachsene) und FM4
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(Jugendprogramm, zweisprachig deutsch und englisch) ist seit 1995, als mit Antenne
Steiermark das erste Privatradio auf Sendung ging, eine recht bunte Privatradioszene
entstanden. Die meisten Veranstalter senden kommerzielle „Middle-of-the-Road“-Pro-
gramme, wie etwa die Sender der Antenne-Gruppe. Bemerkenswerterweise hat die Re-
gulierungsbehörde zwei nationale private Radioprogramme zugelassen, und zwar aus-
gerechnet aus dem Hause der Kronen Zeitung (Krone Hit) und jenem der Brüder Fellner
(Radio Austria). Auf regionaler Ebene mischen sich Zeitungsverleger als Radiomacher
(z.B. Beteiligungen an Antenne Radios, Arabella, 88.6, Life) mit reinen Radioveranstal-
tern (z.B. Welle 1, Energy, Lounge FM). Auch im Hörfunkbereich gibt es einige Sender
des dritten Sektors, auch freie Radios genannt (z.B. Radio Freequenns, Radio Freirad,
Proton, Agora, Radio Orange, Radiofabrik). Alle genannten Radiosender erhalten direkte
Fördermittel aus den oben genannten Fördertöpfen der RTR.
Für die Nachrichtennutzung vor allem jüngerer Kohorten, aber zunehmend auch
für die Mitte der Gesellschaft, stellen Online-Medien eine Alternative dar. Im Vergleich
mit anderen europäischen Ländern hat Österreich bislang kaum generische Online-
Medien hervorgebracht, also solche Nachrichtenmedien, die ausschließlich auf dem
Verbreitungsweg Internet genutzt werden können (Trappel 2007) und die keinem be-
stehenden Medienunternehmen oder einer Partei angehören oder nahestehen. Einzige
nennenswerte Ausnahme ist exxpress.at, das im März 2021 von einem ehemaligen und
in Ungnade gefallenen Journalisten der Kronen Zeitung gegründet wurde.
Alle marktführenden Online-Medien sind einem Medienkonzern angeschlossen und
werden von diesem betrieben. Dabei lässt sich gut beobachten, wie sich Konvergenz
in der Praxis einstellt. Da die bedeutsamen österreichischen Medienunternehmen alle
einen Online-Ableger betreiben, mischen sich die getrennten Mediengenres Presse und
Rundfunk auf dem durch das „WWW“ des Internet hergestellten digitalen Marktplatz.
Wenig verwunderlich daher, dass die dominierenden Marken der Offline-Medien auch
den Markt der Online-Medien prägen. Überraschend sind bestenfalls die kleineren
Marktverschiebungen im Vergleich zu den Offline-Markanteilen. Als Währung für die
Messung der Leistung von Online-Medien haben sich „Page Impressions“ (auch „Hits“
genannt, also Einzelzugriffe auf eine Website), „Visits“ (zusammenhängende Nutzungs-
vorgänge) und „Unique Users“ (auf Inhalte zugreifende Personen) etabliert (ausgewie-
sen von der Österreichischen Webanalyse, ÖWA). Zu dem Verein ÖWA haben sich
Online-Anbieter und Werbeagenturen zusammengeschlossen, um die Nutzungsdaten
aufgrund von Messungen und Meldungen zu sammeln und zu veröffentlichen. Diese
Daten dienen in erster Linie der Werbewirtschaft als Grundlage für Media-Pläne. Als
Vergleichsgröße eignen sich die „Visits“ aufgrund ihrer technischen Charakteristik am
besten.
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Online-Medium Visits 2011 Visits 2021 Veränderung
ORF.at 45.326 146.423 +101.097
krone.at (Kronen Zeitung) 9.914 56.636 +46.722
derStandard.at 12.068 49.358 +37.290
Kurier Online 5.049 34.976 +29.927
Heute.at 584 32.740 +32.156
oe24-Netzwerk (Österreich) 7.654 22.511 +14.857
kleinezeitung.at 4.528 16.445 +11.917
vol.at – Vorarlberg Online 5.529 13.622 +8.093
tt.com (Tiroler Tageszeitung) 1.910 13.069 +11.159
nachrichten.at (Oberösterreich) 1.493 12.059 +10.566
Quelle: Österreichische Webanalyse (2022).
Gleich auf den ersten Blick auf Tabelle 4 fällt auf, dass die beiden größten Medienunter-
nehmen des Landes, ORF und Kronen Zeitung, auch die Statistik der erfolgreichsten
Online-Medien anführen. Mit Ausnahme des ORF entstammen alle Top 10 Online-
Medien den führenden Tageszeitungen. Dabei nimmt die Website des Standard eine
besondere Rolle ein. Im Gegensatz zu seiner Position im Marktmittelfeld der Zeitungen
hat derStandard.at lange den zweiten Platz hinter ORF.at verteidigt und wurde erst in
den letzten Jahren von Krone.at überholt. Ein Grund für diesen starken Marktauftritt
liegt im Weitblick der Zeitungsmacher zu Beginn des Online-Zeitalters. DerStandard.at
war 1995 die erste österreichische Zeitung online, und dieser „First-Mover-Advantage“
ist noch heute in der Statistik zu sehen.
Während die Zeitungen über die letzten zehn Jahre kontinuierlich an Auflage ver-
loren, ist die Anzahl der Visits der Online-Medien massiv gewachsen, in absoluten Zah-
len, und auch relativ. So hat ORF.at seine „Visits“ mehr als verdreifacht und auf über
100 Millionen pro Monat zugelegt. Auch alle anderen Top 10 Online-Medien sind
spektakulär gewachsen, die meisten in relativen Zahlen sogar stärker als der ORF. Und
dennoch ist die Marktdominanz von ORF.at eindrücklich: Dieses Online-Angebot ge-
neriert mehr monatliche „Visits“ als jene auf den Plätzen 4 bis 10 zusammen. Allerdings
hat die Dominanz des ORF über die Jahre etwas abgenommen. 2011 war die Anzahl
der Visits von ORF.at gar nur wenig kleiner als jene aller neun anderen Online-Medien
zusammengenommen. Ein Grund für dieses massive Wachstum der Online-Medien ist
der Umstand, dass alle Anbieter eine kostenlose Grundversorgung mit Nachrichten an-
bieten. ORF
.at, derStandard.at, Heute.at, Krone.at und oe24.at verzichten überhaupt auf
jede Form von Paywall für ihre Online-Angebote. Im Gegensatz zu Presse, Radio und
Fernsehen erhalten Online-Medien in Österreich keine Förderung.
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142 Josef Trappel
Die Nutzung der Nachrichtenmedien wird in vergleichendem Format vom Reu-
ters Institute der Universität Oxford jährlich untersucht. 2021 nahmen über 40 Länder
daran teil, darunter auch Österreich. In diesem internationalen Vergleich fällt Öster-
reich durch eine weiterhin umfangreiche Nutzung von Printmedien auf, während die
Nutzung von Online-Quellen im Vergleich mit anderen Ländern schwach ausgeprägt
ist. Auf die Frage, welche Nachrichtenquellen die Befragten in der letzten Woche ge-
nutzt haben, um sich zu informieren, antworteten 67 Prozent mit Fernsehnachrichten,
54 Prozent mit Radionachrichten, 48 Prozent mit „Social Media“, 44 Prozent mit Zei-
tungs-Apps und 42 Prozent mit gedruckten Zeitungen.
Online/Offline-Medium in Prozent
ORF2 49,3
ORF.at 38,5
ORF1 37,2
Ö3 37,0
Kronen Zeitung 35,7
krone.at 26,9
Servus TV 24,1
Puls 4 20,3
derStandard.at 19,9
ZDF 18,9
Puls 24 17,0
Oe 24 TV 16,0
ARD 14,8
Kurier Online 14,6
RTL 14,6
Heute 14,2
Krone Hit 13,6
Österreich 13,4
Kleine Zeitung 12,8
Heute.at 12,6
Frage: Welche Nachrichtenquelle würden Sie als Ihre Hauptnachrichtenquelle bezeichnen?
Quelle: Gadringer et al. (2021).
Aus Tabelle 5 wird deutlich, dass die Menschen in Österreich ihre Informationen vor-
zugweise aus den Medien des ORF beziehen. Der Fernsehsender ORF2 wird mit Ab-
stand am häufigsten genannt, gefolgt von der Website des ORF, dem Fernsehsender
ORF1 und dem populären Radio Ö3. Erst an fünfter und sechster Stelle folgen die
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Offline- und Online-Ausgaben der Kronen Zeitung. Trotz ihrer geringen Reichweite
werden die privaten Fernsehsender Servus TV, Puls 4, Puls 24 und Oe24TV häufiger als
bevorzugte Nachrichtenquelle benutzt als die Qualitätszeitungen. Lediglich die Online-
Ausgabe des Standard erreicht ähnliche Beliebtheit wie diese Sender.
Insgesamt bestätigt sich der Befund, dass in Österreich die Offline-Medien weiterhin
die populärsten Nachrichtenquellen darstellen, einzig die drei Online-Medien ORF.at,
Krone.at und derStandard.at spielen eine bedeutende Rolle.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Die österreichische Medienentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg lässt sich treffend
in vier Konzentrationswellen beschreiben (Trappel 2019). Während dieser Wellen sind
gehäuft Medientitel aus dem Markt ausgeschieden oder haben sich zu größeren Medi-
enverbünden zusammengeschlossen. Im Ergebnis ist nach jeder Welle weniger Medien-
vielfalt und damit ein höherer Grad an Medienkonzentration verblieben.
Die erste Konzentrationswelle setzte mit der Unabhängigkeit Österreichs im Jahr 1955
ein. Die Besatzungsmächte hatten zahlreichen Medien eine Zulassung erteilt, ohne deren
Wirtschaftlichkeit in Betracht zu ziehen. Während einzelne Titel den Boden für den Sie-
geszug der Boulevardmedien aufbereiteten, war für andere der Lebenszyklus bereits zu
Ende. Der öffentliche Rundfunk befand sich in der Identitätsfindungsphase, wobei die po-
litischen Parteien eine wichtige Rolle spielten. „Kennzeichnend für die ersten Jahre des neu
gegründeten Rundfunks war seine große Nähe zur Politik, da eine große Zahl leitender
Positionen streng nach dem politischen Proporz besetzt wurden“ (Steinmaurer 2012, 10).
In der zweiten Konzentrationswelle von 1967 bis 1972 stellten fünf Tageszeitungen
ihr Erscheinen ein oder wurden übernommen. So ging 1970 die Tageszeitung Express in
der Kronen Zeitung auf und legte so den Grundstein zum weiteren Markterfolg dieser
Boulevardzeitung. 1967 stellte das erfolgreiche Rundfunkvolksbegehren die Weichen
für einen unabhängigen ORF, der sich aus der politischen Umklammerung mit einem
neuen Rundfunkgesetz lösen konnte. Am Ende dieser zweiten Welle waren in Grundzü-
gen schon die Marktverhältnisse erkennbar, die bis heute die Medienlandschaft prägen.
Vor Beginn der dritten Konzentrationswelle 1987 bis 1991 kennzeichneten eine
Reihe von Neugründungen die Medienentwicklung. Die Brüder Fellner brachten 1983
„mit gewaltigem Getöse“ (Fidler 2008, 119) die für damalige Verhältnisse neuartige
Monatsillustrierte Basta auf den Markt und der ehemalige Mitbesitzer der Kronen Zei-
tung, Kurt Falk, gründete 1985 die bis heute erfolgreiche Wochenzeitung Die Ganze
Woche. Die dann einsetzende Konzentrationswelle spülte gleich fünf Parteizeitungen
hinweg: die ÖVP-Zeitungen Südost Tagespost (Graz, 1987), Neue Volkszeitung (Klagen-
furt) und Neue Tiroler Zeitung (Innsbruck) je 1990; 1991 die beiden traditionsreichen
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Blätter Arbeiterzeitung (SPÖ) und Volksstimme (KPÖ). Das Zeitalter der Parteizeitun-
gen ging zu Ende.
1987 kaufte die Funke Mediengruppe (damals WAZ) knapp die Hälfte der Anteile
der Kronen Zeitung und des Kurier. Die gemeinsam gegründete Mediaprint bezeichnen
Beobachter*innen als „Hauptursache für die hohe Konzentration am österreichischen
Zeitungsmarkt“ (Melischek et al. 2005, 248). Neben diesem Einstieg eines ausländi-
schen Medienkonzerns in den österreichischen Markt konsolidierten aber auch die na-
tionalen Verlage ihre Einflusszonen. Die heutige Russmedia übernahm von dem stei-
rischen Styria-Konzern die Neue Vorarlberger Tageszeitung und Styria ihrerseits dehnte
die geographische Reichweite auf das ganze Bundesgebiet aus und übernahm 1991 die
traditionsreiche nationale Tageszeitung Die Presse.
Der Rundfunksektor erlebte erst nach dieser Konzentrationswelle eine Belebung, als
der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) 1993 eine Verletzung des
Artikels 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention im Fall Informationsverein
Lentia 2000 durch Österreich feststellte. Mit diesem Urteil war der Weg für privaten
Rundfunk in Österreich frei. Noch im selben Jahr gingen zwei Privatradios auf Sendung
und beendeten auch de facto die Alleinstellung des ORF.
Die vierte Konzentrationswelle glich einer Springflut im Jahr 2001. Nicht zuletzt
wegen der lockeren Kartellrechtsbestimmungen in Österreich vollzogen die Akteure
beispiellose horizontale und diagonale Verflechtungen von Titeln und Verlagen, die bis
dahin im Wettbewerb zueinandergestanden waren. Beobachter*innen beurteilten das
„Ausmaß der in Österreich erreichten Pressekonzentration als demokratiepolitisch hoch-
gradig bedenklich und für die Meinungsvielfalt bedrohlich“ (Steinmaurer 2012, 9).
2001 schlossen sich die Verlagsgruppe News (Fellner) und die Kurier-Zeitschriften-
holding ZVB zusammen. Gleichzeitig beteiligte sich der Kurier (Mediaprint) zu einem
Viertel an der Verlagsgruppe News. Dieses Konglomerat umfasste neben den beiden
marktführenden Tageszeitungen Kronen Zeitung und Kurier auch die marktführenden
Wochenmagazine News, Profil und das 1998 gegründete Format. Die österreichische
Meinungspublizistik war für die folgenden 15 Jahre der Kontrolle dieses in der Fach-
presse „Formil“ genannten Konzerns unterstellt (Fidler 2008, 151). In einer umstritte-
nen Entscheidung stimmte das Kartellgericht dem Zusammenschluss zu.
Die Digitalisierung und die damit verbundenen publizistischen Möglichkeiten ha-
ben Österreich eine Renaissance der Parteipresse beschert. Auch wenn diesen Online-
Medien bisher der wirtschaftliche Erfolg versagt geblieben ist, so tragen die Online-Me-
dien der Parteien doch zu einem veränderten Meinungsklima in Österreich bei. Dazu
zählen Kontrast.at und NeueZeit.at (SPÖ), Zur-Sache.at (ÖVP), Unzensuriert.at (FPÖ)
und zackzack.at (aus dem Umfeld der GRÜNEN).
Schon von der Weltwirtschaftskrise 2008 hatten sich die werbefinanzierten Medien
in Österreich nicht mehr richtig erholt. Mit der COVID-19-Pandemie, die Frühjahr
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2020 einsetzte, nahm die ökonomische Belastung dieser Medien noch weiter zu. Da
viele Handelsunternehmen ihre Produkte nicht mehr oder nur mehr online verkaufen
konnten, stornierten viele Unternehmen ihre Werbeaufträge, was die Medien in eine
neue Existenzkrise stürzte. Eine fünfte Konzentrationswelle ist bisher aber ausgeblie-
ben. Die Bundesregierung kam der Branche mit einer Anpassung des Presseförderungs-
gesetzes entgegen und schüttete zum ersten Mal auch Fördermittel an Gratiszeitung aus.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Mediennutzung und Medienmärkte sind stark sprach- und kulturraumgebunden.
Während gedruckte Medien in einem oft aufwendigen logistischen Prozess physisch
transportiert werden müssen (und auf dem Weg an Aktualität verlieren), spielt diese
Transportlogistik auf elektronischen Verbreitungswegen keine Rolle. Und doch lässt
sich beobachten, dass Medien in der eigenen Sprache und des eigenen Kulturraums
Priorität bei den User*innen genießen. Daran knüpft auch die Ökonomie der Medien
an. Relevante Erlöse lassen sich im eigenen Sprach- und Kulturraum erzielen, und zwar
gleichermaßen durch den Verkauf und die Nutzung als auch durch Werbung. Daran hat
bisher auch das Internet nichts geändert, das etwa mit „programmatic advertising“ ver-
sprach, nationale Werbegrenzen zu überwinden. Gemeint sind automatisch eingeblen-
dete Werbebotschaften (Banner, Werbespots) auf Websites und digitalen Plattformen,
die über einen Auktionsprozess und aufgrund algorithmisch berechneter Kontakte aus-
gespielt werden. Die so generierten Erlöse der Medien in Österreich sind aber gering.
Österreichs Medien bleiben aufgrund dieser Verhältnisse auf das deutschsprachige
Europa beschränkt – was zusätzlich zu Österreich immerhin die Bevölkerung (oder Teile
davon) in Deutschland, Schweiz, Norditalien (Südtirol), Liechtenstein und Belgien um-
fasst. Trotzdem spielen die österreichischen Medien in diesem Sprachraum außerhalb der
nationalen Grenzen eine untergeordnete Rolle. Keines der nationalen Medienprodukte
wird im Ausland in nennenswertem Ausmaß genutzt. Umgekehrt finden aber deutsch-
sprachige Medien in Österreich durchaus signifikante Verbreitung. Dies zeigt sich etwa in
der Nutzung deutscher Fernsehsender sowie in der Verfügbarkeit deutscher Zeitungstitel
und Magazine an den österreichischen Verkaufsstellen. Zu erklären ist dieses Gefälle mit
der Kleinstaatencharakteristik (Meier/Trappel 1992; Puppis 2009; Trappel 2014). Was in
größeren Staaten (politisch, ökonomisch, kulturell) passiert, hat oftmals Folgen und Kon-
sequenzen auch für kleine (Nachbar-)Staaten. Umgekehrt ist das selten der Fall. Daher
sind Nachrichtenquellen aus den hegemonialen Staaten für die Bevölkerung in Kleinstaa-
ten relevant, kleinstaatliche Medien werden aber in den großen Ländern kaum genutzt.
Das österreichische Medienwesen gilt im internationalen Vergleich als demokratisch-
korporatistisch, gekennzeichnet durch einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk,
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eine hohe Pressedichte und einen hohen Grad an journalistischer Professionalität (zum
Vergleich des österreichischen Medienwesens hinsichtlich seiner demokratischen Leis-
tungsfähigkeit siehe dazu Box Forschungsergebnisse). Zu dieser Gruppe zählen auch
die Länder Skandinaviens, Deutschland, die Benelux-Länder und die Schweiz. Diese
Einordnung geht auf die Systematisierung von Hallin und Mancini (2004) zurück, die
sich an einer globalen Mediensystemordnung versucht haben. Eine zweite Gruppe von
Ländern bezeichnen sie als mediterran-polarisiert (Frankreich, Griechenland, Italien,
Portugal, Spanien), und der dritten Gruppe, nordatlantisch-liberal, rechnen sie Groß-
britannien, Irland, Kanada und die USA zu. Diese Einteilung hat prominent Eingang
in die Fachliteratur gefunden, wurde unterdessen aber als ungenau und blind gegen-
über fundamentalen Bestimmungsgrößen entlarvt. So finden die bereits angesprochene
Problematik der Hegemonie größerer gegenüber kleineren Staaten sowie die politisch-
ökonomische Verfasstheit der Medien keine Berücksichtigung (Humphreys 2012). Als
Reaktion auf die Schwächen dieses Modells hat Blum (2014) einen weiteren Klassifizie-
rungsversuch in sechs Kategorien vorgelegt, welcher in Tabelle 6 ersichtlich ist und in
dem Österreich dem Public Service Modell zugerechnet wird.
Bezeichnung Länderbeispiele Charakteristika
Liberales Modell Brasilien, Luxem-
burg, USA
Demokratisches Regierungssystem, kapitalistisches
Wirtschaftssystem, starke Polarisierung, Staat regu-
liert nur das Nötigste
Public Service
Modell
Deutschland,
Frankreich, Groß-
britannien, Öster-
reich, Schweiz
Demokratisches Regierungssystem, marktwirtschaft-
liche Ordnung, Polarisierung und Konsensorientie-
rung, Staat kontrolliert Medien zurückhaltend
Klientel Modell Italien, Lettland,
Libanon, Ghana
Demokratisches Regierungssystem, liberale Wirt-
schaftsordnung, starke Polarisierung, Staat besitzt
und kontrolliert einen Teil der Medien
Schock-Modell Russland, Senegal,
ailand, Türkei
Nur formal Demokratien, Staat kontrolliert die
Medien schockartig, keine freie Berichterstattung,
fallweise Zensur
Patrioten Modell Ägypten, Iran,
Weißrussland
Autoritäres Regierungssystem, gemischte Wirtschaft,
Staat kontrolliert und unterdrückt Medien stark
Kommando Modell China, Syrien,
Nordkorea, Kuba
Totalitäres Regierungssystem, politische Führung
entscheidet über Medien, starke Kontrolle, perma-
nente Zensur
Quelle: Blum (2014).
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Zusammengefasst lässt sich Österreichs Position im internationalen Medienvergleich
als kleinstaatlich, korporatistisch geprägt und dem deutschen Sprachraum zugehörig
beschreiben. Die starke Stellung des öffentlich-rechtlichen ORF, der hohe Konzent-
rationsgrad sowie die vergleichsweise schleppende Digitalisierung von Angebot und
Nutzung (digitale Plattformen als Informationsquelle) sind weitere Distinktionskri-
terien.
Was leisten führende Nachrichtenmedien für das Funktionieren einer modernen Demo-
Das Projekt verfolgt den Anspruch, die vielfältigen Leistungen von Nachrichtenmedien
international und im Zeitablauf zu vergleichen und eine empirische Bestandsaufnahme
vorzunehmen.
Anhand von 30 Indikatoren haben nationale Forschungsteams in 18 Ländern weltweit
die Leistungen führender Nachrichtenmedien geprüft. Diese Indikatoren sind drei theo-
retisch hergeleiteten Dimensionen zugeordnet, die jeweils eine zentrale Aufgabe von
-
trolle/„Watchdog“. Für die empirische Erhebung haben die Forschungsteams in allen
Ländern einerseits Sekundärdaten ausgewertet (z.B. Befragung von Journalist*innen,
ökonomische Kennzahlen der Leitmedien), andererseits qualitative Interviews mit Re-
daktionsmitgliedern dieser Leitmedien sowie mit Standesvertreter*innen geführt.
Die erste Erhebungswelle 2008 (Pilotphase) stand unter dem Vorzeichen der globalen
Finanzmarktkrise und deren Auswirkungen auf die Leitmedien, die zweite Welle 2011
wurde in einer ökonomischen Erholungsphase durchgeführt, und die Datenerhebung
statt. Das Jahrzehnt zwischen der zweiten und der dritten Welle war geprägt durch
den Aufstieg globaler digitaler Plattformen zu dominierenden Akteuren der Kommuni-
kationswelt. Ihr werbebasiertes Geschäftsmodell konkurriert direkt mit jenem der klas-
für digitale Plattformen im Wettbewerb steht. Aufgrund dieses Spannungsverhältnis-
ses war zu erwarten, dass dieses Digitalisierungsjahrzehnt bei der Leistungsfähigkeit
der führenden Nachrichtenmedien Spuren hinterlässt.
Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen diese Annahme nicht. Vielmehr hat sich
gezeigt, dass die demokratische Leistungsfähigkeit der Leitmedien generell erhalten
geblieben ist, die 2008 und 2011 bestehenden Probleme aber auch 2021 nicht gelöst
und mit den digitalen Plattformen eine globale Dimension erreicht. Ein ausgeglichenes
Geschlechterverhältnis im Journalismus und der Berichterstattung lässt sich nur in we-
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nigen (skandinavischen) Ländern als weitgehend erreicht betrachten, während in dem
Großteil der Länder weiterhin erheblicher Nachholbedarf besteht.
Widersprüchlichkeiten legen die Auswertungsergebnisse der Indikatoren Transparenz
-
gang zu Quellen und deren Transparenz fordern, lehnen sie diese Transparenz bei der
-
-
nen und Journalisten aber als Wachhunde der Demokratie penibel auf die Einhaltung
dieser Prinzipien bei anderen Institutionen.
Als leistungsfähig erweisen sich gut ausgebildete und ausgestattete Redaktionen in
dem Bemühen, durch investigativen Journalismus Desinformation zu entlarven und
-
redaktionen klar und unmissverständlich zu dieser Aufgabe bekennen. Dies ist insbe-
sondere in den angelsächsischen Ländern Kanada und Großbritannien der Fall sowie in
Schweden und Dänemark. Allerdings tragen führende Nachrichtenmedien ungewollt
zur Weiterverbreitung von Falschinformationen bei, wenn sie diese aufgreifen, um sie
richtig zu stellen.
hoch Demokratische Leistungsfähigkeit niedrig
G
G
r
r
u
u
p
p
p
p
e
e
1
1
G
G
r
r
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u
p
p
p
p
e
e
2
2
G
G
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r
u
u
p
p
p
p
e
e
3
3
G
G
r
r
u
u
p
p
p
p
e
e
4
4
(> 70 Punkte) (60-69 Punkte) (50-59 Punkte) (< 50 Punkte)
Belgien
Island
Deutschland Italien
Finnland Portugal Australien
Großbritannien Österreich Chile
Dänemark Kanada Schweiz Hongkong
Schweden Niederlande Südkorea Griechenland
Abb. 1 Demokratische Leistungsfähigkeit der Leitmedien in vier Gruppen
https://euromedia-
group.org/mdm/ (31.12.2021).
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Ein weiteres Ergebnis der Studie zeigt, dass in einigen Ländern Investigativjournalis-
mus bereits zum Luxusgut, ja zur Ausnahme, geworden ist, obwohl er zur Bekämp-
fung von Desinformation dringend benötigt wird. Die Forschungsergebnisse zeichnen
auch hier ein widersprüchliches Bild: Auf der einen Seite erlauben die digitalen Techno-
logien neue datengetriebene Formen von investigativer Recherche. Auf der anderen
digitalen Kommunikationsplattformen den Nachrichtenmedien sowohl Nutzer*innen
als auch Werbeerlöse entziehen, und damit die wirtschaftliche Grundlage für investiga-
tiven Journalismus.
Die qualitativen Ergebnisse haben die Forschungsteams in ein quantitatives Beurtei-
lungssystem übertragen, in dem maximal 90 Demokratiepunkte zu erreichen waren.
Die demokratische Leistungsfähigkeit der Leitmedien der untersuchten Länder lässt
5. Herausforderungen für die Zukunft
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund zweier Medienkrisen lassen sich die Herausfor-
derungen der Zukunft in drei emenkreisen beschreiben. Die globale Wirtschafts-
krise 2008 (ausgelöst durch die Immobilienkrise in den USA und den Zusammen-
bruch der Investmentbank Lehman Brothers) hat das werbefinanzierte Medienmodell
grundlegend in Frage gestellt. Bis dahin erlaubte die Querfinanzierung der journalis-
tischen Leistung durch Werbeerlöse sowohl einen redaktionellen Regelbetrieb auf ho-
hem Niveau als auch die Erwirtschaftung namhafter Profite der Medienunternehmen.
Während der Weltwirtschaftskrise sind die Werbeerlöse stark zurückgegangen und im
folgenden Jahrzehnt nicht mehr auf das Vorkrisenniveau zurückgekehrt. Vielmehr setzt
zeitgleich der Siegeszug der digitalen Kommunikationsplattformen ein, die einen im-
mer größeren Teil des gesamten Werbeaufkommens auf die eigenen, personalisierbaren
Vermarktungsformen umzulenken verstanden. Die COVID-19-Pandemie hat diesen
Trend beschleunigt und für Massenmedien stellt sich die Frage nach einem anderen Ge-
schäftsmodell. Vielerorts besinnen sich die Medienunternehmen auf ihre User*innen,
die unterdessen gelernt haben, dass viele digitale Dienstleistungen scheinbar kostenlos
erhältlich sind. Massenmedien versuchen nun, die direkten Erlöse von ihren User*in-
nen zu steigern, indem sie hochwertige Leistungen nur mehr gegen Gebühr anbieten.
Eine zweite Herausforderung stellt das erodierende Vertrauen in Medienleistungen
dar. Über die Jahre ist in Österreich, aber auch in anderen europäischen Ländern und
weltweit, das Vertrauen in die Nachrichtenmedien gesunken. Stimmten 2016 noch
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43,5 Prozent der Befragten in Österreich der Aussage zu, man könne den meisten
Nachrichtenmedien überwiegend vertrauen, so taten dies 2020 nur noch 39,7 Prozent.
Erste Befunde während der COVID-19-Pandemie zeigen, dass zumindest bei einem
Teil der Bevölkerung das Vertrauen in die Nachrichtenmedien wieder zugenommen hat
(2021 46,3 %) (Gadringer et al. 2021). Bei einem anderen Teil der Bevölkerung hat das
Vertrauen allerdings massiv abgenommen. Die Herstellung einer Vertrauensbasis über
weite Teile der Bevölkerung hinweg zählt zu den entscheidenden Herausforderungen
der Medien in den nächsten Jahren.
Die dritte Herausforderung betrifft die Nutzung der Nachrichtenmedien generell.
Gestaffelt nach Altersgruppen und nach Mediengattungen lässt sich über die gesamte
Bevölkerung ein ungebrochener Trend in Richtung abnehmender Nutzung von Nach-
richtenmedien feststellen. Während Zeitungen, Zeitschriften und das Fernsehen konti-
nuierlich verlieren, finden die digitalen Kommunikationsplattformen vor allem bei jün-
geren Menschen immer mehr Zuspruch als Nachrichtenquellen. Dabei nehmen viele
gar nicht zur Kenntnis, dass die Inhalte in aller Regeln von klassischen Massenmedien
geliefert und dann über digitale Plattformen ausgespielt werden. Die Herausforderung
besteht darin, einerseits das Bewusstsein für den Wert der Nachrichtenproduktion bei
den User*innen zu stärken, andererseits aber eine faire wirtschaftliche Beteiligung an
den mit diesen Inhalten generierten Erlösen der digitalen Plattformen sicherzustellen.
Erste Erfolge in Frankreich und Australien könnten hier als Muster dienen.
Angesichts dieser Herausforderungen erscheint eine handlungsfähige Medienpolitik
auf nationaler wie auf internationaler und EU-Ebene als zentrale Erfolgsvoraussetzung.
Die eingangs beschriebenen Verfilzungen zwischen Medien und der Politik sind nicht
geeignet, eine sachgerechte und zukunftsorientierte Medienpolitik zu ermöglichen.
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Österreichische Webanalyse (2022). https://oewa.at/ (03.02.2022).
Übungsfragen
Was regelt der ungeschriebene Sozialvertrag zwischen Medien und Staat?
Wodurch unterscheiden sich Radio, Fernsehen und Zeitungen von Online-Medien
und YouTubern?
Warum sind öffentlich-rechtliche Medien keine Staatsmedien?
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153
Warum stellt Medienkonzentration ein Problem für die Demokratie dar?
Welche Charakteristika weist der österreichische Tageszeitungsmarkt auf?
Welche Phasen lassen sich in der Entwicklung der Medien seit dem Zweiten Welt-
krieg unterscheiden?
In welchen Märkten sind die führenden Medienkonzerne Österreichs tätig?
Welche Schlüsselfaktoren sind heranzuziehen, um das Medienwesen eines Landes
international zu positionieren?
Nennen Sie Distinktionskriterien des österreichischen Medienwesens im internatio-
nalen Vergleich.
Welche drei Herausforderung werden die Medien in den nächsten Jahren beschäf-
tigen?
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Teil 3:
Institutionen
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Das Parlament:
Nationalrat und Bundesrat
Katrin Praprotnik
Zusammenfassung
9Das Parlament gehört zur Gesetzgebung (Legislative) des politischen Systems. Die Ge-
setzgebung ist – neben der Verwaltung (Exekutive) und der Gerichtsbarkeit (Judikative)
– eine der drei Staatsgewalten.
9Das Parlament ist ein Zweikammersystem bestehend aus dem Nationalrat und dem Bun-
desrat.
9Der Bundesrat hat die Aufgabe, die Interessen der Bundesländer zu vertreten. Er wird, an-
von den Landtagen entsandt.
9-
-
spracherecht.
9
sondern zwischen Parlamentarier*innen der Regierungsparteien sowie der Regierung auf
9Insbesondere der Nationalrat hat eine Reihe von Kontrollinstrumenten zur Verfügung.
-
-
1. Einleitung
Ein Parlament ist eine politische Versammlung mit legislativen – das heißt gesetzge-
benden – Aufgaben (Kreppel 2011, 123). Der Begriff stammt aus dem 11. Jahrhundert
und leitet sich aus dem Alt-Französischen „parlement“ (Sprechen, Vortrag) ab (Harper
2021). Im täglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Legislative, Parlament und
Kongress häufig synonym verwendet. Analytisch ist es sinnvoll, die Begrifflichkeiten
zu unterscheiden. Legislative kann als Überbegriff verstanden werden und Parlament
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158 Katrin Praprotnik
beziehungsweise Kongress als konkrete Ausprägung einer Legislative. Der Begriff Parla-
ment ist gebräuchlich in parlamentarischen Regierungssystemen und in semi-präsiden-
tiellen Regierungssystemen wie in Österreich (siehe dazu Ingruber in diesem Band). In
präsidentiellen Regierungssystemen, wie beispielsweise den USA, spricht man hingegen
von einem Kongress. Je nach Regierungssystem ist das Verhältnis zwischen Legislative
und Exekutive unterschiedlich geregelt. Zentral ist der Unterschied, dass in parlamen-
tarischen sowie semi-präsidentiellen Systemen die Regierung dem Parlament gegenüber
politisch verantwortlich ist und somit von diesem abgewählt werden kann. In präsiden-
tiellen Regierungssystemen gibt es diese rein politische Verantwortung nicht und der
Kongress kann einem*einer Präsidenten*Präsidentin nicht das politische Misstrauen
aussprechen (Kreppel 2011, 122 f.).
Das Parlament ist die gesetzgebende Institution im österreichischen politischen Sys-
tem. Neben der Gesetzgebung erfüllt es auch die wichtigen Aufgaben der Repräsenta-
tion der Bevölkerung und der Kontrolle der Regierung. Es besteht aus zwei Kammern:
dem Nationalrat und dem Bundesrat.
Die internationale Politikwissenschaft beschäftigt sich intensiv mit der Analyse von
Parlamenten und Kongressen (Martin et al. 2014). In Österreich hingegen erhält das
Parlament geringere Aufmerksamkeit von Politikwissenschaftler*innen. Viele Arbeiten
aus dem Bereich der Legislative Studies stammen aus den USA, die die Legislativen
verschiedenster Staaten aus immer wieder unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht
haben. Standen gegen Ende des 18. Jahrhunderts und bis zum Ende des Zweiten Welt-
krieges vor allem die Geschichte sowie die Strukturen der Legislativen im Vordergrund,
so wandelte sich das Interesse in den 1950er- und 1960er-Jahren hin zu dem politischen
Verhalten der Abgeordneten. Seit der Mitte der 1980er-Jahre ist die Forschung vielfälti-
ger geworden und befasst sich sowohl mit der Legislative an sich als auch mit den darin
vertretenen Abgeordneten (Martin et al. 2014, 6). Ein umfassendes Verständnis der
Parlamente und Kongresse ist aufgrund ihrer zentralen Stellung in politischen Systemen
unerlässlich. Die politikwissenschaftliche Forschung kann hier einen wichtigen Beitrag
liefern, wenn sie Fragestellungen wie beispielweise die folgenden beantworten kann:
Wie lassen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Legislativen erklären?
Welche Auswirkungen haben diese auf den Gesetzgebungsprozess und das Verhalten
der einzelnen Abgeordneten? Als Grundlage für derartige Forschung stehen Politikwis-
senschaftler*innen heute umfassende Daten zur Verfügung. So bieten Parlamente und
Kongresse meist auf ihren Websites ausführliche Informationen zum politischen Ge-
schehen an und die Interparlamentarische Union (2021) sammelt vergleichende Infor-
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159Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
mationen zu Legislativen weltweit. Neben diesen Daten werden gerne auch qualitative
sowie quantitative Interviews mit Abgeordneten (Elitenbefragungen) durchgeführt und
auch experimentelle Studien werden immer beliebter.
2. Gegenwärtige Situation
Das österreichische Parlament ist ein Zweikammersystem (Bikameralismus) bestehend
aus dem Nationalrat und dem Bundesrat. Der Nationalrat wird direkt vom österreichi-
schen Volk alle fünf Jahre gewählt, der Bundesrat über die Landtage durch Landesvertre-
ter*innen beschickt (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem Band). Letzterer gewährt somit
den Bundesländern Einfluss auf die Bundesgesetzgebung. Der Nationalrat ist jedoch die
weitaus mächtigere Kammer des Parlamentes, da dem Bundesrat mit Ausnahme weniger
Materien wie etwa jener, die die Kompetenzen der Länder beschneiden würden, lediglich
ein aufschiebendes Vetorecht zusteht (siehe dazu Bußjäger/Eller in diesem Band).
2.1 Der Nationalrat
2.1.1 Organisation und Arbeitsweise
In der Bundesverfassung sind die Struktur und Aufgaben des Nationalrates festgeschrie-
ben. Das Geschäftsordnungsgesetz (GOG) regelt die Details für den täglichen parla-
mentarischen Ablauf. Sowohl Abänderungen der Bundesverfassung als auch des GOG
können nur mittels einer 2/3-Mehrheit und bei der Anwesenheit von mindestens der
Hälfte der Abgeordneten erfolgen. Das bedeutet, dass Änderungen oftmals nicht von
den Regierungsparteien allein beschlossen werden können. Seit der 24. Gesetzgebungs-
periode (GP, 2008–2013) hatten die Parlamentsparteien der Bundesregierung keine
2/3-Mehrheit mehr. Gleichzeitig soll das Anwesenheitskriterium zufällige Mehrheiten
verhindern, beispielsweise wenn mehrere Abgeordnete gleichzeitig krank sind. Das Par-
lament wird durch die Parlamentsdirektion unterstützt. Die Sitzungen sind öffentlich.
Der*die Parlamentspräsident*in oder mindestens ein Fünftel der Abgeordneten kann
jedoch den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen und in weiterer Folge im Plenum
beschließen.
Der Nationalrat konstituiert sich nach jeder Nationalratswahl neu. Dazu ruft der*die
Bundespräsident*in den Nationalrat innerhalb einer Frist von 30 Tagen nach einer
Wahl ein. Der wichtigste Punkt auf der Tagesordnung der ersten Sitzung eines neu zu-
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160 Katrin Praprotnik
sammengekommenen Nationalrates ist die Angelobung der 183 Abgeordneten.1 Diese
loben „unverbrüchliche Treue der Republik, stete und volle Beobachtung der Verfas-
sungsgesetze und aller anderen Gesetze und gewissenhafte Erfüllung ihrer Pflichten“
(§ 4 GOG). Dazu werden alle Abgeordneten namentlich aufgerufen und antworten
mit den Worten „ich gelobe“. Der Tag der Angelobung zieht auch immer ein großes
mediales Interesse auf sich und die Sitzung kann live im Fernsehen verfolgt werden. Im
Nachhinein ist die erste Sitzung – wie auch jede andere Sitzung – in den Stenographi-
schen Protokollen nachzulesen, die auf der Homepage des Parlaments frei zugänglich
sind. Die Abgeordneten sind mit gewissen Rechten und Pflichten ausgestattet. Zentral
ist das in der Bundesverfassung garantierte freie Mandat (Art 56 Bundes-Verfassungs-
gesetz, B-VG). Abgebordnete sind bei ihrer Arbeit an keinen Auftrag durch Dritte ge-
bunden. Einen „Klubzwang“, der das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten be-
stimmt, kann es daher rechtlich nicht geben. In der Praxis ist die Bindung an die eigene
Partei jedoch mehr oder weniger stark, nicht zuletzt da Parteien über die Erstellung
der Wahllisten die Chancen für eine (Wieder-)Wahl beeinflussen (Ucakar et al. 2017,
111). Darüber hinaus sind Abgeordnete strafrechtlich immun. Das bedeutet, dass sie
lediglich dem Nationalrat verantwortlich sind und es für eine behördliche Verfolgung
oder gar Verhaftung die Zustimmung des Nationalrates benötigt. Dies gilt für mögliche
strafbare Handlungen, die im Zusammenhang mit der Arbeit im Nationalrat stehen.
Abgeordnete sind verpflichtet, an den Sitzungen des Nationalrates und der Ausschüsse
teilzunehmen, und müssen ihre Abwesenheit in der Parlamentsdirektion melden. Ein*e
Abgeordnete*r verliert das Mandat, (1) wenn er*sie die Angelobung nicht oder auch
nicht korrekt leistet, (2) wenn eine 30-tägige Frist der unentschuldigten Abwesenheit
verstreicht und er*sie auch nach Aufforderung des*der Präsidenten*Präsidentin nicht
nach weiteren 30 Tagen erscheint, (3) durch Verlust der Wählbarkeit sowie (4) gemäß
der §§ 9 und 10 des Unvereinbarkeits- und Transparenz-Gesetzes (§ 2 GOG).
Nationalratsklubs
Die Abgeordneten derselben wahlwerbenden Partei können sich im Parlament in
Klubs zusammenschließen. Dabei gilt es einige Bestimmungen gemäß § 7 GOG zu
beachten: Die Gründung eines Klubs muss spätestens einen Monat nach der konstitu-
ierenden Sitzung des Nationalrates erfolgen. Jede wahlwerbende Partei darf nur einen
Klub gründen und dieser muss aus mindestens fünf Mitgliedern bestehen. Abgeordnete
mehrerer wahlwerbenden Parteien können sich nur dann zu einem Klub zusammen-
schließen, wenn der Nationalrat seine Zustimmung erteil.
Diese Regelungen sind das Ergebnis der Novelle des § 7 GOG aus dem Jahr 2013,
die den ehemals eher allgemein gehaltenen Paragraphen zu Klubgründungen spezifi-
1 Die Anzahl der Abgeordneten ist einfachgesetzlich in der Nationalrats-Wahlordnung geregelt.
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161Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
zierte und Klubgründungen außerhalb der Frist zu Beginn einer Gesetzgebungsperiode
ausschloss. Begründet wurde die Reform damit, dass die demokratische Legitimation
der Klubs durch die direkte Anbindung von wahlwerbender Partei und unmittelbar an-
schließender Klubgründung gesichert wird. Das freie Mandat sah man dadurch nicht
eingeschränkt, weil es Abgeordneten weiterhin möglich ist, zwischen den Klubs zu
wechseln.2
Anlassfall war die Debatte um den beantragten Klubstatus für das TEAM STRO-
NACH durch ehemalige Abgeordnete des BZÖ während der laufenden 24. Gesetz-
gebungsperiode (2008–2013). Die Entscheidung, ob dem TEAM STRONACH der
Klubstatus zuerkannt wird, wurde nach dem Hinzuziehen zweier Gutachten aus der
Parlamentsdirektion und dem Bundeskanzleramt gestattet.3 Der § 7 GOG stand auch
bereits 1993 im Zentrum der Debatte, als ehemalige Abgeordnete der FPÖ ebenfalls
während der Gesetzgebungsperiode den Klubstatus für das LIBERALE FORUM be-
antragten und schließlich auch erhielten (Konrath 2017, 565).
Die Klubobleute bilden gemeinsam mit dem Präsidium (siehe weiter unten) die Prä-
sidialkonferenz (§ 8 GOG). Diese ist ein beratendes Organ, welches vorrangig Vor-
schläge für Arbeitspläne, Tagesordnungen, Sitzungszeiten erarbeitet und internationale
parlamentarische Beziehungen unterhält.
Ausschüsse
Der Nationalrat wählt zur Vorberatung von Gesetzesvorlagen Ausschüsse (§ 32
GOG). Er bestimmt so die notwendige Anzahl an Ausschüssen und legt jeweils die
Anzahl an Mitgliedern beziehungsweise Ersatzmitgliedern fest. Die Sitze in einem Aus-
schuss stehen dann den einzelnen Parlamentsklubs im Verhältnis zu ihrer jeweiligen
Größe zur Verfügung. Man unterscheidet zwischen Fachausschüssen, die im Wesent-
lichen die Zuständigkeitsbereiche der Ministerien widerspiegeln, und Ausschüssen mit
spezifischen Aufgaben. So gibt es beispielsweise die Fachausschüsse, wie den Ausschuss
für Arbeit und Soziales oder den Budgetausschuss, und die Ausschüsse mit spezifischen
Aufgaben, wie den Hauptausschuss oder den Immunitätsausschuss. Dem Hauptaus-
schuss kommt eine besondere Rolle zu. Er ist unter anderem dafür zuständig, Einver-
nehmen mit der Bundesregierung über bestimmte Verordnungen oder auch die Ernen-
nung von Mitgliedern der Europäischen Kommission herzustellen. Der Hauptausschuss
legt auch Vorschläge für die Wahl des*der Präsidenten*Präsidentin des Rechnungshofes
oder der Mitglieder der Volksanwaltschaft vor. Aufgrund seiner vielfältigen und wichti-
2 Zur Änderung der Geschäftsordnung siehe die Parlamentskorrespondenz Nr. 580 vom
20.06.2013.
3 Zur Entscheidung über den Klubstatus des TEAM STRONACH siehe die Parlamentskorre-
spondenz Nr. 838 vom 30.10.2012.
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162 Katrin Praprotnik
gen Aufgaben wählt der Hauptausschuss zwei Ständige Unterausschüsse. Der Immuni-
tätsausschuss befasst sich mit behördlichen Ansuchen, die Immunität eines*einer Ab-
geordneten aufzuheben und damit eine behördliche Verfolgung zu ermöglichen.
Darüber hinaus haben die Ausschüsse die Möglichkeit, für komplexe Materien Un-
terausschüsse einzurichten. Zur Kontrolle der Bundesregierung können eigene Unter-
suchungsausschüsse eingerichtet werden (siehe Abschnitt 2.1.2). Ausschüsse dienen zur
Vorberatung von Gesetzesvorlagen, haben aber auch das Recht, eigene Vorlagen, die
ihrem Bereich zufallen, einzubringen. Grundsätzlich beschließen Ausschüsse mit Stim-
menmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte ihrer Abgeordneten. Ihre
Sitzungen sind in der Regel nicht öffentlich.
In der 27. Gesetzgebungsperiode (seit 2019) gibt es 31 Ausschüsse. Der bereits an-
gesprochene Ausschuss für Arbeit und Soziales wurde beispielsweise in der 6. Sitzung
des Nationalrates am 11. Dezember 2019 einstimmig gewählt. Entsprechend der Ge-
schäftsordnung wurde sodann als Größe des Ausschusses 23 Mitglieder und ebenso
viele Ersatzmitglieder vorgeschlagen. Diese verteilten sich auf die Parlamentsparteien
wie folgt: neun ÖVP, fünf SPÖ, vier FPÖ, drei GRÜNE und zwei NEOS. Der Vor-
schlag wurde ebenfalls einstimmig angenommen. Wer von den jeweiligen Parteien die
dem Klub zustehenden Mandate übernimmt, ist die Entscheidung der Klubs selbst, die
diese dem Nationalrat bekanntgeben.
Präsidium
Der*die ehemalige Präsident*in des Nationalrates eröffnet jeweils die erste Sitzung
des neuen Nationalrates und bleibt bis zur Wahl eines*einer Nachfolgers*Nachfolge-
rin im Amt. Diese*r kommt aus der Mitte der Abgeordneten und wird mit einfacher
Mehrheit gewählt. Ebenso kommt es zu Wahlen für den*die zweite*n und dritte*n
Präsidenten*Präsidentin. In der Regel stellt die mandatsstärkste Partei den*die Präsi-
denten*Präsidentin und auch die beiden weiteren Positionen werden entsprechend der
Parteistärke besetzt. Die Präsidentschaft „wacht darüber, dass die Würde und die Rechte
des Nationalrates gewahrt, die dem Nationalrat obliegenden Aufgaben erfüllt und die
Verhandlungen mit Vermeidung jedes unnötigen Aufschubes durchgeführt werden“
(§ 13 Abs 1 GOG). Ihr obliegt eine Vielzahl an Aufgaben wie die Sitzungsleitung, die
Erteilung des Wortes an die Abgeordneten, die Zuweisung von Verhandlungsgegen-
ständen an Ausschüsse, das Verlesen der Abstimmungsfragen und das Verkünden der
Abstimmungsergebnisse. Nach Rücksprache mit der Präsidialkonferenz wird der Ar-
beitsplan für ein Jahr festgelegt. Von vier Wochen sind jeweils die ersten beiden Wochen
für Ausschusssitzungen und die dritte für die Plenarwoche reserviert. Die vierte Woche
ist sitzungsfrei, um den Abgeordneten Zeit für Arbeit in ihren jeweiligen Wahlkreisen
zu geben (§ 13 GOG).
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163Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
2.1.2 Funktionen
Legislativen erfüllen eine Vielzahl an Funktionen, die in der Forschung zum Parlamen-
tarismus – neben der Wahl/Abwahl von Regierungen4 – häufig entlang der Kategorien
Repräsentation und Kommunikation, Gesetzgebung und Kontrolle beschrieben wer-
den (Marschall 2018, 100–102).
Repräsentation und Kommunikation
Politische Repräsentation ist ein facettenreiches Konzept, das sowohl die substantiel-
le als auch die deskriptive Vertretung der Bürger*innen beinhaltet (Pitkin 1967). Subs-
tantielle Repräsentation meint die Vertretung der inhaltlichen Interessen und deskrip-
tive Repräsentation zielt auf die Zusammensetzung der Abgeordneten ab, die durch
unterschiedliche (sozio-demographische) Merkmale auch die unterschiedlichen Grup-
pen der Gesellschaft widerspiegeln. In Österreich führt das Verhältniswahlrecht dazu,
dass die Stimmen der Wähler*innen – ihre Interessen – nach dem Wahltag proportional
in Mandate übersetzt werden. Das bedeutet, dass stimmenstärkere Parteien auch mehr
Sitze im Nationalrat erhalten. Die tatsächliche Verbindung zwischen dem Wähler*in-
nenwillen und der Politikgestaltung wird in der Politikwissenschaft zum Beispiel im
Rahmen der Forschung zur Umsetzung von Wahlversprechen untersucht (siehe dazu
Box Forschungsergebnisse). Mit Blick auf die deskriptive Repräsentation zeigt sich, dass
die Abgeordneten im Nationalrat in Summe männlicher, höher gebildet und älter als
die Wähler*innen sind. Deskriptive Repräsentation bedeutet eine faire Verteilung von
politischer Macht und damit mehr Gleichwertigkeit in einer Gesellschaft sowie häufig
auch eine bessere inhaltliche Vertretung für gesellschaftliche Gruppen wie Frauen oder
Minderheiten (Phillips 1995, Lowande et al. 2019). Studien haben gezeigt, dass bei-
spielsweise ein höherer Frauenanteil in Legislativen auch zu einer besseren Vertretung
dieser Gruppe führt (Wängnerud 2009).
Die Kommunikationsfunktion drückt sich durch die Verbindung der Bürger*innen
mit der Regierung durch die im Nationalrat vertretenen Parteien aus. Die Parteien bün-
deln die Interessen der Bürger*innen und kommunizieren diese an die Regierung bezie-
hungsweise kommunizieren – unterstützend oder kritisierend – Regierungshandeln an
die Bürger*innen. Darüber hinaus ist das Plenum des Nationalrates ein Forum für die
öffentliche politische Debatte und durch online- und TV-Übertragungen eine wichtige
politische Tribüne.
4 In Österreich braucht es kein Zustimmungsvotum des Nationalrates damit eine Regierung
ins Amt kommen kann (Prinzip des negativen Parlamentarismus). Der Nationalrat kann aber
der Regierung sein Misstrauen aussprechen und diese abwählen. Da das Misstrauensvotum
ein Kontrollinstrument ist, wird es im Rahmen der Kontrollfunktion beschrieben.
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164 Katrin Praprotnik
Forschungsergebnisse. Die Umsetzung von Wahlversprechen
Viele kennen es vielleicht aus dem eigenen persönlichen Umfeld: Wahlversprechen
werden belächelt und allenfalls wird darauf vertraut, dass diese sowieso nicht umge-
setzt werden. Die Politikwissenschaft kann hier einen Blick hinter diese Pauschalaus-
sage werfen und der Forschungsfrage nachgehen, welche Wahlversprechen eher um-
gesetzt werden.
dass Wähler*innen aus unterschiedlichen Programmen jenes auswählen, das ihren Vor-
stellungen für die künftige Politik im Land am besten entspricht. Die gewählten Par-
den Gesetzgebungsprozess zu dominieren. Letztlich obliegt es dann wieder den Wäh-
ler*innen, die politische Bilanz zu bewerten und anhand der neuen Programme wiede-
rum zu entscheiden, wer ihre politische Vertretung sein soll.
-
-
alitionsregierungen vor allem jene Wahlversprechen umsetzen, die ident abgegeben
wurden oder die im Rahmen der Koalitionsverhandlungen in das Koalitionsabkommen
niedergeschrieben wurden. Auch Wahlversprechen, die die Beibehaltung des Status
quo versprechen, sollten leichter umsetzbar sein (Praprotnik 2015).
-
wie eine Quelle, um diese zu sammeln. Ein Wahlversprechen ist eine objektiv überprüf-
-
losigkeit. Subjektive Aussagen, wie etwa die Forderung nach „fairen“ Pensionen, sind
die Wahlprogramme der Parteien. Auch wenn diese Dokumente kaum in der Bevölke-
rung gelesen werden, so sind sie dennoch eine Richtschnur für die eigene Partei, die
-
qualitativen Analyse werden im Folgenden diese Wahlversprechen auf ihre vollständi-
ge, teilweise oder nicht erfolgte Umsetzung hin überprüft.
Forschungsfrage und Hypothesen können mittels dieses Designs nun anhand der Re-
gierungsperiode Faymann I überprüft werden. Die Tabelle 2 zeigt, dass die beiden Re-
gierungsparteien SPÖ und ÖVP mehr als die Hälfte ihrer Wahlversprechen zumindest
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165Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
Dennoch ist es auch diesen gelungen, einige Versprechen – sei es, weil Parteien in ihren
Forderungen einig waren oder die Beibehaltung der aktuellen Situation versprochen
wurde, die von niemandem in Frage gestellt wurde.
-
prüfen. Abbildung 2 lässt über die Dominanz der Regierungsparteien auch erkennen,
dass Wahlversprechen eine höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, zumindest teilweise
umgesetzt zu werden, wenn sie im Koalitionsabkommen aufgenommen wurden, die
Beibehaltung des Status quo versprochen wurde oder die beiden Regierungsparteien
das gleiche Wahlversprechen abgegeben haben.
SPÖ
(N=149)
ÖVP
(N=70)
FPÖ
(N=137)
BZÖ
(N=133)
GRÜNE
(N=195)
Vollständig
umgesetzt
48,3 52,9 27,0 27,1 23,6
Teilweise umgesetzt 7,4 7,1 10,2 5,3 16,9
Nicht umgesetzt 44,3 40,0 62,8 67,7 59,5
Gesamt 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0
Tab. 2 Umsetzung von Wahlversprechen in Prozent, 2008–2013
In der Tabelle sind Abweichungen von 100 Prozent durch die erfolgte Rundung der Zahlen möglich.
Die Tabelle ist ein Nachdruck.
Quelle: Praprotnik (2015, 7).
Abb. 1 Vorhergesagte Wahrscheinlichkeit für die (teilweise) Umsetzung
Die Abbildung ist ein Nachdruck.
Quelle: Praprotnik (2015, 10).
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166 Katrin Praprotnik
Die Umsetzungsraten sind vergleichbar mit jenen früherer Regierungen in Österreich
sowie in anderen Ländern mit Koalitionsregierungen. In Einparteienregierungen wer-
den jedoch weitaus mehr Wahlversprechen umgesetzt. Dies sind positive Anzeichen
für eine repräsentative Demokratie, wenngleich die Umsetzung von einstigen Wahl-
versprechen nur ein Aspekt von politischer Repräsentation ist. Freilich nicht dargestellt
wird im Rahmen dieses Forschungsdesigns, ob und wie Parteien auf neue Wünsche der
Bevölkerung eingehen.
Die Periode Faymann I wurde hier exemplarisch ausgewählt, weil sowohl Daten von
Studie ist in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft erschienen und ist
dort frei zugänglich (Praprotnik 2015).
Gesetzgebung
Die Bundesverfassung nennt explizit die Zuständigkeitsbereiche, die dem Bund und
damit dem Parlament als Gesetzgeber zufallen (Art 10 B-VG). Daraus folgt auch, dass
alles, was nicht explizit als Bundessache genannt wird, im Wirkungsbereich der Länder
verbleibt. Trotz dieser Regelung ist die politische Macht der Länder schwach ausge-
prägt, weil gewichtige Bereiche eben ausdrücklich dem Bund zugeschrieben sind (siehe
dazu Bußjäger/Eller bzw. Doleza/Fallend in diesem Band).
Die Länder können über den Bundesrat bei der Bundesgesetzgebung mitwirken
(Art 42 B-VG). Die Zweite Kammer des Parlaments besitzt jedoch weit weniger politi-
sches Gewicht. Zwar müssen laut Verfassung alle Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates
unverzüglich an den Bundesrat weitergeleitet werden, dieser kann in den allermeisten
Fällen jedoch nur ein suspensives Veto einlegen. Ein Einspruch des Bundesrates hat
somit aufschiebende Wirkung und der Nationalrat kann seinen ursprünglichen Be-
schluss – allerdings bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten –
wiederholen. Zudem nennt die Verfassung Bereiche, bei denen der Bundesrat keinerlei
Mitwirkungsrechte besitzt. Es sind dies die gewichtigen Budgetangelegenheiten sowie
die Geschäftsordnung des Nationalrates und die Auflösung desselben. Die ausdrück-
liche Zustimmung des Bundesrates ist hingegen dann notwendig, wenn eine Materie
die Zuständigkeiten der Länder einschränken würde. In diesem Fall muss der Bundesrat
bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte seiner Mitglieder mit einer 2/3-Mehrheit
zustimmen.
Der Ablauf eines Gesetzgebungsverfahrens ist in Tabelle 1 dargestellt (siehe auch
Parlament 2022a). Gesetzesanträge können unterstützt von mindestens fünf Abgeord-
neten, einem Ausschuss, der Bundesregierung sowie von dem Bundesrat oder einem
Drittel seiner Mitglieder in den Nationalrat eingebracht werden. Auch Volksbegehren,
die von mindestens 100.000 Stimmberechtigten oder von je einem Sechstel der Stimm-
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167Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
berechtigten aus drei Bundesländern unterstützt wurden, müssen in den Nationalrat
eingebracht werden (Art 41 B-VG).5 Gesetzesanträge der Bundesregierung durchlau-
fen, bevor sie im Ministerrat einstimmig beschlossen und als Ministerialentwurf in
den Nationalrat eingebracht werden, ein sogenanntes Begutachtungsverfahren. Die
Ministerialentwürfe werden auf der Parlamentshomepage veröffentlicht und können
innerhalb einer vom zuständigen Ministerium gesetzten Frist von jeder Person über 14
Jahre kommentiert werden. Der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts empfiehlt
eine Fristsetzung von sechs Wochen.6 In der Praxis werden aber häufig deutlich kürzere
Fristen gesetzt: In der 25. Gesetzgebungsperiode (2013–2017) wurde nur in 18 Prozent
der Fälle eine Frist von sechs Wochen oder länger gewährt. Der mittlere Wert der Dauer
des Begutachtungsprozesses (Medianwert) betrug nur vier Wochen (Ennser-Jedenastik
2018). Auch die Stellungnahmen sind auf der Parlamentshomepage einsehbar und Teil
der (medialen) politischen Debatte. Wie und ob ein Ministerium auf solche Stellung-
nahmen zu reagieren hat, ist nicht festgelegt (Konrath 2017, 231). In der 27. Gesetz-
gebungsperiode (seit 2019) kamen bislang die meisten Gesetzesinitiativen von Abge-
ordneten selbst (rund 66 %). Dahinter liegen Initiativen der Regierung (25 %) und der
Ausschüsse (6 %). Die anderen Arten der Einbringung kamen bislang kaum vor.
Im Nationalrat können die Anträge im Rahmen einer Ersten Lesung vorgestellt wer-
den. Erste Lesungen sind in der Regel selten und finden nur statt, wenn es der Natio-
nalrat beschließt oder der*die Antragsteller*in es verlangt. Jedenfalls werden die Geset-
zesanträge an die Abgeordneten verteilt und vom*von der Präsidenten*Präsidentin des
Nationalrates einem Ausschuss zur Beratung zugewiesen. Damit ist es nicht möglich,
ein Gesetz sofort nach Einlangen in den Nationalrat zu beschließen.
5 Darüber hinaus werden auch der Bundesrechnungsanschluss (Gegenüberstellung der Ein-
nahmen und Ausgaben des Bundes, die vom Rechnungshof erstellt wird) und Einsprüche
des Bundesrates als Gesetzesinitiativen gezählt. In Tabelle 3 und 4 sind diese als Sonstige
zusammengefasst.
6 Siehe Schreiben des Verfassungsdienstes aus dem Jahr 2008, abrufbar unter https://www.
bundeskanzleramt.gv.at/agenda/verfassung/legistik/begutachtungs-konsultations-informati-
onsverfahren-bessere-rechtssetzung/rundschreiben-begutachtungen-konsultationsmechanis-
men.html (26.06.2022).
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168 Katrin Praprotnik
Tab. 1 Ablauf des Gesetzgebungsprozesses
Gesetzes-
antrag
Abgeordnete Ausschuss Regierung Bundesrat Volksbegehren
Einlangen
im
Nationalrat
• Möglichkeit einer Ersten Lesung
• Zuweisung des Gesetzesantrages durch den*die Präsidenten*Präsidentin des
Nationalrats an den zuständigen Ausschuss zwecks Vorberatung
Ausschuss-
beratungen
• Wahl eines*einer Berichterstatters*Berichterstatterin
• Debatte (Vorlage in ihrer Gesamtheit, in Teilen oder mittels General- und Spezialdebatte)
• Abstimmung nach Schluss der Debatte mit Stimmenmehrheit
Debatte im
Plenum
• Bericht des*der Berichterstatters*Berichterstatterin des Ausschusses
(meist Verzicht auf mündliche Berichterstattung)
• Zweite Lesung: Generaldebatte und Spezialdebatte
Gesetzesbe-
schluss
• Dritte Lesung: Abstimmung über gesamtes Gesetz
Beschlusser-
fordernis
• einfaches Gesetz: bei Anwesenheit von mindestens einem Drittel der
Abgeordneten Beschluss mit unbedingter Mehrheit der abgegebenen Stimmen
• Verfassungsgesetz/Verfassungsbestimmung in einfachem Gesetz: bei Anwesenheit von
mindestens der Hälfte der Abgeordneten Beschluss mit 2/3-Mehrheit der abgegebenen Stimmen
Bundesrat kein Einspruchsrecht
des Bundesrates
Einspruchsrecht des Bundesrates
Bekanntgabe an den Bundesrat
innerhalb
von 8 Wo-
chen nicht
behandelt
• Zuweisung an Ausschuss
• Vorberatung im Ausschuss
• Berichterstattung
• Debatte
• Abstimmung
Beschlusser-
fordernis
kein Ein-
spruch
einfaches Gesetz: wie oben
Spezielle Anforderungen bei Berührung Länderinteressen
kein Einspruch Einspruch
Nationalrat • Beharrungsbeschluss • neuer Gesetzesbeschluss und
neue Zuweisung an Bundesrat
Inkraft-
treten
• gegebenenfalls: Volksabstimmung (bei Gesamtänderung der Verfassung,
bei Teiländerung der Verfassung auf Verlangen eines Drittels der Parla-
mentarier*innen in National- oder Bundesrat, oder bei einfachen Bundes-
gesetzen, wenn Nationalrat oder dessen Mehrheit dies beschließt)
• Beurkundung des verfassungsmäßigen Zustandekommens durch den*die
Bundespräsidenten*Bundespräsidentin
• Gegenzeichnung durch den*die Bundeskanzler*in
• Kundmachung im Bundesgesetzblatt
Für Gesetze ohne oder mit lediglich einem suspensiven Vetorecht des Bundesrates; Stand: 09.08.2021.
Quelle: Bundesverfassungsgesetz; Geschäftsordnungsgesetz des Nationalrates; Geschäftsordnung
des Bundesrates.
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169Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
Die weitere Arbeit findet in den jeweiligen Ausschüssen statt, in denen die auf diese
Bereiche spezialisierten Abgeordneten sitzen. In die Diskussionen können Expert*in-
nen oder andere Auskunftspersonen miteinbezogen werden und auch Unterausschüsse
für besonders komplexe Materien installiert werden. Am Beginn steht jeweils die Wahl
eines*einer Berichterstatters*Berichterstatterin und dessen*deren Vorschlag, die Vorlage
in ihrer Gesamtheit, in Teilen oder mittels General- und Spezialdebatte zu diskutieren.
Im Laufe des Prozesses steht es jedem*r einzelnen Abgeordneten allein frei, Abände-
rungs- oder Zusatzanträge zu stellen. Während der Ausschussphase kommt es häufig
noch zu Änderungen an der Gesetzesvorlage. Am Ende des Prozesses steht die Abstim-
mung im Ausschuss. Bei dieser ist in der Regel eine Stimmenmehrheit der anwesenden
Mitglieder ausreichend. Erneut wird am Ende ein*e Berichterstatter*in gewählt, der*die
die Ergebnisse für den Nationalrat in einem Bericht zusammenfasst. Dennoch ist auch
die Zeit für Ausschusssitzungen und damit für intensive Verhandlungen vor Ort sehr
beschränkt: Ein Großteil der Ausschüsse tagt nur wenige Male im Jahr (Konrath 2017,
228).
Zurück im Plenum kann der*die Berichterstatter*in die Debatte, genannt Zweite
Lesung, eröffnen. Er*sie kann aber auch auf eine mündliche Berichterstattung verzich-
ten. Dies kommt in der parlamentarischen Praxis häufig vor und die Abgeordneten
steigen dann sofort in die Debatte ein. In dieser Phase des Gesetzgebungsprozesses
können erneut Abänderungs- oder Zusatzanträge gestellt werden, diese müssen von
mindestens fünf Abgeordneten unterstützt werden. Haben alle Abgeordneten, die sich
als Redner*innen zu Wort gemeldet hatten, im Plenum gesprochen, so wird die Ver-
handlung entweder geschlossen, erneut dem Ausschuss zugewiesen oder vertagt. In der
Dritten Lesung kommt es schließlich zur Abstimmung über den gesamten Entwurf.
Abänderungs- und Zusatzanträge, die über die Korrektur von Schreibfehlern oder
Widersprüchlichkeiten hinausgehen, sind nicht mehr möglich. Der Nationalrat ent-
scheidet, sofern nicht anders bestimmt, mit einer unbedingten Mehrheit der abgegebe-
nen Stimmen bei einer Anwesenheit von mindestens einem Drittel seiner Mitglieder.
Die Abstimmung erfolgt in der Regel durch Aufstehen vom Platz, um Zustimmung
zu signalisieren, beziehungsweise durch Sitzenbleiben, um Ablehnung zum Ausdruck
zu bringen. Daraus folgt, dass eine Stimmenthaltung nicht möglich ist. In der Praxis
kommt es jedoch vor, dass Abgeordnete vor einer Abstimmung den Raum verlassen.
Kontrolle
Abgeordneten stehen eine Reihe von Kontrollinstrumenten zur Verfügung, um die
Regierung zu kontrollieren. Es sind dies (1) die schriftlich oder mündlich einzubrin-
genden parlamentarischen Anfragen an die Regierung, (2) die Entschließungsanträge,
in denen Abgeordnete die Regierung – rechtlich nicht bindend – zum Handeln auffor-
dern können, (3) das Recht die Anwesenheit von Regierungsmitgliedern zu verlangen,
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170 Katrin Praprotnik
(4) die Möglichkeit einer parlamentarischen Minderheit einen Untersuchungsausschuss
einzusetzen, (5) die Berichtspflichten von der Regierung gegenüber dem Nationalrat,
(6) die Ständigen Unterausschüsse zur Kontrolle der Nachrichtendienste sowie (7) das
Misstrauensvotum (Parlament 2022b).
Das Misstrauensvotum ist das schärfste Instrument der parlamentarischen Kontrolle.
Denn die Regierung ist dem Nationalrat politisch verantwortlich und kann jederzeit
durch ein Misstrauensvotum gestürzt werden. Es bedarf keinerlei Begründung oder
rechtlicher Verfehlungen, mangelndes Vertrauen ist ausreichend. Misstrauensvoten
können sich gegen einzelne Regierungsmitglieder oder die gesamte Regierung richten.
Formal handelt es sich um Entschließungsanträge, die eine einfache Mehrheit bei An-
wesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten benötigen.
Seit Beginn der 22. Gesetzgebungsperiode (seit 2002) gab es bereits 118 Misstrau-
ensanträge, wovon allerdings nur ein einziger erfolgreich war.7 Im Jahr 2019 zerbrach die
Regierung zwischen ÖVP und FPÖ infolge der Ereignisse des sogenannten Ibiza-Skan-
dals. Die Abgeordneten der Opposition gemeinsam mit der ehemaligen Regierungspar-
tei FPÖ sprachen der neugebildeten ÖVP-Regierung, die durch weitere Expert*innen
ergänzt worden war, erfolgreich ihr Misstrauen aus. Misstrauensanträge sind demnach
nur dann aussichtsreich, wenn Regierungsmehrheiten zerbrochen sind beziehungsweise
Minderheitsregierungen ihre Unterstützung verloren haben. Dennoch werden auch bei
stabilen Verhältnissen Misstrauensanträge eingebracht, da Oppositionsparteien so ein
starkes politisches Signal senden können, welches in der Regel hohe mediale Aufmerk-
samkeit bekommt. Dies ist auch der Grund, warum sich in Misstrauensanträgen meist
umfassende, formal nicht notwendige Begründungen des Antrages finden. Kommt
es zu einem erfolgreichen Misstrauensantrag – das heißt der Antrag wurde von einer
Mehrheit im Nationalrat unterstützt –, dann muss der*die Bundespräsident*in die Be-
troffenen des Amtes entheben.
In der parlamentarischen Praxis zeigt sich die Konfliktlinie nicht zwischen dem Na-
tionalrat auf der einen und der Regierung auf der anderen Seite. Vielmehr verläuft diese
zwischen den Parteien der Regierung und den Parteien der Opposition. Darüber hin-
aus nützen Regierungsparteien den Nationalrat beziehungsweise die parlamentarische
Arbeit, bei der sehr wohl noch weitreichende Änderungen stattfinden können, um den
jeweils anderen Regierungspartner zu kontrollieren (Strøm et al. 2010 bzw. siehe dazu
Imre et al. in diesem Band).
7 Die Misstrauensanträge werden auf der Parlamentshomepage pro Gesetzgebungsperio-
de einzeln aufgelistet. Siehe dazu https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/SW/index.
shtml?jsMode=&xdocumentUri=&filterJq=&view=&GP=XXVII&SWEV=SWN&SW=40
435&SUCH=&listeId=237&LISTE=Anzeigen&FBEZ=FP_120 (18.05.2022).
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171Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
2.2 Der Bundesrat
2.1.1 Organisation und Arbeitsweise
Wie auch für den Nationalrat regelt die Bundesverfassung die grundsätzliche Struk-
tur und die Aufgaben für den Bundesrat (Art 34–37 B-VG). Die Geschäftsordnung,
die rechtlich wie ein Bundesgesetz wirkt, bestimmt die Details im politischen Alltag
des Bundesrates. Der Bundesrat kann seine Geschäftsordnung selbst abändern, aber
braucht – ebenfalls wie der Nationalrat – dazu eine 2/3-Mehrheit bei Anwesenheit von
mindestens der Hälfte der Abgeordneten. Die Geschäftsordnung ist das Vorbild der
Geschäftsordnungen der Landtage (Konrath 2020, 206).
Die Mitglieder des Bundesrates werden von den Landtagen entsandt und sitzen für
die Dauer der jeweiligen Legislaturperiode des entsendenden Landtages im Bundesrat.
Der Bundesrat erneuert sich somit fortlaufend (potenziell nach jeder Landtagswahl)
und kennt keine eigene GP. Formal heißt das, dass der Bundesrat in Permanenz tagt.
Bei der Wahl der Mitglieder des Bundesrates durch die Landtage sieht die Bundes-
verfassung wie so oft das Prinzip der Verhältniswahl vor, wobei festgelegt ist, dass die
zweitstärkste Partei im Landtag mindestens ein Mandat erhalten muss. Auf Basis der
Volkszählung wird dafür die Anzahl an österreichischen Staatsbürger*innen herangezo-
gen. In der Bundesverfassung ist nun geregelt, dass das an Staatsbürger*innen größte
Land zwölf und die anderen Länder im Verhältnis ihrer Anzahl an Bürger*innen zur
Bürger*innenzahl des größten Landes Mandate erhalten. Gleichzeitig muss das kleinste
Bundesland zumindest drei Sitze erhalten. Die Anzahl an Bundesratsmitgliedern ist
damit leichten Schwankungen ausgesetzt und beträgt in der 27. GP 61 Mitglieder.
Das klingt komplex, lässt sich aber anhand eines Beispiels gut verdeutlichen. Die letz-
te Volkszählung aus dem Jahr 2011 ergab, dass im Land Niederösterreich 1.500.495
Staatsbürger*innen leben und dieses damit das – gemessen an der Zahl der Staatsbür-
ger*innen – größte Bundesland ist. Diese Zahl ist die Bürger*innenzahl. Niederöster-
reich erhält als größtes Land zwölf Bundesrät*innen. Das zweitgrößte Bundesland ist
Wien mit 1.341.855 Staatsbürger*innen. Setzt man diese beiden Bürger*innenzahlen
ins Verhältnis (1.341.855/1.500.495=0,89), dann erhält Wien 89 % der Sitze von Nie-
derösterreich und damit elf Sitze im Bundesrat (0,98x12=10,7; wobei Reste über der
Hälfte als voll gerechnet werden). Der Berechnungsmodus bestimmt die Anzahl der Sit-
ze im Bundesrat: Zöge man die Bevölkerungszahl und nicht die Staatsbürger*innenzahl
zur Berechnung der Sitze im Bundesrat heran, so wäre Wien das größte Bundesland
und hätte einen Sitz mehr. Die politische Vertretung ist aber, wie etwa auch das Wahl-
recht auf nationaler Ebene, an die Staatsbürger*innenschaft gekoppelt.
Die Funktionsperiode für die Mitglieder im Bundesrat beginnt mit ihrer Wahl im
Landtag und endet mit der jeweiligen Landtagsgesetzgebungsperiode (zu den Ländern
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172 Katrin Praprotnik
siehe Dolezal/Fallend in diesem Band). Bundesrät*innen werden in ihrer ersten Sitzung
im Bundesrat auf die Republik angelobt, genießen Immunität von ihren Landtagen, sind
zur Teilnahme an Sitzungen im Plenum beziehungsweise in ihren Ausschüssen verpflich-
tet und besitzen ein freies Mandat. Wie auch im Nationalrat zeigt sich in der Praxis
ein hohes Maß an Fraktionsdisziplin und damit ein einheitliches Abstimmungsverhalten
innerhalb einer Fraktion. Nach der inhaltlichen Vorbereitung der Anträge in den Aus-
schüssen erfolgt der Beschluss im Plenum in der Regel durch Handzeichen oder Auf-
stehen. Der*die Präsident*in oder mindestens fünf Bundesratsmitglieder können eine
namentliche oder eine geheime Abstimmung verlangen. Mit Stimmenmehrheit können
Einsprüche gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates getroffen werden.
Fraktionen
Eine Fraktion ist ein Zusammenschluss von mindestens fünf Bundesrät*innen, die
durch dieselbe Partei in den Bundesrat geschickt wurden. Sollten sich andere Mitglieder
des Bundesrates oder eine geringere Anzahl an Mitgliedern zu einer Fraktion zusam-
menschließen wollen, dann bedarf es dafür eines Beschlusses des Bundesrates (§ 14
GO-BR).
Ausschüsse
Die Debatten und Abstimmungen im Plenum werden auch im Bundesrat durch
Ausschüsse vorbereitet. In der Regel entspricht die Abstimmung im Bundesrat dann
auch jener in den Ausschüssen, deren Einsetzung und Zusammensetzung im Bundes-
rat mit Blick auf das Stärkeverhältnis der Fraktionen erfolgt. Die Ausschüsse werden
entlang inhaltlicher emen, ähnlich zu jenen in den Bundesministerien, gebildet.
Ausschüsse entscheiden in der Regel mit einer einfachen Mehrheit der abgegebenen
Stimmen, wobei mindestens die Hälfte der Ausschussmitglieder anwesend sein muss.
Ausschussverhandlungen sind nicht-öffentlich (§ 13 GO-BR). Der Tätigkeitsbericht
des Bundesrates über das erste Halbjahr 2021 listet 25 Ausschüsse auf.
Präsidium
Das Präsidium des Bundesrates besteht aus dem*der Präsidenten*Präsidentin, zwei
Vizepräsident*innen sowie aus mindestens je zwei Schriftführer*innen und Ordner*in-
nen. Die Präsidentschaft wechselt halbjährlich zwischen den Bundesländern in alphabe-
tischer Reihenfolge und fällt jeweils jener Person zu, die an erster Stelle aus einem Land
entsandt wurde. Im ersten Halbjahr 2021 führte das Land Steiermark den Bundesrat
an, im zweiten Halbjahr 2021 übergab man an das Land Tirol. Die beiden nächsten
Bundesländer für den Vorsitz sind demnach Vorarlberg und Wien. Der*die Präsident*in
sorgt für die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben und für die Achtung der Würde
und Rechte des Bundesrates (§§ 6-7 GO-BR).
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173Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
2.2.2 Funktionen
Repräsentation und Kommunikation
Der Bundesrat repräsentiert als Länderkammer die einzelnen Bundesländer, wobei
kleine Länder mit der Mindestzahl von drei Mitgliedern vergleichsweise überrepräsen-
tiert sind. Der Bundesrat glich sich im Laufe seiner Geschichte ein Stück weit mehr an
die Soziodemographie der Wähler*innen an.
Kontrolle
Auch der Bundesrat besitzt Instrumente der politischen Kontrolle der Bundesregie-
rung, wenngleich es im Vergleich zum Nationalrat weniger sind. Es sind dies (1) die
schriftlich oder mündlich einzubringenden parlamentarischen Anfragen an die Regie-
rung, (2) die Entschließungsanträge, in denen Mitglieder des Bundesrates die Regie-
rung – rechtlich nicht bindend – zum Handeln auffordern können, (3) das Recht die
Anwesenheit von Regierungsmitgliedern zu verlangen sowie (4) die Berichtspflichten
von der Regierung gegenüber dem Bundesrat (Parlament 2022b). Die Bundesregierung
ist jedoch allein dem Nationalrat und nicht dem Bundesrat verantwortlich. Daraus
folgt, dass dem Bundesrat gegenüber der Bundesregierung kein Misstrauensvotum zu-
steht. Die Bundesregierung kann gegen eine Mehrheit im Bundesrat regieren. Zudem
erfolgt die Kontrolle der Nachrichtendienste ausschließlich in den Ständigen Unteraus-
schüssen des Nationalrates und auch etwaige Untersuchungsausschüsse können nur im
Nationalrat eingesetzt werden.
Gesetzgebung
Die Bundesländer wirken über den Bundesrat an der Bundesgesetzgebung mit (§
20 GO-BR). Im Regelfall steht dem Bundesrat jedoch lediglich ein suspensives – das
heißt aufschiebendes – Veto zu (siehe Abb. 1).8 Er erhält jeden Gesetzesbeschluss des
Nationalrates und kann binnen acht Wochen einen begründeten Einspruch erheben.
Der Bundesrat fasst seine Beschlüsse, sofern nicht anders bestimmt, bei Anwesenheit
von mindestens einem Drittel seiner Mitglieder und unbedingter Mehrheit der abgege-
benen Stimmen. Die Abstimmungslogik erfolgt dabei in der Regel nach der jeweiligen
8 Ein absolutes Vetorecht besteht vor allem dann, wenn Verfassungsbestimmungen enthalten
sind, die die Zuständigkeiten der Länder betreffen. Erst in zwei Fällen – Novelle zum Öko-
stromgesetz und Verankerung einer Schuldenbremse in der Bundesverfassung (beides 2019)
– verhinderte der Bundesrat einen Beschluss endgültig. Die SPÖ konnte mit ihren Abge-
ordneten die notwendige 2/3-Mehrheit und so die Gesetze der damaligen ÖVP-FPÖ-Regie-
rung verhindern. Weiters zustimmungspflichtig sind Staatsverträge, die die Angelegenheiten
des selbstständigen Wirkungsbereichs der Länder regeln beziehungsweise Beschlüsse, die den
Bundesrat selbst betreffen (Parlament 2022b).
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174 Katrin Praprotnik
Parteizugehörigkeit und nicht nach der jeweiligen Länderzugehörigkeit (Ucakar et al.
2017, 115). Der Gesetzesbeschluss sowie der Einspruch des Bundesrates gehen sodann
an den Nationalrat zurück und dieser kann einen Beharrungsbeschluss fassen, wobei in
einem solchen Fall zumindest die Hälfte der Mitglieder anwesend sein müssen. Findet
keine Handlung des Bundesrates statt und verstreicht die achtwöchige Frist, so gilt
das Gesetz ebenfalls als beschlossen und wird in weiterer Folge beurkundet und kund-
gemacht.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Dieser Abschnitt thematisiert die Gesetzgebungstätigkeit im Nationalrat sowie die Zu-
sammensetzung des Parlamentes in Bezug auf die deskriptive Repräsentation.9
3.2 Gesetzgebung im Wandel der Zeit
Im Laufe der letzten 20 Jahre hat der Anteil an Gesetzesinitiativen, die von den Abge-
ordneten des Nationalrates ausgehen, stark an Bedeutung gewonnen (siehe Tab. 3). Wa-
ren es in der 22. Gesetzgebungsperiode (2002–2006) noch 37 Prozent der Gesetzesini-
tiativen, die auf Abgeordnete zurückzuführen waren, so sind es in der derzeit laufenden
27. Gesetzgebungsperiode 66 Prozent. Gleichzeitig ist der Anteil an Regierungsvorlagen
über die Zeit zurückgegangen: von 52 Prozent (22. GP) auf 25 Prozent (27. GP). Aus
der Zunahme an Gesetzesinitiativen lässt sich jedoch kein Bedeutungsgewinn des Na-
tionalrats gegenüber der Regierung ablesen. Regierungsvertreter*innen haben freilich
die Möglichkeit, Anträge über „ihre“ Abgeordneten im Nationalrat einbringen zu lassen
und so etwa auch ein vorparlamentarisches Begutachtungsverfahren zu umgehen (siehe
dazu auch Schefbeck 2006, 152). Alle anderen Arten der Gesetzesinitiativen blieben
über die Zeit stabil und ihre Bedeutung vergleichsweise gering.
Die Dominanz der Regierung im Gesetzgebungsprozess zeigt sich auch anhand der
erfolgreich beschlossenen Gesetzesinitiativen, die in Tabelle 4 gezeigt werden. Der An-
teil beschlossener Regierungsvorlagen liegt in den dargestellten Gesetzgebungsperioden
konstant über 90 Prozent. Vergleicht man dazu den Anteil beschlossener Vorlagen, die
von den Abgeordneten eingebracht wurden, so sieht man, dass hier regelmäßig nur
weniger als die Hälfte der Anträge auch beschlossen wurden. Während in der Regel
Anträge von Abgeordneten von Regierungsparteien erfolgreich sind, scheitern jene
9 Eine geschichtliche Abhandlung über den Parlamentarismus findet sich in anderen Quellen
wie beispielsweise bei Konrath (2017), von Beyme (2014) oder Schefbeck (2006).
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175Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
von den Abgeordneten der Oppositionsparteien. Oppositionsanträge werden oft im
Ausschuss vertagt oder selbst dann abgelehnt, wenn sie Regierungsanliegen in identer
Form beinhalten, auch um eine Behandlung auf der Tribüne des Nationalratsplenums
zu verhindern (Konrath 2017, 569). Das illustriert einmal mehr, dass die Konfliktlinie
nicht zwischen Regierung auf der einen und Nationalrat auf der anderen Seite, sondern
zwischen Politiker*innen der Regierungsparteien und Politiker*innen der Oppositions-
parteien besteht.
Tab. 3 Gesetzesinitiativen im Nationalrat
Abgeord-
nete
Aus-
schuss
Regie-
rung
Bundes-
rat
Volks-
begehren
Sonstige Gesamt
XXVII. GP
(seit 2019)
N 476 44 183 4 9 8 724
% 66 6 25 1 1 1 100
XXVI. GP
(2017–2019)
N 298 14 117 2 3 2 436
% 68 3 27 0 1 0 100
XXV. GP
(2013–2017)
N 434 21 331 2 2 6 796
% 55 3 42 0 0 1 100
XXIV. GP
(2008–2013)
N 395 45 496 3 2 6 947
% 42 5 52 0 0 1 100
XXIII. GP
(2006–2008)
N 241 20 176 2 0 5 444
% 54 5 40 0 0 1 100
XXII. GP
(2002–2006)
N 270 45 374 4 3 29 725
% 37 6 52 1 0 4 100
Sonstige: Bundesrechnungsabschluss sowie Einspruch des Bundesrates; Abweichung von
100 %=Rundungsfehler; Stand: 23.02.2022.
Quelle: Parlamentsdirektion.
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176 Katrin Praprotnik
Tab. 4 Gesetzesinitiativen im Nationalrat
XXVII. GP
(seit 2019)
XXVI. GP
(2017–
2019)
XXV. GP
(2013–
2017)
XXIV. GP
(2008–
2013)
XXIII. GP
(2006–
2008)
XXII. GP
(2002–
2006)
Gesamt
Abgeordnete 476 298 434 395 241 270 2.114
Davon
beschlossen
205
(43%)
76
(26%)
114
(26%)
120
(30%)
49
(20%)
115
(43%)
679
(32%)
Davon
einstimmig
69
(34%)
25
(33%)
39
(34%)
61
(51%)
17
(35%)
64
(56%)
275
(41%)
Ausschuss 44 14 21 45 20 45 189
Davon
beschlossen
42
(95%)
14
(100%)
21
(100%)
43
(96%)
20
(100%)
40
(89%)
180
(95%)
Davon
einstimmig
13
(31%)
1
(7%)
3
(14%)
15
(35%)
8
(40%)
25
(63%)
65
(36%)
Regierung 183 117 331 496 176 374 1.677
Davon
beschlossen
171
(93%)
115
(98%)
327
(99%)
478
(96%)
161
(91%)
365
(98%)
1.617
(96%)
Davon
einstimmig
68
(40%)
30
(26%)
88
(27%)
167
(35%)
61
(38%)
176
(48%)
590
(36%)
Bundesrat 42232417
Davon
beschlossen
0
( 0%)
0
(0%)
1
(50%)
2
(67%)
0
(0%)
0
(0%)
3
(18%)
Davon
einstimmig
0
(-)
0
(-)
0
(0%)
0
(0%)
0
(-)
0
(-)
0
(0%)
Volks-
begehren
93220317
Davon
beschlossen
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
Davon
einstimmig
0
(-)
0
(-)
0
(-)
0
(-)
0
(-)
0
(-)
0
(-)
Sonstige 8 2 6 6 5 29 56
Davon
beschlossen
3
(38%)
2
(100%)
5
(83%)
5
(83%)
2
(40%)
4
(14%)
21
(38%)
Davon
einstimmig
1
(33%)
1
(50%)
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
0
(0%)
2
(10%)
Sonstige: Bundesrechnungsabschluss sowie Einspruch des Bundesrates: Lesebeispiel: In der 27. GP wurden
bislang 476 Gesetzesinitiativen durch Abgeordnete eingebracht. Von diesen 476 Gesetzesinitiativen wurden
205 – das sind 43 Prozent – beschlossen. Stand: 23.02.2022.
Quelle: Parlamentsdirektion.
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177Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
Die Anträge der Ausschüsse, die in ihrer Besetzung dem Mehrheitsverhältnis des Na-
tionalrates entsprechen, werden, wie Regierungsvorlagen, fast durchgängig beschlossen.
Der geringe Anteil umgesetzter Gesetzesinitiativen aus dem Bundesrat unterstreicht
erneut den geringen Einfluss des Bundesrates auf den Gesetzgebungsprozess. Auch
Einsprüche des Bundesrates, welche hier mit den Bundesrechnungsabschlüssen unter
Sonstige zusammengefasst sind, werden in der Regel nicht beschlossen.10 Zu keinen
Beschlüssen haben die Gesetzesinitiativen aus den im Nationalrat behandelten Volks-
begehren geführt (auch wenn nicht alle Inhalte aus einem Volksbegehren einen Geset-
zesbeschluss brauchen, wie etwa die Einrichtung des Klimarates im Jahr 2022, der auch
bereits im Klimavolksbegehren gefordert wurde, gezeigt hat).
Die Einstimmigkeit liegt bei Beschlüssen von Regierungsvorlagen im Schnitt bei
rund 36 Prozent, bei jenen von Abgeordneten bei rund 40 Prozent. Das sind, verglichen
mit jenen Werten aus den 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre, niedrige Werte (Schef-
beck 2006, 152).
3.2 Entwicklung der deskriptiven Repräsentation
Die Parlamentarier*innen repräsentieren die politischen Interessen der Gesellschaft. Im
Sinne der deskriptiven Repräsentation sollen sie auch hinsichtlich soziodemographi-
scher Merkmale ein Abbild der Wahlberechtigten darstellen. Tabelle 5 beleuchtet die
Entwicklung der Merkmale Geschlecht, Alter sowie akademischer Titel der Parlamenta-
rier*innen. Am deutlichsten ist zu erkennen, dass beide Parlamentskammern im Laufe
ihrer Geschichte weiblicher geworden sind. Zu Beginn der Zweiten Republik (5. GP)
saßen gerade einmal knapp sechs Prozent Frauen im Nationalrat, in der aktuell lau-
fenden 27. Gesetzgebungsperiode sind es bereits 39 Prozent. Dennoch entspricht der
gestiegene Frauenanteil nicht der Verteilung unter den Wahlberechtigten, bei denen
Frauen einen Anteil von rund 52 Prozent ausmachen (Perlot 2021). Hinsichtlich des
Alters der Parlamentarier*innen liegt ihr Altersschnitt über jenem der Wahlberechtigten
und dies hat sich im Laufe der Zeit auch nur geringfügig gebessert. Deutlich unter-
repräsentiert sind Menschen unter 30 Jahren sowie Menschen über 60 Jahren. Dieser
Befund gilt für beide Kammern des Parlaments, wobei die Mitglieder des Bundesrates
im Schnitt noch ein wenig älter sind als jene des Nationalrates (Perlot 2021). Besonders
deutlich ist der Unterschied zwischen Repräsentierten und Repräsentant*innen hin-
10 Von insgesamt 2.922 Nationalratsbeschlüssen mit Einspruchsrecht des Bundesrates erhob der
Bundesrat in lediglich 33 Fällen einen Einspruch (22. GP bis Jänner 2022). In weiterer Folge
verfasste der Nationalrat in 29 Fällen einen Beharrungsbeschluss, drei Fälle würden nicht
weiterverfolgt und ein Fall wurde abgeändert (Parlament 2022b).
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178 Katrin Praprotnik
sichtlich des Bildungsgrades. Sowohl im Nationalrat als auch im Bundesrat ist der An-
teil der Parlamentarier*innen mit akademischem Titel über die Zeit stark angestiegen.
Im Nationalrat tragen bereits 52 Prozent aller Abgeordneten einen akademischen Titel.
In der Bevölkerung sind es lediglich 15 Prozent der Menschen, die einen akademischen
Abschluss haben (Perlot 2021).
Tab. 5 Soziodemographie der Parlamentarier*innen
Nationalrat Bundesrat
% Frauen Alter in
Jahren
(MW)
% Akade-
miker*in-
nen
% Frauen
Alter in
Jahren
(MW)
% Akade-
miker*in-
nen
V. GP (1945–1949) 5,5 49 23,0 0 51 14,3
VI. GP (1949–1953) 5,5 51 26,7 2,1 51 18,8
VII. GP (1953–1956) 6,1 51 23,6 2,3 53 25,6
VIII. GP (1956–1959) 5,5 52 24,2 13,3 54 17,8
IX. GP (1959–1962) 6,1 52 29,7 11,9 56 16,7
X. GP (1962–1966) 6,1 52 31,5 13,7 53 21,6
XI. GP (1966–1970) 6,1 50 26,7 11,8 54 17,6
XII. GP (1970–1971) 4,8 50 29,1 15,1 53 22,6
XIII. GP (1971–1975) 6,0 49 33,3 16,0 52 22,0
XIV. GP (1975–1979) 7,7 50 36,6 18,9 52 17,0
XV. GP (1979–1983) 9,8 50 38,3 16,7 53 27,8
XVI. GP (1983–1986) 9,3 50 39,9 15,5 53 27,6
XVII. GP (1986–1990) 11,5 50 42,1 22,0 52 20,3
XVIII. GP (1990–1994) 19,7 47 43,2 24,1 50 27,8
XIX. GP (1994–1995) 21,9 47 51,4 22,0 51 23,7
XX. GP (1995–1999) 25,7 48 47,1 22,0 50 25,4
XXI. GP (1999–2002) 26,8 48 47,5 14,3 48 28,6
XXII. GP (2002–2006) 33,9 47 47,0 29,1 52 16,4
XXIII. GP (2006–2008) 31,1 49 45,4 28,3 51 20,8
XXIV. GP (2008–2013) 27,3 48 42,1 26,8 53 17,9
XXV. GP (2013–2017) 33,3 48 51,4 29,6 51 22,2
XXVI. GP (2017–2019) 34,4 47 49,7 35,7 54 26,8
XXVII. GP (seit 2019) 39,3 47 51,9 37,9 53 32,8
-
tionalrates beziehungsweise des Bundesrates am Beginn einer GP des Nationalrates. Wechsel während
der Legislaturperiode – inklusive Wechsel aus dem Nationalrat in die Bundesregierung – sind somit nicht
berücksichtigt. Seit der 13. GP sitzen 183 Abgeordnete im Nationalrat, davor waren es 165 Abgeordnete.
Quelle: Österreichisches Parlament; eigene Berechnung.
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179Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
4. Einordnung des österreichischen Falls
Zur Einordnung sollen (1) die Stärke der Legislative, (2) das Verhältnis der Kammern
zueinander sowie (3) die Abgeordneten selbst in (ausgewählten) OECD-Mitgliedslän-
dern verglichen werden. Für einen internationalen Vergleich ist es sinnvoll, auf Indizes
zurückzugreifen, die anhand vorgegebener Kategorien, politische Institutionen ver-
gleichbar machen.
Tab. 6 Stärke der Legislativen im Vergleich
PPI WLPS 2. Kammer HB-Index
Österreich 0,72 5,08 Ja 0,48
Deutschland 0,84 5,93 Ja 0,98
Frankreich 0,56 4,08 Ja 0,16
Großbritannien 0,78 5,50 Ja 0,5
Ungarn 0,75 5,31 Nein -
USA 0,62 4,68 Ja 1
OECD-Schnitt 0,70 5,05 52,6% 0,63
PPI (Parliamentary Powers Index), WLPS (Weighted Legislative Powers Score), HB-Index (Heller und
Branduse-Index).
Quelle: PPI (Fish/Kroenig 2009), WLPS (Desposato 2012), 2. Kammer/HB-Index (Heller/Branduse 2014).
Möchte man die Stärke der Legislativen vergleichen, so lohnt sich auch heute noch ein
Blick auf den Parliamentary Powers Index (PPI) von Fish und Kroenig (2009). Die
Autoren entwickelten einen Fragekatalog, der 32 mögliche Machtbefugnisse („powers“)
von Legislativen umfasst. Darunter beispielsweise die Fragen, ob die Legislative den*die
Regierungschef*in ernennen kann oder die Abgeordneten vor behördlicher Verfolgung
immun sind. Diesen verschickten sie rund um das Jahr 2005 an Expert*innen in insge-
samt 158 Ländern mit der Bitte um Auskunft, welche Machtbefugnisse in einem Land
vorhanden sind. Für die Berechnung des PPI dividierten sie schließlich die jeweils in
einem Land vorhandenen Machtbefugnisse durch die 32 möglichen Machtbefugnisse.
Der PPI variiert von 0 (=schwächste Legislative) bis 1 (=stärkste Legislative). Trotz seiner
häufigen Verwendung in internationalen Forschungsprojekten gibt es auch wesentliche
Kritik am PPI. Insbesondere kritisierten Autor*innen, dass die Machtbefugnisse der Le-
gislativen alle als gleich wichtig betrachtet werden (Desposato 2012). Die Autor*innen
Chernykh et al. (2017) entwickelten deshalb den Weighted Legislative Powers Score
(WLPS). Aufbauend auf dem PPI führten sie im Jahr 2014 eine neue Umfrage unter Ex-
pert*innen durch und baten diese, die Relevanz der einzelnen Machtbefugnisse des PPIs
einzustufen. Der neue Index gewichtet nun die vorhandenen Machtbefugnisse nach
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180 Katrin Praprotnik
ihrer Relevanz und variiert von 0 (=schwächste Legislative) bis knapp unter 7 (=stärkste
Legislative). Tabelle 6 vergleicht die politische Macht der Legislativen anhand der beiden
Indizes. Mit einem PPI von 0,72 Punkten weist Österreich ein für OECD-Länder typi-
sches Parlament auf. Auch gemessen anhand des WLPS kann die Stärke des österreichi-
schen Parlaments als dem Schnitt aller OECD-Länder entsprechend angesehen werden.
PPI und auch WLPS befassen sich jeweils mit der Ersten Kammer der Legislativen
beziehungsweise in Ländern mit einem Einkammersystem mit der jeweiligen Kammer.
In den Mitgliedsstaaten der OECD verfügen gut die Hälfte der Länder über ein Zwei-
kammersystem wie in Österreich (siehe Tab. 6). Andere Länder wie etwa Ungarn haben
hingegen nur eine Kammer. Neben der Anzahl an Kammern lohnt sich ein Blick auf das
Stärkeverhältnis der Kammern zueinander (Lijphart 1984, 1999; Henisz 2000; 2002,
2006; Huber et al. 2004; Gerring et al. 2005). Tabelle 6 vergleicht die Stärke des Bika-
meralismus anhand des Indexes, der von Heller und Branduse (2014) entwickelt wurde.
Der HB-Index analysiert die Stärke der Zweiten Kammer anhand ihres Einflusses auf
den Gesetzgebungsprozess (vollständiges oder teilweises Vetorecht, bindendes oder auf-
schiebendes Vetorecht sowie die Dauer beziehungsweise Hürden, die es braucht, um
ein Veto zu überwinden). Heller und Branduse (2014) liefern Daten für 75 Länder mit
einem Zweikammersystem. Ihr Index reicht von 0 bis 1, wobei 0 einem quasi Einkam-
mersystem entspricht und 1 einer identen Stärke beider Kammern. Der Index liegt im
Mittelwert aller OECD-Länder mit einem Zweikammersystem bei 0,63 Punkten. Im
OECD-Vergleich besitzt Österreich mit einem Indexwert von 0,48 Punkten somit ein
unterdurchschnittlich stark ausgeprägtes Zweikammersystem.
Tab. 7 Soziodemographie der Abgeordneten im Vergleich
% Frauen Alter in
Jahren (MW)
% 30-Jährige
oder jünger
% 40-Jährige
oder jünger
% 45-Jährige
oder jünger
Österreich 41,0 47,3 7,7 27,9 43,7
Deutschland 34,9 47,3 8,8 28,9 42,0
Frankreich 37,3 - 5,6 23,2 36,9
Großbritannien 34,6 51,0 3,7 21,7 34,0
Ungarn 14,1 53,5 3,0 18,6 30,2
USA 28,4 58,4 0,2 6,7 16,2
OECD-Schnitt 33,8 49,3 4,4 23,4 39,4
-
zahl Abgeordnete = 183 (Österreich), 736 (Deutschland), 577 (Frankreich), 650 (Großbritannien), 199
-
ben); Stand: 31.12.2021.
Quelle: Inter-Parliamentary Union (2022).
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181Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
Tabelle 7 zeigt schließlich, dass Österreich einen im OECD-Schnitt hohen Frauenanteil
im Nationalrat aufweist. Auch in der Altersstruktur liegt Österreich tendenziell näher
an der Bevölkerungsstruktur als andere Länder.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Das Parlament mit seinen zwei Kammern Nationalrat und Bundesrat ist und bleibt das
Herzstück der österreichischen repräsentativen Demokratie. Dennoch wird es sich auch
in den nächsten Jahren weiterentwickeln (müssen). Der künftige Reformdruck steht
dabei weiterhin im direkten Zusammenhang mit Veränderungen in der Gesellschaft,
die sich in einem Parteiensystem mit einer größeren Anzahl an Parteien ausdrücken.
Bis in die 1980er-Jahre war das Parlament von einer Dominanz der beiden Parteien
ÖVP und SPÖ geprägt. Erst in weiterer Folge – insbesondere mit dem Erstarken der
FPÖ, dem Eintritt der GRÜNEN und zuletzt der NEOS – wurde das parlamentarische
Geschehen bunter und damit auch die Herausforderungen, notwendige Anpassungen
an eine gestiegene Anzahl an politischen Akteur*innen vorzunehmen, dringender. In
der Zeit zwischen 1986 und 2016 kam es beispielsweise zu zwanzig Änderungen der
Geschäftsordnung des Nationalrates (Konrath 2017, 566). Die steigende Bereitschaft
zum Wechselwählen und zur Wahl neuer Parteien lassen den Schluss zu, dass auch
künftig mit fünf und mehr Parteien im Nationalrat zu rechnen ist. Die Besetzung der
Ausschüsse und die Organisation der Arbeit in selbigen stellt aber bereits heute nicht
nur kleinere Klubs vor große Herausforderungen (Konrath 2017, 572). Mehr Partei-
en im Nationalrat bedeuten auf der anderen Seite aber auch eine Chance auf mehr
politische Macht für jene Oppositionsparteien, die der Regierung eine bei Verfassungs-
materien notwendige 2/3-Mehrheit verschaffen können. Seit der 24. GP (2008–2013)
haben die Regierungsparteien keine solche Mehrheit mehr und müssen bei Beschlüssen
mit einem weiteren Partner verhandeln.
Zuletzt still geworden ist es um die immer wiederkehrende Reformdiskussion rund
um den Bundesrat. Dieser wurde seit seinem Bestehen kontrovers – von einer Stärkung
auf der einen Seite bis hin zu einer Abschaffung auf der anderen Seite – debattiert (z.B.
Bussjäger/Weiss 2004; Pelinka 2007). Gestärkt wurde die Länderkammer durch Ent-
wicklungen auf europäischer Ebene. Der Vertrag von Lissabon ermöglichte den Länder-
kammern der Mitgliedsstaaten Mitwirkungsrechte bei der Politikgestaltung (Galiciani
2011). Gleichzeitig brachte die zunehmende Parteienvielfalt auch eine neue Dynamik
in die Politikgestaltung im Bundesrat, da sich Mehrheiten zwischen Bundesrat und Na-
tionalrat unterschieden. Diese Entwicklungen auf europäischer und nationaler Ebene
werden die Frage nach der Zukunft des Bundesrates im österreichischen politischen
System bald wieder auf die Tagesordnung bringen.
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182 Katrin Praprotnik
Unter dem Begriff der deskriptiven Repräsentation wird insbesondere die Verteilung
politischer Macht zwischen Männern und Frauen verstanden, aber auch die Alters-
struktur ist in diesem Zusammenhang ein wesentlicher Punkt. Der Anteil an weib-
lichen Parlamentarier*innen ist über die Zeit gestiegen, aber eine 50/50-Verteilung ist
derzeit noch nicht vorhanden. Das gilt insbesondere, wenn nicht nur die Verteilung von
Sitzen, sondern auch die Verteilung von politischen Positionen im Parlament betrachtet
wird. Damit eng in Zusammenhang steht die Altersstruktur der Parlamentarier*innen,
die deutlich von jener der Wähler*innen abweicht.
Schlussendlich wird es für die Parlamentarier*innen im Sinne der Stabilität des poli-
tischen Systems darum gehen, das Vertrauen in die Institution Parlament zu stärken.
Im Winter 2022 gaben nur 45 Prozent der Befragten im Rahmen der repräsentativen
Eurobarometerstudie an, dem Parlament eher zu vertrauen, während 50 Prozent anga-
ben, dies eher nicht zu tun. Diese Zahlen sind nur im Vergleich zum EU-Schnitt (36 %
eher vertrauen, 58 % eher nicht vertrauen) sowie im Vergleich zur nationalen Regie-
rung (38 % eher vertrauen und 57 % eher nicht vertrauen) positiv lesbar (Europäische
Kommission 2022). Davon abgesehen beinhalten sie einen klaren Arbeitsauftrag für die
Zukunft, das Vertrauen in das Parlament zu stärken.
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(10.05.2022). Insbesondere ist auch der Podcast des Parlaments, der über die Parlaments-
Mediathek zu finden ist, zu empfehlen.
Parlament (2022). Fachinfos zu aktuellen Parlamentsthemen, https://fachinfos.parlament.
gv.at/ (20.05.2022).
Übungsfragen
Definieren und unterscheiden Sie die Begriffe Legislative, Kongress und Parlament.
Welche Funktionen übt der Nationalrat aus? Nennen und beschreiben Sie drei
Funktionen.
Kann eine Bundesregierung gegen eine Mehrheit im Bundesrat regieren?
Misstrauensanträge gegen den*die Bundeskanzler*in oder auch die gesamte Regie-
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185Das Parlament: Nationalrat und Bundesrat
rung sind in der Regel nicht erfolgreich. Warum bringen Oppositionsparteien den-
noch regelmäßig derartige Anträge ein?
Nicht jedes Wahlversprechen, das gebrochen wird, ist ein Zeichen für eine misslun-
gene Repräsentation. Begründen Sie diese Aussage.
Warum haben Gesetzesinitiativen von Abgeordneten im Schnitt eine geringere
Chance im Nationalrat beschlossen zu werden als Gesetzesinitiativen von Regie-
rungsparteien?
Was versteht man unter dem Begriff deskriptive Repräsentation?
Warum ist eine gleichberechtigte Repräsentation von Frauen und Männern im Na-
tionalrat wichtig? Nennen und diskutieren Sie drei Punkte.
Wie stark ist das österreichische Parlament im Vergleich zu anderen Legislativen in
OECD-Ländern? Welcher Index kann für einen solchen Vergleich herangezogen
werden?
Warum erhöht eine höhere Anzahl an Parteien im Nationalrat den Reformdruck auf
diesen?
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Regierung und Regierungsbildung
Zusammenfassung
9Die Regierung ist Teil der Verwaltung (Exekutive). Die Verwaltung ist eine der drei Staats-
gewalten bestehend aus Gesetzgebung (Legislative), Verwaltung (Exekutive) und Ge-
richtsbarkeit (Judikative).
9Die Regierungsbildung in Österreich durchlief seit 1945 unterschiedliche Phasen: die frü-
hen sogenannten Großen Koalitionen zwischen SPÖ und ÖVP, Einparteienregierungen,
die Großen Koalitionen der 1980er- und 1990er-Jahre und wechselnde Koalitionsmuster
im 21. Jahrhundert.
9Österreich wurde lange Zeit von Großen Koalitionen der beiden mandatsstärksten Partei-
en regiert, was im internationalen Vergleich ungewöhnlich ist.
9Koalitionsverhandlungen in Österreich haben Tradition, sind aber, über die Zeit hinweg,
im Durchschnitt länger, detaillierter und wichtiger geworden.
9Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten dauert die Regierungsbildung relativ lang.
9Zur Koordination ihrer Zusammenarbeit verwenden Koalitionspartner verschiedene Inst-
rumente. Sie überprüfen zum Beispiel in Koalitionsausschüssen die Einhaltung des Koali-
tionsvertrags.
1. Einleitung
Die Regierung ist die vollziehende Gewalt im Staat. Sie „vollzieht […] Gesetze, […] be-
-
-
tiert den Staat nach innen und außen“ (Bernauer et al. 2018, 379). In parlamentarischen
Regierungssystemen, in denen die Regierung vom Vertrauen der parlamentarischen
-
nen wählen Repräsentant*innen ins Parlament, die wiederum die Regierung kontrol-
lieren.
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Der formale Regierungsbildungsprozess ist in der Bundesverfassung in Artikel 70 ge-
regelt: Der*die Bundespräsident*in ernennt eine*n Bundeskanzler*in und auf sei-
benötigt zudem nach Artikel 74 der Verfassung das Vertrauen des Nationalrats. Versagt
-
trauen, müssen diese des Amtes enthoben werden.
Die politische Wirklichkeit der Regierungsbildung ist komplexer und interessanter, als
es diese Beschreibung vermuten lässt. Das liegt zum einen daran, dass Parteien das poli-
tische Geschehen prägen und Regierungsmitglieder zur Ernennung und zum Verbleib
im Amt in der Regel aus Parteien hervorgehen und deren Unterstützung benötigen.
Zum anderen erreicht oft keine Partei alleine eine parlamentarische Mehrheit. Daher
sind Parteien zur Umsetzung ihrer Vorhaben auf eine Zusammenarbeit mit anderen
Parteien angewiesen.
In der Literatur haben sich vor allem zwei theoretische Ansätze etabliert, die Regie-
rungsbildungen erklären. Zum einen gibt es den sogenannten ämterorientierten („of-
fice-seeking“) Ansatz, der auf William Riker (1962) zurückgeht. Dieser geht davon aus,
dass Parteien rationale Akteure sind, die vor allem an der Erlangung politischer Ämter
(z.B. Minister*innenposten) interessiert sind.1 Erreicht keine Partei eine parlamentari-
sche Mehrheit, müssen Koalitionsregierungen gebildet werden, die gemeinsam über
eine parlamentarische Mehrheit verfügen. Dabei achten Parteien aber darauf, nur sol-
che Parteien in die Koalition aufzunehmen, die für den Erhalt der parlamentarischen
Mehrheit erforderlich sind. In diesen minimalen Gewinnkoalitionen kann also keine
Partei entfernt werden, ohne dass die Regierung ihre parlamentarische Mehrheit verliert
(Riker 1962).
Der ämterorientierte Ansatz folgt nur numerischen Überlegungen und lässt politische
Positionen völlig außer Acht. Als Antwort darauf wurde der „policy-seeking“-Ansatz
entwickelt, der von der Annahme ausgeht, dass Parteien vor allem danach streben, die
eigenen Politikinhalte zu verwirklichen. Nach diesem Ansatz streben Parteien vor allem
Koalitionen mit Parteien an, die ähnliche Politikvorstellungen verfolgen, was zu ideolo-
gisch kompakten Koalitionen führt (Axelrod 1970; de Swaan 1973). Geht man (verein-
fachend) davon aus, dass Parteien sich anhand einer einfachen Links-Rechts-Dimension
unterscheiden, dann ist eine Koalition zwischen einer rechten und einer linken Partei
sehr viel weniger wahrscheinlich als eine Koalition zwischen zwei linken Parteien, auch
1 Außerdem wird vereinfachend angenommen, dass Parteien einheitliche Akteure sind. Das
heißt, dass alle Individuen innerhalb der Partei (insbesondere die Abgeordneten) einheitlich
handeln und die Partei deshalb als ein Akteur behandelt werden kann.
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189Regierung und Regierungsbildung
wenn beide Koalitionen eine Mehrheit im Parlament hätten. Die Partei mit den meisten
Koalitionsoptionen ist dabei die Medianpartei, von der aus es links und rechts keine
parlamentarische Mehrheit gibt. Diese wird für alle ideologisch kompakten Koalitionen
benötigt und nimmt daher im Regierungsbildungsprozess eine wichtige Rolle ein.
Orientieren sich Parteien rein an politischen Inhalten, ist auch die Bildung von
Minderheitsregierungen theoretisch erklärbar. Obwohl diese per definitionem keine
Mehrheit der Sitze im Parlament kontrollieren, können Minderheitsregierungen stabil
regieren, wenn sie für ihre Vorhaben parlamentarische Mehrheiten finden. Sie können
sich also für jedes Gesetzesvorhaben Unterstützung im Parlament suchen oder sie ent-
scheiden sich dazu, mit einer oder mehreren Parteien langfristige Partnerschaften ein-
zugehen (Strøm 1990). Zuletzt haben Analysen gezeigt, dass Minderheitsregierungen
genauso stabil (Krauss/ürk 2021) und genauso effektiv (ürk 2021) sein können
wie Mehrheitsregierungen, vor allem dann, wenn sie auf langfristige Partnerschaften
mit anderen Parteien im Parlament setzen. Solche Konstellationen werden häufig auch
als versteckte Mehrheitsregierungen bezeichnet (Strøm 1990).
Der Regierungsbildungsprozess, also die Zeit bis zur Bildung einer neuen Regierung
(nach Wahlen oder dem Scheitern einer Vorgängerregierung), kann einige Zeit in An-
spruch nehmen. Beobachter*innen der österreichischen Politik kennen die teils zähen
Koalitionsverhandlungen, sodass zwischen einer Nationalratswahl (oder dem Scheitern
der Vorgängerregierung) und der Ernennung einer neuen Regierung oft mehrere Wo-
chen oder sogar Monate vergehen können. Manchmal scheitern auch Versuche, eine
Koalition zu schmieden, wie zum Beispiel nach der Nationalratswahl 1999 und der
Bildung der schwarz-blauen Regierung Schüssel I.
Während des Regierungsbildungsprozesses verhandeln die potenziellen Koalitions-
partner darüber, wie man das gemeinsame Regieren gestalten möchte. Ein wichtiger
Streitpunkt bei der Bildung von Koalitionsregierungen ist die Verteilung von Ämtern
und konkreten Politikvorhaben. Dazu gehören neben Posten in staatsnahen Betrieben,
öffentlich-rechtlichen Medien, der EU-Kommission und Zentralbanken (Ennser-Jede-
nastik 2013 & 2014) vor allem die Verteilung der Ministerien und deren Verantwor-
tungsbereiche (Portfolios). Betrachtet man die Ministerialverteilung, dann lässt sich
eine Seltenheit in den Sozialwissenschaften beobachten: ein empirischer Zusammen-
hang der so stark ist, dass er häufig als „Gesetz“ betitelt wird, nämlich Gamson’s Ge-
setz (Gamson 1961). Es besagt, dass die Parteien in Koalitionsregierungen Ministerien
proportional zu ihrer Stärke innerhalb der Koalition erhalten. Trägt eine Partei also bei-
spielsweise sechzig Prozent der Sitze zur Koalition bei, so wird sie auch ungefähr sechzig
Prozent der Ministerien erhalten. Allerdings ist dieser Ansatz nicht dazu in der Lage,
politische Präferenzen von Parteien miteinzubeziehen. Parteien wollen, im Regelfall,
nicht einfach nur irgendwelche Ministerien, sondern sie haben spezifische Ministerien,
die für sie besonders interessant sind. Grüne Parteien, zum Beispiel, haben ein großes
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Interesse am Umweltministerium, während sozialdemokratische Parteien eher darauf
aus sind, die Ministerien zu bekommen, die mit Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu tun
haben (Browne/Feste 1975; Budge/Keman 1990).
Neben der Vergabe von Posten müssen sich Parteien in Koalitionen auch auf ein
gemeinsames Regierungsprogramm verständigen.2 Dafür muss Einigung zwischen den
(oftmals) verschiedenen Vorhaben und Positionen der einzelnen Regierungsparteien er-
zielt werden. Durch den Zugriff auf die Expertise in der Ministerialbürokratie und die
Arbeitsteilung im Kabinett hat hier die Partei einen Vorteil, die auch den*die jeweils
zuständige*n Minister*in stellt (je nach Politikfeld kann auch mehr als ein*e Minis-
ter*in zuständig sein). Minister*innen sind daher wichtige Agenda-Setter in ihrem Zu-
ständigkeitsbereich: Auch wenn sie nicht alleine und gegen jeden Widerstand (z.B. den
Koalitionspartner) Entscheidungen durchsetzen können, wirken sie wesentlich an der
Politikgestaltung mit.3 Umgekehrt kann gegen ihren Widerstand (fast) keine Reform in
ihrem Zuständigkeitsbereich umgesetzt werden.
Um dem Einhalt zu gebieten, können Parteien in Koalitionsregierungen auf verschie-
dene Kontrollmechanismen zurückgreifen (Müller/Meyer 2010). Zum Beispiel werden
die getroffenen Entscheidungen am Anfang der Regierungszeit in einem Koalitions-
vertrag (oder auch Koalitionsabkommen) schriftlich festgehalten. Diese Abkommen
sind keine Verträge im rechtlichen Sinn (Müller et al. 2008); ein*e Minister*in kann
also nicht wegen Vertragsbruch vor Gericht gebracht werden. Dennoch schränken Ko-
alitionsverträge die Macht der Minister*innen ein, vor allem wenn Koalitionsverträge
öffentlich sind (was heutzutage die Regel ist). Denn handeln Minister*innen gegen den
vorher vereinbarten Kompromiss, riskieren sie negative Reaktionen der Wähler*innen
für ihre Partei, die zudem von anderen Parteien potenziell als unzuverlässiger Koali-
tionspartner wahrgenommen wird.
Während Koalitionsverträge in den 50er- und 60er-Jahren noch relativ selten wa-
ren, ist es heutzutage quasi gang und gäbe, Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen in
einem Koalitionsvertrag niederzuschreiben (Müller/Strøm 2008). Die Forschung hat
gezeigt, dass Koalitionsverträge in vielerlei Hinsicht extrem hilfreich für Parteien sein
können. Zum einen werden die emen, die es in den Koalitionsvertrag schaffen, häu-
figer tatsächlich umgesetzt (Moury 2011; Schermann/Ennser-Jedenastik 2014a). Zum
2 Die Verhandlungen sind auch unter der Annahme wichtig, dass sich Parteien gar nicht selbst
für Politikinhalte interessieren, sondern ämterorientiert („office-seeking“) handeln. Es reicht
die Annahme, dass Wähler*innen sich für politische Inhalte interessieren und rein ämter-
orientierte Parteien nicht (nochmals) wählen würden. Entsprechend verfolgen Parteien Poli-
tikinhalte als instrumentelles Ziel zur Erlangung von Ämtern.
3 In manchen Forschungsarbeiten wird sogar die (extreme) Annahme getroffen, dass Minis-
ter*innen in ihrem Zuständigkeitsbereich aufgrund von Informations- und Ressourcenvor-
teilen als „policy dictators“ (Laver/Shepsle 1990, 888) alleine entscheiden können.
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191Regierung und Regierungsbildung
anderen hat sich auch gezeigt, dass sich sowohl die Existenz als auch die Länge von Ko-
alitionsverträgen positiv auf die Lebensdauer von Koalitionen auswirken (Krauss 2018;
Saalfeld 2008).
Daneben können Koalitionspartner eine*n zuständige*n Minister*in auch auf ande-
re Arten kontrollieren. Beispielsweise können Staatssekretär*innen von einer anderen
Koalitionspartei als der Partei des*der Ministers*Ministerin eingesetzt werden (Lips-
meyer/Pierce 2011). Die Idee dahinter ist, dass diese Staatssekretär*innen zusätzliche
Befugnisse und Einblicke in die Arbeit des Ministeriums haben und dadurch potenziell
die Minister*innen dazu bringen können, bei den Koalitionskompromissen zu blei-
ben (Müller/Meyer 2010). Einer ähnlichen Logik folgend können Regierungspartei-
en Ministerien mit ähnlichen Verantwortungsbereichen (z.B. Wirtschaft und Soziales)
mit Minister*innen unterschiedlicher Parteizugehörigkeit besetzen, um die Arbeit des
jeweiligen Koalitionspartners zu überwachen (Fernandes et al. 2016). In Österreich
werden solche Ministerien als Spiegelministerien bezeichnet. Die Regierungsparteien
können auch Koalitionsausschüsse, üblicherweise mit Vertreter*innen des Parlaments
sowie der Regierung, als informelle Entscheidungsgremien der Koalition einsetzen.
Diese können von den Parteien dazu genutzt werden, das Regieren generell zu organi-
sieren (Miller 2011). Dies geschieht durch das Sammeln von Informationen innerhalb
der Ausschüsse (Moury 2013) und durch Koordination, um Konflikte zwischen den
Regierungsparteien zu lösen oder sogar zu antizipieren (Andeweg/Timmermans 2008).
Im Folgenden werden wir Regierungsbildungsprozesse in Österreich untersuchen.
Wir kontextualisieren dabei den Prozess der Regierungsbildung und die Verhandlungs-
ergebnisse sow
ohl historisch (ab der Nachkriegszeit) wie auch im internationalen Ver-
gleich.
2. Gegenwärtige Situation
Die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems und die Relevanz neuer poli-
tischer Konfliktlinien in den letzten Jahrzehnten (siehe dazu Jenny in diesem Band)
haben auch Auswirkungen auf den Regierungsbildungsprozess gehabt. Die Dominanz
der beiden großen Volksparteien SPÖ und ÖVP wurde durchbrochen, neue Koalitions-
optionen entstanden und Regierungsbildungsverhandlungen sind insgesamt komplexer
geworden und von größerer Unsicherheit geprägt.
Als Wendepunkt kann beispielhaft die Regierungsbildung nach der Nationalratswahl
1999 herangezogen werden (Müller 2021, 50 f.). Die SPÖ wurde stärkste Kraft, schloss
aber vor der Wahl eine Koalition mit der FPÖ aus. Die ÖVP landete knapp hinter den
Freiheitlichen auf Platz drei und hatte für diesen Fall den Gang in die Opposition ange-
kündigt. Mit diesen Festlegungen war die Regierungsbildung entsprechend schwierig. Die
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Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP scheiterten und es kam zur Bildung
der ersten schwarz-blauen Koalition unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP).
Solch lange Regierungsbildungsprozesse sind in Österreich keine Seltenheit (siehe
auch Abb. 4). Die Regierungen Schüssel II (2003) und Gusenbauer (2007) brauchten
etwa drei Monate bis zur Regierungsbildung; ähnlich lang dauerten die Verhandlungen
zwischen der ÖVP und den GRÜNEN nach der Nationalratswahl 2019. Spitzenreiter
in dieser Statistik ist das Kabinett Gorbach II (1963) mit einer Dauer von 129 Tagen.
Tab. 1 Portfolio- und Sitzverteilung in der Regierung Nehammer zum Zeitpunkt der Regie-
rungsbildung
ÖVP GRÜNE
Portfolio Kanzler Vizekanzler + Kunst, Kultur, öffent-
licher Dienst und Sport
Europäische und internationale
Angelegenheiten
Soziales, Gesundheit, Pflege und
Konsumentenschutz
Bildung, Wissenschaft und For-
schung
Justiz
Digitalisierung und Wirtschafts-
standort
Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mo-
bilität, Innovation und Technologie
Finanzen
Inneres
Landesverteidigung
Landwirtschaft, Regionen und
Tourismus
Arbeit
Frauen, Familie, Jugend und Integra-
tion (Kanzleramtsministerin)
EU und Verfassung (Kanzleramts-
ministerin)
Anzahl Portfolios 11 4
% Portfolios 73,3 26,7
Anzahl Sitze im
Parlament
71 26
% Sitze an allen
Sitzen der Regie-
rungsparteien
73,2 26,8
-
der. Da sie aber von der ÖVP nominiert wurden, werden sie ihr zugerechnet.
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193Regierung und Regierungsbildung
Die relativ langen Verhandlungen sind auch dadurch bedingt, dass im Regierungs-
bildungsprozess viele Vereinbarungen in einem Koalitionsvertrag kodifiziert werden.
Solche Vereinbarungen sind auch in anderen Ländern keine Seltenheit, allerdings sind
Koalitionsverträge in Österreich sehr detailliert. Der Koalitionsvertrag zwischen ÖVP
und GRÜNEN, der 2020 geschlossen wurde, umfasst insgesamt zirka 66.000 Wörter
(das entspricht in etwa elf Kapiteln dieses Buches). Andere Koalitionsverträge der
jüngeren Vergangenheit waren ähnlich umfassend, es gibt, wie auch in Abbildung 1
ersichtlich, sowohl in Österreich als auch in vielen weiteren europäischen Staaten,
einen Trend zu immer längeren Koalitionsabkommen. In diesen Verträgen werden
nicht nur Grundprinzipien gemeinsamer Politik erläutert, sondern oft ganz konkrete
Vorhaben der zukünftigen Zusammenarbeit genannt (etwa die Einführung eines ös-
terreichweiten Verbundtickets um drei Euro pro Tag, Koalitionsvertrag 2020, 122).
Solche Vorgaben schränken nicht nur den Gestaltungsfreiraum der Minister*innen
ein, sondern erhöhen auch die Verbindlichkeit für die übrigen Koalitionsparteien.
Neuere Forschung hat bereits analysiert, welche Anliegen es eher in den Koalitions-
vertrag schaffen. Parteien widmen sich im Koalitionsvertrag vor allem solchen emen,
bei denen ein hohes Konfliktpotenzial zwischen den Koalitionsparteien herrscht (Klü-
ver/Bäck 2019). Für Österreich wurde gezeigt, dass beispielsweise auch die Verteilung
von Minister*innenposten einen Einfluss auf die Adaption im Koalitionsvertrag hat:
Bekommt die Partei das dazugehörige Ministerium, dann ist es wahrscheinlicher, dass
es ihr Wahlversprechen auch in den Koalitionsvertrag schafft (Schermann/Ennser-Je-
denastik 2014b).
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Abb. 1 Länge der Koalitionsabkommen im Vergleich zu 25 europäischen Staaten
Die Balken stellen jeweils ein Koalitionsabkommen einer österreichischen Koalition dar. Die durch-
brochene Linie zeigt die durchschnittliche Wortanzahl der Koalitionsabkommen im jeweiligen Jahr in
25 europäischen Staaten. Die große Lücke zwischen den Balken zwischen den späten 1960ern und den
frühen 1980ern erklärt sich durch die Phase der Einparteienregierungen in diesem Zeitraum, während
der natürlich keine Koalitionsabkommen verfasst wurden.
Quelle: Hellström et al. (2021).
Anhand der Bundesregierung Nehammer lässt sich auch die Verteilung politischer
Ämter exemplarisch darstellen (siehe Tab. 1). Erstens stellt die stärkste Partei in der
Regel den*die Bundeskanzler*in, während der Juniorpartner das Amt des*der Vize-
Kanzlers*Vize-Kanzlerin innehat. Zweitens ist das Verhältnis der Kabinettssitze beider
Parteien (elf vs. vier)4 wie in Gamson’s Gesetz (Gamson 1961) beschrieben beinahe
exakt proportional zur relativen Sitzstärke beider Koalitionspartner im Parlament (71
vs. 26).5 Wie in Abbildung 2 ersichtlich, hält das Gesetz auch für die meisten anderen
österreichischen Koalitionen. Drittens beeinflussen die Parteiideologie und inhaltliche
4 Bezöge man auch Staatssekretär*innen – die formal nicht Teil des Kabinetts sind – in die Be-
rechnung mit ein, so käme man auf zwölf versus fünf und zu dem Ergebnis, dass die Grünen
bei der Portfolioverteilung ein bisschen besser ausstiegen als die ÖVP. Es deckt sich mit der
bisherigen Forschung, dass kleinere Parteien tendenziell einen leicht überproportionalen An-
teil der Portfolios erhalten (z.B. Browne/Feste 1975).
5 Wie in vielen anderen europäischen Staaten auch bestimmen in Österreich politische Parteien
über die Besetzung der Minister*innenposten (Schleiter/Morgan-Jones 2009).
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195Regierung und Regierungsbildung
Ausrichtung, welche Ressorts von welcher Partei gehalten werden (Bäck et al. 2011;
Ecker et al. 2015). Innen- Finanz-, und Wirtschaftsressort werden von der ÖVP kon-
trolliert, während die GRÜNEN ihre Kernkompetenzen in einem ‚Superministerium‘
für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie gebündelt
erhalten haben.
Die diagonale Linie entspricht perfekter Proportionalität. Parteien über der Linie erhielten also mehr
Regierung Sinowatz etwas mehr als 88 Prozent aller Parlamentssitze der Regierungsparteien (90 Sit-
rechts oben in der Abbildung.
Quelle: Hellström et al. (2021).
Abb. 2 Parteigröße in der Koalition und Anteil der Sitze im Kabinett, 1945–2017
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Viertens zeigt sich am Beispiel der aktuellen Bundesregierung deutlich, dass die Par-
teien auch Kompetenzverschiebungen vornehmen (Sieberer 2015; Sieberer et al. 2021),
um den inhaltlichen Schwerpunkten der Parteien gerecht zu werden. So waren vor den
Koalitionsverhandlungen (für die erste Koalition zwischen ÖVP und GRÜNEN, Kurz
III) die Zuständigkeiten für Landwirtschaft (ein klassisches ÖVP-Ressort), Umwelt und
Energie (Kernthemen der GRÜNEN) im Bundesministerium für Nachhaltigkeit und
Tourismus vereint. Im Zuge der Koalitionsverhandlungen 2019 wurden diese Agenden
getrennt: Elisabeth Köstinger (ÖVP) wurde Ministerin für „Landwirtschaft, Regionen
und Tourismus“ und die Umwelt- und Energieagenden wanderten in das ehemalige
Verkehrsministerium, das von Leonore Gewessler (GRÜNE) als Bundesministerium
für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie geführt
wird. Fünftens ist die Ressortverteilung in Österreich traditionell durch Machtdiffusion
in einzelnen Politikbereichen geprägt. Als Folge des Bürgerkriegs 1934 waren Innen-
und Verteidigungsressort in Koalitionsregierungen (bis zur Regierung Schüssel II) nicht
in der Hand einer Partei (Müller 2021). Ähnliches gilt für die Bereiche Soziales und
Wirtschaft. Diese Machtdiffusion erlaubt es, Gesetzesvorhaben unter der Mitwirkung
beider Koalitionspartner voranzutreiben. Diese Muster scheinen aber in jüngerer Ver-
gangenheit an Bedeutung zu verlieren (siehe dazu Box Anschauliches).
Anschauliches. Innen- und Verteidigungsressort unter Kurz I.
In Österreich war es lange Zeit üblich, in Koalitionsregierungen die Zuständigkeit für die
Ressorts Inneres und Verteidigung – also jene, welche für die Staatsgewalt und Nach-
richtendienste zuständig sind – zwischen den Koalitionspartnern aufzuteilen. Diese
Trennung hat historische Gründe – den Bürgerkrieg 1934 – und wurde in den Jahrzehn-
56). Alle bisherigen Großen Koalitionen, aber auch die beiden Koalitionsregierungen
zwischen SPÖ und FPÖ und die erste Koalition zwischen ÖVP und FPÖ unter Wolfgang
Schüssel hielten sich an diese Konvention. Auch in anderen Ländern gibt es teilweise
ähnliche Beispiele (Bergman et al. 2019, 553).
In der Regierung Kurz I jedoch erhielt die FPÖ beide Portfolios. Schon zuvor waren
die beiden Ressorts mehrmals in den Händen einer einzigen Partei gewesen: Dies war
natürlich in den Alleinregierungen, aber auch in der zweiten Schüssel-Koalition, in der
die ÖVP sowohl das Innen- als auch das Verteidigungsministerium besetzte, der Fall. Es
hatte allerdings nie so viel Aufregung gegeben wie bei der Angelobung der Regierung
Kurz I im Dezember 2017: Die Entscheidung, der FPÖ die beiden Ressorts zu überlassen,
6 und wurde von Kommentatoren als „unheim-
6 https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20171216_OTS0041/kern-kuendigt-starke-op-
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197Regierung und Regierungsbildung
lich und beängstigend“7 dargestellt. Es gab eine Petition an Bundespräsident Alexander
Van der Bellen, um zu verhindern, dass die FPÖ beide Ressorts übernimmt.8 Dieser zeig-
te sich auch selbst unzufrieden mit der Vereinbarung und drängte darauf, dass die ÖVP
zumindest eine Staatssekretärin im Innenministerium erhalten sollte9, was schließlich
auch passierte. Zusätzlich wurde von der FPÖ eingeräumt, dass die Nachrichtendienste
10
Auch in den Koalitionen zwischen ÖVP und den GRÜNEN seit 2020 besetzt die ÖVP, wie
in der Regierung Schüssel II (ÖVP-FPÖ), beide Ressorts. Das scheint zu bestätigen, dass
-
teidigung) am Verschwinden ist.
Staatssekretär*innen spielen, obwohl sie nicht dem Kabinett angehören, in Österreich
ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie erhalten in der Regel definierte eigene Zuständigkei-
ten. Zum einen können sie eingesetzt werden, um Kanzler*in und Vize-Kanzler*in in
deren Ressorts zu entlasten (wie etwa in den Kabinetten von Schüssel und Faymann). Es
ist allerdings auch möglich, Staatssekretär*innen in Ressorts einzusetzen, die von einem
Koalitionspartner geleitet werden. Das geschieht häufig dann, wenn beide Koalitions-
parteien ein hohes Interesse am Ressort haben und ein*e Staatssekretär*in ein Gegenge-
wicht zum*r Minister*in bildet (Greene/Jensen 2016; Lipsmeyer/Pierce 2011). Positiv
ausgedrückt wird dadurch der Informationsaustausch und die Koordination innerhalb
der Bundesregierung gestärkt. In der Wissenschaft werden solche Staatssekretär*innen
allerdings (wenig freundlich) als ‚Wachhunde‘ beziehungsweise „watchdog junior mi-
nisters“ (ies 2001) bezeichnet, deren Aufgabe es ist, dem Koalitionspartner auf die
Finger zu schauen (siehe dazu Box Anschauliches).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Der Prozess der Regierungsbildung hat sich in der Nachkriegsgeschichte fundamental
gewandelt. Wieder leicht vereinfachend lassen sich (bis 2000) drei Phasen unterschei-
position-an-gemeinsam-mit-zivilgesellschaft-versuchen-groesste-unsinnigkeiten-dieser-regie-
rung-zu-verhindern (30.04.2022).
7 https://www.derstandard.at/story/2000070453247/ein-erfolg-fuer-die-freiheitlichen
(30.04.2022).
8 https://www.dw.com/de/hoffnung-und-proteste-in-%C3%B6sterreich-%C3%A4ra-kurz-
beginnt/a-41826210 (30.04.2022).
9 https://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5339992/Tuerkisblauer-Reigen_Die-Mi-
nisterien-im-Kabinett-Kurz_Wer-sie (30.04.2022).
10 https://orf.at/v2/stories/2419173/2419175/ (30.04.2022).
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den (siehe Tab. 2): Die erste Phase nach dem Zweiten Weltkrieg (1947 bis 1966) war
geprägt von „Großen Koalitionen“ zwischen den beiden Volksparteien SPÖ und ÖVP.11
Einparteienregierungen, erst durch die ÖVP (1966 bis 1970) und dann durch die SPÖ
(1970 bis 1983), prägten die zweite Phase. In der dritten Phase (1983 bis 2000) do-
minierten wieder Koalitionen, die mit Ausnahme der Jahre 1983 bis 1987 (SPÖ und
FPÖ) ausschließlich Große Koalitionen waren.12
3.1. Regierungen der Nachkriegszeit
Regierungen in der Nachkriegszeit (1947 bis 1966) unterscheiden sich deutlich von
jenen des 21. Jahrhunderts. SPÖ und ÖVP dominierten in der Nachkriegszeit das Par-
teiensystem und erreichten in den Wahlen gemeinsam oft mehr als 90 Prozent der Sitze
im Nationalrat. Der Rest der Sitze ging an die KPÖ (bis 1959), den VdU und dessen
Nachfolgerpartei FPÖ (seit 1956). In einer Großen Koalition suchten die Regierungs-
partner ganz im Einklang mit dem Konkordanzprinzip – also dem Einbeziehen vieler
verschiedener Akteure, um einen möglichst breiten Konsens zu erreichen – und der
Sozialpartnerschaft den Kompromiss und Ausgleich innerhalb der Regierung. Obwohl
beide Parteien diametral unterschiedliche Positionen bei wirtschaftlichen Fragen und
gesellschaftlichen emen einnahmen, wurde Österreich fast zwanzig Jahre lang von
Großen Koalitionen regiert.
11 Zwischen 1945 und 1947 regierte eine Allparteienregierung (Konzentrationsregierung) aus
SPÖ, ÖVP und KPÖ. Obwohl die ÖVP nach der Wahl 1945 eine Mehrheit der Sitze er-
rungen hatte, einigten sich alle drei im Nationalrat vertretenen Parteien darauf, gemeinsam
zu regieren, um für die Herausforderungen des Wiederaufbaus eine möglichst breite demo-
kratische Basis zu haben.
12 An dieser Stelle sei angemerkt, dass Große Koalition kein Konzept der Koalitionsforschung,
sondern ein österreichisches und deutsches Spezifikum ist. Der Begriff bezeichnet in Ös-
terreich eine „Block-übergreifende“ Koalition aus SPÖ und ÖVP, selbst wenn sie zu einem
bestimmten Zeitpunkt nicht die beiden größten Parteien darstellen. Dass diese Art der Ko-
alition lange Zeit der Regelfall war, obwohl zumindest eine der Parteien auch eine kleinere
Koalition mit anderen Parteien hätte bilden können, ist im internationalen Vergleich eher
ungewöhnlich (Müller 2008)
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199Regierung und Regierungsbildung
Tab. 2 Regierungen in Österreich, 1945–2020
Name Bildung Auflösung
Regierungs-
dauer
Regierungs-
parteien
Bildungsdauer
Figl I 20.12.1945 20.11.1947 700 ÖVP, SPÖ,
KPÖ
25
Figl II 20.11.1947 09.10.1949 689 ÖVP, SPÖ 0
Figl III 08.11.1949 22.02.1953 1.202 ÖVP, SPÖ 30
Raab I 02.04.1953 13.05.1956 1.137 ÖVP, SPÖ 39
Raab II 29.06.1956 10.05.1959 1.045 ÖVP, SPÖ 47
Raab III 16.07.1959 11.04.1961 635 ÖVP, SPÖ 67
Gorbach I 11.04.1961 18.11.1962 586 ÖVP, SPÖ 0
Gorbach II 27.03.1963 02.04.1964 372 ÖVP, SPÖ 129
Klaus I 02.04.1964 25.10.1965 571 ÖVP, SPÖ 0
Klaus II 19.04.1966 01.03.1970 1.412 ÖVP 176
Kreisky I 21.04.1970 10.10.1971 537 SPÖ 51
Kreisky II 04.11.1971 05.10.1975 1.431 SPÖ 25
Kreisky III 28.10.1975 06.05.1979 1.286 SPÖ 23
Kreisky IV 05.06.1979 24.04.1983 1.419 SPÖ 30
Sinowatz 24.05.1983 16.06.1986 1.119 SPÖ, FPÖ 30
Vranitzky I 16.06.1986 23.11.1986 160 SPÖ, FPÖ 0
Vranitzky II 21.01.1987 07.10.1990 1.355 SPÖ, ÖVP 59
Vranitzky III 17.12.1990 09.10.1994 1.392 SPÖ, ÖVP 71
Vranitzky IV 29.11.1994 17.12.1995 383 SPÖ, ÖVP 51
Vranitzky V 12.03.1996 15.01.1997 309 SPÖ, ÖVP 86
Klima 15.01.1997 03.10.1999 991 SPÖ, ÖVP 0
Schüssel I 04.02.2000 24.11.2002 1.024 ÖVP, FPÖ 124
Schüssel II 28.02.2003 01.10.2006 1.311 ÖVP, FPÖ 96
Gusenbauer 11.01.2007 28.09.2008 626 SPÖ, ÖVP 102
Faymann I 02.12.2008 29.09.2013 1.762 SPÖ, ÖVP 65
Faymann II 16.12.2013 09.05.2016 875 SPÖ, ÖVP 78
Kern 17.05.2016 15.10.2017 516 SPÖ, ÖVP 8
Kurz I 18.12.2017 22.05.2019 525 ÖVP, FPÖ 64
Kurz II 22.05.2019 28.05.2019 7 ÖVP 0
Löger 28.05.2019 03.06.2019 8 ÖVP 0
Bierlein 03.06.2019 07.01.2020 216 - 0
Quelle: Hellström et al. (2021); ergänzt durch die Autor*innen.
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Zur Überbrückung der Differenzen etablierten die Koalitionsparteien Konfliktlö-
sungsmechanismen, die in Koalitionsverträgen festgeschrieben wurden. Im Gegensatz
zu heutigen Koalitionsverträgen wurden dort weniger Politikinhalte festgeschrieben,
sondern es wurden vor allem die prozeduralen Regeln des gemeinsamen Regierens ge-
regelt (Müller 2000, 101). Zum Beispiel wurde festgelegt, wer dem Koalitionsausschuss
angehört, um Konflikte beizulegen und die Arbeit der Regierung auch im Parlament zu
koordinieren. Die Koalitionspartner vereinbarten Koalitionsdisziplin (d.h. es werden in
Abstimmungen keine parlamentarischen Mehrheiten mit Oppositionsparteien gesucht)
und alle Regierungen vereinbarten im Koalitionsvertrag eine Neuwahlregel, wonach
sich bei einem Scheitern der Regierung beide Koalitionspartner dazu verpflichten, eine
Neuwahl herbeizuführen (statt im Parlament einen neuen Koalitionspartner zu suchen).
Durch diese Vereinbarung war beiden Parteien klar, welche Konsequenz ein Bruch der
Koalition bedeuten würde. Da, wie oben erwähnt, der Koalitionsvertrag nicht rechtlich
verbindlich ist, handelt es sich hier natürlich nur um politische Konsequenzen (wie ein
Glaubwürdigkeitsverlust in den Augen der Wähler*innen und potenzieller zukünftiger
Koalitionspartner).
Durch die Konzentration des Parteiensystems gab es wenige Koalitionsoptionen und
durch die Kontinuität der Großen Koalitionen konnten die beiden Koalitionsparteien
SPÖ und ÖVP die Positionen und Kompromissbereitschaft des anderen gut einschät-
zen. Der Regierungsbildungsprozess dauerte (zumindest aus heutiger Sicht) nicht allzu
lange (siehe Abb. 4).13 Auch das Verhandeln über Anzahl und Verteilung der Minis-
ter*innenposten ist einfacher, wenn Parteien damit rechnen können, auch in Zukunft
wieder miteinander eine Regierung zu bilden. In solchen Situationen verzichten Partei-
en eher auf das Ausnutzen kurzfristiger Verhandlungsvorteile (wie ein schwaches Wahl-
ergebnis des Koalitionspartners) und orientieren sich langfristig an einer proportionalen
Verteilung der Ämter nach Gamson’s Gesetz (Schofield/Laver 1985).
3.2 Zeit der Einparteienregierungen
Bei der Nationalratswahl 1966 erreichte die ÖVP knapp eine absolute Mehrheit an Sit-
zen im Parlament. Sowohl die ÖVP als auch die SPÖ hatten vor der Wahl bekräftigt, er-
neut eine Große Koalition anzustreben. In den Koalitionsverhandlungen zeigte sich die
SPÖ allerdings unzufrieden mit einzelnen inhaltlichen Angeboten der ÖVP. Aufgrund
der Befürchtung, dass die ÖVP ihre legislative Mehrheit dazu verwenden könnte, sich
13 Nach der Wahl 1962 drängte Bundespräsident Adolf Scherf beide Parteien zu einem schnel-
leren Abschluss der Koalitionsverhandlungen (Müller 2000, 90). Insgesamt brauchten ÖVP
und SPÖ 129 Tage zur Bildung einer Koalition.
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201Regierung und Regierungsbildung
über Abmachungen im Koalitionsabkommen hinwegzusetzen, lehnte die Parteiführung
eine Koalitionsteilnahme ab und ging in Opposition. So kam es zur ersten (und bis-
her einzigen) Einparteienregierung der ÖVP (Müller 1999). Aus der Wahl 1970 ging
dann die SPÖ als stärkste Kraft hervor, wobei sie eine absolute Mehrheit im Parlament
verpasste. Wieder verhandelten SPÖ und ÖVP, aber schließlich bildete die SPÖ unter
Bundeskanzler Bruno Kreisky eine Einparteien-Minderheitsregierung, die von der FPÖ
parlamentarisch gestützt wurde (Müller 2011). Bei den folgenden drei Nationalrats-
wahlen (1971, 1975 und 1979) erreichte die SPÖ jeweils eine absolute Mehrheit der
Sitze und regierte alleine weiter.
3.3 Neue (und alte) Koalitionsoptionen
Die nächste Zäsur kam mit der Nationalratswahl 1983. Zwar blieb die SPÖ stärkste
Partei, verlor aber die (knappe) absolute Mehrheit an Sitzen. Obwohl sie parallel mit
der ÖVP und der FPÖ verhandelte, war eine Koalition mit der FPÖ die klar präferier-
te Option. Die SPÖ-FPÖ Koalitionen unter Bundeskanzler Fred Sinowatz (1983 bis
1986) und, nach dessen Rücktritt, Franz Vranitzky (Juni bis November 1986) waren
die bislang einzigen Koalitionen zwischen SPÖ und FPÖ auf Bundesebene. Nach der
Wahl Jörg Haiders zum Parteivorsitzenden der FPÖ und dem damit erwartbaren Rich-
tungswechsel der Partei scheiterte die Koalition und es kam zu Neuwahlen.
In der Folge regierten SPÖ und ÖVP wieder gemeinsam in Großen Koalitionen. Die
Zusammenarbeit der beiden Parteien in den 1980er- und 1990er-Jahren unterschied
sich aber wesentlich von der in den Nachkriegsjahren. Erstens hatte in der ersten Phase
der Großen Koalitionen die ÖVP dominiert, in allen Wahlen mehr Parlamentssitze
als die SPÖ erreicht und daher immer den Bundeskanzler gestellt.14 In dieser zweiten
Phase war es nun umgekehrt und die SPÖ konnte immer den Kanzler stellen. Zweitens
gerieten beide Parteien elektoral unter Druck. Konnten sie 1986 noch über 84 Prozent
der Wähler*innen hinter sich vereinen, waren es 1999 nur noch knapp 60 Prozent. Im
Gegenzug erstarkte die FPÖ (von 5 % 1983 auf 26,9 % 1999) und mit den GRÜNEN
zog 1986 eine neue Partei in den Nationalrat ein. Auch die Zusammenarbeit der bei-
den Parteien unterschied sich von derjenigen in der ersten Phase Großer Koalitionen.
Die Koalitionsverträge wurden nicht nur länger, sie enthielten zunehmend detaillierte
Politikvorhaben, auf die sich die Parteien in langen Koalitionsvereinbarungen geeinigt
hatten (siehe Abb. 1).
14 Bei der Nationalratswahl 1959 hatte die SPÖ zwar mehr Stimmen erhalten, die ÖVP erhielt
dennoch einen Sitz mehr.
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4. Einordnung des österreichischen Falls
Fast alle Regierungen in Österreich seit 1945 verfügten über eine parlamentarische
Mehrheit. Erreichte keine Partei alleine eine Mehrheit, kam es in der Regel zur Bildung
einer minimalen Gewinnkoalition. Ein Blick auf Europa (siehe Abb. 3) zeigt allerdings,
dass dies nicht in allen Ländern die Regel ist. Minderheitsregierungen (einer Partei oder
als Koalition) kommen vor allem in skandinavischen Ländern häufig vor. In anderen
Staaten bilden sich auch oft sogenannte übergroße Koalitionen (in denen mindestens
eine Partei nicht für den Erhalt der parlamentarischen Mehrheit benötigt wird).
Abb. 3 Regierungstypen in 27 europäischen Ländern, 1944–2019
Die Balken zeigen den Anteil der einzelnen Regierungstypen an den Regierungen pro Land.
Quelle: Hellström et al. (2021).
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203Regierung und Regierungsbildung
In manchen Staaten verfügt das Staatsoberhaupt über signifikante Kompetenzen bei
der Regierungsbildung und kann entsprechend Einfluss auf den Prozess nehmen. Direkt
gewählte, mit starken Kompetenzen (z.B. Ernennung und Entlassung von Minister*in-
nen) ausgestattete Präsident*innen vor allem in Mittel- und Osteuropa haben einen
signifikanten Einfluss auf die Parteizusammensetzung und Besetzung von Minister*in-
nenposten (Schleiter/Morgan-Jones 2009 & 2010). Obwohl österreichische Staatsprä-
sidenten (bis dato nur Männer) laut Verfassung ebenfalls über erhebliche Macht ver-
fügen, kamen diese Kompetenzen bislang eher selten zum Tragen. Dies liegt vor allem
daran, dass ein Eingreifen politisch durch die Zweiparteiendominanz, Konkordanz und
stabile Mehrheiten nicht notwendig war und sich ebenfalls eine Norm der Nichtein-
mischung herausgebildet hat. Die formale Macht des Staatsoberhaupts blitzt allerdings
immer wieder, vor allem für Regierungen unter FPÖ-Beteiligung, auf. Nach der Wahl
1999 drängte Präsident omas Klestil zunächst auf eine rot-schwarze Koalition und
lehnte bei der Ernennung der schwarz-blauen Regierung zwei von der FPÖ vorgeschla-
gene Minister (omas Prinzhorn und Hilmar Kabas) wegen Ausländerfeindlichkeit
ab. Auch Alexander Van der Bellen ließ 2017 noch während der Regierungsverhandlun-
gen zwischen ÖVP und FPÖ informell durchblicken, dass auch er zwei mögliche FPÖ-
Minister (Johann Gudenus und Harald Vilimsky) nicht akzeptieren würde. Nach der
sogenannten Ibiza-Affäre im Mai 2019 und dem Misstrauensvotum der von Sebastian
Kurz geführten Minderheitsregierung ernannte Van der Bellen die Expertenregierung
unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, die bis zur vorgezogenen Wahl die Geschäfte
weiterführen sollte (siehe dazu Helms/Umek in diesem Band).
Lange Zeit galt Österreich wegen der Tradition der Großen Koalitionen in Europa
eher als Sonderfall. Einige der oben genannten Entwicklungen in Österreich lassen sich
so auch in anderen europäischen Ländern beobachten, so dass sich über die Zeit eine
Angleichung beobachten lässt. Die Fragmentierung und Polarisierung des Parteiensys-
tems, insbesondere ab den 1970er-Jahren, hat vielerorts zur Entstehung neuer Parteien
und Koalitionsformeln geführt. Vor allem grüne und rechtspopulistische Parteien re-
gieren heute in vielen Ländern in Koalitionsregierungen oder als Unterstützungspartei
einer Minderheitsregierung de facto mit. Die schwarz-blaue Regierung 1999/2000 war
innerhalb der Europäischen Union eine der ersten Regierungen mit rechtspopulisti-
scher Beteiligung (siehe dazu Jenny in diesem Band). Diese Tendenz hat sich seitdem
innerhalb Europas verfestigt. Seitdem haben Rechtspopulisten auch in einigen anderen
Ländern wie Italien, den Niederlanden, Norwegen, Ungarn oder Polen mitregiert bzw.
Minderheitsregierungen (z.B. Dänemark) politisch gestützt.
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Abb. 4 Dauer des Regierungsbildungsprozesses im Vergleich zu 25 europäischen Staaten
Die Balken stellen jeweils einen Regierungsbildungsprozess in Österreich dar. Die durchbrochene Linie
zeigt die durchschnittliche Länge der Regierungsbildungsprozesse im jeweiligen Jahr in 25 europäi-
schen Staaten. Berücksichtigt werden nur Regierungen, die direkt nach Wahlen gebildet wurden.
Quelle: Hellström et al. (2021).
Der Regierungsbildungsprozess dauert in Österreich im Vergleich zu anderen europäi-
schen Ländern relativ lange (siehe Abb. 4). Oft werden solche langen Verhandlungen
mit der großen Komplexität (z.B. Anzahl der verhandelnden Parteien) oder der großen
Unsicherheit (z.B. über die Kompromissbereitschaft und roten Linien der potenziel-
len Koalitionspartner) erklärt (Diermeier/Van Roozendaal 1998; Ecker/Meyer 2020;
Golder 2010; Martin/Vanberg 2003). Der österreichische Fall illustriert aber, dass die
Dauer der Regierungsbildung auch von dem gewollten Verhandlungsergebnis abhängt:
Wird (wie in Österreich üblich) ein detaillierter Koalitionsvertrag angestrebt, dauern
Verhandlungen eben länger. Und da in Österreich und Europa Koalitionsvereinbarun-
gen immer detaillierter werden, ist auch der Weg zu diesem Verhandlungsergebnis kom-
plizierter.
Auch wenn die letzten beiden Legislaturperioden mit vorgezogenen Neuwahlen zu
Ende gingen: Österreichs Regierungen sind im internationalen Vergleich relativ stabil.
Wechsel in der Kanzler*innenschaft, die formal eine neue Regierung zur Folge haben,
können infolge persönlicher (z.B. Gesundheit) oder politischer Gründe (z.B. schwin-
dender innerparteilicher Rückhalt) zustande kommen. In der Regel kommen solche
Regierungswechsel ohne eine Neuwahl aus (wie von Faymann II auf Kern). Im Gegen-
satz dazu führte der Bruch einer Koalition infolge überparteilicher Konflikte (zwischen
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205Regierung und Regierungsbildung
den Koalitionsparteien) in Österreich bislang immer zu Neuwahlen. Das liegt unter an-
derem an der im Koalitionsvertrag verankerten Neuwahlregel, auf die sich Koalitions-
partner in Österreich in der Regel verständigten. Obwohl diese Klausel (wie alle Inhalte
des Koalitionsvertrags) rechtlich nicht bindend ist, erschwert sie „fliegende Wechsel“
zu einem anderen Koalitionspartner, da Parteien den Gegenwind der Wähler*innen bei
den nächsten Wahlen fürchten. Solche Neuwahlklauseln kommen in anderen Staaten
seltener vor (Müller/Strøm 2000) und fliegende Wechsel sind dort auch häufiger zu
beobachten.
5. Herausforderungen für die Zukunft
In den letzten Jahrzehnten hat, nicht nur in Österreich, die Fragmentierung und Pola-
risierung des Parteiensystems stark zugenommen. Neue Konfliktlinien, vor allem zur
Rolle der europäischen Integration und zu sozio-ökonomischen emen, haben in den
letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen (Kitschelt 1994; Kriesi et al. 2008). Diese
werden von Parteien wie den GRÜNEN und der FPÖ geprägt, was neben neuen Kon-
fliktlinien auch zu einer stärkeren Fragmentierung des Parteiensystems geführt hat. Das
lässt sich auch in Zahlen belegen: Die SPÖ und ÖVP erreichten von 1945 bis 1986
bei jeder Nationalratswahl gemeinsam deutlich über achtzig Prozent aller Stimmen.
Danach reduzierte sich der gemeinsame Stimmanteil, seit 2008 erreichten die beiden
Parteien bei allen Wahlen zwischen fünfzig und sechzig Prozent der Stimmen (Müller et
al. 2004; siehe dazu Kritzinger/Wagner in diesem Band).
Aktuell erscheint es unklar, ob nach der nächsten Nationalratswahl überhaupt eine
Zwei-Parteien-Koalition eine Mehrheit hätte oder ob drei Parteien für eine Mehrheit
im Parlament benötigt werden. Auch in Deutschland, wo Zwei-Parteien-Regierungen
eine lange Tradition haben, wurde nach der Wahl im September 2021 eine Drei-Partei-
en-Regierung (mit deutlichen ideologischen Unterschieden) aus SPD, GRÜNEN und
FDP gebildet. Die Fragmentierung und ideologischen Unterschiede zwischen den Re-
gierungsparteien erschwert den Regierungsbildungsprozess, da mit zunehmender Par-
teienzahl und wachsenden ideologischen Unterschieden auch längere und schwierigere
Koalitionsverhandlungen zu erwarten sind (Ecker/Meyer 2020; Martin/Vanberg 2003).
Zudem nimmt die Parteienbindung ab und Wahlentscheidungen werden zunehmend
kurzfristig, manchmal wenige Tage vor der Wahl, getroffen (siehe dazu Kritzinger/Wag-
ner in diesem Band). Dadurch können Parteien wenig auf ihre Stammwähler*innen
vertrauen und müssen ihre Positionen an kurzfristige Veränderungen im Stimmungs-
bild der Bevölkerung anpassen (Mair et al. 2004). Auch wenn diese Abhängigkeit der
Parteien vom Willen der Wähler*innen in einer Demokratie natürlich gewollt ist, ver-
lieren Parteien damit die Fähigkeit, ohne Druck nach einer guten Lösung zu suchen
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(Mair 2009). Im Markt der politischen Ideen streben Parteien daher vor allem danach,
kurzfristig Wähler*innen zu überzeugen, anstatt langfristig und konsistent im Sinne
einer Ideologie nach den besten Lösungen zu suchen.
Durch die Veränderungen im Parteiensystem und die nachlassende Parteibindung
der Wähler*innen ändert sich aber auch die Verhandlungslogik für Parteien. Bis Mitte
der 1990er gab es, wenn keine einzelne Partei eine Mehrheit der Sitze gewonnen hatte,
zumeist nur drei rechnerisch mögliche Mehrheitskoalitionen: jede Kombination aus
SPÖ, ÖVP und VdU/FPÖ. Da Letzterer lange Zeit die Koalitionsfähigkeit abgespro-
chen wurde (Müller 2000, 94), reduzierte sich die Zahl der realistischen Koalitionen
auf eine – die Große Koalition. Seit der Jahrtausendwende gab es nach fast jeder Natio-
nalratswahl zumindest vier, teilweise sogar bis zu sechs (nach der Wahl 2013) mögliche
minimale Gewinnkoalitionen. Durch die größere Anzahl möglicher Koalitionen wird
die Regierungsbildung stärker wettbewerblich: Normen wie die Proportionalität in
Gamson’s Gesetz werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit eingehalten, wenn die Be-
teiligung an künftigen Regierungen unwahrscheinlicher wird (Laver/Schofield 1990).
Schließlich bleibt die Frage, ob Regierungen in Österreich nach wie vor das Ver-
trauen der Bevölkerung genießen. Wie jede politische Institution benötigt auch die
Regierung ein gewisses Maß an Vertrauen und Unterstützung der Bevölkerung (Easton
1965). Während in Österreich das Vertrauen in Institutionen generell recht groß ist
(Aichholzer et al. 2019), ist das Vertrauen in politische Institutionen (wie den National-
rat oder die Bundesregierung) in den letzten Jahren gesunken (Kowarz/Pollak 2020). Es
bleibt abzuwarten, ob sich dieser Rückgang nur kurzzeitig während politischer Krisen
(wie der Corona-Pandemie) zeigt oder ob sich der negative Trend der letzten Jahre wei-
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(seit 1989). Aufbauend auf früheren Forschungsprojekten enthält diese Datenbank u.a.
Informationen zur Regierungsbildung, zu Koalitionsabkommen und der Regierungsbe-
endigung, https://erdda.org/party-government-in-europe-database/data-archive-main-
page/ (30.04.2022).
Übungsfragen
Ermitteln Sie auf Basis der Mandatsverteilung nach der Nationalratswahl 2017
(Ergebnisse unter https://www.bmi.gv.at/412/Nationalratswahlen/Nationalrats-
wahl_2017/start.aspx, 06.07.2022) alle minimalen Gewinnkoalitionen. Hatte die
SPÖ mehr Koalitionsoptionen als die FPÖ? In wie vielen minimalen Gewinnkoali-
tionen waren NEOS und die LISTE PILZ vertreten?
Bei Koalitionen in Österreich kommen oft sogenannte Spiegelministerien zum Ein-
satz: Ministerien sollen bei der Erarbeitung von Gesetzen mit einem anderen Mi-
nisterium (in der Regel mit ähnlichen Kompetenzen, z.B. Wirtschaft und Soziales)
zusammenarbeiten. Welchen Nutzen versprechen sich Parteien aus dieser Regelung
für die Zusammenarbeit in der Koalition?
In der Forschung wird argumentiert, dass Wähler*innen Parteien dafür abstrafen,
wenn deren Minister*innen den Koalitionsvertrag brechen (d.h. entgegen der Ab-
machung handeln). Allerdings werden die wenigsten Wähler*innen den Koalitions-
vertrag selbst lesen. Warum könnte das Argument dennoch schlüssig sein?
Angenommen die ÖVP (sechzig Mandate) würde auf Bundesebene mit der FPÖ
(vierzig Mandate) eine Koalition bilden und die beiden Parteien müssten fünfzehn
Ministerien untereinander aufteilen. Wie viele Ministerien sollte die ÖVP erhalten,
wie viele die FPÖ?
In Koalitionsverhandlungen geht es neben der Postenbesetzung auch um politische
Inhalte. Dabei bevorzugen Parteien bestimmte emengebiete und damit Ministeri-
en, die ihnen besonders wichtig sind. Angenommen SPÖ und FPÖ verhandeln über
die Verteilung von fünf Ministerien: Inneres, Soziales, Bildung, Wirtschaft, Europäi-
sche und internationale Angelegenheiten. Welche Zuteilung der Portfolios würden
Sie erwarten? In welchem Politikfeld würden Sie die meisten Spannungen zwischen
den Koalitionsparteien erwarten?
Die Expertenregierung unter Brigitte Bierlein war übergangsweise von Juni 2019
bis Jänner 2020 im Amt. Die öffentliche Resonanz auf die Expertenregierung war
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durchaus positiv (siehe z.B. https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-regie-
rung-bierlein-kurz-1.4737226, 06.07.2022). Argumentieren Sie, ob eine Experten-
regierung aus Ihrer Sicht auch dauerhaft eine Option für Österreich sein könnte.
Welche Vor- und Nachteile sehen Sie gegenüber Regierungen aus (einer oder meh-
reren) Parteien?
Die SPÖ wurde, wie in Abbildung 2 ersichtlich, bei der Portfolioverteilung bisher
zumeist unterkompensiert, erhielt also weniger Portfolios, als ihr bei einer rein pro-
portionalen Verteilung basierend auf ihrem Sitzanteil zugestanden hätten. Begrün-
den Sie, warum das der Fall sein könnte.
Zumindest bis 2017 haben sich Regierungsparteien in Österreich immer auf eine
Neuwahlregel im Koalitionsvertrag verständigt. Argumentieren Sie, welche Vor- und
Nachteile eine solche Regel hat. Sollten auch andere Länder eine solche Neuwahl-
regeln in ihre Koalitionsverträge aufnehmen?
Abbildung 4 zeigt, dass die durchschnittliche Dauer des Regierungsbildungsprozes-
ses zunimmt – sowohl in Österreich auch als im Rest Europas. Wenn diese Zeit
dazu genutzt wird, einen detaillierten Koalitionsvertrag auszuhandeln, ist diese Zeit
sicherlich sinnvoll investiert. Was für andere, weniger positive Gründe für lange Ver-
handlungsprozesse fallen Ihnen ein? Welche Konsequenzen könnte das haben?
Minderheitsregierungen sind quasi die Norm in skandinavischen Ländern, während
sie (noch) keine wirkliche Option in Österreich sind. Könnte sich dies in Zukunft
ändern? Wenn ja, warum?
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Die Länder:
Landtage und Landesregierungen
Zusammenfassung
9Auf Landesebene besteht – wie auf Bundesebene – ein parlamentarisches Regierungssys-
tem. Im Gegensatz zum Bund gibt es in den Ländern aber nur eine Kammer, den Landtag.
9
Klubs (Fraktionen) bestimmt, die von den gewählten Abgeordneten der jeweiligen Partei-
en gebildet werden.
9Die Landesgesetzgebung wird – über Regierungsvorlagen – von den Landesregierungen
beherrscht.
9Die in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgeprägten Kontrollinstrumente der
erweitert.
9
-
spruch auf Regierungsbeteiligung hat.
9Eine überragende Stellung in der Landespolitik nehmen die Landeshauptleute ein, sowohl
in verfassungsrechtlicher als auch in politischer Hinsicht.
9Landtage und Landesregierungen genießen bei den Landesbürger*innen zumeist größe-
-
zienz und Transparenz werden jedoch öfter Reformwünsche geäußert.
1. Einleitung
Die Landtage bilden die gesetzgebenden Körperschaften (Legislative) in den österrei-
chischen Bundesländern. Anders als auf Bundesebene besteht ein Einkammersystem.
Die von den Landtagen gewählten Landesregierungen stellen die Exekutive dar, die –
mit Unterstützung der Verwaltungsbehörden – Landes- wie Bundesgesetze vollzieht.
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214
Landtage und Landesregierungen sind die zwei zentralen politischen Institutionen
der Bundesländer. Die Länderpolitik ist von einer Dominanz der Landesregierungen
(Exekutive) und dabei besonders der Landeshauptleute geprägt, wogegen den Land-
tagen (Legislative), trotz ihrer direkten demokratischen Legitimation über Wahlen, eine
schwächere Rolle zukommt.
Das vorliegende Kapitel beschreibt die beiden Institutionen und ihr wechselseitiges
Verhältnis. Neben der Darstellung der rechtlichen Bestimmungen wird vor allem das
faktische Verhalten der dort wirkenden Akteur*innen gezeigt. Nach der Darstellung
von Organisation und Funktionsweise der beiden Institutionen werden drei große Ver-
änderungen nachgezeichnet: der Wandel der Regierungssysteme von Proporz- zu Mehr-
heitsregierungen, der schrittweise Ausbau der Rechte der Landtage sowie die seit dem
Beginn der Zweiten Republik weitreichende Veränderung der geschlechterspezifischen
Zusammensetzung der beiden Institutionen. Die Einordnung des österreichischen Falls
erfolgt über einen Vergleich mit Deutschland und der Schweiz. Zuletzt werden die zen-
tralen Befunde des Kapitels zusammengefasst und ausgewählte Reformüberlegungen
angesprochen.
2. Gegenwärtige Situation
Die Darstellung der Landtage und der Landesregierungen erfolgt jeweils in zwei Schrit-
ten: erstens in Hinblick auf ihre Organisation, zweitens in Bezug auf ihre Funktionen.
Alle erwähnten Regelungen, Merkmale und Aktivitäten beziehen sich auf den Stichtag
1. Juli 2021 beziehungsweise auf die letzte vollständige Gesetzgebungsperiode (GP).1
2.1 Landtage
2.1.1 Organisation und Arbeitsweise
Alle Landtage bestehen, im Gegensatz zum Bundesparlament, aus einer Kammer. Zwar
gibt es in Wien sowohl einen Landtag als auch einen Gemeinderat, doch sind diese in
Personalunion miteinander verbunden, das heißt, dieselben Personen haben das landes-
und lokalpolitische Mandat inne.
1 B: GP 21 (9.7.2015–17.2.2020), K: GP 31 (28.3.2013–12.4.2018), NÖ: GP 18 (24.4.2013–
22.3.2018), OÖ: GP 28 (23.10.2015–22.10.2021), S: GP 15 (19.6.2013–13.6.2018), ST:
GP 17 (16.6.2015–17.12.2019), T: GP 16 (24.5.2013–28.3.2018), V: GP 30 (15.10.2014–
6.11.2019), W: GP 20 (24.11.2015–24.11.2020).
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215Die Länder: Landtage und Landesregierungen
Die Länge der GPs beträgt seit den späten 1960er-Jahren fünf Jahre, allein in Ober-
österreich sechs. Zu Beginn der Zweiten Republik gab es noch vierjährige GPs, doch
wurden diese in Kärnten (1959), der Steiermark (1964), Tirol (1965) und dem Bur-
genland (1967) verlängert. Die in Tabelle 1 gezeigten durchschnittlichen Ausschöp-
fungsquoten, also das Verhältnis der tatsächlichen zur theoretisch maximalen Dauer
der Legislaturperiode, sind hoch. Vorgezogene Neuwahlen sind, anders als im Bund, in
den mehr von Stabilität und Pragmatismus geprägten Ländern selten. Zusätzlich wird
in Oberösterreich und Tirol eine vorzeitige Auflösung des Landtags durch eine dafür
erforderliche Zweidrittelmehrheit erschwert.
Auch die Größe der Landtage hat sich im Zeitverlauf verändert, wobei es bis in die
1970er-Jahre zu einigen Vergrößerungen kam: in Salzburg 1954 von 26 auf 32 Sitze,
1974 auf 36; in Vorarlberg 1959 von 26 auf 36; in Oberösterreich 1973 von 48 auf 56;
im Burgenland 1977 von 32 auf 36. Der steirische Landtag wurde 1965 von 48 auf
56 Sitze vergrößert, 2015 jedoch wieder auf 48 verkleinert. Die Vergrößerungen wur-
den – etwa in Vorarlberg – mit einer besseren Vertretung einzelner Landesteile (Brandt-
ner et al. 1992, 568) und allgemein mit einem Ausbau der Demokratie begründet,
die zuletzt durchgeführte Verkleinerung mit Sparmaßnahmen (siehe Abschnitt 5.). Die
Größe der Landtage wird von den Ländern bestimmt; eine bundesverfassungsrechtliche
Bestimmung, die auf Basis der Anzahl der Staatsbürger*innen (Bürger*innenzahl) eine
maximale Größe der Landtage vorschrieb (früherer Art 95 Abs 4 B-VG), wurde 1983
gestrichen.
Die interne Organisation der Landtage orientiert sich an den Parteien (Landtags-
klubs), an funktionalen Gesichtspunkten (Ausschüsse) und an Führungsämtern (Prä-
sidium).
Landtagsklubs
Die in den Landtag gewählten Abgeordneten einer Partei schließen sich in Fraktio-
nen zusammen, um ihre Arbeit zu koordinieren. Für die Bildung von Klubs, das heißt
von Fraktionen mit einem spezifischen Status, ist in allen Bundesländern eine Mindest-
anzahl an Mandaten erforderlich, deren Größe variiert (Tab. 1). Gegenwärtig gibt es
in Niederösterreich (GRÜNE, NEOS) und Kärnten (TEAM KÄRNTEN) Fraktionen
ohne Klubstatus, die über weniger Mitwirkungsmöglichkeiten verfügen. Während einer
GP kann es zu Austritten oder Ausschlüssen von Abgeordneten kommen, die darauf-
hin als wilde Abgeordnete fungieren. In seltenen Fällen kommt es zu Spaltungen von
Parteien. Zuletzt geschah dies in Wien, als sich im Dezember 2019 drei Anhänger des
früheren FPÖ-Bundesparteivorsitzenden Heinz-Christian Strache vom FPÖ-Klub ab-
spalteten.
Die Landtagsklubs sind zentral für die parlamentarische Tätigkeit der Abgeordneten,
da sie auf diesem Weg über Ressourcen und Infrastruktur verfügen (z.B. Büros und Mit-
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216
arbeiter*innen), aber auch parlamentarische Instrumente in Anspruch nehmen können
(z.B. Stimmrecht in Ausschüssen) (Aigner 2006, 960). Persönliche parlamentarische
Mitarbeiter*innen wie im Nationalrat (Dolezal 2001) gibt es in den Landtagen nicht.
Alle Klubs werden von Obleuten angeführt, die über Stellvertreter*innen verfügen.
Vor allem bei den Oppositionsparteien sind dies die wichtigsten landespolitischen Äm-
ter. Das Unvereinbarkeits- und Transparenz-Gesetz, ein Bundesgesetz, nennt Berufs-
verbote unter anderem für die Präsident*innen und die Klubobleute im Nationalrat,
nicht aber für die analogen Ämter in den Ländern. Die landespolitischen Ämter werden
demnach nicht automatisch als Vollzeitbeschäftigung gesehen.
Ausschüsse
In den als Arbeitsparlamente zu bezeichnenden Landtagen geschieht der Großteil
der parlamentarischen Tätigkeit in Ausschüssen, nicht im Plenum (Redeparlament).
Die Ausschusssitzungen dienen der Vorbereitung von Verhandlungsgegenständen und
sind im Gegensatz zu Plenarsitzungen (im Normalfall) nicht öffentlich.
Die Landtage beschließen am Beginn jeder GP die Anzahl und inhaltliche Ausrich-
tung der Ausschüsse sowie deren Größe. Alle Geschäftsordnungen (GO) nennen ferner
Ausschüsse, die gebildet werden müssen, wie vor allem Kontrollausschüsse, in vier Bun-
desländern (B, S, T, V) auch europapolitische. Eine Sonderstellung nimmt hier Wien ein:
Die GO des Landtags definiert drei einzurichtende Ausschüsse. Die GO des Gemeinde-
rats nennt zwei weitere sowie die Vorgabe, dass für jede Verwaltungsgruppe („Ministeri-
um“) ein Ausschuss zu bilden ist. Abgesehen von den drei spezifischen Landtagsausschüs-
sen sind die Ausschüsse immer beiden Gremien (Landtag und Gemeinderat) zugeordnet.
Die Vertretung der Parteien (bzw. der Klubs) in den Ausschüssen erfolgt grundsätz-
lich proportional nach deren Stärke. Drei Bundesländer (OÖ, ST, V) schreiben jedem
Klub das Anrecht auf zumindest einen Sitz explizit zu. In Niederösterreich können
nicht vertretene Parteien (d. h. Parteien ohne Klubstatus) mit beratender Stimme an
den Sitzungen teilnehmen. Aktuell (01.07.2021) machen die NEOS von dieser Rege-
lung Gebrauch, nicht aber die GRÜNEN, die damit gegen die ihrer Ansicht nach man-
gelnden Mitwirkungsrechte der Opposition protestieren (GRÜNE NÖ 17.04.2018).
Das TEAM KÄRNTEN ist allein im Kontrollausschuss vertreten, da dort alle Parteien
(mit oder ohne Klubstatus) mindestens einen Sitz haben.
Unterschiedlich gehandhabt wird die Vergabe der Ausschussvorsitze, da nur drei
Bundesländer (B, K, NÖ) explizit eine insgesamt proportionale Verteilung vorsehen. In
Vorarlberg ist darauf laut GO angemessen Bedacht zu nehmen. Spezifische Regelungen
bestehen jedoch für verschiedene Kontrollausschüsse, für die mehrere Länder (K, OÖ,
ST, T, W) eine Vorsitzführung durch Mitglieder von in der Landesregierung vertretenen
Parteien ausschließen. In Niederösterreich wechselt der Vorsitz des Rechnungshof-Aus-
schusses halbjährig.
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217Die Länder: Landtage und Landesregierungen
Präsidium
Alle Landtage wählen in der ersten Sitzung einer GP ein dreiköpfiges Präsidium, das
aus den Landtagspräsident*innen und zwei Stellvertreter*innen besteht (S: 1 Stellver-
treter*in; W-GR: 4 Vorsitzende). Den Präsident*innen obliegt die Einberufung von Sit-
zungen, die Vorsitzführung, die laufende Geschäftsführung und die Außenvertretung
des Landtags.
Wie bei den Klubobleuten bestehen keine Berufsverbote, allerdings geben aktuell
sieben von neun Präsident*innen an, über kein zusätzliches Erwerbseinkommen zu ver-
fügen, weshalb von einer Konzentration auf das Amt auszugehen ist. Die meisten GOs
bzw. Landesverfassungen (K, NÖ, ST, T, V und W) kennen, im Gegensatz zu den
Regelungen für einfache Abgeordnete, ein Verbot der gleichzeitigen Übernahme eines
Regierungsamtes. Die faktische Trennung zwischen Legislative und Exekutive hat sich
in den letzten Jahrzehnten jedoch allgemein durchgesetzt.
Die Wahl des Präsidiums folgt in den meisten Ländern nach dem Prinzip der Ver-
hältniswahl, das heißt, die Parteien sind nach ihrer Stärke vertreten, wobei in drei Län-
dern (B, K, V) der Vorsitz explizit der stärksten Partei zusteht. Die Wahl der Präsi-
dent*innen erfolgte in der letzten GP in drei Bundesländern einstimmig (NÖ, OÖ,
S), in den übrigen mehrheitlich. Die Präsident*innen führen ihre Ämter im Normalfall
die gesamte GP aus. Einige Länder erschweren eine mögliche vorzeitige Abwahl durch
erhöhte Präsenzquoten beziehungsweise Mehrheitsregelungen.
Bereich Aspekt B K NÖ OÖ S ST T V W
GP Jahre 5 5 5 6 5 5 5 5 5
Ausschöpfung
in % (MW)
seit 19491
93,6 94,7 97,6 99,9 97,9 92,5 96,5 100,0 94,7
Größe Mandate 36 36 56 56 36 48 36 36 100
Einwoh-
ner*innen pro
Mandat
8.223 15.618 30.197 26.710 15.573 25.982
21.116
11.088 19.212
Wahlberechtig-
te pro Mandat
6.949 12.059 24.756 19.545 10.836 19.912
14.924
7.514 11.330
Klubs Mandate für
Klubbildung
(%)
2
(5,6)
4
(11,1)
4
(7,1)
2
(3,6)
3
(8,3)
2
(4,2)
2
(5,6)
3
(8,3)
3
(3,0)
Anzahl Parteien
(davon ohne
Klubstatus)
4 4
(1)
5
(2)
4 5 6 6 5 5
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218
Bereich Aspekt B K NÖ OÖ S ST T V W
Aus-
schüsse2
Anzahl 11 14 13 13 10 13 12 13 13
Mitglieder 8–9 8 10 13 11 17 7–17 14 15–17
Profil
der Ab-
geord-
neten
Alter (MW) 49,5 53,9 53,1 54,5 50,7 46,6 45,3 46,4 48,0
% unter 30
Jahren
5,6 5,6 0,0 0,0 5,6 8,3 11,1 5,6 7,0
% Frauen 30,6 25,0 26,8 42,9 36,1 33,3 30,6 44,4 43,0
% Akademi-
ker*innen
33,3 27,8 42,9 39,3 52,8 37,5 50,0 52,8 61,0
% im Bundes-
land geboren3
50,0 84,6 66,1 85,7 80,6 81,3 97,2 94,4 64,0
% im Ausland
geboren3
2,8 3,8 0,0 0,0 5,6 0,0 0,0 2,8 10,0
% kommunal-
politisches
Amt4
75,0 38,9 69,6 62,5 50,0 45,8 41,7 66,7 —5
% Bürgermeis-
ter*innen4
33,3 22,2 30,4 12,5 13,9 12,5 16,7 8,3 —5
Bezüge
(in %
NR)6
Präsident*in
(Max: 150)
135 1097150 140 1067135 120 1157140
Klubobleute
(Max: 140)
125 1027140 135 927125 96 927140
Abgeordnete
(Max: 80)
65 52780 75 58765 70 59776
Voll-
zeit-
abge-
ordnete
(%)8
38,9 16,7 28,6 37,5 16,7 37,5 41,7 16,7 37,0
1 1949 wurden alle Landtags- mit den Nationalratswahlen abgehalten.
2
3 Basis: Abgeordnete, deren Geburtsort bekannt ist (97,7 %).
4 -
ten.at. Klärung widersprechender Angaben über Websites der Gemeinden.
5 Eine Funktion in einer Bezirksvertretung ist verboten.
6 Referenzwert ist das monatliche Bruttogehalt von Nationalratsabgeordneten (9.228 EUR).
7 Das Bezügegesetz nennt absolute Zahlen. Die aktuellen Gehälter wurden Verordnungen bzw. Kund-
machungen entnommen (K: 26.01.2021; S: 14.01.2021; V: Auskunft LT-Kanzlei).
8
-
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219Die Länder: Landtage und Landesregierungen
2.1.2 Funktionen
Parlamente werden in erster Linie über die Gesetzgebung definiert, doch ist diese
Funktion bei den Landtagen angesichts der beschränkten Kompetenzen der Länder
keineswegs die bedeutendste. Der vorliegende Abschnitt orientiert sich an den aus der
Parlamentsforschung (Kreppel 2014 & 2017; Patzelt 2003) bekannten Funktionen
Repräsentation, Tribüne, Gesetzgebung und Kontrolle. Die Wahlfunktion wird im
Abschnitt zu den Landesregierungen behandelt. Neben den Regierungen wählen die
Landtage am Beginn einer GP auch die Mitglieder des Bundesrats. Die Verteilung der
Sitze erfolgt nach dem Stärkeverhältnis, wobei der zweitstärksten Partei zumindest ein
Sitz zukommt (siehe dazu Praprotnik in diesem Band). Neben diesen klassischen Parla-
mentsfunktionen wird abschließend auf den immer wichtiger werdenden Bereich der
Bürger*innenbeteiligung eingegangen.
Über das Selbstverständnis bzw. die Arbeit der einzelnen Abgeordneten liegen keine
aktuellen Publikationen vor. Ältere Studien (Crane 1961; Gerlich/Kramer 1969; Ma-
yer/Nussbaumer 1973) zeigen, dass vor allem die Gesetzgebung für die meisten Abge-
ordneten keine zentrale Bedeutung hat.
Repräsentation
Die Repräsentationsfunktion erfolgt in erster Linie über die Parteien. Alle Landtags-
wahlordnungen verfügen über Aspekte der Persönlichkeitswahl, doch sind es die Partei-
en, die den Wahlprozess prägen. Neben der (partei-)politischen können noch Aspekte
der demografischen sowie der funktionalen Repräsentation angeführt werden.
Demografische Repräsentation bedeutet, dass die soziale Zusammensetzung der Par-
lamente jener der Bevölkerung gleicht. Eine anteilsmäßige Vertretung sozialer Gruppen
wird als Wert an sich gesehen, aber auch mit Erwartungen an den Inhalt von Entschei-
dungen verbunden (substanzielle Repräsentation). Lange Zeit fokussierte sich die wis-
senschaftliche und politische Debatte auf die Vertretung sozialer Klassen beziehungs-
weise Berufsgruppen. Spätestens seit den 1990er-Jahren rückten jedoch die gerechte
Vertretung der Geschlechter und zuletzt von Personen mit Migrationshintergrund in
den Vordergrund. Die Daten in Tabelle 1 zum Profil der Abgeordneten zeigen unter
anderem große Unterschiede bei der Vertretung von Frauen. Während ein Großteil der
Abgeordneten aus dem jeweiligen Bundesland stammt, ist der Anteil der im Ausland
geborenen Abgeordneten, der hier als Indikator für den Migrationshintergrund ver-
wendet wird, bis auf Wien sehr gering.
Ein weiteres Verständnis von Repräsentation bezieht sich auf die Vertretung kom-
munaler Interessen (funktionale Repräsentation). Abgesehen von Wien, wo die Ab-
geordneten nicht gleichzeitig den Bezirksvertretungen angehören dürfen, haben sehr
viele Mandatar*innen auch ein lokales Amt. Verbote der Ämterkumulierung bestehen
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220
in vier Ländern (B, K, NÖ, T), doch betrifft dies nur Regierungsmitglieder (Fallend
2011, 184). Ein Vergleich mit einer 2006 durchgeführten Erhebung (Karlhofer 2007,
7) zeigt einen leichten Rückgang bei den Bürgermeister*innen unter den Abgeordneten
von 21,6 auf 18,8 Prozent (ohne Wien).
Zuletzt kann noch die Servicefunktion der Landtagsabgeordneten angeführt werden.
Die erwähnten älteren Studien zum Selbstbild und den Tätigkeiten einzelner Abgeord-
neter zeigten, dass die Betreuung individueller Anliegen einen großen Stellenwert ein-
nimmt (Wolfgruber 1997, 101–109). Auch eine aktuelle, 2020 durchgeführte Studie
des Austrian Democracy Lab (Perlot et al. 2020) kam zu diesem Ergebnis. Ähnliche
Befunde liegen für den Nationalrat vor (Dolezal/Müller 2001).
Tribüne
Parlamente dienen als Ort der öffentlichen politischen Auseinandersetzung. Die
Landtage haben neben den Plenardebatten dafür spezifische Instrumente wie zum Bei-
spiel Aktuelle Stunden entwickelt, bei denen aktuelle emen der Landespolitik auf
der Tagesordnung stehen. In der Praxis vollzieht sich die Tribünenfunktion jedoch über
die Medien und hierbei stehen die Landtage im Schatten der Landesregierungen, vor
allem der Landeshauptleute. Wie stark dieses mediale Ungleichgewicht ist, zeigen die
folgenden Zahlen am Beispiel Salzburgs: Im ersten Halbjahr 2021 wurde der Landes-
hauptmann in 345 Artikeln der Salzburger Nachrichten sowie der Kronenzeitung, den
zwei reichweitenstärksten Tageszeitungen, erwähnt. Die Klubvorsitzenden kamen nur
auf zehn bis 49 Artikel.2
Eine direkte Vermittlung der Tribünenfunktion ermöglichen jedoch Live-Übertra-
gungen von Plenardebatten über die Webseiten der Landtage, die es seit 2016 (Ein-
führung im Burgenland) in allen Bundesländern gibt. Vorreiter war hier Vorarlberg, wo
bereits am 01.03.2000 eine Landtagssitzung übertragen wurde.3
Gesetzgebung
Die Gesetzgebungsfunktion gilt als Kernaufgabe von Parlamenten, doch stehen die
Landtage – ähnlich wie der Nationalrat – dabei im Schatten der Regierung (Aigner
2006, 964–966). Anträge zur Gesetzgebung erfolgen entweder über Initiativanträge
beziehungsweise selbstständige Anträge der Abgeordneten, Anträge von Ausschüssen,
Regierungsvorlagen oder Anträge aufgrund eines erfolgreichen (d. h. mit der nötigen
Anzahl an Unterschriften unterstützten) Volksbegehrens. Tabelle 2 zeigt, dass kein Bun-
desland die Gesetzesinitiative als Recht einzelner Abgeordneter definiert. Marko und
Poier (2006, 946) sehen darin einen Ausdruck der Entmündigung der Landtagsabge-
2 APA-OnlineManager Library.
3 Vorarlberger Nachrichten, Premiere (02.03.2000, A5).
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221Die Länder: Landtage und Landesregierungen
ordneten. Neben der ihnen auferlegten Klubdisziplin fehlen den Abgeordneten auch
die nötigen Ressourcen, etwa ein legistischer Dienst, um der Regierung effektiv Paroli
bieten und ausgereifte Gesetzesentwürfe erstellen zu können (Fallend 2013, 87–92).
Tabelle 2 zeigt den Ablauf des Gesetzgebungsprozesses am Beispiel Salzburgs (in den
anderen Bundesländern verläuft der Prozess ähnlich).
Tab. 2 Ablauf des Gesetzgebungsprozesses (Beispiel Salzburg)
Gesetzes-
antrag
Abgeordnete Ausschuss Regierung (in Volksabstimmung be-
stätigtes) Volksbegehren
Ausschuss-
beratungen
• Zuweisung des Gesetzesantrages durch den*die Präsidenten*Präsidentin des
Landtages an den zuständigen Ausschuss
• Generaldebatte (über den Antrag als Ganzes)
• Spezialdebatte (über einzelne Bestimmungen)
• Abstimmung nach Schluss der Debatte (im Fall einer Spezialdebatte gesondert
über jeden Abschnitt)
Debatte im
Plenum
• Bericht des*der Berichterstatters*Berichterstatterin des Ausschusses mit Antrag
• gegebenenfalls: Erstattung eines Minderheitsberichts
• Generaldebatte
• Spezialdebatte (nur bei Einbringen von Abänderungs- oder Zusatzanträgen)
Gesetzesbe-
schluss
• Abstimmung über einzelne Abschnitte gemäß Spezialdebatte
• Abstimmung über gesamtes Gesetz
Beschlusser-
fordernisse
• einfaches Landesgesetz:
bei Anwesenheit der Hälfte
der Abgeordneten Beschluss
mit unbedingter Mehrheit (50
% plus 1) der abgegebenen
Stimmen
• Verfassungsgesetz:
bei Anwesenheit der Hälfte der Abgeord-
neten Beschluss mit Zweidrittelmehrheit
der abgegebenen Stimmen
Inkrafttre-
ten
• Beurkundung des verfassungsmäßigen Zustandekommens durch den*die Präsi-
denten*Präsidentin des Landtages
• Gegenzeichnung durch den*die Landeshauptmann*Landeshauptfrau
• gegebenenfalls: Zustimmung der Bundesregierung (z.B. bei Landes- oder Ge-
meindeabgaben, Aufnahme von Darlehen)
• gegebenenfalls: Volksabstimmung (bei Gesamtänderung der Landesverfassung,
bei Teiländerung auf Verlangen eines Drittels der Abgeordneten oder bei ein-
fachen Landesgesetzen, wenn der Landtag oder dessen Mehrheit dies beschließt)
• Kundmachung im Landesgesetzblatt
Stand: 01.07.2021.
Quelle: Salzburger Landesverfassung; Geschäftsordnung des Salzburger Landtages.
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Die in Tabelle 3 ausgewiesenen Zahlen zur Gesetzgebungstätigkeit in den jüngsten
GPs zeigen insgesamt große Unterschiede zwischen den Ländern. Diese Unterschiede
beziehen sich auf die Anzahl der Gesetze, aber auch auf den relativen Anteil der auf Re-
gierungsvorlagen zurückgehenden sowie der einstimmig beschlossenen Gesetze. Über
die langfristige Entwicklung der Gesetzgebungstätigkeit liegen keine österreichweiten
Daten vor, doch hat diese etwa in Wien seit 1945 zugenommen (Dolezal 2013, 60).
Kontrolle
An die Landesregierung beziehungsweise einzelne Mitglieder gestellte schriftliche
Anfragen sind das traditionellste Mittel der Kontrolle. Auffällig ist, dass dieses Kont-
rollrecht nur in fünf Ländern als individuelles Recht, als von einzelnen Abgeordneten
ausführbare Aktivität, formuliert ist. Eine zahlenmäßige Beschränkung der Anfragen
einzelner Abgeordneter kennt allein Oberösterreich (3 pro Monat).
Neben den schriftlichen Anfragen, die im Normalfall keine große Öffentlichkeit er-
halten, können Abgeordnete auch direkt Fragen an Regierungsmitglieder stellen. Sie-
ben GOs (B, K, OÖ, S, ST, T, W) nennen dafür explizit eine Fragestunde, die meist am
Beginn einer Sitzung durchgeführt wird. Anfragen sind jedoch keineswegs ein alleiniges
Mittel der Opposition. Auch Abgeordnete der Regierungsparteien stellen Anfragen,
vor allem an Regierungsmitglieder des Koalitionspartners, und üben damit eine Art
Bereichsopposition aus. Anfragen an Regierungsmitglieder der eigenen Partei dienen
dazu, deren Leistungen öffentlich darzustellen. Tabelle 3 zeigt die Anzahl der in den
letzten GPs eingebrachten Anfragen, differenziert nach deren Art. In den meisten Bun-
desländern sind dies einander ausschließende Kategorien, weshalb zusätzlich auch eine
Gesamtsumme angeführt ist.
Alle Landtage verfügen über das Recht, Untersuchungsausschüsse einzurichten. Ge-
nerell ist dies als Minderheitsrecht eingerichtet, in Oberösterreich allerdings nur dann,
wenn eine (regierende) Partei mindestens über die Hälfte der Mandate verfügt. Die
praktische Bedeutung dieses Kontrollinstruments ist jedoch – im Gegensatz zum Na-
tionalrat – gering. Seit 1998 wurden nur 25 Untersuchungsausschüsse eingesetzt.4 In
den jüngsten abgeschlossenen GPs gab es sie allein in Vorarlberg (zum ersten Mal) und
Wien.
Das schärfste Kontrollmittel sind Misstrauensanträge. Während diese grundsätzlich
als Mehrheitsrecht definiert sind, können bei Proporzregierungen (NÖ, OÖ) die Re-
gierungsmitglieder nur mit Zustimmung der eigenen Partei abgesetzt werden. Seit 1945
gab es insgesamt 109 Misstrauensanträge (Boandl 2020)5, davon allein 46 in Wien,
4 https://fachinfos.parlament.gv.at/politikfelder/parlament-und-demokratie/untersuchungs-
ausschuesse-in-den-bundeslaendern/ (31.12.2021).
5 Eine Medienrecherche bis zum 01.07.2021 führte zu keinem weiteren Treffer.
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223Die Länder: Landtage und Landesregierungen
aber nur zwei waren aufgrund der im Normalfall stabilen Mehrheiten der Regierungs-
parteien erfolgreich: 1991 wurde Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider (FPÖ) nach
seinem Lob für die Beschäftigungspolitik des NS-Regimes abgewählt, 1997 der Salz-
burger Landesrat Karl Schnell (FPÖ) wegen der Veröffentlichung vertraulicher Daten.
Während alle neun Länder über Landesrechnungshöfe verfügen, gibt es nur in Tirol
(seit 1989) und Vorarlberg (1985) auch Landesvolksanwält*innen. Mit dieser von der
Bundesebene bekannten Institution unterstreichen beide Länder ihre Eigenständigkeit.
Bürger*innenbeteiligung
Auf den wachsenden Wunsch nach mehr Mitbestimmung jenseits von Wahlen re-
agierten die Landtage mit der Einrichtung von Verfahren der Bürger*innenbeteiligung.
Davon zu unterscheiden sind die auch in den Ländern genutzten klassischen Elemente
der direkten Demokratie wie Volksabstimmungen, -befragungen und -begehren (Dole-
zal 2020) sowie extra-institutionelle Formen der Partizipation (Dolezal 2021).
Die klassische Beteiligungsform ist die Eingabe einer Petition, das heißt die mit einer
Sammlung von Unterschriften verbundene Forderung an den Landtag beziehungswei-
se die Landesregierung. Im Gegensatz zu extra-institutionellen Unterschriftensamm-
lungen, die keinen staatlichen Regelungen folgen und daher als (weiche) Form von
politischem Protest einzuordnen sind, definieren die GOs beziehungsweise Landesge-
setze spezifische Abläufe. So ermöglichen die meisten Landtage den Organisator*innen
von Petitionen die Teilnahme an deren Erörterung. In der Steiermark besteht dazu ein
Rechtsanspruch ab 100 Unterschriften, in Wien ab 500. In Oberösterreich gibt es Bür-
ger*innen-Initiativen, die, wenn sie von mindestens zwei Prozent der Wahlberechtigten
unterstützt werden, innerhalb von zwölf Wochen von der Landesregierung behandelt
werden müssen. Wird die Initiative von mehr als vier Prozent unterstützt und innerhalb
von sechs Monaten kein entsprechender Beschluss gefasst, besteht die Möglichkeit, eine
Bürger*innenbefragung zu verlangen. Praktische Relevanz haben diese 2002 eingeführ-
ten Regelungen bislang nicht. Eine weitere Möglichkeit der Beteiligung besteht in der
Form von Bürger*innengutachten, wie sie unter anderem in Oberösterreich bekannt ist.
Dabei werden – ähnlich wie im Nationalrat – Stellungnahmen zu laufenden Gesetzes-
vorhaben in die Beratung einbezogen.
Als Forum für die Artikulation von Anliegen der jüngeren Bevölkerung bestehen
schließlich von den gesetzlichen Schüler*innenvertretungen beschickte Schüler*innen-
parlamente (K, T, W) sowie Jugendlandtage (S, ST).
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224
Tab. 3 Neun Landtage im Vergleich: Regeln und Praxis der Parlamentsfunktionen
Parla-
ments-
funktion
Aspekt B K NÖ OÖ S ST T V W
LT GR
Tribüne Regel:
Einbe-
rufung
von
Sitzun-
gen
Ab-
geord-
nete
Sechs-
tel
Fünf-
tel
Viertel Viertel 4 Fünf-
tel
10 Viertel 25/Klub
Exe-
kutive
LReg LReg LReg LH/
LReg
LReg LReg LReg LReg — Bgm
Praxis: Anzahl
der Sitzungen
62 70 58 58 38 60 35 49 51 74
Praxis: Gesamt-
länge der Sitzun-
gen (Stunden)
525 524 445 590 154 511 504 522 214 766
Praxis: Anzahl
der aktuellen
Stunden
12 63 68 19 37 18 31 44 29 45
Gesetzge-
bung
Regel: Mandate
für Antragstel-
lung (%)
2
(5,6)
2
(5,6)
4
(7,1)
3
(5,4)
2
(5,6)
2
(4,2)
4
(11,1)
2
(5,6)
5
(5,0)
—
Praxis: ver-
abschiedete
Gesetze
163 132 267 160 183 146 173 112 150 —
einstimmig (%) 69,3 56,1 30,7 76,9 58,5 38,4 77,6175,0 59,3 —
Regierungsvor-
lagen (%)
89,0 87,1 69,3 72,5 97,8 70,5 92,5 82,1 56,0 —
Kontrolle
Regel: Mandate
für Anfragen (%)
1
(2,8) 2 (5,6)
1
(1,8)
2
(3,6)
2
(5,6)
2
(4,2)
1
(2,8)
1
(2,8)
1
(1)
Regel: Zeit für
Beantwortung
(Tage)2
42 61 42 61 42 61 35 21 61
Praxis: Anzahl
der Anfragen
(Gesamtsumme)
736 678 533 656 1.421 1000 995 544 515 2.737
schriftliche
Anfragen
440 382 533 377 1.013 829 913 544 320 2.291
mündliche
Anfragen
291 271 — 260 316 80 79 0 192 437
dringliche
Anfragen
5 25 — 19 92 91 3 95 3 9
Regel: Einset-
zung Unter-
suchungsaus-
schuss3
Viertel Viertel Drittel Mehr-
heit4
Vier-
tel5
Drittel 10
(28%)
3
(8%)
30
(30%)
Praxis: Anzahl
Untersuchungs-
ausschüsse3
000000012
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225Die Länder: Landtage und Landesregierungen
LT (Landtag), GR (Gemeinderat), LReg (Landesregierung), LH (Landeshauptmann*Landeshauptfrau),
Bgm (Bürgermeister*in), RH (Rechnungshof), LRH (Landesrechnungshof); Stand: 01.07.2021 bzw. letz-
te vollständige GP.
1 Bei 3 Gesetzen ließ sich das Abstimmungsergebnis nicht eruieren.
2
3
4
5 Plus einer pro Partei und GP.
6 Summe der 2016 bis 2020 behandelten Petitionen (Jahresberichte des Ausschusses).
Quelle: Landtagsdirektionen; Webseiten der Landtage; Protokolle der Landtagssitzungen; eigene Recherchen.
2.2 Landesregierungen
Während die Landtage als direkt gewählte Institutionen die größere demokratische Le-
gitimation besitzen, sind es die nur indirekt legitimierten Landesregierungen, denen die
größere realpolitische Bedeutung zukommt. Vor allem die Ausdehnung der Staatsauf-
gaben im 20. Jahrhundert hat zu einer Machtverschiebung von den Legislativen zu den
Exekutiven geführt. Dazu kommt, dass die Bundesländer in einem als zentralistisch zu
charakterisierenden Bundesstaat wie Österreich (Berka 2021, 50–55; Fallend 2006a)
ohnehin eine untergeordnete Stellung innehaben. Dies wirkt sich vor allem im Bereich
der Gesetzgebungskompetenzen der Landtage aus. Die Landesregierungen, insbesondere
die Landeshauptleute, können hingegen ihre formal eingeschränkte Position über politi-
sche Funktionen, zum Beispiel in den Führungsgremien ihrer Parteien, oder informelle
Einrichtungen, wie zum Beispiel die Landeshauptleutekonferenz, teilweise ausgleichen.
2.2.1 Organisation/Arbeitsweise
Regierungsbildung
Die Landesregierungen setzen sich aus fünf bis neun Mitgliedern zusammen. An
ihrer Spitze steht der Landeshauptmann beziehungsweise die Landeshauptfrau, der*die
Parla-
ments-
funktion
Aspekt B K NÖ OÖ S ST T V W
LT GR
Tribüne Regel:
Einbe-
rufung
von
Sitzun-
gen
Ab-
geord-
nete
Sechs-
tel
Fünf-
tel
Viertel Viertel 4 Fünf-
tel
10 Viertel 25/Klub
Exe-
kutive
LReg LReg LReg LH/
LReg
LReg LReg LReg LReg — Bgm
Praxis: Anzahl
der Sitzungen
62 70 58 58 38 60 35 49 51 74
Praxis: Gesamt-
länge der Sitzun-
gen (Stunden)
525 524 445 590 154 511 504 522 214 766
Praxis: Anzahl
der aktuellen
Stunden
12 63 68 19 37 18 31 44 29 45
Gesetzge-
bung
Regel: Mandate
für Antragstel-
lung (%)
2
(5,6)
2
(5,6)
4
(7,1)
3
(5,4)
2
(5,6)
2
(4,2)
4
(11,1)
2
(5,6)
5
(5,0)
—
Praxis: ver-
abschiedete
Gesetze
163 132 267 160 183 146 173 112 150 —
einstimmig (%) 69,3 56,1 30,7 76,9 58,5 38,4 77,6175,0 59,3 —
Regierungsvor-
lagen (%)
89,0 87,1 69,3 72,5 97,8 70,5 92,5 82,1 56,0 —
Kontrolle
Regel: Mandate
für Anfragen (%)
1
(2,8) 2 (5,6)
1
(1,8)
2
(3,6)
2
(5,6)
2
(4,2)
1
(2,8)
1
(2,8)
1
(1)
Regel: Zeit für
Beantwortung
(Tage)2
42 61 42 61 42 61 35 21 61
Praxis: Anzahl
der Anfragen
(Gesamtsumme)
736 678 533 656 1.421 1000 995 544 515 2.737
schriftliche
Anfragen
440 382 533 377 1.013 829 913 544 320 2.291
mündliche
Anfragen
291 271 — 260 316 80 79 0 192 437
dringliche
Anfragen
5 25 — 19 92 91 3 95 3 9
Regel: Einset-
zung Unter-
suchungsaus-
schuss3
Viertel Viertel Drittel Mehr-
heit4
Vier-
tel5
Drittel 10
(28%)
3
(8%)
30
(30%)
Praxis: Anzahl
Untersuchungs-
ausschüsse3
000000012
Parla-
ments-
funktion
Aspekt B K NÖ OÖ S ST T V W
LT GR
Praxis: Anzahl
Misstrauensan-
träge
1200310013
Praxis: Anzahl
Sonderprüfun-
gen RH+LRH
15 41 0 5 0 0 5 3 34
Bürger*in-
nenbetei-
ligung
Praxis: Anzahl
Petitionen
39 52 63 391 25 113 69 25 1546
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226
wiederum zwei Stellvertreter*innen hat (B und V: 1, ST: 1 oder 2). Im Gegensatz zur
Bundesregierung, die vom Bundespräsidenten beziehungsweise der Bundespräsidentin
ernannt wird, werden alle Mitglieder der Landesregierung – aufgrund einer bundesver-
fassungsrechtlichen Vorschrift (Art 101 B-VG) – von den Landtagen gewählt. Die poli-
tischen Systeme der Bundesländer sind daher genuine parlamentarische Regierungs-
systeme. Die Regierungsmitglieder werden einzeln oder aufgrund eines gemeinsamen
Parteienvorschlags gewählt, in der Regel in geheimer Abstimmung (siehe Tab. 4).
Nach welchem System die Wahl der Landesregierung erfolgt – ob Mehrheitswahl
(Majorz) oder Verhältniswahl (Proporz) –, bestimmen die Landesverfassungen. Mit Aus-
nahme von Vorarlberg und Wien entschieden sich alle Länder in den Gründungsjahren
der Ersten Republik für das Modell der Proporzregierung und übernahmen dieses nach
1945 auch in die Zweite Republik. In Proporzsystemen steht die Zusammensetzung der
Landesregierung in der Regel bereits mit dem Ergebnis der Landtagswahl fest. Alle Par-
teien ab einer gewissen Stärke, die sich aus dem Verhältnis der Landtagsmandate zu den
zu besetzenden Regierungssitzen ergibt, haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch
auf Regierungsbeteiligung. Keine anspruchsberechtigte Partei kann in diesem System
von den übrigen Parteien aus der Landesregierung geworfen werden, und noch nie hat
eine Partei von sich aus auf diesen Anspruch verzichtet (Fallend 2006b, 976–978). Seit
der Jahrtausendwende haben jedoch fünf der ursprünglich sieben Länder das Proporz-
durch ein Mehrheitsmodell frei gebildeter Koalitionsregierungen ersetzt: Salzburg und
Tirol (ab 1999), Burgenland und Steiermark (2015) sowie Kärnten (2018). Somit be-
stehen Proporzregierungen nur mehr in Nieder- und Oberösterreich. Von der in beiden
Ländern dominierenden ÖVP gab es zwar Initiativen, das Proporzmodell zu beseitigen,
doch scheiterten diese am Widerstand von SPÖ und FPÖ. Beide Parteien befürchteten
offenbar, aus der Landesregierung gedrängt zu werden (Fallend 2015, 290f.).
Da sich bei Proporzregierungen die Regierungsparteien ihre Partner nicht frei aus-
suchen können, besteht die Gefahr, dass Parteien zur Zusammenarbeit genötigt werden,
die nicht gut miteinander können. Wenn kein gemeinsames Regierungsprogramm zu-
stande kommt, behelfen sich die „koalitionswilligen“ Parteien deswegen öfters mit der
Bildung einer Koalition innerhalb der Koalition. Zuletzt geschah dies 2015 in Ober-
österreich (ÖVP und FPÖ gegen GRÜNE und SPÖ). In Niederösterreich wiederum
beschloss die ÖVP 2018 jeweils ein eigenes Arbeitsprogramm mit den mitregierenden
Parteien SPÖ und FPÖ. Die Programme blieben zunächst geheim und wurden erst
nach medialer Kritik veröffentlicht.6
Mehrheitsregierungen stellen demgegenüber in einem parlamentarischen Regie-
rungssystem die verständlichere Konstruktion dar. In Vorarlberg beschloss die Christ-
6 Der Standard Online-Ausgabe (2018). Niederösterreich legt Arbeitsprogramm doch offen,
https://www.derstandard.at/story/2000077836216/niederoesterreich-legt-arbeitsprogramm-
doch-offen (12.07.2022).
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227Die Länder: Landtage und Landesregierungen
lich-Soziale Partei mithilfe ihrer Zweidrittelmehrheit 1923 ein Landes-Verfassungsge-
setz, mit dem ein solches Modell eingeführt wurde (Brandtner et al. 1992, 552). Wien
stellt – als Land und Gemeinde zugleich – einen Sonderfall dar. Gemäß Artikel 117
Absatz 5 B-VG haben alle im Gemeinderat (Landtag) vertretenen Parteien auch An-
spruch auf Vertretung im Stadtsenat (Landesregierung). Die 1920 beschlossene Wiener
Stadtverfassung (§ 36) sieht jedoch vor, dass der Gemeinderat mit Mehrheit amtsfüh-
rende Stadträt*innen wählt und diesen die Leitung der Geschäftsgruppen des Magis-
trats überträgt. Im Gegensatz dazu leiten Stadträt*innen kein Ressort, weshalb sie im
politisch-medialen Sprachgebrauch als nicht-amtsführende Stadträt*innen bezeichnet
werden. Formal wird damit das Proporzgebot eingehalten, faktisch besteht jedoch auch
in Wien eine seit Beginn der Ersten Republik von der Sozialdemokratischen Arbeiter-
partei Österreichs (SDAP) beziehungsweise der SPÖ dominierte Mehrheitsregierung.
Auf der subnationalen Ebene frei gebildete Koalitionsregierungen sind auch aus
nationaler Perspektive interessant, können sie doch als Versuchsstationen für künfti-
ge Regierungen dienen (Downs 1998, 221–266). So dürfte die 2019 erfolgte Bildung
einer Bundesregierung aus ÖVP und GRÜNEN durch die schon länger bestehende
Zusammenarbeit zwischen diesen Parteien in Salzburg, Tirol (jeweils seit 2013) und
Vorarlberg (seit 2014) erleichtert worden sein.
Das Vorrecht der stärksten Partei auf die Position des Landeshauptmanns bezie-
hungsweise der Landeshauptfrau wird selten in Frage gestellt. Verfehlt die stärkste Partei
die absolute Mehrheit, ist sie in der Regel gezwungen, den übrigen Regierungsparteien
bei der Ressortverteilung oder bei Postenbesetzungen im Amt der Landesregierung oder
in Landesbetrieben entgegenzukommen. Im Zuge der Ressortverteilung können die
jeweiligen Einflusssphären der Regierungsparteien noch feiner austariert werden, in-
dem zum Beispiel eine bei der Landtagswahl siegreiche Partei eine Vergrößerung, eine
unterlegene Partei hingegen eine Verkleinerung ihrer Ressortbereiche erwarten kann
(Fallend 2006b, 977 f.).
Rolle der Landeshauptleute
Die eindeutige Führungsposition innerhalb der Landesregierungen kommt den Lan-
deshauptleuten zu (Fallend 2006b, 979–981). Formal sind sie nur Vorsitzende der Lan-
desregierung, nicht Vorgesetzte der übrigen Regierungsmitglieder, und können diesen
keine Weisungen erteilen. Als Vorstände des Amtes der Landesregierung, des einheit-
lichen Verwaltungsapparates auf Landesebene, und mithilfe der ihnen unterstehenden
Landesamtsdirektor*innen, die für die Einheitlichkeit der Geschäftsführung zu sorgen
haben, üben sie jedoch erheblichen Einfluss auf die Vorbereitung von Regierungsent-
scheidungen aus. Das Letztentscheidungsrecht des ressortzuständigen Regierungsmit-
glieds bzw. des Kollegiums der Landesregierung bleibt davon jedoch unberührt. Als
Sprecher*innen der Landesregierung nach außen und in der Regel auch Parteivorsitzen-
de der stärksten Regierungspartei stehen sie, wie oben erwähnt, außerdem im Zentrum
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228
des medialen Interesses, was ihr politisches Gewicht zusätzlich stärkt. Dazu kommt ihre
zentrale Rolle im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung (siehe dazu Bußjäger/
Eller in diesem Band).
Aufbauend auf dieser Machtfülle und mithilfe geschickter medialer Kommunika-
tion inszenierten sich viele Landeshauptleute erfolgreich als Landesväter beziehungs-
weise Landesmütter. In den Medien wurden insbesondere langjährige Landeshauptleute
wie Heinrich Gleißner (OÖ, 1945–1971, ÖVP), Josef Krainer sen. (ST, 1948–1971,
ÖVP), Eduard Wallnöfer (T, 1963–1987, ÖVP), Erwin Pröll (NÖ, 1992–2017, ÖVP)
oder Michael Häupl (W, 1994–2018, SPÖ) daher häufig als Landesfürsten tituliert.
Entscheidungsfindung in der Landesregierung
Die politischen Entscheidungen werden entweder vom Kollegium der Landesregie-
rung (Kollegialprinzip) oder von den einzelnen Regierungsmitgliedern in ihrem Zu-
ständigkeitsbereich (Ressortprinzip) getroffen. Dem Kollegium vorbehalten sind in der
Regel die politisch bedeutsameren Angelegenheiten, wie zum Beispiel Gesetzesvorla-
gen an den Landtag, größere finanzielle Ausgaben oder die Ernennung von leitenden
Beamt*innen (Fallend 2006b, 985). Die Regierungssitzungen sind nichtöffentlich und
vertraulich. An ihnen nehmen in der Regel auch Spitzenbeamt*innen, wie insbesondere
die Landesamtsdirektor*innen, mit beratender Stimme teil.
In Salzburg, der Steiermark und Tirol entscheidet die Landesregierung in kollegia-
len Angelegenheiten einstimmig, in den übrigen Ländern mit Mehrheit. Die Ermög-
lichung von Mehrheitsentscheidungen kann mit dem Wunsch vor allem der stärksten
Partei nach größerer Effizienz bei Entscheidungen verbunden werden. Demgegenüber
haben kleinere Parteien oft Sorge, in der Regierung überstimmt zu werden – weshalb es
in den drei genannten Ländern die jeweiligen Minderheitsparteien waren, die auf dem
Einstimmigkeitsprinzip beharrten. Die in Tabelle 4 enthaltenen Angaben zur Trans-
parenz der Entscheidungen zeigen, dass nur vier Länder Protokolle der Regierungssit-
zungen öffentlich über die Webseite des Landes zugänglich machen. Das individuelle
Stimmverhalten der Regierungsmitglieder beziehungsweise -parteien wird sogar nur in
Wien veröffentlicht.
Aufgrund der Tatsache, dass die Kompetenzen der Länder beschränkt sind, ist das
Konfliktniveau in den Landesregierungen generell eher gering. Politische Tauschgeschäf-
te, bei denen gleichzeitig über mehrere Angelegenheiten abgestimmt wird (Junktims),
zwischen den Parteien proporzmäßig aufgeteilte Postenbesetzungen oder Fördergelder
sowie die Verlängerung der Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse sind häufig ein-
gesetzte Mechanismen, um konsensuale Entscheidungen zu erreichen. Schließlich trägt
die Tatsache, dass konflikthaltige Materien erst gar nicht auf die Tagesordnung von Re-
gierungssitzungen gesetzt werden, dazu bei, dass der Anteil der einstimmig getroffenen
Entscheidungen sehr hoch ausfällt (Fallend 2006b, 979 und 986). Das gilt auch für die
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229Die Länder: Landtage und Landesregierungen
beiden Länder mit Proporzregierung (NÖ und OÖ), wo noch am ehesten ein höhe-
rer Anteil mehrheitlicher Beschlüsse zu erwarten gewesen wäre. Tatsächlich wurden in
Oberösterreich 2019 von 2.689 eingebrachten Anträgen 2.632 einstimmig beschlossen
(97,9 %; OÖ Landeskorrespondenz 2019), in Niederösterreich 2020 1.406 von 1.419
Beschlüssen (99,1 %; NÖ Landesregierung 2021).
Tab. 4 Landesregierungen und -hauptleute: Entwicklung seit 1945 und aktuelle Situation
Landesre-
gierungen
B K NÖ OÖ S ST T V W
Mehr-
heitsre-
gierungen
seit
2015 2018 Proporz Proporz 1999 2015 1999 1945119453
Wahlmo-
dus
kollektiv/geheim
kollektiv/geheim
individuell/geheim
individuell/geheim
individuell/offen
kollektiv/geheim
kollektiv/geheim
individuell2/geheim
individuell/geheim
Größe
(inkl. LH)
5799788784
Frauen-
anteil
40% 29% 33% 22% 29% 50% 50% 43% 38%4
Parteien SPÖ SPÖ-
ÖVP
ÖVP-
SPÖ-
FPÖ
ÖVP-
FPÖ
(SPÖ-
GRÜ-
NE)5
ÖVP-
GRÜNE-
NEOS
ÖVP-
SPÖ
ÖVP-
GRÜNE
ÖVP-
GRÜNE
SPÖ-
NEOS
Sitzungen:
Frequenz
14-tägig 14-tägig wö-
chent-
lich
wö-
chent-
lich
nach Be-
darf (ca.
14-tägig)
wö-
chent-
lich
wö-
chent-
lich
wö-
chent-
lich
monat-
lich
Entschei-
dungsmo-
dus
Mehr-
heit
Mehr-
heit
Mehr-
heit
Mehr-
heit
Einstim-
mig
Einstim-
mig
Einstim-
mig
Mehr-
heit
Mehr-
heit6
Trans-
parenz:
Protokolle
Nein Ja Ja Nein Nein Nein Ja Nein Ja
Trans-
parenz:
Stimmver-
halten
Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Nein Ja
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230
Landesre-
gierungen
B K NÖ OÖ S ST T V W
Landes-
haupt-
leute
Parteizu-
gehörig-
keit
1945–
1964:
ÖVP
1945–
1989:
SPÖ
seit
1945:
ÖVP
seit
1945:
ÖVP
1945–
2004:
ÖVP
1945–
2005:
ÖVP
seit
1945:
ÖVP
seit
1945:
ÖVP
seit
1945:
SPÖ
seit
1964:
SPÖ
1989–
1991:
FPÖ
1991–
1999:
ÖVP
1999–
2013:
FPÖ/
BZÖ
2004–
2013:
SPÖ
2005–
2015:
SPÖ
seit
2013:
SPÖ
seit
2013:
ÖVP
seit
2015:
ÖVP
Anzahl
(Frauen)
9 (0) 9 (0) 7 (1) 5 (0) 9 (1) 7 (1) 8 (0) 5 (0) 8 (0)
mittlere
Amtsdau-
er (Jahre)
8,4 8,4710,8 15,1 8,4 10,8 9,4 15,1 9,4
Amtsin-
haber*in
(Partei)
Hans
Peter
Doskozil
(SPÖ)
Peter
Kaiser
(SPÖ)
Johanna
Mikl-
Leitner
(ÖVP)
omas
Stelzer
(ÖVP)
Wilfried
Haslauer
(ÖVP)
Hermann
Schüt-
zenhöfer
(ÖVP)
Günther
Platter
(ÖVP)
Markus
Wallner
(ÖVP)
Michael
Ludwig
(SPÖ)
Stand: 01.07.2021.
1 Freiwillige Koalitionen der ÖVP mit der SPÖ (1945–1974) und FPÖ (VdU) (1949–1999, 2004–2009).
2 Die Landesrät*innen werden auf einem Stimmzettel gewählt, doch sind Streichungen möglich, wes-
halb individuelle Ergebnisse vorliegen.
3 1946–1949 Allparteienregierung SPÖ-ÖVP-KPÖ, 1949–1973 freiwillige Koalition der SPÖ mit der ÖVP.
4 Nur Bürgermeister*innen und amtsführende Stadträt*innen.
5 De-facto Koalition von ÖVP und FPÖ.
6 Die amtsführenden Stadträt*innen sowie der*die Bürgermeister*in stimmen jedoch einstimmig ab.
7 Die beiden Amtszeiten Jörg Haiders (K: 1989–1991, 1999–2008) sind zusammengefasst.
2.2.2 Funktionen
Die zentrale Funktion der Landesregierungen besteht in der politischen Führung. Ihre
Ziele und Handlungen werden von vielfältigen Interaktionen in einem komplexen
Netzwerk mit anderen Institutionen und politischen Akteur*innen bestimmt. Dazu
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231Die Länder: Landtage und Landesregierungen
zählen insbesondere die Landesverwaltung, der Landtag und dessen Klubs, die politi-
schen Parteien, Interessengruppen sowie die Medien.
Gegenüber den Bediensteten im Amt der Landesregierung üben die Regierung be-
ziehungsweise deren Mitglieder ihre politische Führungsrolle aus, indem sie ihre Orga-
nisationsgewalt und personalpolitischen Möglichkeiten nutzen sowie politische Büros
mit parteinahen Mitarbeiter*innen einrichten. Detaillierte politische Zielvorgaben und
Weisungen dürften hingegen eher selten vorkommen (Fallend 2006b, 984). Im Verhält-
nis zum Landtag dominiert klar die Landesregierung. Fehlende Ressourcen und eine
hohe Fraktionsdisziplin der Abgeordneten sorgen dafür, dass die „Herrschenden wohl
manches zu ‚scheuen‘ haben mögen, aber sicher nicht ihre Parlamente“ (Wielinger/
Spreitzhofer 1992, 472).
Zwischen den Führungspositionen in der Landesregierung und den politischen Par-
teien besteht in der Regel eine Personalunion. Die tägliche praktische Arbeit in den
Ressorts und der Zwang zur ständigen Kompromissfindung sorgen allerdings dafür,
dass die Regierungsmitglieder ausgeprägte Parteiziele im Lauf der Zeit mäßigen. In-
teressengruppen versuchen besonders im Rahmen der Begutachtung von Regierungs-
vorlagen, Einfluss auszuüben. Darüber hinaus pflegen sie auch informelle Kontakte
mit Regierungsmitgliedern. In den letzten Jahrzehnten sind auch die Medien zu einem
Machtfaktor aufgestiegen, den die Landesregierungen nur schwer ignorieren können
– wiewohl viele Regierungsmitglieder ihnen wegen ihrer vermeintlichen Skandal- und
Konfliktorientierung mit einer skeptischen Grundhaltung begegnen (Fallend 2006b,
986–988).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Abschnitt 2. zeigte die gegenwärtige Situation und ging nur punktuell auf die Ent-
wicklung der beiden Institutionen ein. Abschnitt 3. widmet sich nun drei Aspekten, bei
denen eine zum Teil große Veränderung über Zeit gezeigt werden kann: der Transfor-
mation fast aller Regierungssysteme von Proporz- zu Mehrheitssystemen, dem schritt-
weisen Ausbau der Rechte der Landtage und schließlich der Rolle der Frauen.
3.1 Veränderungen im Regierungssystem
Das System der Proporzregierung, das in allen Bundesländern mit Ausnahme von Vor-
arlberg und Wien lange Zeit die Landespolitik prägte, geriet seit Mitte der 1990er-
Jahre zunehmend in die wissenschaftliche, mediale und politische Kritik. Für die von
Konflikten geprägte Zwischenkriegszeit und die Wiederaufbauphase nach 1945 war es
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232
durchaus funktional gewesen. Mittlerweile standen sich aber nicht mehr unversöhn-
liche politische Lager gegenüber, die eine Zusammenarbeit der Eliten erforderten. Die
Demokratie war gefestigt und konnte durchaus mehr Wettbewerb vertragen. Außerdem
wünschten sich die Bürger*innen eine klarere Rollenverteilung zwischen Regierung und
Opposition sowie eine effektivere Kontrolle. Dem Proporzsystem wurde außerdem an-
gekreidet, dass in einigen Ländern zeitweise alle Parteien zugleich in der Regierung ver-
treten waren und es somit keine echte Opposition gab (Dachs 1995).
Die Abschaffung der Proporzregierungen hatte jedoch nicht nur demokratiepoli-
tische, sondern auch partei- beziehungsweise machtpolitische Gründe. Seit der Wahl
Jörg Haiders zum FPÖ-Vorsitzenden 1986 und der nachfolgenden Transformation
der Partei in eine systemkritische, rechtspopulistische Partei war das Konfliktniveau
in den Landesregierungen deutlich gestiegen. Aufgrund ihrer Wahlerfolge konnte die
FPÖ ihre Regierungssitze ausbauen, während sie zugleich – so der Vorwurf ihrer Ko-
alitionspartner – wie eine Oppositionspartei agierte, also ein Doppelspiel betrieb. Bei
den Verfassungsreformen, mit denen in Salzburg und Tirol die Proporzregierungen ab-
geschafft wurden, spielte dieses Motiv für ÖVP und SPÖ eine tragende Rolle (siehe z.B.
für Salzburg Fallend 2013, 62–67). Die FPÖ, die häufig gegen den Proporz (zwischen
ÖVP und SPÖ) gewettert hatte, befand sich in der Zwickmühle, wollte sie doch nicht
aus den Landesregierungen hinausgedrängt werden. Dementsprechend uneinheitlich
war ihr Abstimmungsverhalten bei den Reformbeschlüssen: Während ihre Abgeord-
neten in Salzburg und Tirol 1998 und in der Steiermark 2011 die Abschaffung der
Proporzregierung (mehrheitlich) unterstützten, stimmten sie im Burgenland 2014 und
in Kärnten 2017 (mehrheitlich) dagegen.
Die neu eröffnete Flexibilität bei der Regierungsbildung wurde jedoch lange nicht
genutzt. In Salzburg wie in Tirol dauerte es 15 Jahre, bis andere als ÖVP-SPÖ-Ko-
alitionen gebildet wurden, obwohl solche rechnerisch möglich gewesen wären. 2013
erfolgte dann die Bildung einer Koalition aus ÖVP, GRÜNEN und TEAM STRO-
NACH in Salzburg, während sich in Tirol ÖVP und GRÜNE zusammentaten (Fallend
2015, 282). Dass die neuen Mehrheitsregierungen zu mehr politischem Wettbewerb
führen würden, erwies sich jedoch als trügerische Hoffnung. Der frühere Salzburger
SPÖ-Klubvorsitzende und Zweite Präsident des Landtags Walter aler beschrieb ein-
dringlich, wie sich die beiden Regierungsparteien ÖVP und SPÖ nach 1999 durch
strikte Arbeitsübereinkommen und einen allmächtigen Koalitionsausschuss noch stär-
ker als zuvor aneinanderbanden. Seine Hauptaufgabe als Klubvorsitzender habe darin
bestanden, seiner eigenen Fraktion die Ansichten des Koalitionspartners zu erläutern,
wobei die Fraktionsdisziplin „oft ins Unerträgliche gesteigert“ werden musste (aler
2006, 116 und 121).
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233Die Länder: Landtage und Landesregierungen
3.2 Veränderungen im Verhältnis Landtag – Landesregierung
Im Verhältnis zwischen den beiden Institutionen dominieren, wie dargestellt, schon
aufgrund ihrer Überlegenheit an personellen und finanziellen Ressourcen eindeutig die
Landesregierungen. Ähnlich wie beim Nationalrat ist jedoch auch bei den Landtagen
festzustellen, dass ihre Rolle innerhalb der politischen Systeme der Länder im Laufe der
Zweiten Republik langsam, aber doch gestärkt wurde. Das kann am Beispiel Salzburgs
veranschaulicht werden:
1962 wurde die Fragestunde eingeführt, 1974 kam das Recht des Landtages hinzu,
Untersuchungsausschüsse einzusetzen, und seit 1988 hat er auch die Möglichkeit, En-
quetekommissionen zu veranstalten, zu denen Expert*innen geladen werden (Fallend
2018, 239). Stärker genutzt wurde diese Einrichtung jedoch nur in den ersten Jah-
ren. Als Begleitmaßnahme zur Abschaffung des Regierungsproporzes wurden 1998 die
Kontrollrechte der Landtagsminderheit gestärkt: Seither kann zum Beispiel ein Viertel
der Abgeordneten die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durchsetzen (Fallend
2013, 96 f.). Um die Landtagsarbeit mehr in die Öffentlichkeit zu tragen, werden in
Salzburg seit 1999 auch Ausschusssitzungen in Bild und Ton in einen frei zugänglichen
Raum übertragen – die Medien wie auch die Salzburger*innen nutzen diese Informa-
tionsmöglichkeit allerdings kaum (Mittermayr 2009, 83–86). Seit 2012 werden die
Sitzungen auch online übertragen (Salzburger Landeskorrespondenz 2013).
3.3 Frauen in Landtagen und Landesregierungen
Fragen der deskriptiven Repräsentation werden aktuell vor allem im Zusammenhang
mit der Vertretung von Menschen mit Migrationshintergrund gestellt. In einer Lang-
zeitperspektive ist jedoch vor allem die ungleiche Vertretung von Frauen und Männern
ein ema der politischen Auseinandersetzung.
Für die nachfolgende Analyse wurde bei den Landtagen die personelle Zusammen-
setzung am Beginn jeder GP erhoben, konkret am Ende der konstituierenden Sitzung,
wenn nach erfolgter Wahl der Regierungsmitglieder7 und Bundesrät*innen die Abge-
ordneten feststanden. Auch bei den Landesregierungen wurde stets der Beginn einer
GP als Beobachtungszeitpunkt gewählt. Abbildung 1 zeigt die jährlichen Mittelwerte
sowie die Minima und Maxima der neun Länder, wobei die am Beginn der GPs ermit-
telten Werte für den gesamten Zeitraum bis zur nächsten Wahl übernommen wurden.
Die Kurvenverläufe zeigen einen starken Anstieg bei der Vertretung von Frauen vor
allem seit den 1990er-Jahren, doch wurde ein der Bevölkerung entsprechender Wert
7 Die Wahl erfolgte in 123 von 148 Fällen am (ersten) Tag der konstituierenden Sitzung.
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von (rund) 50 Prozent bislang in keinem Landtag und nur in zwei Landesregierungen
(ST 2019, T 2018) erreicht.
Abb. 1 Landtage und Landesregierungen: Vertretung von Frauen seit 1945 (Prozentwerte)
Quelle: Sitzungsprotokolle der Landtage bzw. Österreichischer Amtskalender.
Ein näherer Blick auf die Daten zu den insgesamt 7.162 Abgeordneten (genauer: An-
gelobungen) zeigt große Unterschiede zwischen den Parteien. Insgesamt beträgt der
Frauenanteil bei den GRÜNEN 51,1 Prozent, bei LIF/NEOS 43,6. Deutlich geringer
sind die Anteile bei den traditionellen Parteien (SPÖ 19,0 %; FPÖ8 14,0 %; ÖVP
10,2 %) und den übrigen Parteien (13,5 %). Eine solche Darstellung vernachlässigt
jedoch die zeitliche Entwicklung sowie regionale Unterschiede. Ergebnisse einer multi-
variaten Analyse (Regression) zeigen, dass die typischen Frauenanteile bei der SPÖ (+7
%), den GRÜNEN (+28 %) und LIF/NEOS (+15 %) signifikant höher, bei der FPÖ
(-3 %) etwas geringer ausfallen als bei der ÖVP, wenn der Faktor Zeit und das Bundes-
land berücksichtigt werden.
Angesichts ihrer stärker gewordenen Vertretung stellt sich die Frage, inwieweit Frau-
en auch Führungspositionen in den Landtagen einnehmen. Aktuell sind 35,9 Prozent
der Abgeordneten weiblich. In den Landtagspräsidien und bei den Vorsitzenden des
Wiener Gemeinderats ist ihr Anteil höher (46,7 %), bei den Fraktions- (21,4 %) und
Ausschussvorsitzenden (30,4 %) niedriger. Die geschlechtsspezifische Verteilung der
8 Einschließlich VdU, FW, BZÖ.
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235Die Länder: Landtage und Landesregierungen
Abgeordneten in den Ausschüssen zeigt, dass Frauen in den meisten Ländern die höchs-
ten Anteile in den Bereichen Sozial- und Bildungspolitik aufweisen und sich somit auf
traditionell als weiblich konnotierte emen spezialisieren.
Landesregierungen ohne weibliche Mitglieder waren bis in die 1980er-Jahre die
Regel, zuletzt gab es dies nur mehr in Oberösterreich, weshalb die nach der Land-
tagswahl 2015 erfolgte Regierungsbildung auf heftige Kritik stieß.9 An der Spitze der
Landesregierungen sind Frauen die Ausnahme geblieben: Mit Waltraud Klasnic (ST,
1996–2005, ÖVP), Gabi Burgstaller (S, 2004–2013, SPÖ) und Johanna Mikl-Leitner
(NÖ, seit 2017, ÖVP) gab es bislang nur drei Landeshauptfrauen.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Vergleichende Studien zu subnationalen Regierungen und Parlamenten sind selten. Ab-
schnitt 4. vergleicht die drei klassischen föderalen Staaten Mitteleuropas, das heißt Ös-
terreich, Deutschland und die Schweiz. Neben institutionellen Merkmalen wird auch
die parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen sowie die Vertretung der Frau-
en in den Legislativen und Exekutiven verglichen (siehe Tab. 5).
Die ausgewiesenen Merkmale zeigen sowohl Unterschiede innerhalb der Länder – ab-
lesbar an den Minima und Maxima – als auch zwischen diesen. Die GPs der österreichi-
schen Landtage entsprechen den deutschen, die minimale Differenz bei den Mittelwerten
geht auf je eine Ausnahme (OÖ 6, Bremen 4 Jahre) zurück. In der Schweiz beträgt die
typische GP hingegen nur vier Jahre. Österreich weist in Summe die wenigsten Abge-
ordneten auf und hat auch die im Durchschnitt kleinsten Parlamente. Setzt man deren
Größe in Bezug zu den Einwohner*innen beziehungsweise Wahlberechtigten, liegen die
österreichischen Werte unter denen Deutschlands. Noch deutlich kleiner sind die Werte
in der Schweiz, wo in Appenzell Innerrhoden sogar nur 239 Wahlberechtigte auf ein Mit-
glied des Parlaments kommen. Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland folgt die
Schweiz aber weitgehend einem Milizsystem, in dem die (subnationalen) Abgeordneten
ihre politische Tätigkeit in der Freizeit ausüben und nur eine geringe finanzielle Entschä-
digung erhalten.
Der größte institutionelle Unterschied zwischen den drei Ländern besteht bei der
Wahl der Regierungen: In Deutschland werden, wie in Österreich, die Regierungsmit-
9 Kronen Zeitung [OÖ] (2015). Land Oberösterreich am Weg in die Top-Liga der Männer-
bünde!; Oberösterreichische Nachrichten (2015). Eine Regierung ohne Frauen: „Der Schaden
für die Politik ist nachhaltig“, https://www.nachrichten.at/archivierte-artikel/wahl2015/Ei-
ne-Regierung-ohne-Frauen-Der-Schaden-fuer-die-Politik-ist-nachhaltig;art174240,2009644
(12.07.2022)
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Tab. 5 Landesparlamente und -regierungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz
Österreich
(9 Bundeslän-
der)
Deutschland
(16 Bundeslän-
der)
Schweiz
(26 Kantone)
GPs (Jahre) Min–Max 5–6 4–5 4–5
MW 5,1 4,9 4,2
Größe der Parla-
mente
Min–Max 36–100 51–205 50–180
MW 48,9 118,1 99,8
Gesamtzahl der Abgeordneten 440 1.889 2.594
Einwohner*innen
pro Mandat
Min–Max 8.223–30.197 8.097–90.078 323–8.552
MW 19.302 38.001 2.718
Wahlberechtigte pro
Mandat1
Min–Max 6.949–24.756 5.661–66.155 239–5.249
MW 14.203 28.459 1.730
Größe der Regie-
rungen
Min–Max 5–9 8–15 5–7
MW 7,6 11,0 5,9
Regierungsbeteiligungen
Kommunisten/Linkssozialisten20 3 0
Sozialdemokraten36 11 20
Grüne44 11 7
Liberale52 3 25
Christdemokraten/Konservative67 11 22
Rechtspopulisten72 0 19
sonstige80 1 4
Frauenanteil Parla-
mente (%)
Min–Max 25–44 24–44 9–58
MW 34,7 31,2 30,7
Frauenanteil Regie-
rungen (%)
Min–Max 22–50 23–67 0–71
MW 37,1 40,5 25,8
1 Schweiz: Wahlberechtigte bei der Nationalratswahl 2019.
2 Parteien: —/LINKE/—.
3 SPÖ/SPD/SP.
4
5
6 ÖVP/CDU, CSU/CVP, CSP, BDP.
7
8 —/FW/v.a. Parteilose.
Quelle: Österreich (siehe Abschnitt 2.); Deutschland: Bundeswahlleiter, Statistisches Bundesamt, Lan-
deszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Websites der Landesregierungen; Schweiz:
Bundesamt für Statistik.
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237Die Länder: Landtage und Landesregierungen
glieder oder zumindest die Ministerpräsident*innen von den Landtagen gewählt. In der
Schweiz werden alle Regierungsmitglieder direkt gewählt, in den meisten Kantonen
über ein Mehrheitswahlrecht und in Appenzell Innerrhoden sogar durch die versam-
melte wahlberechtigte Bevölkerung (Landsgemeinde). Sowohl die Exekutive als auch
die Legislative verfügen daher, wie in präsidentiellen Regierungssystemen, über eine di-
rekte, voneinander unabhängige Legitimation. Den Regierungsspitzen, in der Deutsch-
schweiz häufig Regierungspräsident*in genannt, kommt in den meisten Kantonen nur
eine koordinierende Rolle zu. Sie sind deutlich schwächer als die Landeshauptleute
beziehungsweise Ministerpräsident*innen.
Bei der Vertretung der Parteienfamilien in den Regierungen fällt vor allem die aktuell
starke Position der deutschen GRÜNEN auf. Mit elf von 16 Ländern sind sie in ebenso
vielen Exekutiven vertreten wie die Sozialdemokraten und Christdemokraten/Konser-
vativen. In der Schweiz dominieren hingegen die traditionellen Parteienfamilien, wobei
die Liberalen bis auf Appenzell Innerrhoden in allen Exekutiven vertreten sind. Dazu
kommt eine starke Stellung der Rechtspopulisten.
Die Rolle der Frauen wird neben der politischen Kultur auch von institutionellen
Regeln beeinflusst, so führen etwa Mehrheitswahlen häufig zu einer schwächeren Ver-
tretung (Norris 2004, 187). Tatsächlich ist der Frauenanteil in den Schweizer Regie-
rungen am geringsten. Bei den Parlamenten, die in allen drei Ländern – von wenigen
Ausnahmen in einzelnen Schweizer Kantonen abgesehen – über Systeme der Verhält-
niswahl bestimmt werden, weisen die österreichischen Landtage im Mittel den höchs-
ten Wert auf, doch sind die Unterschiede gering.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Die Betrachtung der österreichischen Landtage und Landesregierungen zeigte eine Rei-
he typischer institutioneller Merkmale, aber auch länderspezifische Unterschiede. Die
Landtage stellen Arbeitsparlamente dar, in denen wesentliche Entscheidungen in den
Klubs der politischen Parteien und spezialisierten Ausschüssen vorbereitet beziehungs-
weise getroffen werden. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich gesellschaftliche Verände-
rungen in der inneren Struktur und Arbeit der Landtage niedergeschlagen, wie zum
Beispiel an der erhöhten Repräsentation von Frauen oder der steigenden Bedeutung
der Bürger*innen-Mitbestimmung ersichtlich wird. In der Ausübung ihrer Funktionen
stehen die Landtage aber nach wie vor im Schatten der Landesregierungen, die über
deutlich größere Ressourcen verfügen. Damit üben sie auch erheblichen Einfluss auf
die zentrale Funktion der Landtage, die Gesetzgebung, aus. Bei den Landesregierungen
besteht auch der wichtigste Unterschied zwischen den Ländern: Bis 1998 wurden die
Regierungen in sieben von neun Ländern (bis auf V und W) nach dem Proporzsystem
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gebildet. Nach dessen weitgehender Abschaffung folgen heute nur mehr zwei Länder
(NÖ und OÖ) diesem Modell.
Die Landtage sowie die Landesregierungen und die Landeshauptleute genießen in
der Bevölkerung breite Unterstützung: In einer Umfrage des Austrian Democracy Lab
(Perlot et al. 2019) stimmten siebzig Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die
Landtage ein sehr wichtiger Bestandteil der Politik und Demokratie in Österreich seien.
67 Prozent unterstützten die Aussage, dass die Landeshauptleute ein wichtiges Gegen-
gewicht zur Bundesregierung darstellen. Ergebnisse des APA/OGM Vertrauensindexes
zeigen, dass der (eigenen) Landesregierung mehr vertraut wird als der Bundesregierung.
10
Die Bundesländer verfügen allerdings nur über eingeschränkte Kompetenzen, weshalb
sich ihre zentralen Institutionen immer wieder kritischen Fragen nach ihrer Legitima-
tion und Effizienz stellen müssen. Dass die Landtage öfters Resolutionen beschließen, in
denen sie die Landesregierung auffordern, in Angelegenheiten tätig zu werden, für die
die Länder gar nicht zuständig sind, kann als Indiz für fundamentalere Konstruktions-
fehler des föderalen Systems gelten (siehe dazu Bußjäger/Eller in diesem Band).
Es ist es daher nicht verwunderlich, dass gelegentlich radikale Reformideen geäußert
werden. Der frühere NEOS-Vorsitzende Matthias Strolz schlug etwa vor, die Landtage
abzuschaffen, wenn die Länder nicht bereit wären, mehr Steuerverantwortung zu über-
nehmen.11 Gleichzeitig kritisierte er den großen Einfluss der Landeshauptleute, die er
gar als „Fürsten der Finsternis“ bezeichnete.12 Auch in den Ländern selbst finden sich
nicht nur Befürworter*innen des bestehenden Systems. So nahm etwa der frühere stei-
rische Landesrat Gerhard Hirschmann (ÖVP) die Kompetenzverluste der Länder in-
folge des EU-Beitritts zum Anlass für seine Forderung, die Landtage abzuschaffen und
die Länder in drei Großregionen zusammenzufassen (Institut für Föderalismus 1998,
27 f.). Wenig überraschend stießen solche Ideen bei anderen Landespolitiker*innen auf
vehemente Ablehnung.
Die meisten Reformideen gingen jedoch nicht so weit. 2010 befürworteten unter an-
derem die damaligen Landeshauptleute Gabi Burgstaller (S, SPÖ), Gerhard Dörfler (K,
FPK) und Franz Voves (ST, SPÖ) eine Verkleinerung der Landtage in ihren Ländern13
10 OGM (2021). https://www.ogm.at/2021/07/30/ogm-vertrauensindex-institutionen-ju-
li-2021/ (31.12.2021).
11 Salzburger Nachrichten (2015). Strolz erwägt Abschaffung der Landtage und Europa-Regie-
rung, https://www.sn.at/politik/innenpolitik/strolz-erwaegt-abschaffung-der-landtage-und-
europa-regierung-1895038 (12.07.2022).
12 Salzburger Nachrichten (2017). NEOS-Chef Strolz attackiert die „Fürsten der Finsternis“,
https://www.sn.at/politik/innenpolitik/neos-chef-strolz-attackiert-die-fuersten-der-finster-
nis-16075576 (12.07.2022).
13 Die Presse (2010). Landtage könnten verkleinert werden, https://www.diepresse.com/546988/
landtage-koennten-verkleinert-werden (12.07.2022).
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239Die Länder: Landtage und Landesregierungen
– dies wurde nur in der Steiermark umgesetzt. Ähnlich verhält es sich mit der Direkt-
wahl der Landeshauptleute. 2019 sprachen sich die Regierungschefs des Burgenlands
und Tirols dafür aus, während der Kärntner Landeshauptmann den Vorstoß ablehnte.14
In der österreichischen Bevölkerung unterstützten laut einer OGM-Umfrage 2019 im-
merhin 55 Prozent diese Idee, 19 Prozent waren dagegen.15
Auch bezüglich der Transparenz in der Landespolitik werden öfters Reformwünsche
geäußert. Dass die 2018 in Niederösterreich abgeschlossenen Regierungsprogramme
zunächst nicht veröffentlicht werden sollten (siehe Abschnitt 2.2.1), passt nicht zu
einer modernen Demokratie. Auf der Bremse stehen die Länder auch bei der 2010 ein-
gerichteten Transparenzdatenbank, die Licht ins Dunkel des österreichischen Förder-
dschungels bringen soll. Das Finanzministerium und der Rechnungshof sind mit ihren
Mahnungen, die Datenbank zu füllen, bisher weitgehend gescheitert.16 Ähnlich verhält
es sich beim geplanten Informationsfreiheitsgesetz, bei dem Länder – und Gemeinden
– wegen des dadurch befürchteten Verwaltungsaufwands auf der Bremse stehen, was
ihnen auch heftige Medienschelte einbrachte.17
Die Diskussion um die Reform der Landtage und der Landesregierungen wird si-
cherlich weitergehen, solange der österreichische Bundesstaat nicht grundlegend re-
formiert wird. Eine solche Reform ist für die nächste Zeit jedoch unwahrscheinlich,
müssten ihr doch zahlreiche Akteur*innen mit unterschiedlichen bis gegensätzlichen
Interessen auf der Bundes- wie der Landesebene zustimmen.
14 Der Standard (2019). Kaiser gegen Landeshauptmann-Direktwahl, https://www.derstandard.
at/story/2000095448163/kaiser-gegen-landeshauptmann-direktwahl (12.07.2022).
15 Kurier (2019). Umfrage: Breite Zustimmung zur Direktwahl der Landeshauptleute, https://
kurier.at/politik/inland/umfrage-breite-zustimmung-zu-direktwahl-der-landeshauptleu-
te/400420439 (12.07.2022).
16 Die Presse (2017). Transparenzdatenbank: Rechnungshof kritisiert Länder, https://www.die-
presse.com/5313846/transparenzdatenbank-rechnungshof-kritisiert-laender (12.07.2022).
Salzburger Nachrichten (2017). Transparenzdatenbank-Novelle stößt auf viel Kritik,
https://www.sn.at/politik/innenpolitik/transparenzdatenbank-novelle-stoesst-auf-viel-kri-
tik-63560098 (12.07.2022).
17 Der Standard (2021). Koalition sagt erstmals, wer das Informationsfreiheitsgesetz verhindert,
https://www.derstandard.at/story/2000132182312/koalition-sagt-erstmals-wer-das-informa-
tionsfreiheitsgesetz-verhindert (12.07.2022).
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Übungsfragen
Welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede kennzeichnen die Organisation der ge-
setzgebenden Körperschaften (Parlamente) in Bund und Ländern?
Welche Rolle spielen die Landtage im Bereich der Gesetzgebung?
Welche Rolle spielen die Landtage im Bereich der Kontrolle?
Welche Vor- beziehungsweise Nachteile kennzeichnen Proporzregierungen?
Wie mächtig sind die Landeshauptleute?
Welche Muster zeigen sich in der Vertretung von Frauen in den Landtagen und
Landesregierungen?
In welchen Bereichen besteht bei Landtagen und Landesregierungen der größte Re-
formbedarf?
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Die Gemeinden
Kathrin Stainer-Hämmerle
Zusammenfassung
9
9Heute sind insbesondere die Artikel 115 bis 120 B-VG maßgeblich für die Zuständigkeiten
und die allgemeinen Grundvoraussetzungen für die Gemeinden.
9-
bietskörperschaften mit dem Recht auf Selbstverwaltung und selbstständige Wirtschafts-
körper mit dem Recht, Vermögen aller Art zu besitzen, zu erwerben und darüber zu ver-
fügen, wirtschaftliche Unternehmungen zu betreiben sowie ihren Haushalt selbstständig
zu führen und Abgaben auszuschreiben.
9
(z.B. Bürgermeister*innendirektwahl) und in den Gemeindeordnungen. Das führt zu un-
terschiedlichen Rahmenbedingungen, etwa in der Höhe der Bürgermeister*innenbezüge.
9
bzw. Stadtsenat und Bürgermeister*innen, die sowohl im eigenen als auch im übertra-
genen Wirkungsbereich tätig sind. Die wichtigsten Gegenstände sind die örtliche Raum-
-
9
Durch den direkten Kontakt mit den Bürger*innen genießen Gemeindepolitiker*innen das
höchste Vertrauen bei der Bevölkerung. Auf dieser Ebene ist es am ehesten möglich, abseits
der Parteipolitik aktiv zu sein, wie der Zuwachs an unabhängigen Namenslisten zeigt.
1. Einleitung
Jedes Grundstück in Österreich muss laut Bundesverfassung einer der 2.0931 Gemein-
den angehören (Art 116 Abs 1 B-VG). Die Gemeinde ist somit die kleinste politische
1 Die Zusammenlegung der Tiroler Gemeinden Matrei, Mühlbachl und Pfons ab dem
01.01.2022 wurde soweit möglich berücksichtigt.
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244 Kathrin Stainer-Hämmerle
und administrative Ebene. Bürgermeister*innen und das Gemeindeamt sind die ersten
Ansprechstellen für viele Anliegen. Die zentrale Stellung der Kommunen im österrei-
chischen Verwaltungssystem zeigt ihre Verankerung in den Artikeln 115 bis 120 des
Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG), wo die Grundvoraussetzungen für und die Zu-
ständigkeiten der Gemeinden definiert sind. Die Ausführungsgesetzgebung liegt in der
Verantwortung der Länder, was zu unterschiedlichen Gemeindeordnungen geführt
hat. Bereits im Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert spielte die Pfarrgemeinde als
Personal- und Territorialverband eine unverzichtbare Rolle in Gesellschaft, Kultur und
Politik (Pallauf 2013, 141). Die weit zurückreichende Geschichte begründet die starke
Identifikation vieler Bürger*innen mit ihrer Gemeinde. Ein Meilenstein im Recht auf
Gemeindeselbstverwaltung ist das Reichsgemeindegesetz 1862. Exakt 100 Jahre später
wurde die Gemeinde-Verfassungsnovelle mit den bis heute geltenden Grundlagen be-
schlossen.
Gemeinden besitzen als Gebietskörperschaften das Recht auf Selbstverwaltung und
unternehmerisch tätig sein. Sie erfüllen viele Aufgaben der Daseinsvorsorge wie Ver-
Gemeindeebene wird hohes Vertrauen entgegengebracht, weil Parteien keine domi-
nante Rolle spielen.
Gemeinden sind Gebietskörperschaften mit dem Recht auf Selbstverwaltung (Art 116
Abs 1 B-VG). Das bedeutet, dass sie jeweils für einen bestimmten Bereich des Staates
und für die dort lebenden Menschen zuständig sind. Darüber hinaus haben Gemeinden
das Recht, als selbstständige Wirtschaftskörper Vermögen aller Art zu besitzen, zu er-
werben und darüber zu verfügen, wirtschaftliche Unternehmungen zu betreiben sowie
im Rahmen der Finanzverfassung ihren Haushalt selbstständig zu führen und Abgaben
auszuschreiben (Art 116 Abs 2 B-VG).
Jede Gemeinde in Österreich ist grundsätzlich gleich organisiert und hat die gleichen
Aufgaben zu erfüllen. Ebenso sieht die Bundesverfassung (Art 117 Abs 1 B-VG) für
alle folgende Organe vor: den Gemeinderat (das ist ein von den Wahlberechtigten der
Gemeinde zu wählender allgemeiner Vertretungskörper), den Gemeindevorstand (bzw.
Stadtrat, bei Städten mit eigenem Statut den Stadtsenat) und den Bürgermeister bzw.
die Bürgermeisterin (in Burgenland, Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vor-
arlberg direkt von den Gemeindebürger*innen gewählt, in Niederösterreich, Steiermark
und Wien vom Gemeinderat).
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245Die Gemeinden
Trotz dieses Modells der fiktiven Einheitsgemeinde unterscheiden sich die Gemein-
den wesentlich. Die flächenmäßig kleinste Gemeinde ist Rattenberg (Tirol) mit gerade
11,19 ha, die größte Fläche weist Sölden (Tirol) mit 46.688,73 ha auf. In der bevölke-
rungsmäßig kleinsten Gemeinde Gramais (Tirol) leben nur 41 Einwohner*innen, die
größte Gemeinde ist die Bundeshauptstadt Wien mit knapp zwei Millionen Einwoh-
ner*innen. Wien besitzt eine Sonderstellung, weil es gleichzeitig Statutarstadt, Bundes-
hauptstadt und Bundesland ist. So erfüllt der*die Wiener Bürgermeister*in auch die
Rolle eines Landeshauptmannes beziehungsweise einer Landeshauptfrau, der Stadtsenat
die der Landesregierung, der Wiener Gemeinderat ist gleichzeitig Landtag, die Wiener
Gemeinderäte sind ebenso Landtagsabgeordnete, der Wiener Magistrat zugleich Amt
der Landesregierung. § 115 der Wiener Stadtverfassung trennt hier eindeutig: „Stadt-
senat, Bürgermeister, Magistratsdirektor und Magistrat haben ihre Bescheide im Wir-
kungsbereich der Landesverwaltung als ‚Wiener Landesregierung‘, ‚Landeshauptmann
von Wien‘, ‚Landesamtsdirektor von Wien‘ und ‚Amt der Wiener Landesregierung‘ zu
erlassen.“
Alle anderen Landeshauptstädte (außer Bregenz) sind Statutarstädte. Statutarstädte
sind Städte mit eigenem, landesgesetzlich erlassenem Stadtstatut (oder Stadtrecht), das
jene Fragen regelt, die für die übrigen Gemeinden in der Gemeindeordnung festgelegt
werden. Des Weiteren unterscheiden sie sich von anderen Städten, indem sie zusätzlich
die Aufgaben der Bezirksverwaltungsbehörden wahrnehmen. Der Magistrat (so nennt
sich die Geschäftsstelle in Städten mit eigenem Statut und ist vergleichbar mit dem
Gemeinde- bzw. Stadtamt) ist daher gleichzeitig Bezirkshauptmannschaft.2 Das B-VG
regelt, dass alle Gemeinden mit einer Einwohnerzahl von mehr als 20.000 Personen
einen Antrag auf Verleihung eines eigenen Statuts beim Landesgesetzgeber beantragen
können. Derzeit gibt es neben den acht Landeshauptstädten sieben weitere Städte mit
eigenem Statut (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem Band). Eine Gesamtübersicht zur
Anzahl der Gemeinden und Städte nach Bundesländern findet sich in Tabelle 1.
Mehr historische Ursachen als rechtliche Bedeutung hat die Unterscheidung zwi-
schen (Land)Gemeinde, Marktgemeinde und Stadt. Im Mittelalter war die Erhebung
zur Stadt oder Marktgemeinde mit Privilegien verbunden, wie dem Recht Marktta-
ge abzuhalten. Mit der Gemeindereform 1848/1849 wurde diese Unterscheidung mit
2 Eine Bezirkshauptmannschaft ist die unterste Instanz der österreichischen Hoheitsverwaltung
(Bund, Land, Bezirk), die unter der Leitung des Bezirkshauptmanns/der Bezirkshauptfrau
steht. Sie befasst sich mit Rechtsangelegenheiten, Gesundheits-, Fürsorge-, Bausachen, An-
gelegenheiten des Veterinär- und Forstdiensts und ist gleichzeitig Polizeibehörde. Der Wir-
kungskreis der Bezirkshauptmannschaft umfasst alle Angelegenheiten der Landesverwaltung
und der mittelbaren Bundesverwaltung, soweit diese nicht ausdrücklich anderen Verwal-
tungsdienststellen zugewiesen sind.
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246 Kathrin Stainer-Hämmerle
dem Modell der fiktiven Einheitsgemeinde aufgegeben. Trotzdem verfolgte man in der
Habsburgermonarchie das Ziel, dass in einzelnen Gemeinden eine ständisch und beruf-
lich möglichst einheitliche Bevölkerung lebt, und trennte deshalb Städte und Märkte
nach ihrem Bürgertum, aber auch Industrieorte, die von Arbeitern dominiert waren,
von Landgemeinden mit bäuerlicher Bevölkerung. Viele ländliche Ballungsräume wa-
ren daher seit 1850 verwaltungstechnisch jeweils in zwei Ortsgemeinden aufgeteilt —
in eine Marktgemeinde und eine Landgemeinde (Pallauf 2013, 144).
Rechtlich betrachtet macht die Bezeichnung Stadtgemeinde, Marktgemeinde oder
Ortsgemeinde (heute gebräuchlicher als Landgemeinde) aktuell keinen Unterschied
mehr. Doch die ursprüngliche Versorgungsfunktion von Marktgemeinden bezie-
hungsweise Städten ohne eigenem Statut in Bezug auf Infrastruktur oder als Stand-
ort für Betriebe und Bildungseinrichtungen für die überwiegend landwirtschaftlich
strukturierten Umgebungsgemeinden blieb bis heute erhalten. Diese überörtliche
Bedeutung ändert nichts am Umfang des eigenen oder übertragenen Wirkungsbe-
reiches.
mit durchschnittlicher Einwohner*innenzahl
Orts-
gemeinden
Markt-
gemeinden
Städte Statutar-
städte
Summe EW gesamt ø EW-zahl/
Gemeinde
B 91 67 11 2 171 295.098 1.726
K 68 47 15 2 132 561.647 4.255
NÖ 170 327 72 4 573 1.687.651 2.945
OÖ 255 151 29 3 438 1.493.377 3.410
S 84 24 10 1 119 559.543 4.702
St 129 122 34 1 286 1.247.030 4.360
T 245 21 10 1 277 758.901 2.740
V 79 12 5 0 96 398.443 4.150
W 1 1 1.915.155 1.915.155
Summe 1.121 771 186 15 2.093 8.916.845 4.256
EW (Einwohner*innen), ø (Durchschnitt); Die durchschnittliche Einwohner*innenzahl pro Gemeinde ist
gerundet dargestellt.
Quelle: Statistik Austria (2021); eigene Berechnungen.
Die Unterschiede zwischen den Gemeinden liegen heute nicht nur in der Bevölkerungs-
größe und Fläche, sondern bestehen auch aufgrund der geographischen Lage (Zentrum
oder Peripherie), der demografischen Prognosen (Zuwanderungs- bzw. Abwanderungs-
gemeinden), Wirtschaftsstruktur (Tourismus-, Industrie- oder Agrargemeinden) und
der historischen Bedeutung (z.B. Rust im Burgenland als Statutarstadt). Aufgrund die-
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247Die Gemeinden
ser starken Differenzierung und der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen in den Bun-
desländern ist vergleichende Forschung im Kommunalbereich kaum vorhanden. Eine
zentrale Frage lautet allerdings: Was ist die optimale Größe einer Gemeinde, um die ihr
zugedachten Aufgaben zu erfüllen? Österreich gilt als eher kleinstrukturiert. Im Ver-
gleich mit anderen kontinentaleuropäischen-föderalen Staaten zeigt sich allerdings, dass
Österreich in der Mitte zwischen Deutschland (durchschnittliche Einwohner*innen-
zahl 6.690) und der Schweiz (2.950) liegt (Kuhlmann et al. 2020).
2. Gegenwärtige Situation
Die Gemeinden entscheiden als Behörden in vielen Gebieten des Verwaltungsrechts,
unter anderem in Angelegenheiten des Baurechts, des Straßenrechts oder der Feuer-
polizei. Sie schaffen und erhalten die Infrastruktur – wie Straßen, Brücken, öffentliche
Gebäude und Datenleitungen – durch öffentliche Einrichtungen oder wirtschaftliche
Unternehmungen. Mit dem Begriff Daseinsvorsorge werden alle öffentlichen Dienst-
leistungen beschrieben – wie Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung, Ge-
sundheits- und soziale Dienstleistungen oder öffentlicher Personen-Nahverkehr. Bei
den Zuständigkeiten lassen sich der eigene und der übertragene Wirkungsbereich un-
terscheiden sowie das Handeln als Hoheitsbehörde im Gegensatz zur privatwirtschaftli-
chen Verwaltung. Manche Aufgaben sind gesetzlich vorgeschrieben, andere Leistungen
erfolgen von Seiten der Gemeinden freiwillig. Bevor auf die Aufgaben der Gemeinden
näher eingegangen wird, wird im Folgenden ihre Organisation dargestellt.
Grundsätzlich kann bei Gemeinden zwischen der politischen und administrativen Füh-
rung unterschieden werden, wobei gewählte Politiker*innen gleichzeitig Leiter*innen
von Behörden sind. Sie vollziehen einerseits eigene Entscheidungen im Rahmen des
eigenen Wirkungsbereiches oder unterstehen den Weisungen anderer Behörden im
übertragenen Wirkungsbereich. Die Organe der politischen Führungsebene werden
durch Artikel 117 B-VG festgelegt. Dort sind jedenfalls vorgesehen: der Gemeinderat
(in Vorarlberg und Salzburg Gemeindevertretung genannt), der Gemeindevorstand (in
Salzburg Gemeindevorstehung) beziehungsweise Stadtsenat oder Stadtrat sowie der*die
Bürgermeister*in. Fallweise werden in Gemeindeordnungen einzelner Bundesländer
zusätzlich Ausschüsse oder der*die Gemeindekassier*in genannt, in Wien kommen die
Bezirksvertretungen und Bezirksvorsteher*innen hinzu.
Für die Besorgung der Geschäfte der Gemeinde steht das Gemeindeamt (Stadtamt
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248 Kathrin Stainer-Hämmerle
oder Magistrat) als Hilfsorgan zur Verfügung, das von einem*einer Amtsleiter*in bezie-
hungsweise Magistratsdirektor*in geführt wird. Des Weiteren kann sich die Gemeinde
für Aufgaben im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung Dritter bedienen. Beispiele
hierfür sind Stadtwerke und ähnliche Infrastrukturgesellschaften großer Gemeinden.
Normalerweise handelt es sich um Unternehmen im Eigentum der Stadt mit Tätigkeits-
feldern von Energieversorgung, öffentlichem Personennahverkehr bis Bestattung und
Friedhöfen oder Gemeindeimmobiliengesellschaften zur Bewirtschaftung von öffent-
lichen Liegenschaften und Gebäuden. In der Privatwirtschaftsverwaltung ist die Tätig-
keit nicht auf das Gemeindegebiet beschränkt.
2.1.1 Der Gemeinderat
Während der Bürgermeister beziehungsweise die Bürgermeisterin die Gemeinde nach
außen vertritt und im übertragenen Wirkungsbereich allein zuständig ist, gilt der Ge-
meinderat als oberstes Organ in den Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches.
Bürgermeister*in und Gemeindevorstand sind ihm gegenüber verantwortlich und wei-
sungsgebunden. Der Gemeinderat kann im Interesse der Zweckmäßigkeit, Raschheit,
Einfachheit und Kostenersparnis einzelne Aufgaben an den Gemeindevorstand oder
den*der Bürgermeister*in übertragen.
Der Gemeinderat ist ein Verwaltungsorgan und kein Gesetzgebungsorgan. Seine
Normen sind daher Verordnungen, obwohl das im Alltag für die betroffenen Bürger*in-
nen keinen Unterschied macht, etwa bei Parkgebühren. Verordnungen müssen aller-
dings auf Landes- oder Bundesgesetzen beruhen, wodurch der Spielraum von Gemein-
deräten eingeschränkt ist. Die Größe des Gemeinderates variiert nach Einwohnerzahl
und Bundesland (siehe Tab. 2). In den meisten Landeshauptstädten ist der Gemeinde-
rat gleich groß oder gar größer als der Landtag. Der Wiener Gemeinderat besteht aus
100 Mitgliedern.
Die Mandatare werden für fünf (Niederösterreich, Burgenland, Salzburg, Steier-
mark, Vorarlberg, Wien) beziehungsweise sechs (Tirol, Oberösterreich, Kärnten) Jahre
direkt vom Volk gewählt, neben den österreichischen Staatsbürger*innen dürfen ebenso
EU-Bürger*innen mit Hauptwohnsitz in der Gemeinde ihre Stimme abgeben. In Nie-
derösterreich und dem Burgenland dürfen auch Personen mit Zweitwohnsitz wählen,
wobei Niederösterreich 2022 eine Abschaffung dieser umstrittenen Regelung ankün-
digte (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem Band).
Sitzungen des Gemeinderates werden mindestens viermal im Jahr durch den*die
Bürgermeister*in einberufen. Sie können auf Verlangen des Gemeindevorstandes oder
mindestens eines Viertels des Gemeinderates öfter stattfinden. Sie sind in der Regel
öffentlich, einzelne Gemeinden übertragen diese bereits via Livestream. Vorbereitet
werden die Entscheidungen einerseits von den Fraktionen der Parteien und andererseits
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249Die Gemeinden
von Ausschüssen. Diese besitzen als unselbstständige Hilfsorgane lediglich Beratungs-
funktion.
Zu den wichtigsten Aufgaben des Gemeinderates zählen: Erlassung ortspolizei-
licher Verordnungen (z.B. Hundeverbot auf Spielplätzen, Alkohol- oder Bettelverbot
auf öffentlichen Plätzen, zeitliche Einschränkung von Rasenmäharbeiten), Beschluss
des Flächenwidmungsplans, Ernennung von Ehrenbürger*innen, Ausschreibung von
Abgaben, Änderung der Bezeichnung von Ortschaften und Straßen, Errichtung sowie
Auflösung von wirtschaftlichen Unternehmungen der Gemeinde, Beschluss des Stel-
lenplans der Gemeinde, Feststellung des Budget-Voranschlages und des Rechnungs-
EW B K NÖ OÖ S ST T V
–200 9 13 9 9 9
201–250 9 13 9 11 9
251–400 11 13 9 9 9 11 9
401–500 11 13 13 9 9 11 9
501–750 13 11 15 13 9 9 11 12
751–800 15 11 15 13 9 9 11 12
801–1.000 15 11 15 13 13 9 11 12
1.001–1.100 19 15 19 13 13 15 13 15
1.001–1.500 19 15 19 19 13 15 13 15
1.501–1.900 21 15 19 19 17 15 13 18
1.901–2.000 21 15 19 25 17 15 13 18
2.001–2.500 23 19 21 25 17 15 15 21
2.501–3.000 23 19 21 25 19 15 15 24
3.001–3.500 25 23 23 25 19 21 15 24
3.501–4.000 25 23 23 25 21 21 15 24
4.001–4.500 25 23 25 25 21 21 17 24
4.501–5.000 23 25 31 21 21 17 24
5.001–6.000 25 23 29 31 25 25 17 27
6.001–7.000 27 29 31 25 25 19 27
7.001–7.300 25 27 33 31 25 25 19 27
7.301–8.000 25 27 33 37 25 19 27
8.001–10.000 27 33 37 25 25 19 30
10.001–11.000 31 37 37 25 31 21 30
11.001–15.000 31 37 37 25 31 21 33
15.001–20.000 31 37 37 25 21 36
20.001–30.000 35 41 37 25 31 36
30.001– 45 36
EW (Einwohner*innen).
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250 Kathrin Stainer-Hämmerle
abschlusses, Aufnahme von Darlehen und Abschluss von Leasingverträgen, Übernahme
von Haftungen und Veräußerung oder Belastung von unbeweglichem Gemeindever-
mögen.
Grundsätzlich üben die Mitglieder eines Gemeinderates ihre Funktion ehrenamt-
lich aus. Ihnen stehen laut Gemeindeordnungen Sitzungsgelder für Gemeinderats- und
Ausschusssitzungen zu. Die Höhe legen die Gemeinderät*innen innerhalb eines gesetz-
lichen Rahmens per Verordnung selbst fest. In Kärnten beträgt zum Beispiel der Satz in
Gemeinden bis zu 10.000 Einwohner*innen zwischen 70 Euro und 170 Euro, in Ge-
meinden ab 10.000 Einwohner*innen zwischen 160 Euro und 260 Euro pro Sitzung.
2.1.2 Der Gemeindevorstand
Der Gemeinderat als allgemeiner Vertretungskörper wählt nach Parteienproporz den
Gemeindevorstand (Stadtrat, Stadtsenat) als kollegiale Gemeinderegierung. Seine Grö-
ße richtet sich nach der Anzahl der Mandate im Gemeinderat und umfasst eine Band-
breite zwischen vier und 15 Mitgliedern. Vorsitz führt der Bürgermeister beziehungs-
weise die Bürgermeisterin, ebenfalls Mitglieder sind die Vizebürgermeister*innen und
weitere, aus dem Kreis der Gemeinderäte anteilig nach Parteien gewählte Mitglieder.
Seine Aufgaben sind in den unterschiedlichen Gemeindeordnungen geregelt. Jedenfalls
bereitet der Gemeindevorstand die Sitzungen des Gemeinderates vor und erledigt jene
Angelegenheiten, die ihm von diesem übertragen wurden. Er ist die Berufungsinstanz
in Verwaltungsverfahren im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde. In größeren Städ-
ten können Agenden mittels Ressortverantwortlichkeit auf einzelne Mitglieder aufge-
teilt werden.
2.1.3 Der*die Bürgermeister*in
Bürgermeister*innen werden entweder vom Gemeinderat (Niederösterreich, Steier-
mark und Wien) oder vom Volk direkt (Burgenland, Kärnten, Oberösterreich, Salz-
burg, Tirol und Vorarlberg) gewählt. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden
Modellen besteht in den Mehrheitsverhältnissen. Während ein*e vom Gemeinderat
gewählte*r Bürgermeister*in sich bei seiner*ihrer weiteren Arbeit generell auf diese
Mandatsmehrheit stützen kann, ist dies bei der Direktwahl nicht immer der Fall. In
manchen Gemeinden muss die*der direkt gewählte Bürgermeister*in sogar gegen eine
Mehrheit einer oder mehrerer anderer Parteien regieren.
Bürgermeister*innen sind gegenüber dem Gemeinderat rechtlich und politisch ver-
antwortlich beziehungsweise in Angelegenheiten des übertragenen Wirkungsbereiches
an die Weisungen von Landes- oder Bundesbehörden gebunden. Ihre Aufgaben sind
sehr vielfältig. So hat der*die Bürgermeister*in den Vorsitz in den Sitzungen des Ge-
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meinderates und -vorstandes und führt die gefassten Beschlüsse durch. Weiters vertritt
er*sie die Gemeinde nach außen, etwa durch Unterzeichnung von Verträgen, ist die
Gemeindebehörde erster Instanz und Dienstvorgesetzte*r aller Gemeindebediensteter.
Dem*der Bürgermeister*in obliegt die Verwaltung des Gemeindeeigentums, nicht aber
dessen Verkauf, sowie die laufende Verwaltung der Gemeinde selbst, wobei hier der
Umfang der Aufgaben von der Größe der Gemeinde abhängig ist und nicht eindeutig
beschrieben werden kann. Er*sie führt ebenfalls den Gemeindehaushalt, ordnet auf
Grundlage des Voranschlages die Zahlungen an und hebt die Abgaben ein.
Die Verurteilung des ehemaligen Salzburger Bürgermeisters Heinz Schaden 2017 zu
drei Jahren Haft wegen Untreue im sogenannten Swap-Prozess zeigt das hohe persön-
liche Haftungsrisiko von Bürgermeister*innen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen
straf- und zivilrechtlichen sowie öffentlich-rechtlichen Arten der Haftung. Trotz der
Unterstützung durch das Gemeindeamt werden alle Fehler und Rechtsverletzungen
dem*der Bürgermeister*in rechtlich und politisch zugerechnet. Dieser Umstand führt
zu intensiven Aufsichtspflichten (Weber 2021, 225 f.).
In keiner Relation zur hohen Verantwortung und zeitlichen Belastung im Amt ste-
hen die finanziellen Entschädigungen, deren Höhe die Bezügegesetze auf Landesebene
regeln, sodass Bürgermeister*innen in vergleichbaren Gemeinden je nach Bundesland
unterschiedlich bezahlt werden. So erhalten sie in Gemeinden unter 1.000 Einwoh-
ner*innen zwischen 2.200 Euro und 6.200 Euro beziehungsweise bei Gemeinden über
15.000 Einwohner*innen zwischen 5.000 und 15.600 Euro (gerundet). Neben der
Größe der Gemeinde ist in Vorarlberg die Koppelung der Bezüge an die Gästenächti-
gungen eine Ursache für diese Bandbreite.3
Der Frauenanteil im Amt steigt in den jüngsten Jahren, allerdings nur langsam. Über
hundert Jahre nach der Einführung des Frauenwahlrechts wird erst jedes zehnte Rat-
haus von einer Frau regiert (siehe Tab. 3). Die Gründe für diese Unterrepräsentation
sind vielfältig. Frauen verfügen meist über weniger Freizeit, besonders an Abenden und
Wochenenden, wenn Sitzungen und politische Termine stattfinden. Vorherrschende
traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen verhindern, dass Frauen ein Bür-
germeister*innenamt zugetraut wird beziehungsweise sie es selbst aktiv anstreben.
Entsprechend empfiehlt Lukoschat (2014, 93) Maßnahmen auf der politisch-insti-
tutionellen (gezielte Nachwuchsförderung, Frauenquoten in Parteien), individuellen
(Empowerment durch Coaching und Mentoringangebote, Vernetzungsstrategien) und
soziostrukturellen (bessere Vereinbarkeit von Amt und Familie) Ebene sowie mehr Öf-
fentlichkeitsarbeit und Anreize für Gemeinden, den Frauenanteil in kommunalen Füh-
rungspositionen zu erhöhen. Sieht man vom Bürgermeister*innenamt ab, zeigt sich ein
3 Vergleich Stand 2022 unter https://gemeindebund.at/website2020/wp-content/up-
loads/2022/01/bundeslandervergleich-2022-burgermeisterbezuge.pdf (26.06.2022).
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252 Kathrin Stainer-Hämmerle
höherer Frauenanteil in der Gemeindepolitik. So gab es im Juni 2021 453 Vizebürger-
meisterinnen und 9.757 Mandatarinnen (von insgesamt 39.740) in den 2.093 Gemein-
den in ganz Österreich. Zusammengerechnet sind also rund 24 Prozent aller Kommu-
nalpolitiker*innen Frauen.
Tab. 3 Anzahl der Bürgermeisterinnen in den Bundesländern (in absoluten Zahlen und %)
B K NÖ OÖ S ST T V W Ö
Gemeinden 171 132 573 438 119 286 277 96 1 2.093
Bürgermeiste-
rinnen
12 10 75 47 9 23 20 6 0 202
Anteil in % 7,0 7,6 13,1 10,7 7,6 8,0 7,2 7,2 0 9,7
Quelle: Österreichischer Gemeindebund (2022).
2.2 Finanzen
Die Vielfalt an Aufgaben einer Gemeinde lässt sich am besten an den Haushaltsplänen
erkennen. Rund 30 Prozent ihrer Ausgaben entfallen auf den Dienstleistungsbereich
(insbesondere Wasser und Abwasser, Müll, Straßenreinigung, Grünflächen, Sport- und
Freizeiteinrichtungen usw.). Hier ist ein großer Teil der Ausgaben durch Gebühren ge-
deckt. Dann folgen mit 19 Prozent Ausgaben für den Pflichtschulbereich als Gebäu-
deerhaltung und die Kinderbetreuung (Gebäude und Personal). 13 Prozent der Aus-
gaben entfallen auf den allgemeinen Verwaltungsbereich, also für das Gemeindeamt
und dessen Personal sowie für Gemeindeorgane. Soziales und Gesundheit benötigen
13 beziehungsweise acht Prozent, die größtenteils durch Umlagen vom Land gedeckt
werden. Neun Prozent werden für die Errichtung und Instandhaltung öffentlicher Ver-
kehrsflächen und den innerörtlichen Personen-Nahverkehr ausgegeben. Relativ weniger
kostenintensiv sind die Bereiche Öffentliche Ordnung und Sicherheit (z.B. Feuerweh-
ren), Kunst und Kultur oder die Wirtschaftsförderung (Biwald/Mitterer 2021, 199 f.;
Statistik Austria 2020, 79 f.). Gemeinden sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Das
Investitionsvolumen der Gemeinden lag 2019 bei über 4,4 Milliarden Euro. Dreißig
Prozent aller öffentlichen Investitionen wurden von Gemeinden getätigt.
Seit dem Finanzjahr 2020 ist die Voranschlags- und Rechnungsabschlussverordnung
2015 (VRV 2015) von den Gemeinden anzuwenden, die eine Abkehr von der Ka-
meralistik bedeutete. Seither ist die Doppik die Basis der Darstellung der Gemeinde-
finanzen, die sich damit am Haushaltsrecht des Bundes und internationalen Standards
orientiert (Bauer et al. 2021, 167 f.). Statt nur Einnahmen und Ausgaben gegenüber-
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253Die Gemeinden
zustellen, sind nun auch der Ressourcenverbrauch, das Ressourcenaufkommen (Ergeb-
nisrechnung) sowie die Vermögenslage anhand eines Drei-Komponenten-Haushaltes
(Finanzierung, Vermögen und Ergebnis) ersichtlich. Zusätzlich ermöglicht diese Um-
stellung eine österreichweite Vergleichbarkeit von Voranschlägen und Rechnungsab-
schlüssen von Gemeinden.
Artikel 13 Absatz 2 und Absatz 3 B-VG legen die Ziele der Haushaltsführung für
alle Gebietskörperschaften fest. Gemeinden haben demnach die Sicherstellung des ge-
samtwirtschaftlichen Gleichgewichtes und nachhaltig geordnete Haushalte im Sinne
eines Haushaltsausgleichs anzustreben. Als Haushaltsgrundsätze gelten: Einjährigkeit,
Vorherigkeit, Vollständigkeit, Bruttoprinzip und Saldierungsverbot, Veranschlagungs-
wahrheit, Periodengerechtigkeit, zeitliche Abgrenzung, Stetigkeit und Vergleichbarkeit,
Fortführungsprinzip, Öffentlichkeit und Transparenz sowie Sparsamkeit, Wirtschaft-
lichkeit und Zweckmäßigkeit (Bauer et al. 2021, 172 f.).
Zu Beginn des Haushaltskreislaufes steht die Planung des Budgets in Form der Auf-
stellung des Voranschlages. Nach dem Beschluss des Voranschlages durch den Gemein-
derat wird dieser von der Verwaltung vollzogen. Am Ende des Budgetjahres erfolgen die
Rechnungslegung (Rechnungsabschluss) und die Prüfung der Haushaltsführung. Diese
vollzieht auf Gemeindeebene der Prüfungs- oder Kontrollausschuss. Weitere Prüfkom-
petenzen haben die Landesrechnungshöfe und der Bundesrechnungshof.
Gemeinden können selbst Gebühren (z.B. für Wasser, Kanal, Müllentsorgung oder
Kinderbetreuung) und Abgaben (Vergnügungs-, Hundesteuer, Zweitwohnsitzabgabe)
festlegen, jedoch keine eigenen Steuern einheben. Kommunal- und Grundsteuern wer-
den zwar von den Gemeinden erhoben, sind allerdings bundesgesetzlich geregelt. Die
Haupteinnahmequelle sind daher die Ertragsanteile, deren Höhe im Finanzausgleich
zwischen Bund, Ländern und Gemeinden verhandelt werden. Dieser ist im Finanz-
ausgleichsgesetz (FAG) geregelt und umfasst die Festlegung der gemeinschaftlichen
Bundesabgaben und die Verteilung auf die verschiedenen Gebietskörperschaften. Er-
gänzend dazu besteht ein Transferzahlungssystem zwischen Land und Gemeinden über
die Landesumlage und die Gemeinde-Bedarfszuweisungen sowie diverse Umlagen wie
die Krankenanstalten- und Sozialhilfeumlage. Zusätzlich kommen Mittel aus 15a-Ver-
einbarungen4 (z.B. Ausbau der Kinderbetreuung) oder aufgrund von gesetzlichen Rege-
lungen (z.B. COVID-19-Test- und Impfstraßen).
Die Gemeinden klagen immer über den geringen Einfluss, den sie auf gesetzliche
Rahmenbedingungen haben, obwohl sie durch Reformen Mehrbelastungen ausgesetzt
4 15a-Vereinbarungen sind Verträge zwischen dem Bund und einem oder mehreren/allen Bun-
desländern bzw. Verträge der Länder untereinander, die auf Grundlage des Artikels 15a B-VG
abgeschlossen werden. Dieses Instrument wurde 1974 aufgrund langjähriger Forderungen
der Bundesländer eingeführt.
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254 Kathrin Stainer-Hämmerle
sind (z.B. verpflichtendes Kindergartenjahr, Abschaffung des Pflegeregresses oder die
Umsetzung eines Informationsfreiheitsgesetzes). Generell können Gemeinden auf ihre
Einnahmen wenig Einfluss nehmen, sondern sind auch hier vorrangig vom Bund oder
Land beziehungsweise deren Einnahmen und Verteilungsschlüssel abhängig. Während
sich nach der Wirtschaftskrise 2008 die Finanzkraft aufgrund der allgemeinen guten
wirtschaftlichen Lage bis 2019 sehr positiv entwickelte, ließ die COVID-19-Pandemie
die Einnahmen wieder einbrechen und gleichzeitig die Ausgaben steigen. Insgesamt
errechnen Biwald und Mitterer (2021, 205), dass nur rund vierzig Prozent der Einnah-
men direkt von den einzelnen Gemeinden beeinflusst werden können – über Gebüh-
ren, Leistungsentgelte oder Einnahmen aus Besitz und wirtschaftlicher Tätigkeit. Bei
den Ausgaben liegt der Gestaltungsspielraum hingegen bei achtzig Prozent. Regelmäßig
geben Bürgermeister*innen bei Umfragen die mangelnden finanziellen Ressourcen als
Hauptherausforderung an.
2.3 Eigener und übertragener Wirkungsbereich
Der eigene Wirkungsbereich ist die Basis der Autonomie der Gemeinde. Sie soll sämt-
liche Aufgaben erledigen, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der
Gemeinde beziehungsweise der örtlichen Gemeinschaft liegen. Diese Angelegenheiten
müssen selbstverständlich dafür geeignet sein, dass sie durch die örtliche Gemeinschaft
erledigt werden können. Demonstrativ zählt Artikel 118 Absatz 3 B-VG die Aufgaben
des eigenen Wirkungsbereiches auf. Diese sind die Bestellung der Gemeindeorgane, die
Regelung der inneren Einrichtungen zur Besorgung der Gemeindeaufgaben, die Bestel-
lung der Gemeindebediensteten und Ausübung der Diensthoheit, die Verwaltung der
Verkehrsflächen, örtliche Raumplanung sowie diverse örtliche polizeiliche Aufgaben
wie die Sicherheits-, Veranstaltungs-, Straßen-, Flurschutz-, Markt-, Gesundheits- (ins-
besondere auch auf dem Gebiet des Hilfs- und Rettungswesens sowie des Leichen- und
Bestattungswesens), Sittlichkeits-, Bau- und Feuerpolizei. Ebenso als Bestandteile der
Aufgaben des eigenen Wirkungsbereichs gelten die in Artikel 116 Absatz 2 B-VG an-
geführten Angelegenheiten wie die Privatwirtschaftsverwaltung, die Haushaltsführung
und die Abgabenausschreibung.
Entscheidungen im eigenen Wirkungsbereich werden üblicherweise vom Gemein-
derat gefällt. Die wichtigsten Kompetenzen liegen hier bei den Aufgaben der örtlichen
Baupolizei und Feuerpolizei. Hier ist die Gemeinde zuständig für Bauverfahren, die
Bauaufsicht und die Ortsbildpflege. Ebenso für die Einrichtung von Feuerwehren sowie
alle Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren durch Brände sowie die Brandbekämpfung.
Besonders wichtig für die Entwicklung von Gemeinden ist die örtliche Raumplanung,
die die Erstellung von Flächenwidmungs- und Bebauungsplänen umfasst. Immer wie-
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255Die Gemeinden
der wird hier eine Verlagerung der Kompetenzen in Richtung Land diskutiert, weil
die Nähe zwischen Politik und Bürger*innen in einer Gemeinde oft zu Konflikten
führt. Die Besorgung der Aufgaben im eigenen Wirkungsbereich erfolgt weisungsfrei,
in eigener Verantwortung, unabhängig von Bund und Land sowie unter Ausschluss
von Rechtsmitteln an Verwaltungsorgane außerhalb der Gemeinde, allerdings mit Auf-
sichtsrechten des Landes.
Darüber hinaus besteht ein übertragener Wirkungsbereich. In diesen Angelegenhei-
ten ist der*die grundsätzlich zuständige Bürgermeister*in an Weisungen von staatlichen
Bundes- oder Landesbehörden gebunden. Beispiele sind die Führung der zentralen
Personenstandsregister inklusive standesamtlicher Tätigkeiten, Aufgaben als Meldebe-
hörde und im Bereich statistischer Erhebungen die Durchführung von überregionalen
Wahlen, Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen, die Erfassung der
Wehrpflichtigen, Mitwirkung bei der Bekämpfung von Epidemien, die soziale Betreu-
ung der Bevölkerung, Gewässeraufsicht und -schutz, Mitwirkung bei Pflanzenschutz,
Tierzuchtförderung, Erhaltung landwirtschaftlicher Schulen und Berufsschulen. Wei-
tere Aufgaben werden durch den Landesgesetzgeber definiert, wie die Einrichtung von
Volksschulen und Kindergärten, Wasserversorgung und -entsorgung, Müllbeseitigung,
Einrichtung von Friedhöfen, Errichtung von Freizeiteinrichtungen wie Spielplätzen,
Schwimmbädern und Parkanlagen.
2.4 Privatwirtschaftliche Verwaltung
Im Rahmen des eigenen Wirkungsbereiches haben die Gemeinden, wie bereits erwähnt,
das Recht, Vermögen aller Art zu besitzen, zu veräußern und wirtschaftliche Unterneh-
mungen zu führen. Aufgrund von steuerlichen, haushaltsrechtlichen, personellen oder
finanziellen Vorteilen können diese Tätigkeiten an eigene Betriebsgesellschaften ausge-
gliedert werden. Beispiele für kommunale Ausgliederungen sind Ver- und Entsorgungs-
aufgaben (Müllabfuhr, Trinkwasser), Verkehr (Verkehrsbetriebe), Glasfaserausbau, Im-
mobilienmanagement (Wohnbau), Pflegeheime oder auch Krankenhäuser.
Die Gemeinde ist im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung anderen juristischen
Personen in Rechten und Pflichten gleichgestellt. Zusätzlich gelten einschlägige öf-
fentlich-rechtliche Vorschriften, insbesondere über die Einrichtung, Zuständigkeit
und Willensbildung der Organe sowie haushaltsrechtliche Vorgaben. Anders als in der
Hoheitsverwaltung werden aber keine Leistungsbescheide erlassen, Leistungen werden
vielmehr mittels eines zivilrechtlichen Vertrages vergeben. Das heißt, die Gemeinde tritt
nicht mit hoheitlicher Gewalt auf, sondern als gleichberechtigter Partner gegenüber den
Bürger*innen. Die Kompetenzen richten sich hier nach Wertgrenzen. In der laufenden
Verwaltung und in Bagatellfällen entscheidet der Bürgermeister beziehungsweise die
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256 Kathrin Stainer-Hämmerle
Bürgermeisterin als monokratisch organisiertes Organ. Ab einer gewissen Wertgrenze
ist der Gemeindevorstand zuständig. Werden Entscheidungen über diese Wertgrenze
getroffen und in allen übrigen Angelegenheiten, die nicht ausdrücklich einem anderen
Organ zugeordnet sind, ist der Gemeinderat als unmittelbar demokratisch legitimiertes
Organ zuständig. Bürgermeister*innen vertreten dann zwar die Gemeinde nach außen
und unterschreiben etwa Verträge, benötigen dafür allerdings meist einen Beschluss des
Gemeindevorstandes beziehungsweise -rates.
Im Laufe der Geschichte hat sich der Umfang der Aufgaben stetig erweitert, sodass
eine Entwicklung von der Ordnungs- zu einer Leistungsgemeinde feststellbar ist. Eben-
so steigen die Erwartungen der Bevölkerung an die öffentliche Hand in einer Gemein-
de. Viele Angebote wie Kinderbetreuung, öffentlicher Verkehr, Sportanlagen, Feste und
Märkte oder kulturelle Einrichtungen werden inzwischen als selbstverständlich ange-
sehen. Die Bürgermeister*innen kämpfen in ihrer täglichen Arbeit mit diesen Ansprü-
chen ebenso wie mit der Bürokratisierung – kombiniert mit der steigenden rechtlichen
Verantwortung.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Viele Gemeinden wurden bereits im Mittelalter urkundlich erwähnt. Manche können
ihre erste Besiedlung sogar bis zur Keltenzeit oder ins Römische Reich zurückverfolgen.
Mit dem Gemeindegesetz 1848 bekam der österreichische Kaiserstaat erstmals eine ein-
heitliche, zentralistisch konzipierte, von der Idee der Gemeindeautonomie beherrschte
Kommunalverfassung. Die sich selbst verwaltende Gemeinde wurde so zum Grund-
stein aller höheren politischen Gebilde. Diese lange historische Tradition drückt sich
heute noch in einer starken Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Heimatgemeinde
sowie hohen Vertrauenswerten in die lokale Politik aus.
Die Anzahl der Gemeinden veränderte sich im Laufe der Zeit. Vor allem in den
1960er- und 1970er-Jahren führten einige Bundesländer Gebietsreformen durch und
senkten so die Anzahl von rund 4.000 auf 2.300 Gemeinden. 2015 schloss die Steier-
mark ihre Gemeindestrukturreform ab und verringerte die Zahl ihrer Gemeinden von
542 (2010) auf 287. Insgesamt waren von der Reform 385 Gemeinden durch Aufnah-
me anderer Gemeinden oder Gemeindeteile, Gebietsveränderungen oder Auflösung be-
troffen. Nur 157 Gemeinden blieben unverändert. Die Notwendigkeit von Zusammen-
legungen wird regelmäßig mit der Frage der idealen Größe einer Gemeinde diskutiert
– im Sinne von wirtschaftlich und verwaltungstechnisch effizienten Einheiten unter der
Vorgabe des Modells der Einheitsgemeinde. Befürworter sind etwa Industriellenver-
einigung und Wirtschaftskammer, während der frühere Präsident des Österreichischen
Gemeindebundes Helmut Mödlhammer dies mit dem Hinweis auf den steigenden Be-
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257Die Gemeinden
triebs- und Verwaltungsaufwand bei größeren Gemeinden ablehnt (Anderwald 2021,
8). Berechnungen des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) und
des Zentrums für Verwaltungsforschung (KDZ) (Pitlik/Wirth 2012) zeigen Effizienz-
nachteile kleiner und sehr kleiner Gemeinden, aber auch steigende Durchschnittskos-
ten bei Gemeinden über 5.000 Einwohner*innen. Neben wirtschaftlichen Aspekten
gilt es jedenfalls auch das hohe Vertrauen in die lokale Politikebene zu beachten. Aus-
sterbende Ortskerne und schrumpfende Bevölkerung, kombiniert mit sinkenden Ein-
nahmen zwingen Gemeinden jedenfalls zu Sparmaßnahmen. Potenziale finden sich hier
vor allem in verschiedensten Formen der Gemeindezusammenarbeit zur gemeinsamen
Erledigung der Aufgaben.
3.1 Wahlen und Partizipation
Ergänzend zu Perlot und Filzmaier in diesem Band sei in diesem Beitrag noch auf einige
Besonderheiten bei den Gemeinderats- und Bürgermeister*innenwahlen hingewiesen.
Nimmt man die Anzahl der Gemeinden ungeachtet ihrer Einwohnerzahl als Grundla-
ge, ist die ÖVP die stärkste Bürgermeister*innenpartei, die 2021 mit über 1500 Bürger-
meister*innen über 70 Prozent aller Amtsinhaber*innen stellt. Lediglich im Burgenland
und in Kärnten stellt die SPÖ mehr Bürgermeister*innen. Die FPÖ ist weit abgeschla-
gen hinter den sogenannten freien Namenslisten, die keiner im Parlament vertretenen
Partei zugerechnet werden können, weil sie tatsächlich von parteifreien Personen ge-
gründet worden sind oder zumindest aus einer Mischung von Parteimitgliedern und
unabhängigen Kandidat*innen bestehen. Die GRÜNEN stellen trotz ihrer Veranke-
rung im österreichischen Parteiensystem seit den 1980er-Jahren nur vereinzelt Bürger-
meister*innen (z.B. seit 2018 in Innsbruck), in Graz schaffte dies 2021 überraschend
Elke Kahr für die KPÖ. Diese Wahl gilt als Beispiel, dass auf kommunaler Ebene die
Kandidat*innen als Wahlmotiv meist ausschlaggebender sind als ihre Parteizugehörig-
keit.
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258 Kathrin Stainer-Hämmerle
Tab. 4 Anzahl der Bürgermeister*innen nach Partei und Bundesland
Anzahl
Bgm
gesamt
Bürgermeister*innen – Parteien
ÖVP SPÖ FPÖ GRÜNE KPÖ Liste1
B 171 82 (48,0%) 84 (49,1%) - - - 5 (2,9%)
K 132 39 (29,5%) 52 (39,4%) 14 (10,6%) - - 27 (20,5%)
NÖ 573 451 (78,7%) 107 (18,7%) 1 (0,2%) - - 14 (2,4%)
OÖ 438 329 (75,1%) 86 (19,6%) 15 (3,4%) 1 (0,2%) - 7 (1,6%)
S 119 95 (79,8%) 18 (15,1%) 1 (0,8%) - - 5 (4,2%)
ST 286 200 (69,9%) 73 (25,5%) - - 1 (0,3%) 12 (4,2%)
T 277 232 (83,8%) 14 (5,1%) 2 (0,7%) 1 (0,4%) - 28 (10,1%)
V 96 89 (92,7%) 4 (4,2%) 2 (2,1%) 1 81,0%) - -
W 1 - 1 (100%) - - - -
Summe 2.093
1.517 (72,5%)
443 (21,2%) 42 (2,0%) 3 (0,1%) 1 (0,0%) 98 (4,7%)
Bgm (Bürgermeister*innen).
1 In dieser Spalte werden alle Bürgermeister*innen von parteifreien, unabhängigen und gemischten
Listen zusammengefasst.
Quelle: Österreichischer Gemeindebund (2022).
Ähnlich sind die Ergebnisse bei den Mandaten für den Gemeinderat, wo ebenfalls der
hohe Anteil an Namenslisten auffällt. Die Darstellung der Ergebnisse ist allerdings un-
scharf, da fantasievolle oder personenbezogene Listenbezeichnungen eine Zuordnung
ins traditionelle Parteienspektrum erschweren beziehungsweise es sich tatsächlich um
freie Bürger*innenlisten handelt. So ordnet die Tiroler Wahlbehörde die einzelnen
Listen und Bürgermeister*innenkandidat*innen nicht den Parteien zu, obwohl es sich
oft um Parteilisten handelt. Die Möglichkeit der Listenkoppelung in der Tiroler Ge-
meinde-Wahlordnung steigert die Chancen von Kleinparteien auf den Einzug in den
Gemeinderat und bei Ausschussfunktionen und minimiert so das Risiko für Teilorga-
nisationen einer Partei, mit getrennten Listen anzutreten. Der Grund liegt in Vorteilen
durch das Zusammenzählen der Stimmen für gekoppelte Listen beim Mandatsvertei-
lungsverfahren.
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259Die Gemeinden
Tab. 5 Jüngste Ergebnisse der Gemeinderatswahlen nach Bundesländern (ohne Wien) in Pro-
Datum Wahlbe-
rechtigte
Wahl-
beteili-
gung
SPÖ ÖVP FPÖ
GRÜNE
Sonstige Man-
date
gesamt
B 01.10.2017 261.963 81,1 44,4
(1.461)
41,8
(1.364)
6,3
(144)
1,9
(27)
5,6
(147)
3.143
K 28.02.2021 465.256 67,28 39,9
(948)
24,3
(682)
13,8
(355)
3,6
(40)
18,3
(447)
2.472
NÖ126.01.2020 1.480.968 65,7 27,8
(3.130)
52,7
(7.000)
5,8
(486)
5,9
(407)
7,8
(702)
11.725
OÖ 26.09.2021 1.184.602 72,0 27,1
(2.164)
40,2
(4.525)
17,0
(1.432)
8,8
(532)
7,0
(421)
9.074
S 10.03.2019 434.261 63,1 27,6
(559)
47,5
(1.153)
10,1
(213)
7,5
(86)
7,4
(123)
2.134
ST228.06.2020 804.095 62,7 31,9
(1.546)
47,2
(2.689)
8,2
(327)
4,7
(177)
8,0
(312)
5.051
T 27.02.2022 505.752 66,3 Die Tiroler Wahlbehörde ordnet die einzelnen
Listen nicht den Parteien zu.
3.661
V 13.09.2020 301.572 53,4 9,4
(97)
32,6
(428)
9,3
(91)
13,8
(151)
32,1
(889)
1.803
1 ohne Statutarstädte, 2 ohne Graz, 3
Quelle: Stainer-Hämmerle (2021); Aktualisierungen Landeswahlbehörden.
Eine weitere regionale Besonderheit ist die Mehrheitswahl in Vorarlberg. Sollten in
einer Gemeinde keine Wahlvorschläge eingebracht werden, finden die Wähler*innen in
der Wahlzelle einen leeren Stimmzettel vor, in den sie Namen aller wählbaren Gemein-
debürger*innen eintragen können. Für eine gültige Stimmabgabe braucht es mindes-
tens einen Namen, maximal können doppelt so viele Namen eingetragen werden wie
Mandate zu besetzen sind. Jene Personen, die so am meisten Stimmen erhalten haben,
gelten als gewählt beziehungsweise werden Ersatzmitglieder der Gemeindevertretung.
Bei gleicher Stimmenanzahl entscheidet das Los. Verzichtet eine gewählte Person auf
das Amt, rücken die in der Reihenfolge hinter ihr stehenden Kandidat*innen nach. Bei
den Wahlen 2020 wurde in 13 von 96 Gemeinden so der Gemeinderat bestimmt. Die-
ser wählt dann aus seinen Reihen den Bürgermeister beziehungsweise die Bürgermeis-
terin, während in Vorarlberg sonst die Bürgermeister*innendirektwahl praktiziert wird.
Die Steiermärkische Gemeindeordnung sieht in Gemeinden mit über 1.000 Mig-
rant*innen mit Hauptwohnsitz in der Gemeinde, die parallele Wahl eines Migrantin-
nen- und Migrantenbeirates vor. In Gemeinden mit weniger ansässigen Migrant*innen
kann der Gemeinderat dies freiwillig beschließen. 2020 wurden in den Stadtgemeinden
Leoben und Kapfenberg derartige Beiräte gewählt, in Graz erfolgte die Wahl 2021. Sie
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260 Kathrin Stainer-Hämmerle
vertreten die Interessen der Migrant*innen und beraten die Gemeinde in allen Angele-
genheiten, die ausländische Einwohner*innen betreffen (VI. Abschnitt §§ 38b bis 38g
St GemO).
Neben Wahlen, Informations- und Petitionsrechten stehen der Bevölkerung auch
Instrumente der direkten Demokratie auf Gemeindeebene zur Verfügung. Je nach Bun-
desland sind die Möglichkeiten in den Gemeindeordnungen beziehungsweise eigenen
ausführenden Gesetzen unterschiedlich ausgeprägt. Außer in Tirol können Gemein-
de-Volksbegehren in allen Bundesländern gestartet werden, in Oberösterreich braucht
es dazu zwei Prozent der Wahlberechtigten, im Burgenland zwanzig Prozent (Perlot
2020). Vorarlberg geht sogar noch einen Schritt weiter und überträgt den Bürger*in-
nen die Möglichkeit, gegen den Willen der politischen Mehrheit im Gemeinderat eine
Volksabstimmung zu erzwingen. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) sprach allerdings
dem Gemeindevolk das Recht auf Volksgesetzgebung selbst in Angelegenheiten des
eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde ab und ordnete dem Land Vorarlberg eine
Aufhebung der entsprechenden Bestimmungen an (VfGH-Erkenntnis W III 2 2019,
6.10.2020). Ähnliche, laut Ansicht des VfGH dem Grundsatz der repräsentativen De-
mokratie widersprechende Bestimmungen finden sich im Burgenland und in der Steier-
mark.
Der Gemeinderat kann in allen Bundesländern Volksbefragungen anordnen, in
manchen Bundesländern können dies auch der Bürgermeister beziehungsweise die
Bürgermeisterin oder eine bestimmte Anzahl von Wahlberechtigten. Volksabstimmun-
gen sind in Niederösterreich, Oberösterreich und Tirol nicht vorgesehen und können
immer vom Gemeinderat beschlossen werden, seltener von dem Bürgermeister bezie-
hungsweise von der Bürgermeisterin. Obwohl Gemeinden gerne als Schulen der Demo-
kratie bezeichnet werden, finden die Instrumente der direkten Demokratie eher selten
Anwendung. Eine zentrale Sammlung findet nicht statt, selbst einzelne Gemeinden
können meist keine Auskunft über stattgefundene Initiativen, Befragungen oder Ab-
stimmungen geben. Poier unternahm 2014 einen Versuch und stieß auf entsprechende
Schwierigkeiten bei Dokumentation und Vergleichbarkeit von Beispielen direkter De-
mokratie auf Gemeindeebene. Dennoch steigt die Bedeutung seit den späten 1980er-
Jahren, wobei sich nach Vorarlberg in der Steiermark, Kärnten und dem Burgenland die
meisten Anwendungsfälle pro Gemeinde finden.
Andere Formen der Beteiligung finden sich im Rahmen der partizipativen Demo-
kratie, wie sie zum Beispiel in der Vorarlberger Landesverfassung 2013 verankert wurde
und dort in Form von Bürgerräten stattfindet. Grundprinzipien dieser Art der Beteili-
gung von Bürger*innen an politischen Entscheidungen sind die beratende Form und
das Losverfahren bei der Auswahl der Teilnehmer*innen. Mithilfe von deliberativen
Moderationsverfahren werden Bürger*innengutachten verfasst und als Vorschläge an
die Politik übermittelt. Sie verpflichtet sich, diese nach Möglichkeit umzusetzen. Die
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261Die Gemeinden
Letztentscheidung liegt allerdings bei den gewählten Mandatar*innen und nicht – wie
bei Volksabstimmungen – beim Volk.
Zuvor verläuft der Bürgerrat in mehreren Stufen. Nach einem Beschluss des Ge-
meinderates werden zunächst zwölf bis 15 zufällig ausgewählte Personen eingeladen,
bestimmte emen und Fragestellungen zu diskutieren, Herausforderungen aus ihrer
Sicht aufzuzeigen und Lösungsideen zu erarbeiten. Dieser Workshop wird mittels der
Methode „Dynamic Facilitation“ moderiert, die vor allem die Selbstorganisation der
Bürger*innen bei der Erarbeitung eines gemeinsamen abschließenden Statements un-
terstützen soll. Dieses wird zeitnah in einer öffentlichen Veranstaltung präsentiert und
mit der interessierten Öffentlichkeit sowie Ansprechpersonen aus Verwaltung, Gemein-
de, Politik und relevanten Institutionen diskutiert und weiterentwickelt. Abschließend
setzen sich Vertreter*innen der Politik, Verwaltung und weiteren Stakeholder (Vereine,
Interessensvertreter*innen) zusammen und planen gemeinsam die Umsetzung von ein-
zelnen Vorschlägen. Letztlich erhalten die Teilnehmenden des Bürgerrates eine schrift-
liche Rückmeldung, wie die Ergebnisse verwertet werden. Auf diese Art und Weise
wurden in Vorarlberg landesweit emen wie Mobilität, Zuwanderung, Umgang mit
Grund und Boden, Bildung, Klima oder gute Nachbarschaft behandelt. Neben der
Beratungsleistung der Politik zu den verschiedenen emen erhöhen Bürgerräte das
Vertrauen in Politik, schaffen eine höhere Identifikation mit dem Umfeld und stärken
zivilgesellschaftliches Engagement in Gemeinden.
3.2 Interkommunale Zusammenarbeit
Das Modell der Einheitsgemeinde teilt allen Gemeinden, unabhängig von ihrer Größe,
Lage, Wirtschaftskraft oder Bevölkerungsstruktur dieselben Aufgaben zu. Zusätzlich
stellen Gemeindebürger*innen stetig steigende Ansprüche. Dadurch geraten viele Ge-
meinden an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Eine Lösung ist die Interkommuna-
le Zusammenarbeit (IKZ), bei der öffentlich erbrachte Leistungen zumindest einer
weiteren Gemeinde dienen. Dabei können verschiedene Formen nach Intensität der
Zusammenarbeit, Anzahl der gemeinsamen Aufgaben oder finanzieller Tragweite un-
terschieden werden. So besteht erstens die Möglichkeit der Koordination der Aufga-
benerfüllung zwischen Gemeinden als selbstständigen Partnern. Zweitens gibt es das
Contracting, bei dem ein Partner die Leistungen für die anderen erbringt. Drittens
besteht die Möglichkeit einer Teil-Fusion mit der Zusammenlegung von Organisa-
tionsteilen. Viertens lässt sich auch ein besonderer (gemeinsamer) Träger gründen
(Matschek 2021, 493).
Bei der Verwaltungsgemeinschaft bleiben die Gemeinden autonom, beschließen aber
vertraglich, Verwaltungsaufgaben (z.B. Baurechtsangelegenheiten) gemeinsam zu erbrin-
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262 Kathrin Stainer-Hämmerle
gen. Ebenso wenig administrativen Aufwand bedeutet das Sitzgemeinde-Modell (eine
Gemeinde erbringt Leistungen für andere Gemeinden), das inhaltlich flexibel angepasst
werden kann. Nachteilig sind das beschränkte Mitsprache- und Kontrollrecht der an-
geschlossenen Gemeinden hinsichtlich Gewährleistungs- und Schadenersatzfragen be-
ziehungsweise das erhöhte finanzielle Risiko der Sitzgemeinde, wenn Partner kurzfristig
aussteigen. Eher schwerfällig ist die Erfüllung von Aufgaben durch gemeinsame Organe,
Infrastruktur oder Eigentum, da alles gemeinsam entschieden werden muss.
Eine weitere Unterscheidung findet zwischen öffentlich-rechtlichen und privat-
rechtlichen Formen, jeweils mit oder ohne juristische Persönlichkeit statt. Öffentlich-
rechtlich sind Gemeindeverbände (z.B. Abfallverband, Sozialhilfe- oder Schulverband),
öffentlich-rechtliche Stiftungen oder Anstalten beziehungsweise Verwaltungsgemein-
schaften. Privatrechtlich begründet sind Vereine, Genossenschaften, Kapitalgesellschaf-
ten wie AG oder GmbH (z.B. Verkehrsunternehmen, Versorgungsbetriebe, Stadtmarke-
ting) oder eine Gesellschaft nach bürgerlichem Recht. Insgesamt stehen neben der nicht
institutionalisierten, rechtlich unverbindlichen, informellen Zusammenarbeit durch
gemeinsamen Erfahrungsaustausch, Interessens- und Arbeitsgemeinschaften, Runde
Tische oder Bürgermeister*innenkonferenzen eine Vielzahl von Kooperationsformen
zur Verfügung, wobei für hoheitliche Aufgaben ausschließlich administrativ komplexe-
re öffentlich-rechtliche Kooperationsformen (Gemeindeverband, Verwaltungsgemein-
schaft) in Betracht kommen (Matschek 2021, 506). Bei privatrechtlichen Formen sind
Verwaltungsgrenzen und Finanzierungs- sowie Steuerfragen oft hinderlich.
Die Wahl der Rechtsform hängt immer vom Gegenstand und Zweck der Zusam-
menarbeit ab und obliegt den zuständigen Organen der Gemeinden. Der Erfolg hängt
von einer Vielzahl von weiteren Faktoren ab: wechselseitiges Vertrauen und Offenheit
aller Partner, positiver Kooperationssaldo für alle Beteiligten im Sinne einer Win-Win-
Situation, ehrliche und häufige Kommunikation, Ähnlichkeit der Organisationskultu-
ren, sich ergänzendes Wissen aller Partner, klare Vereinbarungen, Erhalt der Flexibili-
tät, Kompetenz und Bereitschaft sowie Engagement aller Partner, aktive Unterstützung
durch Politik- und Verwaltungsspitzen, Vernetzungs-, Infrastruktur-, Change-Manage-
ment- und Konfliktmanagementkompetenz (Matschek 2021, 508).
Kooperationen sind nicht nur zwischen Gemeinden möglich, sondern auch zwi-
schen öffentlichen Verwaltungen und privaten Wirtschaftssubjekten. Bei diesen Public-
Private-Partnerships werden private Unternehmen auf vertraglicher Basis mit der Um-
setzung öffentlicher Aufgaben betraut, wobei sich die Gemeinde bestimmte Kontroll-,
Informations- und Entscheidungsrechte vorbehält. Dadurch sollen Ideen, Knowhow,
Finanzierungsmöglichkeiten und Visionen aus dem öffentlichen und privatwirtschaft-
lichen Bereich verknüpft werden.
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263Die Gemeinden
3.3 Vertretung Gemeindebund und Städtebund, EU
Der Österreichische Gemeindeverbund und der Österreichische Städtebund vertreten
laut Artikel 115 Absatz 3 B-VG (Novelle 1989) die Interessen der österreichischen
Kommunen. Beide sind vereinsrechtlich organisiert. In den Landesverbänden des Ge-
meindebundes sind 2082 von 2093 österreichischen Gemeinden Mitglieder. Damit
repräsentiert der Österreichische Gemeindebund zirka 70 Prozent der österreichischen
Bevölkerung. Organe sind der Bundesvorstand, das Präsidium und die Fachausschüsse.
Der*die Präsident*in wird für fünf Jahre gewählt, der*die Generalsekretär*in führt die
laufenden Geschäfte.
Durch den Österreichischen Städtebund werden insgesamt 259 Städte und größere
Gemeinden vertreten. Er wurde als Verein 1915 gegründet und hat heute neben Wien
und den Landeshauptstädten praktisch alle Gemeinden mit über 10.000 Einwohner*in-
nen als Mitglied. Die kleinste Mitgliedsgemeinde zählt knapp 1.000 Einwohner*innen.
Das höchste Organ ist der Österreichische Städtetag, die laufenden Arbeiten leiten der
Hauptausschuss sowie die Geschäftsleitung. Präsident*in des Österreichischen Städte-
bundes ist traditionsgemäß der*die Wiener Bürgermeister*in.
Unabhängig von ihrer Verankerung im B-VG 1989 sind beide Vertretungen seit
1954 an Gesetzesbegutachtungen beteiligt. Weiters haben sie das Recht, an den Finanz-
ausgleichsverhandlungen teilzunehmen, und zahlreiche andere einfachgesetzlich gere-
gelte Mitwirkungsmöglichkeiten auf Bundes- und auf Landesebene. Mehr Einfluss hat
die kommunale Ebene aber über ihre Vertreter*innen in den politischen Parteien. So
sind zahlreiche Landtagsabgeordnete auch Bürgermeister*innen oder Gemeinderäte be-
ziehungsweise halten umgekehrt Gemeindepolitiker*innen oft engen Kontakt mit Ver-
treter*innen von Regierungen und Spitzenbeamt*innen. „Diese informellen Formen
der Interessensvertretung sind nicht zu unterschätzen, denn auch in Österreich ist nicht
davon auszugehen, dass alle Vertreter und Mitarbeiter des Bundes fundierte Kenntnisse
über Kompetenzen und Aufgabenbesorgung der kommunalen Ebene aufweisen“ (Fraiß
2021, 109).
In Bezug auf die Europapolitik gibt Artikel 23d Absatz 1 B-VG vor, dass der Bund
unverzüglich über alle Vorhaben, die den selbstständigen Wirkungsbereich der Ge-
meinden berühren oder sonst für sie von Interesse sein könnten, zu unterrichten hat
und die Interessen der Gemeinden in diesen Fällen ebenfalls vom Städte- und Gemein-
debund vertreten werden. Von Vergabewesen über Umwelt- und Klimapolitik bis zu
Subventionierung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse sind viele Aufgaben
der Gemeinde von der EU-Gesetzgebung beeinflusst. Daher betreiben beide Kommu-
nalverbände Büros in Brüssel und werden drei von zwölf Mitgliedern im Ausschuss der
Regionen, einem beratenden Organ der Europäischen Union, auf Vorschlag des Ge-
meinde- und Städtebundes entsandt.
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264 Kathrin Stainer-Hämmerle
Gemeinden kooperieren auch international, zum Beispiel im Rat der Gemeinden
und Regionen Europas oder im Internationalen Gemeindeverband (IULA Internati-
onal Union of Local Authorities) sowie im Kongress der Gemeinden und Regionen
Europas im Europarat.
4. Einordnung des österreichischen Falles
Neun Gemeindeordnungen plus eigene Stadtrechte neben den unterschiedlichsten
Rahmenbedingungen in den Gemeinden machen vergleichende Kommunalforschung
zu einer komplexen Herausforderung. International steht dabei vor allem der Grad
der lokalen Autonomie im Mittelpunkt. So misst der „Local Autonomy Index“ (LAI)
im Auftrag der Europäischen Kommission in 39 europäischen Ländern den Grad der
Selbstbestimmung von Gemeinden anhand von Experteninterviews (Ladner 2016).
Trotz der Schwierigkeiten, spezifische Konzepte auf verschiedene Länder zu übertra-
gen, stellen elf Messgrößen in sieben Dimensionen zusammengefasst einen Vergleich
der Länder sowie deren Entwicklung zwischen 1990 und 2014 dar. Die Daten zeigen
eine Zunahme der lokalen Autonomie, insbesondere in den neuen mittel- und osteuro-
päischen Ländern, bei gleichzeitigem Rückgang der Anzahl an Gemeinden von rund
120.000 (1990) auf 106.500 (2014). Länder mit einem besonders hohen Grad an loka-
ler Autonomie sind die Schweiz, die nordischen Länder, Deutschland, Polen, Liechten-
stein und Frankreich. Österreich befindet sich hinter Italien und Serbien auf Platz 13.
Dahinter folgen im Mittelfeld Tschechien, Portugal, Litauen, Bulgarien, Estland und
Luxemburg. Eine nur schwach ausgeprägte lokale Autonomie weisen Zypern, Türkei,
Malta, Moldawien, Georgien, Irland, Großbritannien, Ungarn und Slowenien auf.
Dieses Ranking basiert auf der Bewertung von Expert*innen zu Fragen der forma-
len Autonomie (selbstständige Aufgabenauswahl), des Umfanges der von Gemeinden
wahrgenommenen Aufgaben, des effektiven politischen Ermessensspielraums (tatsäch-
liche Entscheidungskompetenz der Gemeinden im Hinblick auf die wahrgenommenen
Aufgaben), der fiskalischen Autonomie, des Finanztransfersystems (Anteil nicht wei-
sungsgebundener finanzieller Transfers an den gesamten Zuweisungen), der finanziellen
Eigenständigkeit, Kreditautonomie, Organisationsautonomie, Bestandsgarantie, Ver-
waltungsaufsicht und Einbindung bei Entscheidungen höherer Politikebenen. Einer-
seits wird damit das Verhältnis zu höheren Entscheidungsebenen dargestellt, anderer-
seits die Organisation von Gemeinden bei der Bewältigung ihrer täglichen Aufgaben.
Jedenfalls steht die lokale Autonomie immer in Zusammenhang mit der rechtlichen
Stellung der Gemeinden im Staat, mit den Möglichkeiten, sich selbstständig zu organi-
sieren (Selbstverwaltung), mit den von Gemeinden erbrachten Aufgaben und Dienst-
leistungen (Funktionen) sowie ihren Möglichkeiten zu entscheiden, welche Leistungen
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265Die Gemeinden
sie wie erbringen, mit den finanziellen Mitteln, über die sie selbstständig verfügen, ihrer
relativen Unabhängigkeit von der Kontrolle und Einflussnahme von übergeordneten
Regierungen und mit ihren Möglichkeiten, Entscheidungen auf höherer Ebene zu be-
einflussen (Ladner 2016, 64 f.).
Österreich wird mit den anderen kontinentaleuropäisch-föderalen Staaten Deutsch-
land, Schweiz und Liechtenstein in einer Gruppe zusammengefasst, die sich durch
folgende Merkmale auszeichnet: Alle Werte blieben im untersuchten Zeitraum stabil.
Kommunen genießen einen starken Rechtsstatus und eine klar definierte institutionelle
Position in den vertikalen Beziehungen zwischen den verschiedenen Regierungsebenen.
Die Zusammenarbeit ist durch Kooperation geprägt. Durch die Steuerautonomie der
Gemeinden hebt sich die Schweiz allerdings von den anderen Ländern deutlich ab.
Eine deutsche Studie beschäftigte sich 2020 ebenfalls mit der kommunalen Hand-
lungsfähigkeit im europäischen Vergleich (Kuhlmann et al. 2020). Hier sind die Ver-
gleichsdimensionen ähnlich und zum Teil aufbauend auf der zuvor genannten Studie
der Europäischen Kommission. Untersucht wurden: Erstens die kommunale Autono-
mie, das heißt die Handlungs- und Gestaltungsfreiheit von Kommunen, über loka-
le Politik und Leistungserbringung zu entscheiden und diese zu vollziehen. Zweitens
das funktionale Profil, das heißt Umfang und Wichtigkeit der Kompetenzen, die von
den lokalen Gebietskörperschaften wahrgenommen werden und das zugrunde liegen-
de Konzept von Gemeinwohlorientierung und Daseinsvorsorge. Drittens die Stellung
der Kommunen im Mehrebenensystem und Funktionsteilung zwischen Kommunen
und Staat sowie Aspekte der staatlichen Aufsicht, Kontrolle und Intervention sowie der
lokal-dezentralen Zugänge zu übergeordneten Ebenen. Viertens das territoriale Profil,
das heißt gebietlicher Zuschnitt und damit territoriale Lebensfähigkeit der Gemeinde-
ebene. Fünftens das politische Profil, das heißt Ausgestaltung der lokalen Demokratie
(repräsentativ vs. direktdemokratisch), horizontale Machtbeziehungen beziehungsweise
insbesondere Verhältnis zwischen Rat und lokaler Exekutive (monistisch vs. dualistisch)
und Wahlmodus des Verwaltungsoberhaupts (direkt vs. indirekt) (Kuhlmann et al.
2020, 14).
Österreich findet sich in dieser Untersuchung mit Deutschland und der Schweiz
ebenfalls in der Gruppe der kontinentaleuropäisch-föderalen Länder. Diese zeichnen
sich laut Kuhlmann durch eine verfassungsmäßige Absicherung kommunaler Selbstver-
waltung einschließlich einer rechtlich verbrieften Allzuständigkeit aus. Hinzu kommen
ein breites Aufgabenprofil durch das Subsidiaritätsprinzip, eine starke politisch-demo-
kratische Legitimation durch Direktwahlen und Bürgerbeteiligung. Als Defizite weist
Kuhlmann die schwache finanzielle Autonomie der Kommunen und die vielen von hö-
heren Ebenen vorgeschriebenen Aufgaben aus, die sie als Tendenz zur „Verstaatlichung
der Kommunen“ (Kuhlmann 2020, 14) bezeichnet.
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266 Kathrin Stainer-Hämmerle
5. Herausforderungen für die Zukunft
Gesellschaftliche Megatrends wirken bis in die unterste Ebene der Politik und Verwal-
tung. Der demografische Wandel sowie internationale wie nationale Migration erzeu-
gen Wachstums- und Ballungsräume versus sich entleerende ländliche Gebiete. Trotz
der unterschiedlichen Entwicklung haben beide mit Problemen zu kämpfen. Erstere
können immer schwerer leistbares Wohnen zur Verfügung stellen. Bodenknappheit
und zunehmender Verkehr senken die Lebensqualität. Im ländlichen Raum hingegen
verschwinden Arbeitsplätze und Infrastruktur (Nahversorgung, Freizeiteinrichtungen,
Dienstleistungsangebote) und gefährden somit die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der
Gemeinde. Die Digitalisierung könnte mit neuen Lebens- und Arbeitswelten dem ent-
gegenwirken, doch neue Geschlechterrollen und das Älterwerden der Bevölkerung stel-
len Gemeinden von der Kinderbetreuung bis zur Pflege vor neue Herausforderungen.
Das im Gegensatz zum allgemeinen Trend gestiegene Vertrauen in Bürgermeis-
ter*innen während der COVID-19-Pandemie zeigt ihre Fähigkeit als Krisenmanager
(OÖGZ 2022), die sie bereits 2015 bei der Integration von Asylsuchenden bewiesen
haben. Die Bevölkerung ist ein hohes Niveau der kommunalen Daseinsvorsorge ge-
wohnt, allerdings sinkt die Bereitschaft, sich aktiv in der Gemeinschaft einzubringen.
Dies merken nicht nur Vereine, sondern auch Parteien und Bürger*innenlisten, denen
es immer schwerer fällt, ausreichend Kandidat*innen für Mandate und Funktionen zu
finden. Kommunalpolitisches Engagement macht zwar wegen des direkten Kontakts
mit der Bevölkerung, der Möglichkeit zu gestalten sowie der abwechslungsreichen Tä-
tigkeit Freude. Gleichzeitig sorgen sich Gemeindepolitiker*innen um den schrumpfen-
den Handlungsspielraum aufgrund der schlechten finanziellen Situation vieler Gemein-
den, der zunehmenden Bürokratisierung sowie den von Bund und Ländern zugeteilten
Aufgaben und des steigenden rechtlichen Risikos für sie persönlich.
Aufgrund der angespannten Finanzlage in vielen Gemeinden werden Formen der
Interkommunalen Zusammenarbeit (IKZ) zukünftig eine wichtigere Rolle spielen –
zur Sicherung einer effektiven und effizienten Leistungserbringung und zum Erhalt
der Gemeinde an sich. Viele Aufgaben, etwa im Bildungsbereich oder in der Pflege,
werden ohnehin schon übergreifend wahrgenommen beziehungsweise müssen verstärkt
in ihren Auswirkungen auf die Region begriffen werden, vor allem bei Raumordnung,
Standortentwicklung oder Umwelt- und Klimapolitik. Durch erfolgreiche Pilotprojekte
und mehr Anreize zur Kooperation könnte dem manchmal noch dominierenden Kirch-
turmdenken in den Grenzen der eigenen Gemeinde entgegengewirkt werden. Dazu
braucht es die stärkere Verankerung von Kooperation (ebenso zwischen Verwaltung
und Privatwirtschaft, zwischen Politik und Bürger*innen oder innerhalb der Bevölke-
rung) als Voraussetzung von Förderzusagen beziehungsweise sollte auch im Steuerrecht
und Finanzausgleich IKZ eine höhere Berücksichtigung finden.
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267Die Gemeinden
Die größte Herausforderung ist die Rückgewinnung des Vertrauens in die Politik, die
Demokratie und das politische System. Dabei können Kommunalpolitiker*innen mit
ihrer Sonderstellung als besondere Vertrauensträger*innen eine tragende Rolle über-
nehmen. Sie sind direkte Ansprechpartner*innen vor Ort und können als Vorbilder die
politische Kultur in der Gemeinde prägen. Aus Sicht der Bevölkerung sind Gemeinden
jener Ort, an dem sie gemeinsam ihr Zusammenleben gestalten und wo politisches
Engagement direkt wirksam wird.
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Österreichischer Städtebund (2022). https://www.staedtebund.gv.at/ (16.08.2022).
KDZ - Zentrum für Verwaltungsforschung (2022). https://www.kdz.eu/de (16.08.2022).
Übungsfragen
Es gibt unterschiedliche Typen von Gemeinden wie Ortsgemeinden, Marktgemein-
den, Städte, Statutarstädte und Landeshauptstädte. Worin besteht der Unterschied
zwischen diesen Gemeinden?
Die Aufgaben von Gemeinden lassen sich in einen eigenständigen und in einen
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269Die Gemeinden
übertragenen Wirkungsbereich einteilen. Nennen Sie Beispiele für diese Bereiche
und erläutern Sie, wer jeweils entscheiden darf?
Welche Rechte stehen Gemeinden zu, wenn sie im Rahmen der privatwirtschaft-
lichen Verwaltung tätig sind?
Welche Aufgaben hat der Gemeindevorstand und wie nennt sich dieses Organ in
Statutarstädten?
Wo sind Instrumente der direkten Demokratie auf Gemeindeebene geregelt? Welche
Bestimmung hob der Verfassungsgerichtshof auf und wie begründete er dies?
Mit welchen Maßnahmen könnte der Frauenanteil im Bürgermeisteramt erhöht
werden?
Gibt es eine ideale Gemeindegröße und welche Gründe sprechen für bzw. gegen Ge-
meindezusammenlegungen?
Wie lassen sich Formen der Interkommunalen Zusammenarbeit unterscheiden?
Welche Vereine haben Gemeinden gegründet, um gemeinsam ihre Interessen zu ver-
treten und wie werden ihre Präsidenten gewählt?
Im internationalen Vergleich wird Österreich zu den kontinentaleuropäisch-födera-
len Staaten gezählt. Welche anderen Länder gehören zu dieser Gruppe und welche
Gemeinsamkeiten weisen sie auf?
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Der*die Bundespräsident*in
Ludger Helms / Philipp Umek
Zusammenfassung
9Der*die Bundespräsident*in ist das Staatsoberhaupt der Republik.
9Das Amt wird durch eine Direktwahl bestellt, wahlberechtigt sind alle Staatsbürger*innen
ab dem vollendeten 16. Lebensjahr. Passiv wählbar sind Kandidat*innen ab dem vollende-
ten 35. Lebensjahr.
9
9
Auf der Ebene der Formalverfassung entspricht Österreich dem semipräsidentiellen Regime-
typ; die Praxis ist jedoch eindeutig geprägt von einer parlamentarischen Regierungsweise.
9Die österreichische Bundespräsidentschaft ist charakterisiert durch die gelebte Praxis des
„Rollenverzichts“ und einen quasi-sakralen Status des Amtes.
9Der*die Bundespräsident*in ernennt den*die Bundeskanzler*in und auf dessen*deren
Vorschlag die Bundesregierung. Ebenso können der Nationalrat oder die Landtage durch
das Staatsoberhaupt aufgelöst werden.
9Zentrale Aufgabe ist die Repräsentation – der*die Bundespräsident*in personalisiert die
Republik als Ganzes und vertritt sie im Ausland.
9Der lange und nervenaufreibende Wahlkampf 2016 zeitigte große Veränderungen, inso-
fern als die Kandidaten von SPÖ und ÖVP bereits im ersten Wahlgang ausschieden und
sich Alexander Van der Bellen (GRÜNE) schlussendlich gegen Norbert Hofer (FPÖ) durch-
setzen konnte. Gemessen an den außergewöhnlichen Umständen der Wahl Van der Bel-
lens ist jedoch auch seine Amtsführung durch eine Politik der ruhigen Hand charakteri-
siert.
1. Einleitung
Der*die Bundespräsident*in ist das Staatsoberhaupt der Republik Österreich. Die aller-
meisten demokratischen Systeme kennen ein Staatsoberhaupt. In dieser Hinsicht bildet
die Schweiz, die darauf zugunsten des Prinzips einer Direktorialregierung (mit einem
turnusmäßigen Wechsel der sieben Bundesrät*innen in der Funktion des*der Bundes-
präsidenten*Bundespräsidentin) bewusst verzichtet, die große Ausnahme in Europa.
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272 Ludger Helms / Philipp Umek
Ein zentraler Unterschied zwischen den Staatsoberhäuptern demokratischer Systeme
der Gegenwart betrifft die Frage, ob diese demokratisch gewählt sind oder nicht. Vor
allem in Ländern, in denen sich der historische Übergang der vordemokratischen Epo-
che in das Zeitalter der Demokratie auf evolutionäre Weise vollzog (z.B. Vereinigtes Kö-
nigreich, Niederlande oder Schweden), aber auch in einigen Ländern mit gebrochener
demokratischer Regimegeschichte (z.B. Spanien), gibt es häufig noch Erbmonarch*in-
nen an der Spitze der Staatsorganisation. Sie wurden im Zuge der Konstitutionalisie-
rung und Demokratisierung von Herrschaft freilich längst politisch mehr oder weni-
ger vollständig entmachtet und erfüllen heute vor allem symbolische und prozedurale
Funktionen. Auf der anderen Seite stehen die republikanischen Staatsoberhäupter, die
durch demokratische Wahlen in ihr Amt gelangen. Dabei sind längst nicht alle dieser
republikanischen Staatsoberhäupter direkt gewählt wie die österreichischen Bundesprä-
sident*innen, welche gemäß Artikel 60 B-VG jeweils auf sechs Jahre, mit der Möglich-
keit einer einmaligen Wiederwahl für die unmittelbar anschließende Funktionsperiode,
durch Volkswahl bestimmt werden. In fast allen der österreichischen Nachbarländer, in
Deutschland, Italien und Ungarn, wählen hingegen parlamentarische Versammlungen
den*die Präsidenten*Präsidentin.
Der*die Bundespräsident*in ist das direkt gewählte Staatsoberhaupt der Republik.
Zentrale Aufgaben sind die Repräsentation und die Ernennung der Regierungsmit-
glieder. Die lebende Verfassung ist durch einen, gemessen am verfassungsrechtlichen
Handlungspotenzial des Staatsoberhaupts, weitgehenden „Rollenverzicht“ gekenn-
zeichnet.
Die Alternative zwischen parlamentarischer und Volkswahl des*der Präsidenten*Prä-
sidentin hat in der politikwissenschaftlichen Regierungslehre zu der Unterscheidung
zwischen parlamentarischen Systemen (mit nicht-direkt gewähltem Staatsoberhaupt)
und semi-präsidentiellen Systemen (mit parlamentarischer Verantwortlichkeit der Re-
gierung, aber direkter Wahl des Staatsoberhaupts) geführt; beide sind zu unterscheiden
vom präsidentiellen Regierungssystem (mit Direktwahl des*der Präsidenten*Präsidentin
und strikter Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Legislative; Helms 2016). Dass
mit Blick auf die Verfassungspraxis unterschiedlicher Länder auch auf dieser Basis nicht
immer verlässliche Aussagen möglich sind, zeigt gerade der österreichische Fall, der in
dieser Hinsicht international zu den großen Ausnahmen formal semi-präsidentieller Sys-
teme gezählt wird, wie in Abschnitt 4. dieses Beitrags eingehender darzulegen ist.
Die institutionelle beziehungsweise verfassungsrechtliche Grundkonstellation unter-
schiedlicher demokratischer Systeme hat auch den Stellenwert des Staatsoberhaupts als
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273Der*die Bundespräsident*in
Gegenstand politikwissenschaftlicher Forschung geprägt. In vielen präsidentiellen Sys-
temen, in denen direkt gewählte Präsident*innen nicht nur Staatsoberhaupt, sondern
zugleich Regierungschef*in sind (sog. „executive presidents“, Elgie 2015), gibt es eine
regelrechte Spezialdisziplin mit dem Titel „Presidential Studies“ (so auch der Titel einer
bedeutenden US-amerikanischen Fachzeitschrift). Ähnliches gilt für die semi-präsiden-
tiellen Systeme, die angesichts ihrer Vielzahl einen besonders ergiebigen Gegenstand
ländervergleichender Forschung darstellen (Brunclík 2020; Carrier 2016; Elgie 2011;
Elgie/Moestrup 2007 & 2016; Graça Feijó 2021; Raunio/Sedelius 2019).
Ein wichtiges Untergebiet dieses Forschungsbereichs, auf dem in der jüngeren Ver-
gangenheit beträchtliche Fortschritte erzielt wurden, widmet sich der systematischen
Bestimmung und Indizierung von „presidential power“. Dabei liegt der Schwerpunkt
zumeist auf den institutionellen Amtsgewalten des Staatsoberhaupts (Doyle/Elgie
2014; Doyle 2020; Lowande/Shipan 2021), wobei freilich längst erkannt wurde, dass
die tatsächliche Macht in hohem Maße vom strategischen Einsatz der verfügbaren Ins-
trumente abhängig ist (Cameron 2000). Einige der jüngsten Arbeiten auf diesem Ge-
biet waren explizit darum bemüht, der informellen Dimension präsidentieller Macht in
konzeptueller Hinsicht Herr zu werden und Kategorien zu erschaffen, die einer regime-
übergreifenden Analyse zuträglich sind (Grimaldi 2021).
Die zugrunde liegende Ausgangsvermutung, dass vor allem Präsident*innen präsi-
dentieller Systeme potenziell über sehr weitreichende Macht verfügen, hat in den be-
treffenden Ländern schon früh die Entstehung von Ansätzen befördert, die die persön-
lichen Führungsstile (Hargrove 1993; Sinclair 1993; Greenstein 2009) ins Zentrum
rückten. Die Präsident*innen dieser Systeme haben einen festen Platz auch in der spe-
zielleren Disziplin der Politischen Psychologie inne (Alexander/Alexander 1981; Araya
2021) – zurecht, da ihre persönlichen Eigenschaften und Ressourcen nicht nur das
Innenleben ihrer jeweiligen Administration, sondern zugleich die Politik ihrer Länder
nachhaltig prägen.
Auf diese Idee würde man im österreichischen Kontext kaum verfallen. Das wich-
tigste und machtvollste politische Amt ist zweifelsfrei, und von Beginn der Zweiten Re-
publik an, der*die Bundeskanzler*in, nicht der*die Bundespräsident*in (Müller 1992;
Pallaver 2005).1 So ist es auch kein bloßer Zufall, dass die Bundespräsident*innen in
1 Und selbst der Einfluss der österreichischen Bundeskanzler*innen beziehungsweise deren
Persönlichkeit auf die Regierung und die Regierungspolitik insgesamt ist angesichts der be-
grenzten institutionellen Ressourcen des*der Regierungschefs*Regierungschefin und den
Wirkungen des vorherrschenden politischen Kontexts beschränkter als in manchen anderen
Systemen. Gemäß einer jüngeren vergleichenden Studie liegt der „score“ für die politisch-
institutionelle Macht österreichischer Kanzler*innen im 21. Jahrhundert bei vier von sieben
möglichen Punkten (Bergman et al. 2021, 687–691).
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274 Ludger Helms / Philipp Umek
diesem Band mit editorischer Intuition den Institutionen, statt den Akteur*innen zu-
geordnet werden. Dies verweist nicht nur auf das – trotz der beträchtlichen Unter-
schiede im Persönlichkeitsprofil der bisherigen Amtsinhaber – alles in allem betont
dezente Handeln sämtlicher bisheriger Präsidenten. Ein solches Verständnis steht im
Einklang mit der verbreiteten gesellschaftlichen Wahrnehmung, dass Präsident*innen
der Zweiten Republik auch im Sinne ihrer Beständigkeit, Ehrwürdigkeit und der hohen
Erwartungssicherheit ihrer Handlungen gleichsam eine Institution bildeten. Nicht zu-
letzt im Umfeld der Regierungskrise 2019 wurde diese Qualität des Bundespräsidenten
als Fels in der Brandung in besonderer Weise greifbar (Jenny 2020). Auch die in der
jüngsten Vergangenheit exorbitant hohe personelle Wechselfrequenz im Bundeskanz-
leramt – nicht weniger als sechs Kanzler*innen zwischen 2016 und Ende 2021 – hat
den relativen Status des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin sukzessive erhöht.
Dabei hatten die heftigen politischen Auseinandersetzungen über die Nachfolge
Bundespräsident Fischers das Amt bereits einige Jahre zuvor ihres friedlichen Schatten-
daseins beraubt. Dass dieser signifikante Aufschwung medialer und gesellschaftlicher
Aufmerksamkeit gegenüber dem Amt und seiner politisch-institutionellen Zukunft bis-
lang praktisch keinen Niederschlag in der politikwissenschaftlichen Literatur gefunden
hat, gehört gewiss zu den bemerkenswerten Aspekten des Gegenstands. Eine Google-
Scholar-Recherche zum Begriff „Austrian presidency“ beispielsweise erbringt mehrere
Beiträge zu den österreichischen EU-Ratspräsidentschaften der vergangenen Jahre, aber
keinen einzigen über die bisherigen Bundespräsidentschaften. Dies bleibt bemerkens-
wert, auch wenn man berücksichtigt, dass seitens der österreichischen Politikwissen-
schaft viele potenziell erforschungswürdige Aspekte des öffentlichen Lebens aufgrund
der beschränkten Ressourcen keine angemessene Aufarbeitung erfahren und die attes-
tierte Forschungslücke gewiss nicht Ausdruck einer gezielten, spezieller motivierten Ig-
noranz ist.
2. Gegenwärtige Situation
Der*die Bundespräsident*in wird seit 1951 entsprechend den Prinzipien des allgemei-
nen, gleichen, geheimen, freien und persönlichen Wahlrechts direkt gewählt (Art 60
B-VG). Die aktuelle Fassung des Bundespräsidentenwahlgesetzes von 1971 (BPräsWG)2
sieht dabei vor, dass alle Bürger*innen mit aktivem Wahlrecht für Nationalratswahlen
auch an Bundespräsidentschaftswahlen teilnehmen können. Dies umfasst seit der Bun-
despräsidentschaftswahl 2010 alle österreichischen Staatsbürger*innen, die mit dem
2 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnum-
mer=10000494 (31.03.2022).
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275Der*die Bundespräsident*in
Tag der Wahl das 16. Lebensjahr vollendet haben und nicht gerichtlich vom Wahlrecht
ausgeschlossen wurden. Eine Wahlpflicht, von den Bundesländern in der Vergangenheit
unterschiedlich gehandhabt, besteht seit 2010 nirgends mehr.3 Das passive Wahlrecht
darf für sich in Anspruch nehmen, wer „zum Nationalrat wählbar ist und am Tag der
Wahl das 35. Lebensjahr vollendet hat“ (§ 6 Abs 1 ebd.) und der weisungsfreien Bun-
deswahlbehörde im Innenministerium mindestens 6000 Unterstützungsunterschriften
vorlegen kann.4 Die Wahl selbst findet – wie in Österreich auch bei anderen Wahlen
üblich – an einem Sonntag statt, darf aber nicht zeitgleich mit anderen Wahlen oder
einer Volksabstimmung zu liegen kommen. Neben den Bürgermeister*innen-Direkt-
wahlen in sechs der neun Bundesländer ist die Bundespräsidentschaftswahl die ein-
zige Personenwahl und wird als absolute Mehrheitswahl („Two-Round System“, IDEA
2002, 42) ausgestaltet. Kann keine der antretenden Personen eine absolute Mehrheit im
ersten Wahlgang auf sich vereinen, entscheidet eine Stichwahl (engere Wahl) zwischen
den zwei stimmenstärksten Kandidat*innen der ersten Runde. Sollte nur eine Person
kandidieren, was bislang allerdings noch niemals vorgekommen ist, wäre die Wahl in
Form einer Abstimmung abzuhalten (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem Band).
Der Amtssitz befindet sich im Leopoldinischen Trakt der Hofburg in Wien. Die
Amtsdauer beträgt sechs Jahre mit der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl. Da-
raus ergibt sich eine maximale Amtsdauer von zwölf Jahren in einem Stück. Die Amts-
stellung gilt auch dann als dauernd erledigt (Art 64 B-VG), sollte sich die Amtseinfüh-
rung der Nachfolge, wie im Falle der zahlreichen Malversationen im Wahlkampf 2016,
verzögern (siehe dazu Box Anschauliches). Interimistisch übernehmen in einem solchen
Fall die drei Präsident*innen des Nationalrats als Kollegialorgan die Rolle des*der Bun-
despräsidenten*Bundespräsidentin. Dies führte im Jahre 2016 zu der obskuren Situa-
tion, dass der unterlegene Kandidat Norbert Hofer qua seines Amtes als dritter Natio-
nalratspräsident während der späten Phase des sich hinauszögernden Wahlkampfes zur
Gänze, allerdings „ex lege“ (ohne eigene Angelobung), auch mit den Amtsgeschäften
des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin betraut war.5 Bei kurzen Verhinderun-
3 Auf Bundesebene wurde die Wahlpflicht bereits in den frühen 1980er-Jahren aufgegeben. In
den vier Bundesländern, in denen eine Wahlpflicht landesgesetzlich normiert wurde (Kärnten,
Steiermark, Tirol und Vorarlberg), kam es zwischen 1993 und 2004 zur Abschaffung dieser
Regel, zuletzt in Tirol durch eine Entscheidung des Tiroler Landtages im Juli 2004, so dass die
Bundespräsidentenwahl 2010 zur landesweit ersten komplett ohne Wahlpflicht wurde.
4 Vor 1998 konnten diese auch durch fünf Unterschriften von Nationalratsabgeordneten subs-
tituiert werden.
5 Die Wahrnehmung der Vertretungsfunktion durch die Nationalratspräsident*innen markier-
te indes kein absolutes Novum in der Geschichte des Amtes. Eine Übernahme der Funktio-
nen des Bundespräsidenten durch das dreiköpfige Nationalratspräsidium war bereits nach
dem Tod von Franz Jonas (1974) und omas Klestil (2004) notwendig geworden.
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276 Ludger Helms / Philipp Umek
gen des*der Präsidenten*Präsidentin bis zu 20 Tagen, gehen die Funktionen zunächst
auf den*die Bundeskanzler*in über.
Während seiner Amtszeit genießt der*die Bundespräsident*in Immunität vor juris-
tischer oder behördlicher Verfolgung. Diese kann nur durch die Bundesversammlung
(dem gemeinsamen Gremium aus Nationalrat und Bundesrat) aufgehoben werden.
Gemäß der rechtlichen Verantwortlichkeit kann der*die Amtsinhaber*in wegen Ver-
letzung der Bundesverfassung vor dem Verfassungsgerichtshof angeklagt werden. Noch
höhere Hürden gelten für die politische Verantwortlichkeit (Art 68 B-VG), was die
Absetzung amtierender Bundespräsident*innen nur sehr schwer möglich und für den
Nationalrat äußerst riskant macht. Mit den gleichen Quoren wie für Gesetzesbeschlüsse
im Verfassungsrang (Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten und
einer Zweidrittelmehrheit) ist die Bundesversammlung einzuberufen, welche über die
Abhaltung einer Volksabstimmung über die Absetzung zu entscheiden hat. Gewinnt
der*die Amtsinhaber*in eine anberaumte Volksabstimmung, wird in dessen Folge der
Nationalrat aufgelöst und der*die Bundespräsident*in gilt als neu gewählt. Die maxi-
male Amtszeit von zwölf Jahren verlängert sich dadurch jedoch nicht. Dieses Verfahren
käme im Kern einem politischen Machtkampf zwischen Parlament und Bundespräsi-
dent*in gleich, entschieden durch die Gunst der Wähler*innen. Ungeklärt bleibt, ob
und unter welchen Umständen im Zuge eines solchen politischen Kräftemessens ein
Rücktritt oder freiwilliger Amtsverzicht des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin
möglich wäre. Weder die Bundesverfassung noch die politische Praxis bieten dazu ir-
gendwelche Anhaltspunkte.
Auch die alltäglichste und politisch zugleich wichtigste Funktion des Amtes – die
Repräsentation – findet sich in keiner gesetzlichen beziehungsweise verfassungsrecht-
lichen Regelung wieder. Der*die Bundespräsident*in „personalisiert die Republik als
Ganzes“ (Welan 1986, 29), im Inland genauso wie in der Vertretung „nach außen“
(Art 65 B-VG). Bei der Repräsentation nach innen geht es dabei nicht zuletzt um einen
zentralen Beitrag zur politisch-gesellschaftlichen Integration des Gemeinwesens. Als
rechtlich komplexer und politisch umstrittener erwies sich die Frage der Repräsentation
nach außen. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union 1995 nahm Bundespräsident
omas Klestil zunächst für sich in Anspruch, die Republik im Europäischen Rat der
Staats- und Regierungschefs zu vertreten. Bundeskanzler Franz Vranitzky stellte sich
dieser ungewöhnlich großzügigen Amtsauslegung entschieden entgegen und behaup-
tete sein Vorrecht.6 Grundsätzlich bedürfen alle Akte des*der Bundespräsidenten*Bun-
6 Dieses Vorrecht speist sich jedoch insbesondere aus der etablierten Rollenteilung zwischen
Bundespräsident*in und Bundeskanzler*in in der lebenden Verfassung der Zweiten Republik.
Aus international vergleichender Perspektive betrachtet erscheinen die Vorstellungen Klestils
keineswegs grundsätzlich als „abwegig“ oder „beispiellos“. Unter den heute 27 Staats- und
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277Der*die Bundespräsident*in
despräsidentin (soweit nicht explizit anders in der Bundesverfassung vermerkt) eines
Vorschlags der Bundesregierung und der Gegenzeichnung durch den*die Bundeskanz-
ler*in oder die zuständigen Bundesminister*innen. Die Republik wird generell durch
den*die Bundeskanzler*in oder den*die Außenminister*in vertreten. Gewisse verfas-
sungsrechtliche Unschärfen wurden jedoch praktisch von Beginn an juristisch kontro-
vers diskutiert (Welan 1986; Koja 1997), was Bundespräsident Klestil die Möglichkeit
eröffnete zu argumentieren, er habe sein Vertretungsrecht in diesem Fall lediglich an
den zuständigen Bundeskanzler delegiert. Die Außenpolitik bleibt aber dennoch, sei
es durch Staatsbesuche oder die Begleitung von Wirtschaftsdelegationen, ein zentrales
Betätigungsfeld der Bundespräsident*innen. Der damalige Wirtschafskammerpräsident
Christoph Leitl sprach dabei von der wichtigen Rolle des*der Bundespräsidenten*Bun-
despräsidentin als „Türöffner … (besonders für) … schwierige Märkte“ (Leitl 2017,
106).
Die machtpolitisch potenziell wirkmächtigsten Kompetenzen besitzen die Bun-
despräsident*innen bei der Regierungsbildung beziehungsweise der Entlassung einer
Regierung. Bei der Ernennung des*der Bundeskanzlers*Bundeskanzlerin ist der*die
Bundespräsident*in durch keinerlei verfassungsrechtliche Vorgaben eingeschränkt. Die
Bundesregierung in ihrer Gesamtheit oder der*die Bundeskanzler*in selbst kann folg-
lich entsprechend Artikel 70 (1) B-VG durch den*die Bundespräsidenten*Bundesprä-
sidentin entlassen werden, einzelne Bundesminister*innen hingegen nur auf Vorschlag
des*der Bundeskanzlers*Bundeskanzlerin oder auf eigenen Wunsch. Realpolitische Ab-
wägungen und die Bedingungen der Gewaltenverschränkung engen diese formal weit-
reichende Kreationsfunktion der Bundespräsident*innen jedoch üblicherweise emp-
findlich ein. Die Regierungsbildung bedarf nämlich zusätzlich der Initiative des*der
Bundeskanzlers*Bundeskanzlerin, da die einzelnen Minister*innen und Staatssekre-
tär*innen nur auf dessen beziehungsweise deren Vorschlag ernannt werden können.
Eine Regierungsbildung beruht somit immer auf einer parlamentarischen Mehrheit im
Nationalrat oder zumindest einer Duldung durch diese, da der Nationalrat durch ein
Misstrauensvotum jederzeit die Bundesregierung zu Fall bringen kann. Bei der Beru-
fung von Koalitionsregierungen besteht zumindest in formaljuristischer Hinsicht den-
noch ein nicht unbeträchtlicher Gestaltungsspielraum. Die verfassungsrechtlich starke
Stellung des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin wird durch die jahrzehntelang
geübte Praxis des Rollenverzichts jedoch konterkariert und die stimmenstärkste Partei
Regierungschefs*Staats- und Regierungschefinnen der EU (Europäischer Rat), finden sich
mehrere Präsident*innen semi-präsidentieller Systeme – nicht nur Frankreichs, sondern auch
Litauens und Rumäniens (sowie der Präsident Zyperns, der einzigen präsidentiellen Demo-
kratie innerhalb der EU).
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278 Ludger Helms / Philipp Umek
regelmäßig mit der Regierungsbildung betraut.7 In der Vergangenheit gab es nur drei
Fälle, in denen Bundespräsidenten die ihnen vorgeschlagenen Ernennungen ablehnten:
So weigerte sich Karl Renner 1949, den unter Korruptionsverdacht stehenden Peter
Krauland erneut zu ernennen; eodor Körner stemmte sich 1953 erfolgreich gegen
die Ernennung einer Konzentrationsregierung mit dem Verband der Unabhängigen
(VdU); omas Klestil schließlich verhinderte 1999 die Angelobung der beiden FPÖ-
Politiker Hilmar Kabas und omas Prinzhorn.8 Analog dazu zog Bundespräsident
Alexander Van der Bellen im Vorfeld der Regierungsbildung 2017, wohlwissend eine
Regierungsbeteiligung der FPÖ nicht verhindern zu können, früh eine rote Linie: keine
Angelobung von Johann Gudenus und Harald Vilimsky (wobei es bezeichnend war,
dass keiner von beiden als Ministerkandidat der FPÖ gehandelt wurde).
Die Auflösung des Nationalrats durch den Bundespräsidenten oder die Bundesprä-
sidentin kann auf Antrag durch die Bundesregierung und mit entsprechender Begrün-
dung erfolgen, „er [oder sie, sic] darf dies jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlass
verfügen“ (Art 29 B-VG). Im Gegensatz zu einer möglichen Selbstauflösung des Natio-
nalrats, bei der dieser bis zur Konstitution des neuen Nationalrats weiter tagen könnte,
wäre dadurch der Nationalrat unmittelbar handlungsunfähig. Von dieser Option wurde
bisher nur von Wilhelm Miklas 1930 Gebrauch gemacht (siehe Abschnitt 3.), seitdem
gilt sie als totes Recht und würde nur im Ausnahmefall einer politischen Pattsituation
im Nationalrat eine legitime Anwendung finden. Obwohl noch nie zur Anwendung
gelangt, gäbe es nach Artikel 100 B-VG ebenso die Möglichkeit, einzelne Landtage auf-
zulösen. Dafür benötigt der*die Bundespräsident*in jedoch einen entsprechenden An-
trag der Bundesregierung. In weiterer Folge muss die Zustimmung des Bundesrates mit
Zweidrittelmehrheit eingeholt werden, wobei die Mandatar*innen des Bundeslandes,
dessen Landtag aufgelöst werden soll, kein Stimmrecht besitzen.
Zu den sonstigen Kompetenzen zählen ferner einige weniger bedeutende, aber
7 Mit Rollenverzicht ist die bewusste Nichtinanspruchnahme einer im Lichte der institutionel-
len Kompetenzen betrachtet möglich erscheinenden, deutlich prominenteren Rolle des*der
Bundespräsidenten*Bundespräsidentin im politischen Prozess gemeint. Die Gründe dafür
waren vielfältig. „Letzten Endes erwies sich eine deutlich exponiertere Stellung des*der Bun-
despräsidenten*Bundespräsidentin in der Verfassungspraxis schlicht als entbehrlich. Es gab
keinen Mangel an repräsentativen Führungsfiguren, kein Machtvakuum, sondern im Gegen-
teil eher zu viele Machtzentren, besonders im Bereich der Exekutive zu Zeiten einer großen
Koalition“ (Helms/Wineroither 2017, 195).
8 Nach Jahren nährten sich allerdings Mutmaßungen, dass dies im Einvernehmen zwischen
Jörg Haider und omas Klestil als inszenierte Sollbruchstelle konstruiert war, um jenem
Bundespräsidenten die Möglichkeit zum symbolischen Widerstand zu geben; siehe https://
kurier.at/politik/inland/die-ablehnung-von-zwei-ministern-eine-inszenierung/298.386.278
(31.03.2022).
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279Der*die Bundespräsident*in
zum Teil durchaus ressourcenintensive Aufgaben. So verlangt die Bundesverfassung in
Artikel 47, dass im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens das verfassungskonforme Zu-
standekommen der Bundesgesetze durch den*die Bundespräsidenten*Bundespräsiden-
tin bestätigt wird. Dies entspricht jedoch keinesfalls einem Vetorecht aus politischen
Gründen wie es Präsident*innen in den USA zusteht. Der*die Bundespräsident*in be-
glaubigt dabei nur als Staatsnotar*in die Einhaltung formaler Regeln, die inhaltliche
Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes kann schon aufgrund fehlender
Ressourcen nicht geleistet werden (Cede/Prosl 2017), obliegt aber ohnehin dem Verfas-
sungsgerichtshof. Diese Kompetenzarmut österreichischer Bundespräsident*innen im
Gesetzgebungsverfahren ist nicht nur im Vergleich zu Präsident*innen präsidentieller
und vieler semi-präsidentieller Systeme auffällig. Selbst die insgesamt deutlich ressour-
cenärmeren deutschen Bundespräsident*innen verfügen nach herrschender Auffassung
über ein materielles (nicht nur formelles) Prüfungsrecht9, welches dem österreichischen
Staatsoberhaupt fehlt. Dennoch gibt es in der Praxis gewisse Handlungsspielräume. So
lehnte Bundespräsident Fischer Anfang 2008 die Beurkundung einer Novelle zur Ge-
werbeordnung ab, da das betreffende Gesetz aus seiner Sicht eine rückwirkende Straf-
bestimmung enthielt.10
Weiters obliegen der Präsidentschaftskanzlei die personellen Ernennungen im Staats-
dienst wie Richter*innen, Bundesbeamt*innen und Offizier*innen des Bundesheeres.
Wenngleich diese Ernennungen meist durch die zuständigen Ministerien direkt erfol-
gen, wird die Ernennung hochrangiger Beamter*Beamtinnen sowie von Verwaltungs-
und Verfassungsrichter*innen durch die Präsidentschaftskanzlei selbst betreut. Verschie-
dene Bundespräsidenten machten in der Vergangenheit von ihrem Überprüfungsrecht
der Ernennungsvoraussetzungen regelmäßig Gebrauch. Etwaige Interventionen in die
Personalpolitik der Parteien fanden aber, mit Ausnahme der Amtszeit omas Klestils,
stets dezent, abseits der Öffentlichkeit statt. Für Aufsehen sorgte jedoch die von Alex-
ander Van der Bellen verhinderte Ernennung von Peter Goldgruber.11
Der*die Bundespräsident*in verfügt nach Artikel 80 B-VG über den Oberbefehl
über das österreichische Bundesheer. Daraus leitet sich allerdings keineswegs eine „un-
mittelbare Befehlsgewalt“ (Welan 1992, 72) ab; vielmehr verbleibt die zentrale poli-
tische Kompetenz im Verteidigungsministerium. Die Präsidentschaftskanzlei kann
9 https://www.bundestag.de/resource/blob/817824/b8c8bb9b87e00a9c71aa9691cc3077a2/
WD-3-257-20-pdf-data.pdf (31.03.2022).
10 https://www.derstandard.at/story/3182945/bundespraesident-lehnt-gesetz-ab (31.03.2022).
11 Peter Goldgruber galt als Drahtzieher der BVT-Hausdurchsuchungen und Vertrauensmann
von Herbert Kickl und sollte zum Generalsekretär für öffentliche Sicherheit aufsteigen. Kickl
ernannte Goldgruber nur einen Tag nachdem am 19. Mai 2019 (zwei Tage nach Veröffent-
lichung der Ibiza-Aufnahmen) bekannt wurde, dass Bundeskanzler Kurz plane, dem Bundes-
präsidenten die Abberufung von Innenminister Herbert Kickl vorzuschlagen.
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280 Ludger Helms / Philipp Umek
ferner außerordentliche Rekrutierungsmaßnahmen veranlassen und von ihrem umfas-
senden Informationsrecht Gebrauch machen. Als eine politisch weniger wichtige, aber
potenziell durchaus zeitintensive Aufgabe kann weiters das Begnadigungsrecht12 oder
die Vergabe von außerordentlichen Ehrentiteln erwähnt werden. Abschließend ist auf
allfällige Kompetenzen in ausgesprochenen Krisensituationen hinzuweisen. Nach Arti-
kel 18 B-VG kommt dem Bundespräsidenten beziehungsweise der Bundespräsidentin
unter besonderen Voraussetzungen ein Notverordnungsrecht zu. Dieses wurde bislang
jedoch noch niemals in Anspruch genommen; auf diese Weise entstandene Verord-
nungen unterliegen jedenfalls einer ex-post Kontrolle durch den Nationalrat. Weiters
wurde Bundespräsident Van der Bellen erstmalig als Vollzugsorgan im Zuge weiterer
Ermittlungen durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA)
und der politischen Aufarbeitung im Ibiza-Untersuchungsausschuss tätig. Am 5. Mai
2021 wurde er mit der Exekution eines VfGH-Entscheids gegen Finanzminister Ger-
not Blümel beauftragt. Dieser weigerte sich beharrlich, dem Parlament entsprechende
E-Mail-Postfächer aus seinem Ministerium zum Untersuchungsgegenstand zugänglich
zu machen. Blümel lieferte in diesem beispiellosen Vorgang schlussendlich die angefor-
derten E-Mails in ausgedruckter Form und kam dadurch der Exekution durch den*die
Bundespräsidenten*Bundespräsidentin zuvor.
Anschauliches. Wahlkampf 2016
Der aktuelle Bundespräsident Alexander Van der Bellen wurde am 4. Dezember 2016
nach einem beispiellos turbulenten und prolongierten Wahlkampf zum Nachfolger von
Heinz Fischer gewählt und am 26. Jänner 2017 angelobt. Die Wahlkampagnen starteten
-
-
blieb die einzige Kandidatin um die Bundespräsidentschaft 2016 und war insgesamt
die siebente Frau, die für das Amt kandidierte.13 Die ehemaligen Großparteien ÖVP und
12 Im Schnitt wurden zuletzt jährlich ca. 25 Einzelbegnadigungen und 15 Weihnachtsbegna-
digungen ausgesprochen. Von 2015-2019 waren das insgesamt 202 Begnadigungen https://
www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/AB/AB_00593/index.shtml (31.03.2022).
13 Damit war die Gruppe der Kandidat*innen für die Hofburg in der Summe deutlich weib-
licher als jene der Kanzlerkandidat*innen (Helms 2020), in der es erst im Kontext der Natio-
nalratswahl 2019 mit Pamela Rendi-Wagner die erste weibliche Spitzenkandidatin gab.
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281Der*die Bundespräsident*in
Seniorenbundes. Für die SPÖ legte Rudolf Hundstorfer sein Amt als Sozialminister zu-
rück, um sich ganz dem Wahlkampf widmen zu können. Die Bundespräsidentschaft gilt
traditionell als krönender Abschluss einer langjährigen Parteikarriere. Ins Altersschema
passend, jedoch parteipolitisch unabhängig, reihte sich der Wiener Baumeister Richard
Lugner mit rund 85 Jahren als ältester Bewerber ein. Er war auch der einzige Kandi-
dat, der bereits zuvor einen Bundespräsidentschaftswahlkampf bestritten hatte. Un-
gewöhnlich jung für dieses Amt hingegen erschien Norbert Hofer als Kandidat der FPÖ.
Der amtierende dritte Nationalratspräsident zögerte zunächst, das üblicherweise am
Engagement nach einer Amtszeit als Bundespräsident*in würde unweigerlich wie ein
Rückschritt wirken, trotz des international beobachteten Trends hin zu beeindrucken-
Auf gesellschaftlicher Ebene wurde in Österreich eine immer stärkere Polarisierung
debattiert, was schlussendlich exakt der medialen Aufmerksamkeitslogik entsprach,
so dass der weitere Wahlkampf zwischen den ideologisch am weitesten entfernten
Kandidat*innen in einem „perfekten Sturm“ kulminierte. Norbert Hofer entschied den
ersten, noch vergleichsweise unaufgeregten Wahlgang mit 35,1 Prozent klar für sich.
Alexander Van der Bellen reihte sich mit 21,4 Prozent nur knapp vor der drittplatzierten
-
teilen für Norbert Hofer in den Umfragen. Dennoch entschied Alexander Van der Bellen
die Stichwahl mit einem nur hauchdünnen Vorsprung (50,4 %) für sich. Dabei konnte das
verkündet werden. Beinahe 20 Prozent der Stimmen wurden als Briefwahlstimmen re-
gistriert. Van der Bellen erhielt ein Vielfaches mehr dieser Stimmen als Hofer, was im
FPÖ-Lager wiederholt eine scharfe Kritik an den Wahlkarten hochkochen ließ.
Die FPÖ brachte schließlich eine Anfechtung dieses zweiten Wahlgangs ein. Die Be-
schwerden umfassten dabei im Wesentlichen die vorzeitige Auszählung der Briefwahl-
stimmen, obwohl dies auch in früheren Wahlgängen durchaus üblich war. Der VfGH gab
dieser Anfechtung statt und ordnete eine Wiederholung des Wahlgangs für ganz Ös-
terreich an. Eine tatsächliche und ergebnisverändernde Auswirkung wurde zwar nicht
angenommen, doch genügte dem Verfassungsgerichtshof die potenzielle Gefährdung
der elektoralen Integrität.14 Aus heutiger Sicht kann dieses Urteil als richtungsweisend
14 Besonders bezeichnend war auch die Erkenntnis, dass Wahlbeisitzer*innen der FPÖ ihrer
Pflicht zwar teilweise nicht nachgekommen seien, die Abläufe dennoch beurkundeten und
diese im Rahmen der Anfechtung wieder zurückzogen. Die FPÖ glaubte offenbar, von An-
fechtung und ihrer liebgewonnen Opferrolle unweigerlich zu profitieren. Retrospektiv stärkte
sie durch die erzwungene Wahlwiederholung indes vielmehr den Rechtsstaat.
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gelten, mit nachhaltig positiven Wirkungen auf die künftigen Standards der Durchfüh-
konnte nicht durchgeführt werden, da bereits versendete Wahlkartenkuverts fehler-
hafte Klebestellen aufwiesen.
bei einer nochmals deutlich gesteigerten Wahlbeteiligung von 74,2 Prozent, zum neunten
österreichischen Bundespräsidenten der Zweiten Republik gekürt. Dieser ungewöhnlich
lange und damit zugleich überaus kostenintensive Wahlkampf hinterließ kurzfristig auch
deutliche Spuren in der österreichischen Parteienlandschaft. Beinahe während des ge-
samten Wahlkampfs war die politische Kommunikation der GRÜNEN von großer Vorsicht
geprägt und darauf gerichtet, kein innenpolitisches Thema zu einer eventuellen Bürde
im Bundespräsidentschaftswahlkampf werden zu lassen. Die grüne Bundessprecherin Eva
Glawischnig, als eine besonders bei der FPÖ-Wählerschaft polarisierende Politikerin, trat
während des sich in die Länge ziehenden Wahlkampfs kaum in Erscheinung. Die immer
neu zu stemmenden und in Österreich traditionell wichtigen Plakatkampagnen belasteten
die GRÜNEN
der Bellen zur Bundespräsidentschaft verhelfen konnte, scheiterten sie, politisch zerstrit-
und verpassten somit den Einzug ins Parlament (Buzogány/Scherhaufer 2018).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Das Amt des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin besteht seit 1920 und wurde
mit der damaligen Bundesverfassung eingeführt, um den Kaiser und späteren Staatsrat
als Staatsoberhaupt zu ersetzen (Müller 2006, 188). Erstes Staatsoberhaupt der neuge-
gründeten Republik war allerdings Karl Seitz, der bereits von 1918 bis 1920 ex officio
als Präsident des Staatsratsdirektoriums diese Funktion wahrnahm. Mit dem B-VG von
1920 wurde Michael Hainisch durch die Bundesversammlung zum ersten Bundesprä-
sidenten gewählt. Zunächst noch mit bescheidenen Kompetenzen ausgestattet (B-VG
1920, Art 65), wurde das Amt erst mit der Verfassungsreform von 1929 aufgewertet
und die Amtszeit von vier auf sechs Jahre verlängert. Entscheidende Neuerung waren
dabei nach dem Vorbild der Weimarer Republik die (De-)Kreationsfunktion der Bun-
desregierung und das Recht zur Auflösung des Nationalrats. Die neue Verfassung sah
ebenso die Stärkung des Amtes durch eine direkte Volkswahl vor. Der zweite Amtsin-
haber Wilhelm Miklas wurde aber zunächst aufgrund einer Übergangsregelung ebenso
wie sein Vorgänger durch die Bundesversammlung gewählt. Er trat 1938 auf Druck
der Nationalsozialisten zurück. Im Vorfeld dieser Entwicklungen war es auch der erste
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und bisher einzige Gebrauch der neu erworbenen Machtbefugnisse durch den Bundes-
präsidenten, der mitverantwortlich den Weg in den Austrofaschismus ebnete (Mül-
ler 2006, 199). Miklas löste 1930 den Nationalrat aus parteipolitischen Motiven auf.
Die parlamentarischen Machtverhältnisse verschoben sich in der Folge zugunsten der
faschistischen Kräfte. Später verabsäumte er es, entschiedener der Selbstausschaltung
des Parlaments entgegenzuwirken. Dennoch waren es nicht nur verfassungsrechtliche
Strukturen oder Entscheidungen Einzelner, die das demokratische System der Zwi-
schenkriegszeit scheitern ließen. Vielmehr erwies sich auch das politische Klima an sich
als wenig demokratieförderlich (Campbell/Gerlich 2000).
Nach dem Zweiten Weltkrieg reaktivierte man die Verfassung von 1929, wohl wis-
send dass die wesentlichen politischen Akteure in SPÖ und ÖVP zur konsensualen
Machtteilung bereit waren. Die Bundesversammlung wählte den zuvor mit der Bildung
einer provisorischen Regierung betrauten Karl Renner zum ersten Bundespräsidenten
der Zweiten Republik. Um keine allzu weitreichenden Eingriffe der alliierten Besat-
zungsmächte zu provozieren und den fragilen Parteienfrieden nicht zu gefährden, ver-
zichtete man zunächst auf große Reformvorhaben. Erst der Tod Stalins 1953 bot Gele-
genheitsstrukturen, um schlussendlich mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955
zur Unabhängigkeit zurückzufinden (Gehler 1994; Steininger 2005).
Die erste Direktwahl für das Amt des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin
fand am 6. Mai 1951 statt; dabei konnte sich eodor Körner im zweiten Wahlgang
(gegen Heinrich Gleißner) durchsetzen. Mit der parteilosen Kandidatur von Ludovica
Hainisch-Marchet bewarb sich bereits bei der ersten Direktwahl auch eine Frau um das
höchste Amt der Republik. Bisher waren jedoch alle Amtsinhaber Männer, die meis-
ten davon zudem „soziale Aufsteiger“ (Heinrich und Welan 1991, 136, nach Müller
2006, 192). Viele von ihnen verstarben noch im Amt, Karl Renner und eodor Kör-
ner bereits während ihrer ersten Amtsperiode. Nach 1945 dienten bislang nur Rudolf
Kirchschläger und Heinz Fischer zwei volle Amtszeiten. Meist waren es auch nicht die
Spitzenpolitiker der Parteien, die sich um das Amt bemühten; die bislang einzige Aus-
nahme bildete die Kandidatur Adolf Schärfs im Jahre 1957 (siehe Tab. 1).
Das Amt des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin ist seit 1929 hinsichtlich
seiner formalen Befugnisse sehr ansehnlich ausgestattet. Die Strahlkraft dieser zentralen
Institution des politischen Systems schöpft sich allerdings nicht allein aus diesen ver-
fassungsrechtlichen Kompetenzen, sondern auch und vor allem aus seiner außerordent-
lichen Legitimation. Dabei ist es nicht nur die direkte Wahl, gepaart mit einer langen
Amtszeit und abgesichert durch eine faktische Unabsetzbarkeit, die den Amtsinhabern
half, zu einem politisch-institutionellen Stützpfeiler der Zweiten Republik zu werden.
Es ging ganz offenbar auch um die gesellschaftliche Wertschätzung der Amtsführung.
Die meisten Bundespräsidenten konnten im Zuge ihrer Amtszeit ihre Popularitäts- und
Vertrauenswerte ausbauen. Die bewusst weitgehend passive Rolle und die daraus sich er-
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284 Ludger Helms / Philipp Umek
gebende große Distanz zu den Niederungen der Tagespolitik halfen dabei, im historisch
konsensorientierten politischen Klima der Republik zu reüssieren. Die österreichische
Parteiendemokratie zu transzendieren war von jeher eine der größten Erwartungen an
die bisherigen Amtsinhaber wie auch zugleich ihr eigener Anspruch.
Tab. 1 Sämtliche Wahlwerber*innen und ihre Stimmergebnisse
Stimmen Prozent Stichwahl
06.05.1951 Erster Wahlgang (4.298.347 gültige Stimmen)
Dr. Heinrich Gleißner 1.725.451 40,1 47,9
Dr. h. c. eodor Körner 1.682.881 39,2 52,1
Dr. Burghard Breitner 622.501 15,4
Gottlieb Fiala 219.969 5,1
Dr. Johannes Ude 5.413 0,1
Ludovica Hainisch-Marchet 2.132 0,1
05.05.1957 Ein Wahlgang (4.417.859 gültige Stimmen)
Dr. Adolf Schärf 2.258.255 51,1
Dr. Wolfgang Denk 2.159.604 48,9
28.04.1963 Ein Wahlgang (4.464.120 gültige Stimmen)
Dr. Adolf Schärf 2.473.349 55,4
Ing. Dr. h. c. Julius Raab 1.814.125 40,6
Dr. Josef Kimmel 176.646 4,0
23.05.1965 Ein Wahlgang (4.585.324 gültige Stimmen)
Dr. h. c. Franz Jonas 2.324.436 50,7
Dr. Alfons Gorbach 2.260.888 49,3
25.04.1971 Ein Wahlgang (4.712.048 gültige Stimmen)
Dr. h. c. Franz Jonas 2.487.239 52,8
Dr. Kurt Waldheim 2.224.809 47,2
23.06.1974 Ein Wahlgang (4.630.837 gültige Stimmen)
Dr. Rudolf Kirchschläger 2.392.367 51,7
Dr. Alois Lugger 2.238.470 48,3
18.05.1980 Ein Wahlgang (4.430.889 gültige Stimmen)
Dr. Rudolf Kirchschläger 3.538.748 79,9
Dr. Willfried Gredler 751.400 16,9
Dr. Norbert Burger 140.741 3,2
04.05.1986 Erster Wahlgang (4.719.980 gültige Stimmen)
Dr. Kurt Waldheim 2.343.463 49,6 53,9
Dr. Kurt Steyrer 2.061.104 43,7 46,1
Freda Meissner-Blau 259.689 5,5
Dr. Otto Scrinzi 55.724 1,2
26.04.1992 Erster Wahlgang (4.645.177 gültige Stimmen)
Dr. Rudolf Streicher 1.888.599 40,7 43,1
Dr. omas Klestil 1.728.234 37,2 56,9
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285Der*die Bundespräsident*in
Stimmen Prozent Stichwahl
Dr. Heide Schmidt 761.390 16,4
Robert Jungk 266.954 5,7
19.04.1998 Ein Wahlgang (4.169.319 gültige Stimmen)
Dr. omas Klestil 2.644.034 63,4
Mag. Gertraud Knoll 566.551 13,6
Dr. Heide Schmidt 464.625 11,2
Ing. Richard Lugner 413.066 9,9
Karl Nowak 81.043 1,9
25.04.2004 Ein Wahlgang (4.136.016 gültige Stimmen)
Dr. Heinz Fischer 2.166.690 52,4
Dr. Benita Ferrero-Waldner 1.969.326 47,6
25.04.2010 Ein Wahlgang (3.161.964 gültige Stimmen)
Dr. Heinz Fischer 2.508.373 79,3
Barbara Rosenkranz 481.923 15,2
Dr. Rudolf Gehring 171.668 5,4
24.04.2016 Erster Wahlgang (4.279.170 gültige Stimmen)
Ing. Norbert Hofer 1.499.971 35,1
Dr. Alexander Van der Bellen 913.218 21,3
Dr. Irmgard Griss 810.641 18,9
Rudolf Hundstorfer 482.790 11,3
Dr. Andreas Khol 475.767 11,1
Ing. Richard Lugner 96.783 2,7
22.05.2016 Zweiter Wahlgang (4.472.171 gültige Stimmen)
Dr. Alexander Van der Bellen 2.251.517 50,3
Ing. Norbert Hofer 2.220.654 49,7
04.12.2016 Wiederholung zweiter Wahlgang (4.597.553 gültige Stimmen)
Dr. Alexander Van der Bellen 2.472.892 53,8
Ing. Norbert Hofer 2.124.661 46,2
09.10.2022 Ein Wahlgang (4.056.729 gültige Stimmen)
Dr. Alexander Van der Bellen 2.299.590 56,7
Dr. Walter Rosenkranz 717.097 17,7
Dr. Dominik Wlazny 337.010 8,3
Dr. Tassilo Wallentin 327.214 8,1
Gerald Grosz 225.942 5,6
Dr. Michael Brunner 85.465 2,1
Heinrich Staudinger 64.411 1,6
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2022); eigene Darstellung.
Zurückhaltung und Überparteilichkeit waren wichtig, die Ehrwürdigkeit litt nur vor-
rübergehend während der besonders herausfordernden Phasen unter Kurt Waldheim
und omas Klestil. In der Causa Waldheim wurde dessen kolportierte und durch bio-
graphische Auslassungen auffällig gewordene Vergangenheit als Offizier der Wehrmacht
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286 Ludger Helms / Philipp Umek
diskutiert. Die internationale Dimension dieser Debatte – Kurt Waldheim war zuvor
von 1972 bis 1981 Generalsekretär der Vereinten Nationen – wurde geschickt von der
ÖVP instrumentalisiert. Für den „Pflichterfüller“ (Haslinger 1995, 26) wurde in einer
offensiven „Jetzt erst recht!“-Kampagne mobilisiert, um ihn schlussendlich in das Amt
zu hieven (ebda., 24–49). Klestils Amtszeit hingegen wurde überschattet durch eine
außereheliche Affäre, breitgetreten im Boulevard, und seine ungewöhnlich großzügige
Amtsauslegung, für die er in der Öffentlichkeit immer wieder kritisiert wurde. Erst mit
der Amtsübernahme von Heinz Fischer kehrte wieder Ruhe in die Hofburg ein. Alexan-
der Van der Bellen gelang es bislang auch in Krisenzeiten jenen Halt und jene Einigkeit
zu vermitteln, die im Kontext der Betrachtung früherer Präsidentschaften treffend als
„Autorität in Reserve“ (Müller 2006, 199) beschrieben wurde.
Für die politikwissenschaftliche Erforschung von Systemen aus der Familie der semi-
präsidentiellen Demokratien ist es üblich, nach Phasen übereinstimmender und divergie-
render Muster der parteipolitischen Kontrolle des Amtes des*der Präsidenten*Präsidentin
einerseits und der Regierung beziehungsweise der Position des*der Regierungschefs*Regie-
rungschefin andererseits zu unterscheiden. Dabei kann mit Robert Elgie weiter differenziert
werden zwischen Phasen des „divided government“ und der „cohabitation“: In Phasen von
„divided government“ besitzen Regierungschef*in und Präsident*in eine unterschiedliche
Parteizugehörigkeit, aber die Partei des*der Präsidenten*Präsidentin ist in der Regierung
vertreten. Phasen der „cohabitation“ sind demgegenüber dadurch gekennzeichnet, dass
Regierungschef*in und Präsident*in eine unterschiedliche Parteizugehörigkeit besitzen
und die Partei des*der Präsidenten*Präsidentin nicht in der Regierung vertreten ist (Elgie
2011, 56 f.). Obwohl eine solche Sicht auf Staatsoberhaupt und Regierung in Österreich
wenig üblich ist, lohnt doch ein kurzer Blick auf die bisherigen Muster. Dabei ergibt sich
das folgende Bild, bei dem die Phase der vom damaligen Bundespräsidenten eingesetzten
Expertenregierung (Juni 2019 bis Januar 2020) unter Kanzlerin Brigitte Bierlein bewusst
nicht als Phase einer gesteigerten Form der parteipolitischen Machtteilung zwischen Staats-
oberhaupt und Regierungschefin bewertet beziehungsweise ausgewiesen wird.
Tab. 2 Phasen von „divided government“ und „cohabitation“ in der Zweiten Republik
divided government cohabitation
April 1945–Dezember 1950
Juni 1951–Januar 1957
Mai 1957–Februar 1965
Juni 1965–April 1966
April 1966–April 1970
Januar 1987–Februar 2000
Juli 2004–Januar 2007
Januar 2017–Juni 2019
Januar 2020–
Quelle: Zusammenstellung durch die Autoren gemäß der Unterscheidungen von Elgie (2011, 59).
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287Der*die Bundespräsident*in
Die ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte standen im Zeichen des „divided government“,
was vor allem der langen Vorherrschaft großer Koalitionen geschuldet war. Zur ersten
„cohabitation“ kam es im Frühjahr 1966 im Zuge der Bildung der ersten Alleinre-
gierung der ÖVP. Auch die zweite längere Phase des „divided government“ ab An-
fang 1987 war im Kern ein Ergebnis der abermaligen Vorherrschaft Großer Koalitio-
nen. Durch die größte Vielfalt denkbarer Konstellationen war die Präsidentschaft von
Franz Jonas (SPÖ) geprägt, während derer es zu einer Phase des „divided government“
(1965–1966), der „cohabitation“ (1966–1970) und schließlich des „unified govern-
ment“ (während der ersten vier Jahre der Ära Kreisky, 1970–1974) kam.
Die entscheidende Frage lautet freilich, ob sich aus diesen Mustern irgendwelche
Rückschlüsse für das Agieren des Präsidenten beziehungsweise das Verhältnis zwischen
Präsident*in und Regierung in der Verfassungspraxis ziehen lassen. Die Episode der
umstrittenen Regierungsbildung des Jahres 2000 – bei der es immerhin auch darum
ging, den damaligen Spitzenkandidaten der ÖVP als der bei der vorausgehenden Na-
tionalratswahl nur drittplatzierten Partei zum neuen Kanzler zu machen – suggeriert,
dass Phasen des „unified government“ nicht unbedingt durch weniger Konflikte ge-
prägt sind. Auch der historische Präzedenzfall einer materiellen Gesetzesprüfung und
verweigerten Ausfertigung durch Präsident Fischer (SPÖ) fiel in die Phase einer sozial-
demokratisch kontrollierten Kanzlerschaft (Regierung Gusenbauer). Umgekehrt stand
eine parteipolitisch konträre Kontrolle der Ämter des*der Präsidenten*Präsidentin und
des*der Kanzlers*Kanzlerin einem ausnehmend guten Auskommen beider Seiten selten
im Wege. Als jüngeres Beispiel hierfür kann auch das zunächst eher schwierige Ver-
hältnis zwischen Van der Bellen und ÖVP-Chef und Bundeskanzler Sebastian Kurz
gelten.15 In diesem Sinne sind die österreichischen Verhältnisse den in Deutschland
beobachteten politischen Beziehungen zwischen Kanzler*in und Präsident*in (Helms
1998 & 2007, 188 f.) nicht unähnlich.16 Während eine andere politische Heimat
des*der Präsidenten*Präsidentin eher politische Zurückhaltung und im Zweifelsfall ein
betont konsensorientiertes Agieren zu befördern scheint, ist der politische Gleichklang
politischer Kontrolle beider Ämter gelegentlich eher von einem auffallend kritischen
Gebaren einer oder beider Seiten begleitet.
15 https://www.zeit.de/2021/41/sebastian-kurz-alexander-van-der-bellen-oesterreich-bundesre-
gierung (31.03.2022).
16 Das politische Verhältnis Kanzlerin Merkels (CDU) zu Bundespräsident Steinmeier (SPD)
war in der Summe gewiss nicht schlechter als jenes zu Bundespräsident Wulff (CDU). Bundes-
präsident Köhler (CDU) soll nach Einschätzung einiger Beobachter gar wegen Merkel bzw.
wegen mangelnder politischer Rückendeckung durch ihre Regierung zurückgetreten sein.
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288 Ludger Helms / Philipp Umek
4. Einordnung des österreichischen Falls
In Übereinstimmung mit der primär institutionellen Charakterisierung der österreichi-
schen Bundespräsident*innen im Rahmen dieses Bandes ist die nachfolgende Einord-
nung des österreichischen Falls bewusst auf zentrale institutionelle Aspekte (des Amtes
selbst wie des institutionellen Kontextes) konzentriert. In der Regierungsformenleh-
re und der speziellen Diskussion über unterschiedliche Varianten semi-präsidentieller
Systeme gilt Österreich als Beispiel für den „president-parliamentary“-Typ, bei dem
der*die Regierungschef*in und das Kabinett sowohl dem Parlament als auch dem*der
Präsident*in gegenüber kollektiv politisch verantwortlich sind (gemeinsam mit Syste-
men bzw. Ländern wie einst die Weimarer Republik, 1918–1933, und bis heute for-
mal Russland). Davon abgegrenzt wird der „premier-presidential“-Typ, in dem eine
kollektive politische Verantwortlichkeit von Regierungschef*in und Kabinett nur dem
Parlament gegenüber besteht; so in der V. Republik Frankreich, in Irland oder Polen
(Shugart/Carey 1992; Elgie 2011, Tab. 2.2). Eine international vergleichende Übersicht
auf den Spuren Robert Elgies (2011) bietet Tabelle 3.
Tab. 3 Semi-präsidentielle Systeme in Europa nach Regimetyp, “president-parliamentary“ und
“premier-presidential“
president-parliamentary premier-presidential
Island Finnland
Österreich Frankreich
Portugal (1976–82) Irland
Litauen
Polen
Portugal (1983–)
Slowakei
Slowenien
Türkei (2008–)
Quelle: Elgie (2011).17
Aus einer solchen institutionellen Perspektive betrachtet wird der Rollenverzicht öster-
reichischer Bundespräsident*innen besonders gut greifbar. Formal befindet sich der*die
Bundespräsident*in mit Blick auf das Verhältnis zum*r Regierungschef*in gar in einer
machtvolleren Position als die Präsident*innen der V. Republik Frankreich. Dabei ent-
hüllt gerade der österreichisch-französische Vergleich die Grenzen einer auf die for-
malrechtliche Dimension konzentrierten Systematik. Tatsächlich verhalten sich Verfas-
17 Die Türkei ist in Elgies Darstellung ohne entsprechenden Vermerk doppelt geführt. Die Co-
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289Der*die Bundespräsident*in
sungstext und Verfassungspraxis in beiden Ländern geradezu umgekehrt zueinander: In
Frankreich, wo der*die Premierminister*in formal nicht des Vertrauens des*der Präsi-
denten*Präsidentin bedarf und von diesem*dieser auch nicht entlassen werden kann,
drehen sich Prozesse der Regierungsbildung im Kern um den*die Präsidenten*Präsiden-
tin. Außer in Zeiten der „cohabitation“, es werden insbesondere Premierminister*innen
auch ohne verfassungsrechtliche Grundlage seitens des*der Präsidenten*Präsidentin in
der Praxis jederzeit ihres Amtes enthoben. Dagegen ist es bislang keinem österreichi-
schen Staatsoberhaupt in den Sinn gekommen, allein eigenen politischen Präferenzen
folgend eine*n Bundeskanzler*in und die gesamte Bundesregierung zu entlassen. Auch
die jüngsten Beispiele des Kanzlerwechsels von Kurz zu Schallenberg im Oktober 2021
und von Schallenberg zu Nehammer im Dezember 2021 zeigten den Präsidenten in
der Rolle des unaufgeregten Notars von an anderer Stelle getroffenen Personalentschei-
dungen.
In der internationalen Literatur wurde in den vergangenen Jahren versucht, Indizes
präsidentieller Macht zu entwickeln, bei denen sowohl die verfassungsrechtlich ver-
bürgten Amtsgewalten des*der Präsidenten*Präsidentin als auch seine*ihre Macht in
der Verfassungspraxis berücksichtigt werden. In einem auf die so verstandene politische
Macht unterschiedlicher republikanischer Staatsoberhäupter Europas konzentrierten
Ranking von Elgie (2015, 321) landet der*die österreichische Präsident*in auf Rang 20
von 26 – hinter mehreren nur indirekt gewählten Staatsoberhäuptern, wie jenen Un-
garns oder Italiens. Damit erweist sich, dass die Direktwahl nicht notwendigerweise
bedeutet, dass der*die betreffende Präsident*in ein*e mächtige*r, oder jedenfalls mäch-
tigere*r, politische*r Akteur*in ist als indirekt gewählte Präsident*innen. Allerdings fällt
auf, dass die acht bestplatzierten Präsident*innen sämtlich per Direktwahl ins Amt ge-
langen.
Für eine umfassende Aktualisierung dieser komplexen Indizierung, welche die Mög-
lichkeiten dieses Beitrags sprengen würde, wäre zu berücksichtigen, dass die Macht
österreichischer Präsident*innen in der Verfassungspraxis aus den oben geschilderten
Gründen – der erstmaligen Nichtausfertigung eines Gesetzes wegen verfassungsrecht-
licher Bedenken durch Bundespräsident Fischer Anfang 2008, der weitgehend autono-
men Entscheidung über die Zusammensetzung der Expert*innenregierung unter Kanz-
lerin Brigitte Bierlein durch Präsident Van der Bellen 2019 und dessen wiederkehrend
prominenter Rolle in einer durch personelle Unbeständigkeit und außergewöhnliche
Herausforderungen geprägten Entwicklungsphase österreichischer und europäischer
Politik – heute ein Stück weit höher zu veranschlagen wäre als bei Elgie.
dierung wurde entsprechend dieser Quelle angepasst: http://www.semipresidentialism.com/
semi-presidentialism-premier-presidentialism-and-president-parliamentarism-a-new-coun-
try-years-dataset/ (31.03.2022).
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290 Ludger Helms / Philipp Umek
Land Wahlmethode Bewertung (0–1)
Zypern direkt 0,75
Frankreich direkt 0,44
Rumänien direkt 0,39
Kroatien direkt 0,33
Island direkt 0,33
Portugal direkt 0,33
Litauen direkt 0,33
Polen direkt 0,32
Albanien indirekt 0,27
Ungarn indirekt 0,27
Estland indirekt 0,25
Italien indirekt 0,25
Mazedonien direkt 0,19
Irland direkt 0,18
Tschechien direkt 0,17
Finnland direkt 0,17
Malta indirekt 0,17
Slowakei direkt 0,15
Bulgarien direkt 0,14
Österreich direkt 0,13
Lettland indirekt 0,13
Serbien direkt 0,10
Slowenien direkt 0,08
Montenegro direkt 0,08
Deutschland indirekt 0,06
Griechenland indirekt 0,06
Die Werte wurden von Elgie auf Basis der Durchschnittswerte von drei Konzeptualisierungen präsiden-
Quelle: Elgie (2015)
In vergleichenden Bewertungen der politischen Rollen westeuropäischer Staatsober-
häupter, wie bei Heywood und Wright (1997), erscheint der*die österreichische Bun-
despräsident*in als ein Staatsoberhaupt mit einer prozeduralen“ Rolle (wie u.a. das
deutsche und italienische Pendant); im Gegensatz zu der überwiegend nur symboli-
schen oder diplomatischen Rolle unterschiedlicher Erbmonarch*innen (wie in den
Niederlanden oder Großbritannien). Am deutlichsten ist der Unterschied zu den Ex-
ekutivpräsident*innen Frankreichs und seinerzeit noch Finnlands. In Finnland führte
jedoch eine große Verfassungsreform im Jahre 2000, in deren Zentrum die Schwächung
des*der Präsidenten*Präsidentin stand, zu einer veränderten Situation (Lütticken/Pfeil
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291Der*die Bundespräsident*in
2003), so dass seither auch für Finnland von einer lediglich prozeduralen Rolle des*der
Präsidenten*Präsidentin zu sprechen ist. Trotz des moderaten Machtzuwachses des*der
österreichischen Präsidenten*Präsidentin in der Verfassungspraxis, welche sich allein
schon in der erheblich exponierten Position des*der Präsidenten*Präsidentin in der Ära
Van der Bellen manifestiert, kann die Rolle des österreichischen Staatsoberhaupts auch
weiterhin mit dem Prädikat prozedural bezeichnet werden.
Tab. 5 Typus und Rolle des Staatsoberhaupts in Westeuropa
Land Staatsoberhaupt Rolle Regierungssystem
Belgien Monarch*in prozedural parlamentarische Monarchie
Dänemark Monarch*in symbolisch parlamentarische Monarchie
Deutschland Präsident*in prozedural parlamentarische Demokratie
Finnland Präsident*in prozedural semi-präsidentielle Demokratie
Frankreich Präsident*in exekutiv semi-präsidentielle Demokratie
Griechenland Präsident*in prozedural parlamentarische Demokratie
Irland Präsident*in prozedural semi-präsidentielle Demokratie
Italien Präsident*in prozedural parlamentarische Demokratie
Luxemburg Großherzog*in prozedural parlamentarische Monarchie
Niederlande Monarch*in symbolisch parlamentarische Monarchie
Norwegen Monarch*in symbolisch parlamentarische Monarchie
Österreich Präsident*in prozedural semi-präsidentielle Demokratie
Portugal Präsident*in prozedural semi-präsidentielle Demokratie
Spanien Monarch*in diplomatisch parlamentarische Monarchie
Schweden Monarch*in symbolisch parlamentarische Monarchie
UK Monarch*in diplomatisch parlamentarische Monarchie
Bewertungen der dritten Spalte, mit Ausnahme Finnlands.
Quelle: Heywood/Wright (1997, 80, Tab. 5.1); hier unter Hinzufügung der weiblichen Form.
Hinsichtlich des Auseinanderfallens von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit
stellt Österreich insgesamt einen Sonderfall mit einer besonders deutlich ausgeprägten
Diskrepanz dar. Angesichts des deutlich hinter den verfassungsrechtlichen Möglich-
keiten des Amtes zurückbleibenden, betont moderaten Agierens der bisherigen Amts-
inhaber, wurde seitens Forschung ein eindeutig parlamentarischer Charakter des Sys-
tems konstatiert. Bei Elgie werden mit Blick auf die Differenz zwischen der formalen
Konstellation und der lebenden Verfassung lediglich Irland und Island in einem Zuge
mit Österreich genannt (Elgie 2011, 41, Fußnote 2). In der großen Studie von Samuels
und Shugart (2010) ist die Stellung Österreichs eine noch exponiertere: Dort erscheint
Österreich gar als „the only obviously ‚parliamentarized‘ president-parliamentary re-
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292 Ludger Helms / Philipp Umek
gime in the world today“ (Samuels/Shugart 2010, 88) – ein Ausnahmefall, der – in
Übereinstimmung mit den oben referierten Bewertungen – teils als historischer Zufall,
teils als das Ergebnis des selbstbewussten Strebens der Parteien nach 1945 gewertet wird
(ebda., 89). Diese Bewertungen decken sich, bei aller Unterschiedlichkeit des Stils, mit
den Charakterisierungen medialer Beobachter*innen, die den österreichischen Präsi-
dent*innen im Kontext anderer Staatsoberhäupter – als „eine Art Queen von Volkes
Gnaden“ (Nimmervoll 2016) – charakterisierten. Substanziellere Studien haben sich
traditionell freilich eher einem Vergleich der österreichischen mit den deutschen Bun-
despräsident*innen zugewandt (Mehlhorn 2010).
5. Herausforderungen für die Zukunft
Die Erwartungen an die österreichischen Bundespräsident*innen reichen von der einer
obersten Ombudsperson, einer höchsten moralischen Instanz, bis hin zu einem*einer
Ersatzkaiser*in (Adamovich 2017, 9 f.). Entsprechend hoch sind die Erwartungen an
das Amt für die Zukunft. Dieser Schlussteil blickt auf die jüngere Reformdiskussion
und die Zukunft der Staatsoberhäupter in Österreich und Europa.
Bereits vor der Wahl von 2016 wurden von verschiedener Seite immer wieder Re-
formvorschläge für die künftige Ausgestaltung des Amtes eingebracht und diskutiert.
Die große Koalition forderte gemeinsam eine „Entrümpelung der Kompetenzen“, wäh-
rend die GRÜNEN das Amt „Trumpsicher“18 machen wollten. Im Juni 2016 erfolgte
dementsprechend die Einsetzung eines Unterausschusses „Kompetenzen des Bundes-
präsidenten und allfällige Reform dieser Kompetenzen“.19 Die konstituierende Sit-
zung ging allerdings ohne weiteren Termin auseinander, eine zweite Sitzung nach zehn
Monaten verlief ergebnislos, und nach einer Sitzungsabsage im April 2017 wurde der
Unterausschuss schließlich am 8. November 2017 aufgelöst. Der scheidende Bundes-
präsident Heinz Fischer adressierte bereits in der Festsitzung des Parlaments zu seiner
Verabschiedung aus dem Amt diese Vorschläge und warnte vor der Abschaffung bisher
ungenutzter Kompetenzen.20 Darüber hinaus war auch kein wesentlicher gesellschaft-
18 https://www.derstandard.at/story/2000054440853/verhandlungen-zu-kompetenzen-des-
bundespraesidenten-starten-ende-maerz (31.03.2022).
19 https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXV/A-VF/A-VF_00002_00359/index.
shtml#tab-Sitzungsueberblick (31.03.2022).
20 „Wenn von manchen dieser Befugnisse seit Beginn der Zweiten Republik kein Gebrauch
gemacht werden musste, spricht das nicht gegen die Verfassung, sondern für die Reife und
Stabilität unseres politischen Systems und auch für das Augenmaß der vom Volk gewählten
Bundespräsidenten“ (https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2016/PK0835/index.
shtml, 31.03.2022).
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293Der*die Bundespräsident*in
licher Reformdruck erkennbar (Poier 2020). Einzig die erfolgreiche Kandidatur und
Wahl einer weiblichen Amtsinhaberin erscheint als überfällig; sie würde das facetten-
reiche Amt bereichern und dessen ohnehin bereits ausgeprägt hohe gesellschaftliche
Anerkennungswürdigkeit vermutlich weiter steigern.
Die erste Amtszeit Alexander Van der Bellens war charakterisiert von zahlreichen
außergewöhnlichen Entwicklungen und Herausforderungen, durch welche der Präsi-
dent mit staatstragendem Habitus souverän navigierte und damit die Standards für
künftige Kandidat*innen für dieses Amt definierte. Dabei zeigte sich erneut, in welch
hohem Maße der persönliche Stil zum medialen und gesellschaftlichen Gesamteindruck
der Amtsführung beiträgt (ORF 2021). Sowohl die Ibiza-Affäre, die Regierungskrisen
von 2019 und 2021 als auch die Corona-Pandemie haben – über die Person Van der
Bellens hinaus – den hohen Wert einer unaufgeregten, überparteilichen und mit aus-
geprägter gesellschaftlicher Anerkennung ausgestatteten Instanz wie den*die Bundes-
präsidenten*Bundespräsidentin in eindrucksvoller Weise bestätigt. Erwartungsgemäß
sicherte sich Van der Bellen eine zweite Amtszeit. Dass dies allerdings bereits im ersten
Wahlgang am 9. Oktober 2022 gelingen würde, war nicht zuletzt durch das große Feld
an Mitbewerbern keineswegs gewiss. In einem künftigen international vergleichenden
Rückblick auf die Entwicklung der vergangenen Jahre könnte Österreich geradezu als
ein Kernbeispiel für die zunächst im deutschen Kontext formulierte ese eines mög-
lichen stillen Bedeutungszuwachses von Staatsoberhäuptern – als ruhender Pol mit
einer bewussten Distanz zum geschäftigen Treiben der Parteiendemokratie – dienen
(Jäger 1994, 182 f.). Dass es dabei im Verhältnis zwischen Präsident*in, Regierung
und politischen Parteien in Österreich nicht zu italienischen Verhältnissen kam, unter
denen der*die Präsident*in angesichts des Versagens der italienischen Parteiendemokra-
tie zeitweilig eine geradezu systemfremde Aufwertung erfuhr (Palladino 2015; Grimaldi
2017), ist eindeutig positiv zu bewerten.
Die weitere Möglichkeit, dass Staatsoberhäupter eine strukturelle Aufwertung auch
in ihrer potenziellen Rolle als „Relikt nationaler Staatlichkeit in einer von Transna-
tionalität und Europäischen Integration geprägten Umwelt“ erfahren könnten (Czada
1999, 141), erscheint dagegen problematisch. Schließlich steht die Betonung natio-
nalstaatlich-historischer Kontinuität und Integration in einem unübersehbaren Span-
nungsverhältnis zu der fortschreitenden Internationalisierung der Gesellschaft und der
Herausbildung einer Wohnbürger*innen-Demokratie (Rosenberger 2017). Die Alter-
native zwischen nationaler Integration und transnational orientierter Inklusion wurde
nicht zuletzt im Zuge des österreichischen Präsidentschaftswahlkampfs 2016 in Gestalt
der fundamental unterschiedlichen Bekenntnisse der beiden Stichwahl-Kandidat*innen
greifbar, Präsident aller Österreicher*innen (Hofer) oder aber Präsident aller in Öster-
reich lebenden Menschen (Van der Bellen) sein zu wollen.
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Übungsfragen
Definieren Sie die Wahlprinzipien für die Bundespräsidentschaftswahl und erläutern
Sie kurz die Voraussetzungen für die Berechtigung zur aktiven wie passiven Teilnah-
me an diesen Wahlen.
Diskutieren Sie die verfassungsrechtliche Konstruktion des österreichischen Präsi-
dentschaftsamts im Kontext der Regierungsformenlehre mit Zuordnung zu einem
(Sub-)Typus demokratischer Systeme.
Ist die Wiederwahl von Amtsinhaber*innen üblich und wie viele Amtsinhaber*innen
erreichten zwei volle Amtsperioden?
Nennen Sie mindestens drei Kandidat*innen, die sich zur Wahl gestellt haben und
skizzieren Sie kurz deren parteipolitischen Bezug und die erzielten Wahlergebnisse.
Beschreiben Sie die zentralste und in der politischen Praxis alltäglichste Aufgabe der
österreichischen Bundespräsident*innen.
Skizzieren Sie die Dimensionen des Rollenverzichts österreichischer Bundespräsi-
dent*innen und deren Gründe.
Definieren Sie die Begriffe „divided government“ und „cohabitation“ in Bezug auf
die österreichische Bundespräsidentschaft und geben Sie je ein Beispiel für solch eine
Phase.
Beurteilen Sie die präsidentielle Macht in Österreich im Vergleich zu einem weiteren
Mitgliedsstaat der Europäischen Union.
Diskutieren Sie die möglichen Auswirkungen für die österreichische Bundespräsi-
dentschaft, wenn man das Amt nach deutschem Vorbild durch eine parlamentari-
sche Wahl bestellen würde.
Beschreiben Sie die unterschiedlichen Wähler*innenpotenziale der Stichwahlkandi-
dat*innen zum Wahlkampf 2016 und wie es gelang, diese zu aktivieren.
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Die Europäische Union und
Österreich
Zusammenfassung
9Die EU ist ein politisches System eigener Art („sui generis“), dessen Strukturen, Prozes-
untersucht werden können.
9Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union (EU) am 1. Jänner 1995 brachte umfassen-
de Veränderungen im österreichischen politischen System mit sich.
9
vertreten.
9
9Im europäischen Vergleich gibt es in Österreich ein beträchtliches Ausmaß an EU-Skepsis
sowohl in der Bevölkerung als auch im Parteienspektrum.
1. Einleitung
Die Geschichte der EU, die ihre Anfänge in der Nachkriegszeit infolge des Zweiten
Weltkriegs nahm, ist charakterisiert durch verschiedene Phasen der Vertiefung der Zu-
sammenarbeit zwischen ihren Mitgliedern, die im Laufe der Zeit immer mehr Zu-
ständigkeiten auf die gemeinsame europäische Ebene übertragen und deren Strukturen
adaptiert haben, um sowohl dem Kompetenz- als auch Mitgliederzuwachs Rechnung
zu tragen.
Österreich ist seit 1. Jänner 1995 Mitglied der Europäischen Union (EU). Mit dem
EU-Beitritt verbunden waren grundlegende Änderungen im politischen System Ös-
terreichs. Relevante politische Entscheidungen werden nun nicht mehr ausschließlich
durch innerstaatliche Institutionen und Akteur*innen getroffen, sondern im Verbund
mit den anderen Mitgliedstaaten und Institutionen auf EU-Ebene.
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300
Die Europäische Union ist ein weltweit einzigartiges politisches Gebilde, entstanden
-
-
von Staatlichkeit auf.
Das europäische Mehrebenensystem weist in seinen Strukturen und Prozessen zahl-
reiche Parallelen zur (national)staatlichen Organisation politischer Steuerung auf,
unterscheidet sich teils aber auch erheblich von den im (national)staatlichen Kontext
geläufigen Strukturen und Praxen: Es ist charakterisiert durch ein komplexes Regie-
rungs- bzw. Governance-System unter Einbindung verschiedener politischer Ebenen
und Akteur*innen; es gibt keine klar identifizierbare, aus Wahlen hervorgehende Re-
gierung und folglich auch keinen Wahlwettbewerb um die Besetzung der Regierungs-
ämter; auch fehlen EU-weite intermediäre Strukturen, wie eine europäische Öffentlich-
keit, Zivilgesellschaft und ein europäisches Parteiensystem (vgl. Follesdal/Hix 2006;
Hix 2020). Nicht umsonst wird die EU in der Literatur daher häufig als ein politisches
System sui generis (lateinisch: eigene Art) bezeichnet – sie ist kein Staat, weist aber
zweifellos Merkmale von Staatlichkeit auf.
Für ein Verständnis der EU als politisches System und der Interaktion von EU-In-
stitutionen und Mitgliedstaaten bedarf es der Unterscheidung intergouvernementaler
von supranationaler Zusammenarbeit zwischen Staaten (Woyke 1998, 7; Lenz/Ruchlak
2001, 211). Intergouvernementale Zusammenarbeit ist dadurch gekennzeichnet, dass
gemeinsame Entscheidungen der beteiligten Staaten ausschließlich einstimmig erfol-
gen und folglich nie gegen den Willen einer beteiligten Regierung getroffen werden
können. Selbst wenn gemeinsam geschaffene Strukturen und Institutionen bestehen,
wird keine staatliche Souveränität aufgegeben. Dieses Prinzip ist in den meisten Inter-
nationalen Organisationen gegeben und ist auch in einigen Politikbereichen der EU
vorherrschend, wie beispielsweise der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.
Supranationale Zusammenarbeit setzt dagegen ein Abtreten staatlicher Souveränitäts-
rechte voraus, die auf gemeinsame Institutionen übertragen werden, die für alle be-
teiligten Staaten verbindliche Entscheidungen treffen und nach dem Mehrheitsprinzip
entscheiden können. Bei dieser Art der Zusammenarbeit kann ein Staat auch über-
stimmt werden – und muss die gegen seine Präferenzen getroffene Entscheidung den-
noch mittragen und umsetzen. In den Entscheidungsstrukturen und -mechanismen
der EU finden sich sowohl Elemente intergouvernementaler als auch supranationaler
Zusammenarbeit.
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301Die Europäische Union und Österreich
Die politikwissenschaftliche EU-Forschung widmete sich in ihren Anfängen der
Frage, warum es überhaupt zur europäischen Gemeinschaftsbildung und der damit
verbundenen Schaffung gemeinsamer Institutionen und eines gemeinsamem Rechts-
rahmens zwischen den beteiligten souveränen Staaten gekommen ist. Dies ist Gegen-
stand von eorien der regionalen Integration. Integration kann dabei definiert werden
als die „friedliche und freiwillige Zusammenführung von Gesellschaften, Staaten und
Volkswirtschaften über bislang bestehende nationale, verfassungspolitische und wirt-
schaftspolitische Grenzen hinweg“ (Kohler-Koch/Schmidberger 1996, 152, zit.n. Koh-
ler-Koch et al. 2004, 28), die schrittweise zur Herausbildung der EU-Polity in ihrer
heutigen Erscheinung geführt hat. Verschiedene Integrationstheorien ziehen jeweils
unterschiedliche Faktoren zur Erklärung des europäischen Integrationsprozesses heran
(für eine übersichtliche Zusammenfassung siehe z.B. Costa/Brack 2019, 50–55; Pollak/
Slominski 2012, 52–68).
In den 1980er- und 1990er-Jahren verschob sich der Forschungsfokus: Das politi-
sche System der EU (als Resultat des Integrationsprozesses) wurde als gegeben betrach-
tet und, unter Berücksichtigung seiner sui generis-Elemente, mit den bestehenden me-
thodischen und theoretischen Instrumentarien der vergleichenden Politikwissenschaft
untersucht (z.B. Neoinstitutionalismus, Governance-Ansatz). Im Mittelpunkt steht
nicht mehr die Erklärung des Integrationsprozesses und der Herausbildung der EU-Po-
lity, sondern die Analyse der Funktionsweise der EU, ihrer Institutionen, Prozesse und
Politiken. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Normalisierung“ in
der EU-Forschung (vgl. Costa/Brack 2019, 55).
In den 1990er-Jahren tauchte mit zahlreichen Europäisierungsstudien ein neuer
Trend in der EU-Forschung auf. Trotz teils widersprüchlicher Definitionen von Euro-
päisierung meint ein beträchtlicher Teil der Forschung damit Anpassungen und Ver-
änderungen auf nationaler Ebene, die durch den europäischen Integrationsprozess bzw.
die EU ausgelöst wurden (vgl. Ladrech 2002 & 2007; Granziano/Vink 2013). Das
kann sich auf Strukturen, Prozesse oder konkrete Policys beziehen. Hervorzuheben ist,
dass Anpassung bzw. Veränderung hier nicht gleichbedeutend mit Konvergenz oder
Harmonisierung ist. Europäisierung erweist sich vielmehr als ergebnisoffen und nimmt
unterschiedliche Formen an. Auch im breiten Forschungsfeld der Europäisierung wird
auf Konzepte und eorien der vergleichenden Politikwissenschaft sowie anderer For-
schungszweige und -disziplinen zurückgegriffen.
Voraussetzung zu einem besseren Verständnis und zur Einordnung dieser Forschung
sind grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise der EU und ihrer Institutionen
im Zusammenspiel mit den Mitgliedstaaten sowie über die wichtigsten Etappen des
europäischen Integrationsprozesses auf dem Weg bis zur heutigen EU. Das vorliegende
Kapitel möchte diese Kenntnisse vermitteln. Es gibt einen Überblick über die institu-
tionelle Architektur der Europäischen Union – und Österreichs Einbindung darin.
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302
2. Gegenwärtige Situation
Dieser Abschnitt gibt zu Beginn einen Überblick über die rechtlichen Grundlagen und
Zuständigkeiten der EU. Danach folgt eine Darstellung der relevanten EU-Institutio-
nen und der Einbindung Österreichs darin. Abschließend wird auf die innerösterreichi-
sche Koordinierung in EU-Belangen verwiesen.
2.1 Rechtliche Grundlagen und Zuständigkeiten der EU
Gewachsen aus der Idee der dauerhaften Friedenssicherung in Europa werden von der
EU heute Entscheidungen in vielen Politikbereichen getroffen, die konkrete Auswir-
kungen für die Bevölkerung haben. Ob, wann und mit welchen Instrumenten die EU
in einem Bereich tätig werden darf, ist genau festgelegt. Auch die Entscheidungsstruk-
turen einschließlich der Zusammensetzung und Aufgaben der EU-Institutionen ist de-
tailliert geregelt. Diese und andere rechtliche Grundlagen der EU sind in ihrem Ver-
tragswerk festgeschrieben, das sich heute aus zwei gleichrangigen Verträgen (auch „die
Verträge“ genannt) zusammensetzt: dem Vertrag über die Europäische Union (EUV)
und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Auch unter
der Bezeichnung Vertrag von Lissabon geläufig, sind sie in ihrer heute gültigen Form
am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten und haben die zuvor bestehenden Verträge ge-
ändert bzw. ersetzt (siehe Abschnitt 3.).
Die Verträge der EU werden auch als Primärrecht bezeichnet, während die von der
EU erlassenen Rechtsvorschriften Sekundärrecht genannt werden. Zu den wichtigs-
ten sekundärrechtlichen Rechtsakten mit Gesetzescharakter zählen Verordnungen und
Richtlinien. Verordnungen gelten bei ihrem Inkrafttreten verbindlich und unmittelbar
in allen Mitgliedstaaten, d.h. sie gelten automatisch und in einheitlicher Weise, ohne
dass es einer spezifischen rechtlichen Umsetzung in den Mitgliedstaaten bedarf. Richt-
linien dagegen regeln nur die Ziele, überlassen es aber den Mitgliedstaaten, diese Ziele
konkret zu verwirklichen und innerhalb einer bestimmten Frist in nationales Recht
umzusetzen. Tun sie das nicht, kann die Europäische Kommission gegen den säumi-
gen Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Neben Verordnungen und
Richtlinien gibt es eine Reihe weiterer Arten von EU-Rechtsvorschriften, wie Beschlüs-
se, Empfehlungen, Stellungnahmen, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechts-
akte.
Neben dem Primär- und Sekundärrecht der EU zählt auch die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Rechtsbestand der EU, der auch „acquis
communautaire“ bzw. gemeinschaftlicher Besitzstand genannt wird. Das gesamte Uni-
onsrecht hat in seiner Anwendung Vorrang vor dem innerstaatlichen Recht der Mit-
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303Die Europäische Union und Österreich
gliedstaaten. Das bedeutet, dass z.B. österreichische Behörden Unionsrecht anwenden
müssen, selbst wenn es in Österreich eine im Widerspruch dazu stehende innerstaat-
liche Rechtsvorschrift gibt.
In den Verträgen ist genau geregelt, mit welchem Verfahren in den jeweiligen Poli-
tikbereichen Rechtsakte zu erlassen oder Beschlüsse zu fällen sind. Beim Ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren (früher bezeichnet als Mitentscheidungsverfahren) fungieren
Europäisches Parlament und Rat der EU als gleichberechtigte Ko-Gesetzgeber und er-
lassen von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Rechtsakte. Neben dem Or-
dentlichen Gesetzgebungsverfahren gibt es noch das Anhörungsverfahren, das Zustim-
mungsverfahren und das Verfahren der Zusammenarbeit. Sie unterscheiden sich in der
Frage, ob der Rat einstimmig oder mit Mehrheitsbeschluss Entscheidungen trifft oder
in der Art der Beteiligung des Europäischen Parlaments.
Die EU darf grundsätzlich nur dann tätig werden, wenn ihr die Mitgliedstaaten
in den Verträgen eine Zuständigkeit übertragen haben, anderenfalls verbleibt die Re-
gelungskompetenz bei den Mitgliedstaaten. Man nennt das auch den Grundsatz der
begrenzten Einzelermächtigung (Art 5 EUV). Die EU verfügt damit nicht über so-
genannte Kompetenz-Kompetenz, d.h. über die Möglichkeit, ihre Kompetenzen selbst
auszuweiten oder zu ändern. Dieses Recht ist den Mitgliedstaaten vorbehalten.
Es gibt verschiedene Arten der EU-Zuständigkeit, die für unterschiedliche Bereiche
gelten. Ausschließliche Zuständigkeit bedeutet, dass in den betreffenden Bereichen nur
die EU Rechtsvorschriften erlassen kann, nicht aber die Mitgliedstaaten (z.B. in den Be-
reichen Zollunion, Währungspolitik für die Staaten des Euro-Raums). Geteilte Zustän-
digkeit besagt, dass sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften er-
lassen können – letztere aber nur dann, wenn die EU noch keine Vorschriften in einem
Bereich erlassen hat bzw. das nicht beabsichtigt (z.B. Binnenmarkt, Landwirtschaft,
Umwelt, Transport, Energie). Neben der ausschließlichen und der geteilten Zustän-
digkeit gibt es noch die unterstützende Zuständigkeit (öffentliche Gesundheit, Kultur,
Industrie etc. – hier darf die EU keine Rechtsakte erlassen, sondern die Mitgliedstaa-
ten eben nur unterstützen) sowie die besondere Zuständigkeit (u.a. Koordinierung der
Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, Festlegung und Umsetzung der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, für die es spezielle Modi in der Interaktion zwischen
EU-Organen und Mitgliedstaaten gibt).
2.2 EU-Institutionen im Überblick
Zu den Organen der EU, wie die Institutionen in den EU-Verträgen bezeichnet werden,
zählen gemäß Artikel 13(1) EUV der Europäische Rat, die Europäische Kommission,
der Rat der EU, das Europäische Parlament, der Gerichtshof der EU, die Europäische
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304
Zentralbank und der Rechnungshof. Für die EU-Gesetzgebung maßgeblich ist das Trio
bestehend aus den beiden Ko-Gesetzgebern Rat der EU und Europäisches Parlament
sowie der Europäischen Kommission, die die Gesetzesvorschläge vorlegt. Der Europäi-
sche Rat legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU fest.
2.2.1 Der Europäische Rat: Impulsgeber & Streitschlichter
Der Europäische Rat (ER) ist das jüngste der EU-Organe und wurde erst relativ spät
in den EU-Verträgen institutionalisiert. Er nahm seine Anfänge in informellen Gipfel-
treffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten beginnend in den 1960er-
Jahren und tagt zumindest zweimal im Halbjahr. Neben den Staats- und Regierungs-
chefs*Staats- und Regierungschefinnen gehören ihm der*die jeweils für eine Periode
von zweieinhalb Jahren gewählte Präsident*in des Europäischen Rats (der*die kein ein-
zelstaatliches Amt ausüben darf) und der*die Präsident*in der Europäischen Kommis-
sion an; der*die Hohe Vertreter*in für Außen- und Sicherheitspolitik nimmt an seinen
Arbeiten teil.
Als Impulsgeber der EU ist es Aufgabe des Europäischen Rats, die allgemeinen poli-
tischen Zielvorstellungen und Prioritäten für die Union festzulegen. Richtungsweisende
Entscheidungen für die Entwicklung der EU gehen folglich meist auf Festlegungen
des Europäischen Rats zurück, dessen Führungsrolle innerhalb der Union nicht zuletzt
durch diverse Krisen in den vergangenen Jahren gefestigt bzw. noch verstärkt wurde
(Costa/Brack 2019, 82). Im Unterschied zum Rat der EU (siehe Abschnitt 2.2.3) wird
der Europäische Rat nicht gesetzgeberisch tätig. Vielmehr ist es Aufgabe des Trios aus
Europäischer Kommission, Rat der EU und Europäischem Parlament, seine politischen
Festlegungen in entsprechende Maßnahmen zu übersetzen (Costa/Brack 2019, 77).
Neben seiner Funktion als Impulsgeber fungiert der Europäische Rat in der Praxis
häufig auch als Streitschlichter, etwa wenn sich die Mitgliedstaaten im Rat nicht auf
eine gemeinsame Vorgehensweise verständigen können. In den Sitzungen werden somit
oftmals Fragen mit hoher politischer Brisanz und entsprechendem Konfliktpotenzial
erörtert.
Abgesehen von Personalfragen oder in den Verträgen festgelegten Spezialfällen ent-
scheidet der Europäische Rat im Konsens. Er ist in der EU damit die intergouverne-
mentale Institution par excellence. Zugleich wurde er mit dem Vertrag von Lissabon
auch zu einem der supranationalen Organe der EU, mit einem*einer permanenten Prä-
sidenten*Präsidentin und in den EU-Verträgen festgelegten Verpflichtungen. Kurzum,
„[t]he European Council synthesizes the two major tensions underlying European inte-
gration – supranationalism and intergovernmentalism“ (Costa/Brack 2019, 17).
Österreich ist im Europäischen Rat durch den Regierungschef, d.h. den*die Bundes-
kanzler*in, vertreten. Dies trifft gemäß ihrer innerstaatlichen Verfassungsordnung auch
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305Die Europäische Union und Österreich
auf die meisten anderen Mitgliedstaaten zu (nicht so Frankreich, Zypern, Litauen und
Rumänien, die durch den*die Staatspräsidenten*Staatspräsidentin vertreten sind).
2.2.2 Die Europäische Kommission: Multifunktionsorgan
Die Europäische Kommission (EK) nimmt im EU-Institutionengefüge eine zentrale
Rolle ein und verfügt über viele – formelle wie informelle – Möglichkeiten zur Einfluss-
nahme auf Dynamiken und Ergebnisse von EU-Entscheidungsprozessen (Schmidt/
Wonka 2012, 336). Wesentlich ist dabei nicht zuletzt das gesetzgeberische Initiativ-
monopol, das ihr obliegt: Gesetzgebungsakte der EU dürfen nur auf Vorschlag der Eu-
ropäischen Kommission erlassen werden. Dies macht sie zum wichtigen Agenda-Setter
europäischer Politik und Adressat umfassender Lobbyingaktivitäten unterschiedlicher
Interessengruppen (Schmidt/Wonka 2012, 336).
Die Kommission wird häufig als eine Art Regierung der EU verstanden, die inner-
halb der Vorgaben des Europäischen Rates agiert (Costa/Brack 2019, 82). Innerhalb
der EU ist sie aber auch das sui generis Organ par excellence, bedingt durch ihre spezi-
fische Zusammensetzung und Kompetenzen, die sowohl exekutive, legislative als auch
vereinzelt rechtsprechende Befugnisse umfassen (Costa/Brack 2019, 82). Gemeinsam
mit dem Gerichtshof der Europäischen Union kommt ihr die Aufgabe als „Hüterin der
Verträge“ zu, indem sie die Einhaltung des europäischen Primär- und Sekundärrechts
durch die Mitgliedstaaten überwacht (Schmidt/Wonka 2012, 337). In ihrer Koordinie-
rungsrolle vermittelt sie auch häufig zwischen den unterschiedlichen Interessen der im
Rat vertretenen Mitgliedstaaten, aber auch zwischen Rat und Europäischem Parlament.
Derzeit umfasst das Kollegium der Kommission entsprechend der Anzahl der EU-
Mitgliedstaaten 27 Mitglieder, einschließlich der Präsidentin (Ursula von der Leyen)
und des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik (Josep Borrell Fontelles).
Das Europäische Parlament wählt den*die Kommissionspräsidenten*Kommissionsprä-
sidentin auf Vorschlag des Europäischen Rates, der dabei das Ergebnis der Wahlen zum
Europäischen Parlament „berücksichtig“ (Art 17(7) EUV). Die Liste der übrigen, von
den Mitgliedstaaten vorgeschlagenen Kommissionsmitglieder wird en bloc vom Rat
im Einvernehmen mit dem*der gewählten Kommissionspräsidenten*Kommissions-
präsidentin angenommen. Das gesamte Kollegium der Kommission muss sich einem
Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen. Erst danach wird die Kom-
mission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Politisch verant-
wortlich ist sie aber dem Europäischen Parlament, das einen Misstrauensantrag gegen
die gesamte Kommission, nicht jedoch gegen einzelne Mitglieder, einbringen kann.
Wird ein solcher Antrag angenommen, muss die gesamte Kommission zurücktreten.
Während im Europäischen Rat und Rat die Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten
dominieren, ist es Aufgabe der Kommission, die allgemeinen Interessen der Union zu
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wahren. Ihre Mitglieder dürfen keine Weisungen von der Regierung, die sie vorgeschla-
gen hat, einholen oder entgegennehmen.
Obwohl es entsprechend der Anzahl an EU-Mitgliedern derzeit 27 Kommissions-
mitglieder gibt, sehen die EU-Verträge eine Reduktion auf zwei Drittel der Zahl an Mit-
gliedstaaten vor. Der Europäische Rat hat allerdings von seinem vertraglich verankerten
Recht Gebrauch gemacht, diese Bestimmung zu ändern, sodass nach wie vor jeder Mit-
gliedstaat im Kollegium der EU-Kommission vertreten ist. Die politische Realität hinkt
damit hinter den vertraglichen Möglichkeiten hinterher, deren Intention eine deutliche
Verschlankung des Kollegiums war.
Alle bisherigen österreichischen Mitglieder der Kommission kamen aus den Reihen
der ÖVP, der aktuelle österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn ist mit den wich-
tigen Haushaltsagenden sowie Verwaltung betraut.
2.2.3 Der Rat der EU: Vertretung mitgliedstaatlicher Interessen
Im Rat der Europäischen Union (auch Ministerrat oder schlicht Rat genannt) sind die
Interessen der Mitgliedstaaten repräsentiert. Im EU-Institutionengefüge ist er neben
dem Europäischen Parlament eines der beiden gesetzgebenden Organe. Obwohl die
Regierungen im Rat ihre „nationalen“ Interessen vertreten, ist Kompromissbereitschaft
und -findung unter den Ratsmitgliedern eine wesentliche Voraussetzung für das Zu-
standekommen von Entscheidungen. Als kollektives Organ tritt der Rat häufig für die
Wahrung des Einflusses und der Souveränität der Mitgliedstaaten ein – und steht dabei
mitunter einem weitaus „integrationsfreudigerem“ Europäischen Parlament als Ko-Ge-
setzgeber gegenüber, mit dem es eine Einigung zu erzielen gilt.
Der Rat setzt sich aus den jeweiligen Fachminister*innen der Mitgliedstaaten zusam-
men (je ein*e Minister*in pro Mitgliedstaat). In der Praxis tagt er damit in unterschied-
lichen Zusammensetzungen (derzeit sind es zehn), während er rechtlich gesehen ein
einziges Organ darstellt. Je nach Politikbereich können Entscheidungen mit einfacher
Mehrheit, qualifizierter Mehrheit oder müssen einstimmig erfolgen. In jenen Politikbe-
reichen, in denen die EU gesetzgeberisch tätig wird, kommt mittlerweile mehrheitlich
das sogenannte Ordentliche Gesetzgebungsverfahren zur Anwendung, in dem der Rat
gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Ko-Gesetzgeber fungiert. Im Rahmen
dieses Verfahrens entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit, für die zwei Bedin-
gungen erfüllt sein müssen: Es müssen, erstens, 55 Prozent der Mitgliedstaaten für den
betreffenden Vorschlag stimmen (derzeit 15 von 27 Mitgliedstaaten); die unterstützen-
den Mitgliedstaaten müssen, zweitens, zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamt-
bevölkerung der EU ausmachen. Dieses Prinzip der sogenannten „doppelten Mehr-
heit“ ist mit November 2014 in Kraft getreten und hat das zuvor gültige, komplizierte
System der Stimmengewichtung im Rat abgelöst, bei dem jedem Mitgliedstaat unter
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307Die Europäische Union und Österreich
Berücksichtigung seiner Bevölkerungsgröße eine bestimmte Anzahl von Stimmen zu-
gewiesen worden war. Unabhängig vom vertraglich vorgesehenen Entscheidungsmodus
und trotz der Ausdehnung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit auf immer
mehr Bereiche zeigt sich im Rat in der Praxis häufig eine Tendenz zu konsensualer Ent-
scheidungsfindung (Lewis 2012 & 2019).
Den Ratssitzungen vorgelagert sind die unzähligen Vorbereitungsgremien des Rates
(auch: Ratsarbeitsgruppen), in denen die Mitgliedstaaten ihre Positionen akkordieren
bzw. die oftmals zähen Verhandlungen über eine gemeinsame Positionierung erfolgen.
Anders als Kommission, Parlament und Europäischer Rat verfügt der Rat nicht über
eine*n permanente*n Präsidenten*Präsidentin. Stattdessen gibt es die sogenannte rotie-
rende Ratspräsidentschaft, bei der alle sechs Monate ein anderer Mitgliedstaat die Prä-
sidentschaft des Rates innehat. Dieser Mitgliedstaat führt dann im Rat und seinen Vor-
bereitungsgremien den Vorsitz bei den Sitzungen und bereitet diese, unterstützt vom
permanent eingerichteten Ratssekretariat, vor. Österreich hatte seit seinem EU-Beitritt
bislang drei Mal die Ratspräsidentschaft inne (zweites Halbjahr 1998, erstes Halbjahr
2006 und zweites Halbjahr 2018).
Trotz gewisser Verbesserungen im Bereich der Transparenz (beispielsweise müssen
Abstimmungen über Rechtsakte im Rat mittlerweile in öffentlicher Sitzung durchge-
führt werden) bleibt die Öffentlichkeit von den entscheidenden Beratungen innerhalb
dieses Gremiums ausgeschlossen. Auch deshalb galt der Rat in der politikwissenschaft-
lichen Forschung lange Zeit als eine „black box“ (Lewis 2012, 322) mit wenig Einblick
für Außenstehende über die entscheidenden Dynamiken und Interessenkoalitionen in
den Verhandlungen der Mitgliedstaaten.
2.2.4 Das Europäische Parlament: Mitentscheider & Legitimationsbeschaer
Als direkt gewähltes Organ vertritt das Europäische Parlament (EP) im EU-Institu-
tionengefüge die Bürger*innen. In einer Vielzahl an Politikbereichen fungiert es ge-
meinsam mit dem Rat als Ko-Gesetzgeber, mit dem es auch die Haushaltsbefugnisse
der Union ausübt. Die Vertragsreformen der Vergangenheit brachten im Laufe der
Zeit eine deutliche Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments und Ausweitung
seiner Befugnisse. Obwohl das Europäische Parlament im öffentlichen Diskurs oft als
schwach und wenig einflussreich dargestellt wird, nimmt es im EU-Institutionengefüge
eine durchaus gewichtige Rolle ein und kann die Ausgestaltung europäischer Politiken
entscheidend mitgestalten.
Zu seinen Anfängen war das Europäische Parlament als parlamentarische Versamm-
lung konzipiert, die sich aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammensetz-
te. Seit 1979 werden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments per Direktwahl
gewählt, eine Wahlperiode dauert fünf Jahre. Im Vertrag von Lissabon ist die Maxi-
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malzahl von 751 Abgeordneten (einschließlich des*der Parlamentspräsidenten*Parla-
mentspräsidentin) festgelegt, seit dem EU-Austritt Großbritanniens („Brexit“) besteht
es aus 705 Abgeordneten (vorher: 751). Die Zahl der Sitze pro Mitgliedstaat variiert je
nach Bevölkerungsgröße, wobei ein Mitgliedstaat zumindest sechs (Malta, Luxemburg,
Zypern) und maximal 96 Abgeordnetensitze (Deutschland) erhält. Die österreichische
Bevölkerung wird im Europäischen Parlament durch 19 Abgeordnete repräsentiert. Bei
den Wahlen zum Europäischen Parlament entscheidet die Wahlbevölkerung jedes EU-
Mitgliedstaates über die Verteilung der diesem Land zugesprochenen Sitze (siehe dazu
Perlot/Filzmaier in diesem Band). Arbeitsorganisation und Abstimmungsverhalten ver-
laufen aber nicht entlang nationaler, sondern parteiideologischer Konfliktlinien. Die
Abgeordneten sind in länderübergreifenden Fraktionen organisiert, innerhalb derer
die Parlamentsarbeit und das Abstimmungsverhalten koordiniert werden. Die stärkste
Fraktion ist jene der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) mit derzeit 178 Ab-
geordneten (davon sieben aus Österreich von der ÖVP), gefolgt von der Fraktion der
Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (146 Abgeord-
nete, davon fünf aus der SPÖ), der liberalen Renew Europe Group (99 Abgeordnete,
davon eine der NEOS), der Fraktion der GRÜNEN/Freie Europäische Allianz (73 Ab-
geordnete, drei davon von den österreichischen GRÜNEN), der Fraktion Identität und
Demokratie (einem Zusammenschluss rechtsradikaler, nationalistischer und rechtsext-
remer Parteien mit derzeit 70 Abgeordneten, drei davon von der FPÖ), der Fraktion
der Europäischen Konservativen und Reformer (63 Abgeordnete, keine aus Österreich)
sowie Die Linke im Europäischen Parlament – GUE/NGL (39 Abgeordnete, keine aus
Österreich). Dazu kommen 37 fraktionslose Abgeordnete (keine aus Österreich).
Anders als im österreichischen Nationalrat (siehe dazu Praprotnik in diesem Band)
verläuft die zentrale Konfliktlinie im Europäischen Parlament nicht zwischen Abge-
ordneten der Regierungsfraktionen auf der einen und jenen der Oppositionsparteien
auf der anderen Seite, sondern zwischen dem Parlament auf der einen und dem Rat
oder auch der Kommission auf der anderen Seite. Das liegt am spezifischen Aufbau des
EU-politischen Systems, das sich von parlamentarischen Regierungssystemen, in denen
die Regierung aus der Parlamentsmehrheit hervorgeht, erheblich unterscheidet. Eine
gewisse Ähnlichkeit zum österreichischen Nationalrat besteht dagegen in der Arbeits-
organisation des Europäischen Parlaments: Auch dort wird die Arbeit des Plenums in
über 20 fachspezifischen Ausschüssen vorbereitet, in denen u.a. Legislativvorschläge
der Kommission behandelt, Berichte erstellt und diskutiert sowie Stellungnahmen ver-
abschiedet werden.
Offizieller Amtssitz des Europäischen Parlaments ist das französische Straßburg, wo
auch die Mehrzahl der Plenartagungen stattfindet. Die Ausschüsse sowie zusätzliche
Plenartagungen finden allerdings in Brüssel statt (wo auch die Kommission und der Rat
ihren Sitz haben), während das Generalsekretariat des Parlaments seinen offiziellen Sitz
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309Die Europäische Union und Österreich
in Luxemburg hat. Diese historisch bedingte, unpraktikable Aufteilung ist Bestandteil
der EU-Verträge (Protokoll Nr. 6) und kann nur einstimmig geändert werden (wogegen
Frankreich sich sträubt, da es auf den Parlamentssitz im eigenen Staat nicht verzichten
möchte).
Anders als die meisten anderen Parlamente verfügt das Europäische Parlament nicht
über ein Initiativrecht für Gesetzesvorschläge – dieses Vorrecht ist, mit einigen wenigen
Ausnahmen, bei der Europäischen Kommission monopolisiert. Zwar kann das Euro-
päische Parlament nach Art 225 AEUV die Kommission zur Vorlage von Vorschlägen
auffordern, diese muss der Aufforderung jedoch nicht nachkommen, sondern lediglich
begründen, warum sie gegebenenfalls keinen Vorschlag vorlegt. Ein eigenes Initiativ-
recht zählt zu den langjährigen Forderungen des Europäischen Parlaments.
2.2.5 Weitere EU-Organe: Gerichtshof, Zentralbank und Rechnungshof
Zu den EU-Organen zählen auch der Gerichtshof der Europäischen Union, die Euro-
päische Zentralbank und der Rechnungshof. Als Rechtsprechungsorgan kommt dem
Gerichtshof der EU (EuGH) im europäischen Integrationsprozess eine zentrale Stel-
lung zu. Ihm allein obliegt die Auslegung des Unionsrechts (Primär- und Sekundär-
recht), dessen korrekte Anwendung durch die Mitgliedstaaten und die anderen EU-
Organe er überprüft. Der Gerichtshof, der seinen Sitz in Luxemburg hat, besteht aus
einem*einer Richter*in pro Mitgliedstaat. Er kann von einem Mitgliedstaat, EU-Or-
gan, in bestimmten Fällen aber auch von natürlichen und juristischen Personen ange-
rufen werden. Seine Entscheidungen sind verbindlich. In seiner Auslegung der Verträge
ist der EuGH oftmals über eine enge Interpretation der in den Verträgen festgelegten
Rechtsvorschriften hinausgegangen und hat den europäischen Integrationsprozess in
zahlreichen Schlüsselentscheidungen maßgeblich geprägt und vorangetrieben (Costa/
Brack 2019, 176). Er wird daher nicht nur als Vertragshüter, sondern auch als Integra-
tionsmotor bezeichnet.
Die Europäische Zentralbank (EZB) ist für die Geldpolitik im sogenannten Euro-
Raum zuständig und ist die Zentralbank jener 19 Mitgliedstaaten, deren Währung der
Euro ist. Im Rahmen der bestehenden Wirtschafts- und Währungsunion kommt ihr
eine zentrale Rolle zu. Zu ihren wesentlichen Aufgaben zählt es, die Preisstabilität inner-
halb der Eurozone zu gewährleisten. Die EZB hat ihren Sitz im deutschen Frankfurt
am Main.
Der Rechnungshof ist ein unabhängiges Kontrollorgan der EU, das die Rechtmäßig-
keit der EU-Finanzen und ordnungsgemäße Verwendung aller Einnahmen und Aus-
gaben der EU prüft. Sitz des Rechnungshofs ist in Luxemburg. Jeder Mitgliedstaat
entsendet eine*n Vertreter*in in den Rechnungshof, wobei diese*r seine*ihre Aufgaben
dann in Unabhängigkeit (also weisungsfrei) vom entsendenden Mitgliedstaat ausübt.
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310
2.3 Europapolitische Einbindung innerstaatlicher Institutionen
und Akteur*innen
Europapolitik findet nicht nur in den Institutionen auf EU-Ebene statt. Auch innerhalb
der Mitgliedstaaten gibt es Koordinierungsprozesse und -strukturen, um deren europa-
politische Positionierung im Rat und im Europäischen Rat festzulegen. In Österreich
verfügt die Bundesregierung dabei in der Praxis zwar über weitreichenden Spielraum,
Minister*innen und Bundeskanzler*in können in ihrer Positionierung im Rahmen eu-
ropäischer Verhandlungen jedoch nicht gänzlich autonom agieren. Am umfassenden
Prozess der innerstaatlichen Koordinierung in europapolitischen Belangen ist, je nach
Materie, eine Vielzahl von Akteur*innen beteiligt (Eppler/Maurer 2019, 23). Dazu zäh-
len neben dem jeweils zuständigen Bundesministerium fallweise andere, mitbetroffene
Ministerien, die Länder, die Sozialpartner und Interessenvertretungen, die National-
bank etc. (vgl. Neisser 2019). Während die Anhörung mancher Akteur*innen formell
geregelt und gesetzlich zwingend ist, basiert sie in anderen Fällen auf gelebter Praxis.
Über weitreichende Mitwirkungsrechte verfügt in Österreich der Nationalrat, der
hinsichtlich seiner Kontroll- und Einflussmöglichkeiten in EU-Angelegenheiten auch
im europäischen Vergleich als zumindest formell starkes Parlament gilt (Miklin 2015;
Auel/Polak 2019). Er kann den Mitgliedern der Bundesregierung in Form von Stellung-
nahmen bindende Aufträge erteilen. Liegt eine solche Stellungnahme vor, darf der*die
Minister*in in den Verhandlungen bzw. bei der Abstimmung im Rat nur aus zwin-
genden integrations- und außenpolitischen Gründen von dieser Stellungnahme abwei-
chen. In der österreichischen Praxis erweist sich dieses Instrument jedoch als wenig
wirkungsvoll, da die Mehrheitsfraktionen im Nationalrat sich nicht gegen „ihre“ Re-
gierungsmitglieder positionieren, sondern ihre Aktivitäten vielmehr mit dem „eigenen“
Regierungsteam akkordieren (vgl. Liebich 2019). Der österreichische Nationalrat wird
in der einschlägigen Literatur daher auch als gutes Beispiel für die Diskrepanz zwischen
bestehenden rechtlichen Möglichkeiten auf der einen und ihren praktischen Implika-
tionen auf der anderen Seite herangezogen (Blümel/Neuhold 2001, 336).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Österreich wurde am 1. Jänner 1995 Mitglied der Europäischen Union. Der europäi-
sche Integrationsprozess mit der Schaffung supranationaler Institutionen startete hinge-
gen bereits Jahrzehnte früher. Der folgende Abschnitt skizziert zunächst die wichtigsten
historischen Etappen dieses Prozesses, bevor Österreichs Weg in die EU dargelegt wird.
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311Die Europäische Union und Österreich
3.1 Vertragliche Stationen in der europäischen
Integrationsgeschichte
Nach dem österreichischen Beitritt zählte die EU im Jänner 1995 insgesamt 15 Mit-
glieder (einschließlich der beiden anderen Neuzugänge Finnland und Schweden). Nach
mehreren, teils großen Erweiterungsrunden und einem Austritt sind es nunmehr 27.
Den Grundstein für diese Entwicklung legten in den 1950er-Jahren sechs Staaten:
Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Paris im April 1951 gründeten Frankreich,
Deutschland (zum damaligen Zeitpunkt: Bundesrepublik Deutschland), Italien, Bel-
gien, die Niederlande und Luxemburg die Europäische Gemeinschaft für Kohle und
Stahl (EGKS). Geprägt durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs war die Grund-
idee, durch wirtschaftliche Integration der europäischen Staaten künftige Kriege auf
dem Kontinent zu verhindern. Zu diesem Zweck wurde die „Vergemeinschaftung“ der
für die Rüstungsindustrie wesentlichen Kohle- und Stahlproduktion der beteiligten
Mitgliedstaaten beschlossen. Die Zölle zwischen den Mitgliedstaaten sollten abgeschafft
und ein gemeinsamer Markt geschaffen werden. Sämtliche diesen Produktions- und
Wirtschaftssektor betreffenden Entscheidungen wurden einer gemeinsamen Aufsichts-
behörde (der „Hohen Behörde“) unterstellt, die verbindliche gemeinsame Regelungen
für alle Mitglieder beschließen konnte. Neben der „Hohen Behörde“ wurden zudem
eine Parlamentarische Versammlung, ein Ministerrat, ein Gerichtshof und ein Beraten-
der Ausschuss gegründet. Damit wurde der Grundstein für die supranationale Entwick-
lung der bis heute andauernden europäischen Integration gelegt, die sich damit vom
zumeist intergouvernementalen Charakter Internationaler Organisationen oder anderer
regionaler Integrationsprojekte wesentlich unterscheidet. Die EGKS stand von Beginn
an anderen beitrittswilligen europäischen Staaten offen.
Der Gedanke der innereuropäischen Friedenssicherung durch wirtschaftliche und
politische Integration setzte sich in den folgenden Jahrzehnten in einer Reihe weiterer
neu gegründeter Organisationen fort: Während die Pläne für eine Europäische Verteidi-
gungsgemeinschaft (EVG) und eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) in den
1950er-Jahren scheiterten, wurden im Bereich der wirtschaftlichen Integration weitere
Integrationsfortschritte erzielt: Im März 1957 wurden die sogenannten Römischen Ver-
träge unterzeichnet und damit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie
die Europäische Atomgemeinschaft (EAG bzw. auch Euratom genannt) gegründet.
Während mit der EAG/Euratom der EGKS-Ansatz einer weiteren sektoralen Integ-
ration fortgesetzt wurde, war das mit der Schaffung der EWG verfolgte Ziel umfang-
reicher: Auf der Grundlage der sogenannten vier Freiheiten – d.h. freier Verkehr von
Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital – sollte durch den Abbau von Zöllen
und anderen Handelshemmnissen schrittweise ein europäischer Binnenmarkt geschaf-
fen werden. Die drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EAG/Euratom fusionierten
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später zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) mit gemeinsamen Organen (Vertrag
von Brüssel bzw. Fusionsvertrag vom April 1965). Nach Jahren der Stagnation (die auch
unter dem Begriff der „Eurosklerose“ zusammengefasst werden) konnten vertragliche
Fortschritte zur Vertiefung der Integration erst mit der Unterzeichnung der Einheit-
lichen Europäischen Akte (EEA) im Februar 1986 beendet werden. Mit der EEA kam
es zu Erweiterungen der Zuständigkeiten der Union, um die Vollendung des Binnen-
marktes voranzutreiben. Außerdem wurde in diesem Bereich erstmals die einstimmige
Beschlussfassung im Rat durch Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit ersetzt und
die Rolle des Europäischen Parlaments in einigen Bereichen gestärkt. Nach dem ambi-
tionierten Binnenmarktprogramm ab Mitte der 1980er-Jahre (vgl. Kohler-Koch et al.
2004, 67–74) folgte Anfang der 1990er-Jahre die nächste umfassende Vertragsreform:
Im Februar 1992 wurde mit der Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht die Euro-
päische Union gegründet, die auf drei Säulen fußte: den Europäischen Gemeinschaften
(erste Säule, siehe auch oben), der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP,
zweite Säule) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (JI, dritte
Säule). Während die Gemeinschaftsorgane in der sogenannten ersten Säule umfassende
Zuständigkeiten ausübten, war die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der zweiten
und dritten Säule primär durch Intergouvernementalismus charakterisiert. Neben der
Schaffung einer Europäischen Zentralbank wurden auch ein beratender Wirtschafts-
und Sozialausschuss sowie ein ebenfalls beratender Ausschuss der Regionen geschaffen.
Der Vertrag von Maastricht sah außerdem die Errichtung einer Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion in drei Phasen vor, deren dritte Phase die Einführung der Gemeinschafts-
währung Euro vorsah. Der Vertrag von Maastricht vollzieht die Entwicklung von einer
anfangs primär wirtschaftlich ausgerichteten Integration hin zur Schaffung einer poli-
tischen Union (siehe etwa die Schaffung der zweiten und dritten Säule, aber auch die
mit diesem Vertrag eingeführte Unionsbürgerschaft). Aufgrund seiner einschneidenden
Bedeutung wird die auf diesen Vertrag folgende Integrationsgeschichte daher häufig
auch als Post-Maastricht-Ära bezeichnet.
Angesichts der „Westorientierung“ zahlreicher mittel- und osteuropäischer Staaten
nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ und dem Zerfall der Sowjetunion war be-
reits beim Vertragsabschluss klar, dass für eine künftig weit größere EU Reformen in
ihrer institutionellen Architektur unumgänglich waren. Allerdings konnte in den Ver-
handlungen zum Vertrag von Maastricht in wesentlichen Fragen keine Einigung erzielt
werden, da diese „substantielle Machtfragen“ (Pollak/Slominski 2012, 41) berührten.
Die offengebliebenen Fragen (Stimmgewichtung im Rat, Größe der Kommission und
Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen im Rat) sollten mit dem 1997 un-
terzeichneten Vertrag von Amsterdam gelöst werden. Zu dessen Neuerungen zählten
u.a. die Stärkung der Rolle des*der Kommissionspräsidenten*Kommissionspräsidentin,
die Einführung einer Obergrenze von 700 Abgeordneten des Europäischen Parlaments,
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die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens auf weitere Politikbereiche und die
Schaffung eines*einer Hohen Vertreters*Vertreterin der Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik. Auch mit dem Vertrag von Amsterdam blieben wesentliche Fragen
ungelöst, weshalb es mit dem Vertrag von Nizza (unterzeichnet im Februar 2001) zu
einem neuerlichen Lösungsanlauf kam. Wieder konnten jedoch nur wenig zufrieden-
stellende Kompromisslösungen gefunden werden. So wurde beispielsweise der Verzicht
der großen Mitgliedstaaten auf die ihnen bis dato zustehende Nominierung eines zwei-
ten Mitglieds der Europäischen Kommission festgelegt, während eine grundlegende
Reform der Zusammensetzung der Kommission ausblieb (stattdessen wurde eine Neu-
verhandlung der Kommissionsgröße ab dem 27. Mitglied vereinbart). Die Stimmen-
gewichtung im Rat wurde ebenfalls adaptiert und die Zahl der Sitze im Europäischen
Parlament stattdessen wieder erhöht (auf 732 bei 27 Mitgliedstaaten). Mit dem Vertrag
von Nizza wurde außerdem eine Erklärung zur Zukunft der Union (Erklärung Nr. 23)
verabschiedet, deren Ziel eine intensive Debatte um weitere Reformen in vier Berei-
chen war: genauere Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mit-
gliedstaaten, Status der Charta der Grundrechte, Vereinfachung der Verträge und Rolle
der nationalen Parlamente in der Architektur Europas. Mit der Erklärung von Laeken,
verabschiedet von den EU-Staats- und Regierungschefs*EU-Staats- und Regierungs-
chefinnen im Dezember 2001, wurde schließlich ein Konvent zur Zukunft Europas ein-
berufen, der binnen eines Jahres Vorschläge zu den offenen Fragen zur Zukunft der EU
erarbeiten sollte. Die Ergebnisse dieses Konvents mündeten schließlich in den Vertrag
über eine Verfassung für Europa, der im Oktober 2004 unterzeichnet wurde, jedoch nie
in Kraft trat, da bei den Referenden in Frankreich (Mai 2005) und den Niederlanden
(Juni 2005) nicht die dafür erforderlichen Mehrheiten erzielt wurden. Dies führte zu
einer Phase der Unsicherheit über die weitere Zukunft der EU, die erst mit dem bis
heute gültigen Vertrag von Lissabon vorübergehend überwunden werden konnte. Der
Vertrag wurde im Dezember 2007 unterzeichnet. Wesentliche Teile aus dem nie in
Kraft getretenen Vertrag über eine Verfassung für Europa wurden in den neuen Ver-
tragstext übernommen, während alle begrifflichen und symbolischen Verfassungsbe-
züge ausgespart wurden. Der Vertrag von Lissabon stellt die heute gültige vertragliche
Grundlage der EU dar (siehe Abschnitt 2.).
Während dieser Phasen der – trotz zwischenzeitlicher Krisen – stetigen Vertiefung
der europäischen Integration kam es durch den Beitritt neuer Mitglieder auch zu meh-
reren Erweiterungsschritten (siehe Anschauliches). Die jeweiligen Beitrittskandidaten
mussten dabei stets dem zum Beitrittszeitpunkt gültigen Vertragswerk beitreten bzw.
den gesamten „acquis communautaire“ übernehmen.
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Anschauliches. Erweiterungs(rück)schritte der europäischen Integration
− 1951 Gründung EGKS durch Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien,
Belgien, die Niederlande und Luxemburg
− 1973 Beitritt Dänemark, Irland und Großbritannien
− 1981 Beitritt Griechenland
− 1986 Beitritt Spanien und Portugal
− 1995 Beitritt Österreich, Finnland und Schweden
(auch als EU-15 bezeichnet)
−
Polen, Slowenien und Slowakei
(auch als EU-25 bezeichnet)
− 2007 Beitritt Bulgarien und Rumänien
− 2013 Beitritt Kroatien
(auch als EU-28 bezeichnet)
− 2020 Austritt Großbritannien
(heutige EU-27)
3.2 Österreichs Weg in die EU
Unter den prosperierenden liberalen Demokratien Westeuropas gilt Österreich als einer
der Nachzügler in seinen Beitrittsbestrebungen zur Europäischen Union. Dies hat sei-
ne Ursachen in der politischen Nachkriegsordnung nach Ende des Zweiten Weltkriegs
und, damit zusammenhängend, der seit dem 26. Oktober 1955 verfassungsrechtlich
verankerten immerwährenden Neutralität (BGBl 211/1955). Diese wurde lange Zeit
als Hindernis für einen Beitritt Österreichs zu den supranationalen Vorläuferorganisa-
tionen der Europäischen Union – EGKS, EWG und EAG bzw. spätere EG – gesehen.
Stattdessen beteiligte sich Österreich am Aufbau der Europäischen Freihandelszone
(EFTA) und wurde 1960 eines ihrer Gründungsmitglieder.
Die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung der EG, der EG-Beitritt zweier EFTA-
Gründungsmitglieder 1973 (Großbritannien und Dänemark) und vermehrte politi-
sche Bestrebungen zur Stärkung von Österreichs Wettbewerbsfähigkeit führten Ende
der 1980er-Jahre schließlich zu einem Umdenken und Forderungen nach einem EG-
Beitritt. Parallel dazu erfolgte eine graduelle Neuinterpretation bezüglich Österreichs
Neutralitätsstatus. Die damaligen Regierungsparteien SPÖ und ÖVP änderten ihre
bisherige Haltung, wonach die Neutralität ein grundsätzliches Hindernis für eine EG-
Mitgliedschaft sei. So wurde schließlich am 17. Juli 1989 mit dem sogenannten „Brief
nach Brüssel“ Österreichs Beitrittsansuche an die EG (später EU) formal eingebracht.
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315Die Europäische Union und Österreich
Die Beitrittsverhandlungen starteten im Februar 1993 und konnten im April 1994 ab-
geschlossen werden.
Da der Beitritt zur (nunmehrigen) Europäischen Union als Gesamtänderung der
österreichischen Bundesverfassung zu bewerten war, war gemäß Artikel 44(3) des Bun-
des-Verfassungsgesetzes (B-VG) die Durchführung einer Volksabstimmung in Öster-
reich erforderlich, die schließlich am 12. Juni 1994 stattfand. Die öffentliche Debatte
zur Mobilisierung der Bevölkerung durch die Lager der Beitrittsbefürworter*innen
und Beitrittsgegner*innen begann bereits deutlich früher und wurde teils recht erhitzt
geführt. Trotz eines grundsätzlich breiten Konsenses wichtiger politischer und gesell-
schaftlicher Eliten für einen Beitritt gab es auch gewichtige Gegenstimmen. Dem ersten
Lager zuzurechnen waren die beiden Regierungsparteien SPÖ und ÖVP, die Bundes-
präsidenten Waldheim und später Klestil, die Landeshauptleutekonferenz sowie, ganz
entscheidend, die Sozialpartner. Auch das LIBERALE FORUM (gegründet 1993 in-
folge der Abspaltung einiger Abgeordneter der FPÖ-Parlamentsfraktion) befürworte-
te und warb für eine Mitgliedschaft bei der EU. Die meisten relevanten österreichi-
schen Medien unterstützten die Beitrittsbestrebungen der Regierung ebenfalls (anders
die Boulevardblätter täglich alles und Ganze Woche). Der Wechsel der auflagenstarken
Kronen Zeitung ins Lager der Beitrittsbefürworter*innen Anfang 1994 wurde später
vielfach als mitausschlaggebend für die deutliche Pro-Beitrittsmehrheit bei der Volks-
abstimmung gedeutet (Heschl 2002). Ausdrückliche Beitrittsgegner*innen waren die
FPÖ und die GRÜNEN, wenngleich mit unterschiedlicher Motivation und Positio-
nierung. Die FPÖ, die 1989 noch das Beitrittsgesuch unterstützt und als erste Partei
die Forderung nach einem EG-Beitritt artikuliert hatte, vollzog unter Parteichef Jörg
Haider in den frühen 1990er-Jahren eine Repositionierung: Unter dem bereits in ande-
rem Kontext erfolgreichen Slogan „Österreich zuerst“ mobilisierte die FPÖ gegen eine
EU-Mitgliedschaft (Schaller 1994). Bei den GRÜNEN hatte die Positionierung in der
EU-Beitrittsfrage zu innerparteilichen Konflikten geführten, bis man sich schließlich
an einer differenzierten Positionierung versuchte: Zwar wurde die europäische Einigung
grundsätzlich befürwortet, ihre Umsetzung in Form der Maastricht-EU jedoch abge-
lehnt (Schaller 1994). Dass es in beiden Parteien auch ausgewiesene Beitrittsbefürwor-
ter*innen gab, hatte ein Schwelen innerparteilicher Konflikte und eine Schwächung des
Lagers der Beitrittsgegner*innen zur Folge.
Bei der Volksabstimmung votierte mit 66,58 Prozent der gültigen Stimmen schließ-
lich eine deutliche Mehrheit der teilnehmenden Wahlbevölkerung für den Beitritt Ös-
terreichs zur EU, bei einer Wahlbeteiligung von 82,3 Prozent. Nach diesem unerwartet
deutlichen Votum stimmten der Ratifikation des Beitrittsvertrags im Nationalrat neben
SPÖ, ÖVP und LIF schließlich auch beinahe alle Abgeordneten der GRÜNEN-Frak-
tion (eine Gegenstimme und zwei Enthaltungen) zu, während die Abgeordneten des
Freiheitlichen Klubs den entsprechenden Antrag – mit einigen wenigen Ausnahmen
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– ablehnten. Mit der Festlegung der GRÜNEN, das Ergebnis des Volksentscheides in
ihrer Positionierung zu berücksichtigen, begann auch eine generelle Repositionierung
der Partei in ihrer europapolitischen Haltung: Die GRÜNEN zählen im gegenwärti-
gen Parteienspektrum – neben den NEOS – zu den vehementesten Befürworter*innen
einer vertieften europäischen Integration. Demgegenüber zeigten sich bei der FPÖ im-
mer wieder Brüche in ihrer europapolitischen Positionierung und Argumentation so-
wohl in der Periode vor als auch jener nach dem österreichischen EU-Beitritt. Auch die
Regierungsbeteiligung in der Koalition mit der ÖVP von 2000–2002 bzw. 2003–2005
stellte eine gewisse Zäsur dar, während der die FPÖ-Regierungsmitglieder eine modera-
te europapolitische Haltung einnahmen. Als Oppositionspartei bemühte sie zuvor und
danach hingegen konsequent ihr erprobtes „Österreich zuerst“-Framing und liebäugelte
wiederholt mit einem EU-Austritt Österreichs als „Ultima Ratio“.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Bis zur sogenannten Post-Maastricht-Ära sprach man in der Forschung zur europäi-
schen Integrationsgeschichte von einem sogenannten „permissive consensus“: Dieser
ursprünglich von Lindberg und Scheingold (1970) geprägte Begriff beschreibt folgende
Charakteristika, die den fortschreitenden Integrationsprozess bis in die 1990er-Jahre
prägten: Erstens, eine stabile, breite, aber diffuse Zustimmung der Bürger*innen zum
allgemeinen Ziel der europäischen Integration. Die von den Regierungen der Mitglied-
staaten vorangetriebenen bzw. getragenen konkreten Integrationsschritte waren dabei
kaum Gegenstand intensiver öffentlicher Debatten. Auf Basis der allgemeinen positi-
ven Grundstimmung der Bevölkerung konnten die politischen Eliten das Integrations-
projekt ohne öffentlichen Widerspruch vorantreiben. Kurzum: Die De-Politisierung
der europäischen Integration bei gleichzeitig weitgehendem pro-europäischen Konsens
unter den politischen Eliten und in der Bevölkerung ermöglichte ihr kontinuierliches
Fortschreiten. Diese Zeiten sind, so der Tenor in der politikwissenschaftlichen EU-For-
schung, längst vorbei: In mehreren Mitgliedstaaten gehört der pro-europäische Konsens
der parteipolitischen Eliten der Vergangenheit an, und EU-emen werden von der
Bevölkerung nicht mehr als weitgehend irrelevant für ihre Lebensbedingungen betrach-
tet. Die Phase des „permissive consensus“ wurde abgelöst durch jene des „constraining
dissensus“ (Hooghe/Marks 2009), in der die Regierungen der Mitgliedstaaten in inte-
grationspolitischen und EU-Fragen die Meinungen und Präferenzen der Bevölkerung
berücksichtigen müssen.
In Österreich, das erst in der Post-Maastricht-Ära EU-Mitglied wurde, lässt sich die
Bedeutung der europäischen Integration in der innenpolitischen Auseinandersetzung
sowie in der Wahrnehmung der Bevölkerung anhand dreier Charakteristika besonders
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317Die Europäische Union und Österreich
deutlich ablesen. Seit dem EU-Beitritt gibt es, erstens, eine im EU-Vergleich große
Gruppe von EU-Skeptiker*innen innerhalb der Bevölkerung – trotz der deutlichen Zu-
stimmung zum EU-Beitritt bei der Volksabstimmung 1994. Im österreichischen Partei-
enspektrum sind, zweitens, EU-skeptische Parteien – gemessen an ihren Wahlerfolgen
– vergleichsweise stark vertreten. Damit zusammenhängend entfalten europapolitische
emen, drittens, im innenpolitischen Diskurs regelmäßig ein gewisses Mobilisierungs-
potenzial, das vor allem EU-skeptische Wähler*innengruppen zu mobilisieren vermag
(vgl. Schoen 2010; Plasser/Seeber 2010).
Abbildung 1 zeigt die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft in der österreichischen
Bevölkerung im EU-Vergleich. Die Fragestellung der zugehörigen Eurobarometer-Um-
frage lautet: „Ist die Mitgliedschaft [Österreichs bzw. des jeweiligen Mitgliedstaats] in
der EU Ihrer Meinung nach im Allgemeinen eine gute Sache, eine schlechte Sache,
weder eine gute noch eine schlechte Sache?“, wobei die Befragten auch mit „weiß nicht“
antworten konnten. Wie in der Abbildung ersichtlich, liegen die Zustimmungsraten
(also jener Anteil der Befragten, der die Mitgliedschaft für eine gute Sache hält) in
Österreich zu allen Untersuchungszeitpunkten deutlich unter dem EU-Durchschnitt.
bzw. EU-27).
Quelle: Eurobarometer (EB): EB 44.1 (1995), EB 50.0 (1998), EB 54.0 (2000), EB 60.1 (2003), EB 64.2
(2005), EB 70.1 (2008), EB 73.4 (2010), EB 79.5 (2013), EB 84.1 (2015), EB 90.1 (2018), EB 94.2 (2020).
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Abbildung 2 wirft einen Blick auf die Stärke EU-skeptischer Parteien im jeweiligen Par-
teienspektrum der EU-15. Die EU-Position der Parteien basiert auf Befragungsergeb-
nissen des Chapel Hill Expert Surveys (Jolly et al. 2022), das seit 1999 nationale Ex-
pert*innen zu den europapolitischen Haltungen der nationalen Parteieliten befragt. Für
die in der Abbildung ausgewiesenen Werte wurde der Anteil der Parlamentssitze all jener
Parteien addiert, deren allgemeine Haltung zur europäischen Integration auf einer Skala
von 1–7 (von „strongly opposed“ bis zu „strongly in favor“ kleiner als drei war (basierend
auf dem Mittelwert aus den Einschätzungen aller befragten Expert*innen des jeweiligen
Mitgliedstaates). Wie in der Abbildung ersichtlich, zählt Österreich nach Großbritan-
nien gemeinsam mit den Niederlanden zu jenen Staaten, die den größten Anteil EU-
Abb. 2 Sitzanteil EU-skeptischer Parteien in nationalen Parlamenten, EU-15
Quelle: Jolly et al. (2022).
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319Die Europäische Union und Österreich
skeptischer Parteien im nationalen Parlament aufweisen. Während in den Niederlanden
und Italien, aber etwa auch in Belgien, Finnland und Deutschland EU-skeptische Par-
teien erst im Laufe der letzten Dekade zu einer relevanten Größe in der Parteienland-
schaft wurden, waren diese allen voran in Österreich und dem notorisch EU-skeptischen
Großbritannien sowie, auf etwas niedrigerem Niveau, auch in Dänemark und Schweden
bereits Ende der 1990er-Jahre in relevanter Stärke in den nationalen Parlamenten ver-
treten. Der deutliche Rückgang in Österreich im Jahr 2019 ist nicht zuletzt auf die dras-
tischen Wahlverluste der FPÖ infolge des Ibiza-Skandals bei der Nationalratswahl 2019
zurückzuführen und damit eher als Momentaufnahme zu interpretieren.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Der österreichische Beitritt zur EU vor mittlerweile mehr als 25 Jahren hat das politi-
sche System Österreichs nachhaltig verändert. Doch auch die EU selbst hat in dieser
Zeit große Veränderungen durchlaufen, es kam zu Vertiefungen und Erweiterungen der
europäischen Integration. Als im Wandel begriffene Polity bleibt die Finalität der EU
ungeklärt und die EU von regelmäßigen Reformdebatten um ihre Struktur und Ent-
scheidungsmodi begleitet: Braucht es eine Stärkung der supranationalen Elemente, um
politische Entscheidungen jenseits von Minimalkompromissen zu ermöglichen? Oder
würden weitere Souveränitätstransfers die ohnehin brüchige demokratische Legitima-
tionsbasis der EU überstrapazieren? Auch die Debatte um weitere Demokratisierungs-
potenziale in den Strukturen und Prozessen der EU werden die politische Diskussion
der kommenden Jahre voraussichtlich prägen – hierzu zählen Fragen zur Stärkung einer
europäischen Öffentlichkeit und der europäischen politischen Parteien ebenso wie zur
effektiven Bürger*innenbeteiligung abseits der alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen
zum Europäischen Parlament.
Die komplexen und auf breiten Konsens ausgerichteten Entscheidungsprozesse auf
EU-Ebene bleiben auch in der Zukunft eine Herausforderung für effektive und demo-
kratische europäische Politikgestaltung. Die sowohl in den Verträgen als auch in der ge-
lebten Praxis etablierte Konsensorientierung europäischer Entscheidungsfindung wird
in den letzten Jahren durch eine zunehmend heterogene Interessenlage der 27 Mit-
gliedstaaten zusätzlich herausgefordert. Diese umfasst nicht nur unterschiedliche Präfe-
renzen in konkreten Politikbereichen, sondern berührt auch grundsätzliche Fragen der
in den EU-Verträgen verankerten Werte der Union (Art 2 EUV), wie die mit einigen
Mitgliedstaaten – allen voran Polen und Ungarn – bestehenden Konflikte um Rechts-
staatlichkeit oder auch Minderheitenschutz und Nichtdiskriminierung offenbaren.
Für österreichische Bundesregierungen wird sich dabei auch in der Zukunft die
Frage stellen, ob sie sich in ihrer EU-Positionierung an europapolitischen Zielvorstel-
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lungen – ob themenspezifisch oder ideologisch geprägt – orientieren oder vielmehr
auf die Zustimmung der mobilisierbaren EU-Skeptiker*innen in der österreichischen
Bevölkerung schielen. Für den Wahlerfolg einzelner Parteien mag Letzteres eine kurz-
fristig rationale Entscheidung sein, für die österreichische Europapolitik ist es eine auch
mittel- und langfristig entscheidende politische Frage mit nachhaltigen Auswirkungen.
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der regelmäßigen Eurobarometer-Erhebungen die Bürger*innen in einer standardisier-
ten Befragung zu ihren Meinungen und Einstellungen über die europäische Integration,
EU-Institutionen und Vor-/Nachteile der Mitgliedschaft in der EU befragt (in allen
Mitgliedstaaten und weiteren europäischen Staaten). Auf der entsprechenden Website
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323Die Europäische Union und Österreich
sind diese Daten frei zugänglich, siehe https://europa.eu/eurobarometer/screen/home
(18.06.2022).
Chapel Hill Expert Survey (CHES): Seit 1999 werden im Rahmen dieses am Chapel Hill
Center for European Studies der University of North Carolina angesiedelten Projektes
die EU-Positionen der politischen Parteien zahlreicher europäischer Staaten erhoben, ba-
sierend auf einer standardisierten Befragung nationaler Expert*innen. Die Daten sind auf
der Website frei zugänglich, siehe https://www.chesdata.eu/ches-europe (18.06.2022).
Übungsfragen
Wer legt in der EU die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten
fest?
Welche EU-Organe sind mit welcher Funktion am EU-Gesetzgebungsprozess be-
teiligt?
In welchen EU-Organen sind die Interessen der Mitgliedstaaten vertreten?
Welche Parallelen gibt es zwischen der Arbeitsorganisation des Europäischen Parla-
ments und des österreichischen Nationalrats?
Welche Charakteristika zeichnen das politische System der EU aus, wodurch sie sich
von den politischen Systemen ihrer Mitgliedstaaten unterscheidet?
Wo und wie ist geregelt, wann die EU tätig werden darf und wann nicht?
Was war die Grundidee bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl (EGKS) und wie wurde sie zu verwirklichen versucht?
Welche politisch relevanten Akteur*innen zählten im Zuge der österreichischen EU-
Beitrittsdebatte vor der Volksabstimmung zu den Befürworter*innen eines EU-Bei-
tritts, welche zu den Gegner*innen?
Wie kann der Nationalrat Einfluss auf die EU-Position der österreichischen Bundes-
regierung nehmen?
Woran lässt sich das im Vergleich mit anderen EU-Mitgliedstaaten hohe Maß an
Euroskeptizismus in Österreich erkennen?
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Gerichtsbarkeit
Zusammenfassung
9Die Gerichtsbarkeit (Judikative/Justiz) bildet neben der Gesetzgebung (Legislative) und
der Exekutive (Regierung und Verwaltung) eine der drei klassischen Staatsgewalten. Die
Gerichtsbarkeit ist von den beiden anderen Gewalten, die in parlamentarischen Regie-
rungssystemen typischerweise miteinander verschränkt sind, deutlicher getrennt.
9Die Gerichtsbarkeit wird in die ordentliche Gerichtsbarkeit und die Gerichtsbarkeit des
Verfassungsgerichtsbarkeit.
9 -
lichen Rechts gelten die besonderen, von der Verfassung vorgesehenen Garantien des
Richteramts (Unabhängigkeit, Unabsetzbarkeit, Unversetzbarkeit).
9Die ordentliche Gerichtsbarkeit umfasst sowohl die Entscheidung über Streitigkeiten zwi-
schen Privatpersonen (Zivilgerichtsbarkeit) als auch die Entscheidung über strafrechtliche
Anklagen gegen eine Person (Strafgerichtsbarkeit) und erfolgt durch die ordentlichen Ge-
Ermittlungs- und Anklagefunktion wird im Regelfall durch die Staatsanwaltschaft wahr-
genommen.
9
(Verwaltungsgerichte, Verwaltungsgerichtshof, Verfassungsgerichtshof) tätig.
9Dem Verfassungsgerichtshof kommt als „Hüter der Verfassung“ und durch seine Kom-
besondere Rolle im politischen System zu, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zu
Parlament und Regierung steht.
9Aufgrund des fortschreitenden Integrationsprozesses hat auch im Bereich der Gerichts-
barkeit die europäische Ebene (Europäischer Gerichtshof, Europäischer Gerichtshof für
9Aktuelle Herausforderungen im Bereich der Gerichtsbarkeit stellen sich insbesondere
durch Fragen der personellen Ausstattung, Fragen der Transparenz sowie angesichts
-
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326
schen Politik und Justiz. Diese wurden auch international wahrgenommen und als Zeichen
eines Rückschrittes in rechtsstaatlicher und demokratischer Qualität interpretiert.
1. Einleitung
Die Gerichtsbarkeit (Judikative/Justiz) bildet neben der Gesetzgebung (Legislati-
ve, Parlament) und der Verwaltung (Exekutive, Regierung) die dritte der klassischen
Staatsgewalten. Die Idee der Gewaltenteilung John Locke (1632–1704), Montesquieu
(1689–1755) zielt auf die Beschränkung der staatlichen Macht ab, die nicht „in einer
Hand“ (früher der absolutistisch regierende Herrscher) liegen, sondern auf mehrere
Institutionen und Staatsfunktionen verteilt und damit jeweils begrenzt sein soll.
Während es die Funktion der Gesetzgebung ist, allgemein verbindliche Rechtsnor-
men (Gesetze) zu erlassen, ist es die Funktion der Verwaltung, diese Rechtsnormen
zu vollziehen und in konkreten Einzelfällen anzuwenden. Im Sinne von Checks and
Balances ist es ebenso Aufgabe des Parlaments, die Handlungen der Regierung zu kon-
trollieren. Gerade in parlamentarischen Demokratien kommt es dabei, auch aufgrund
der zentralen Rolle der politischen Parteien, zu einer nicht unwesentlichen Verschrän-
kung dieser beiden Staatsgewalten: Da die Regierung in der Regel mit der Mehrheit im
Parlament eine politische Einheit bildet, kommt ihr eine bestimmende Rolle im Gesetz-
gebungsprozess zu. Zudem erfolgt die parlamentarische Kontrolle in erster Linie nicht
über den Gegensatz zwischen Regierung und Parlament, sondern über den Gegensatz
zwischen der regierenden Mehrheit und der Opposition.
Die Judikative ist im Gegensatz dazu viel stärker von den beiden anderen Gewalten
getrennt. Ihre tatsächliche Unabhängigkeit ist ein wesentliches Element einer liberalen
Demokratie und beeinflusst somit die generelle Qualität des demokratischen Systems.
Aus Wahlen hervorgegangene politische Mehrheiten haben (im Idealfall) keine Be-
deutung für die Ausübung der Gerichtsbarkeit, deren Aufgabe es ist, mit richterlicher
Autorität in Rechtsstreitigkeiten allein auf der Grundlage der geltenden Gesetze Recht
zu sprechen. Die inhaltliche Bandbreite dieser Rechtsprechung ist groß und reicht von
zivilrechtlichen Streitigkeiten und dem Strafrecht über die nachprüfende Entscheidung
in Verwaltungsangelegenheiten bis zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Letztere um-
fasst auch die letztinstanzliche Auslegung der Verfassung, was oft Werturteile erfordert.
Dadurch ist bei dieser Variante der Gerichtsbarkeit eine politische Komponente unver-
meidbar und im System angelegt.
Das vorliegende Kapitel widmet sich der Gerichtsbarkeit in Österreich. Nach der
österreichischen Bundesverfassung versteht man unter Gerichtsbarkeit (im materiellen
Sinn) allgemein die Vollziehung der Gesetze durch weisungsfreie Richter*innen und
ihre Hilfsorgane sowie – in speziellen Fällen – die Mitwirkenden aus dem Volk (Ada-
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327Gerichtsbarkeit
movich et al. 2022, 103 f.). Die Gerichtsbarkeit wird in die ordentliche Gerichtsbarkeit
und die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts unterteilt. Zur ordentlichen Gerichts-
barkeit zählen die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, zur Gerichtsbarkeit des öffentlichen
Rechts die Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit. Synonym werden für Ge-
richtsbarkeit im allgemeinen Sprachgebrauch auch die Begriffe Judikative oder Justiz
verwendet. Justiz im engeren Sinn meint nach dem österreichischen Bundes-Verfas-
sungsgesetz (B-VG) allerdings die ordentliche Gerichtsbarkeit, das heißt die Zivil- und
Strafgerichtsbarkeit. Diese muss gemäß Artikel 94 Abs 1 B-VG von der Verwaltung in
allen Instanzen getrennt sein, wobei Ausnahmen in einzelnen Fällen zulässig sind. Der
ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie der Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts gemein-
sam sind die besonderen, von der Verfassung vorgesehenen Garantien des Richteramts
(Unabhängigkeit, Unabsetzbarkeit, Unversetzbarkeit) (Adamovich et al. 2022, 266 f.).
Gerichtsbarkeit in Österreich
− Zivilgerichtsbarkeit: Zivilgerichtsbarkeit meint die Streitschlichtung zwischen
privaten Streitparteien (etwa über Streitigkeiten aus Kaufverträgen, Schaden-
ersatzansprüche etc.).
− Strafgerichtsbarkeit: Strafgerichtsbarkeit meint die Entscheidung über die
strafgerichtliche Anklage (im Regelfall durch die Staatsanwaltschaft) gegen
eine Person.
−
-
−
-
keit, die im Justizstrafverfahren Ermittlungs- und Anklagefunktionen wahrnehmen.
− Verwaltungsgerichtsbarkeit: Zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Verwaltung
-
stanz die Verwaltungsgerichte (des Bundes und der Länder) sowie in zweiter
Instanz der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) berufen.
− -
pol, generelle Normen (Gesetze, Verordnungen etc.) auf ihre Rechtmäßigkeit,
insbesondere Verfassungskonformität zu überprüfen. Zudem ist er zuständig,
verwaltungsgerichtliche Entscheidungen auf die Verletzung von Grundrechten
zu kontrollieren. Dazu kommen weitere Kompetenzen (z.B. Überprüfung von
Wahlen).
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328
In Abschnitt 2. dieses Kapitels werden die Organisation und Aufgaben der Gerichts-
barkeit in Österreich (einschließlich eines Überblicks über die europäische Ebene) dar-
gestellt. Abschnitt 3. geht auf ausgewählte Rahmenbedingungen ein und zeigt dabei
die veränderte soziale Repräsentativität des Justizsystems, das Verhältnis der Österrei-
cher*innen zur Justiz sowie die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im historischen
Längsschnitt. Daran schließt in Abschnitt 4. eine Einordnung des österreichischen Falls
an, wobei insbesondere auf qualitative und quantitative Merkmale des österreichischen
Rechtssystems im EU-Vergleich eingegangen wird. Im abschließenden Abschnitt 5.
werden Herausforderungen für die Zukunft skizziert.
2. Gegenwärtige Situation
Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) bezeichnet die Gerichtsbarkeit und die Verwal-
tung mit dem Oberbegriff „Vollziehung“ und bringt damit zum Ausdruck, dass es sich
bei beiden Staatsfunktionen um eine Anwendung der Gesetze handelt (Öhlinger/Eber-
hard 2022, 286). Die Gerichtsbarkeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur dem Gesetz
verpflichtet ist. Ihre Hauptaufgabe ist die Rechtsprechung, das heißt die Entscheidung
von Streitigkeiten auf der Basis des geltenden Rechts. Die Sicherung der Unabhängig-
keit der Gerichtsbarkeit ist ein wesentliches Anliegen der Verfassung (Berka 2021, 274).
Sie sieht zu diesem Zweck spezielle verfassungsrechtliche Grundsätze vor, die allesamt
die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie die Bindung an das Gesetz
sichern sollen. Während die Verwaltung durch den Grundsatz der strikten Weisungsbin-
dung gekennzeichnet ist (Art 20 Abs 1 B-VG), ist die Gerichtsbarkeit gerade durch den
Ausschluss jeglicher Weisungsbindung charakterisiert: Nach Artikel 87 Absatz 1 B-VG
sind die Richter*innen in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig. Damit ist die
Unabhängigkeit betreffend die rechtsprechende Tätigkeit der Richter*innen gemeint.
(In Angelegenheiten der Justizverwaltung, etwa Zuweisung eines Dienstzimmers, ist hin-
gegen eine Weisungsbindung an übergeordnete Organe vorgesehen.) Der Sinn des Aus-
schlusses der Weisungsbindung liegt darin, jede politische Einflussnahme zu verhindern.
Die Richter*innen sollen nur an das Gesetz gebunden sein. Zur Gewährleistung dieser
unabhängigen Stellung der Richter*innen treten zur verfassungsrechtlichen Garantie der
Unabhängigkeit (Weisungsfreiheit) auch noch jene der Unabsetzbarkeit und Unversetz-
barkeit hinzu (Art 88 Abs 2 B-VG). Ergänzend gewährleistet im Lichte des Grundrechts
auf den gesetzlichen Richter (Art 83 Abs 2 B-VG) der Grundsatz der festen Geschäfts-
verteilung (Art 87 Abs 3 B-VG), dass durch eine fixe Geschäftsverteilung nach abstrak-
ten Grundsätzen im Voraus eine mögliche Einflussnahme durch Auswahl bestimmter
Richter*innen im Einzelfall hintangehalten wird. Darüber hinaus ist die richterliche Un-
abhängigkeit auch durch das Grundrecht auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der
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329Gerichtsbarkeit
Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) abgesichert, das einen individuellen
Rechtsanspruch auf Entscheidung der Rechtssache in zivilrechtlichen Streitigkeiten oder
strafrechtlichen Anklagen durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht vorsieht
(Berka 2021, 275 f.). Die Bindung der Richter*innen an die Gesetze und Verordnungen
wird außerdem explizit in der Verfassung normiert (Art 89 Abs 1 B-VG).
Die oben erwähnten verfassungsrechtlichen Grundsätze gelten sowohl für die or-
dentliche Gerichtsbarkeit als auch die Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts. Wäh-
rend die ordentliche Gerichtsbarkeit – untypisch für einen Bundesstaat – in Österreich
vollständig in die Zuständigkeit des Bundes fällt, ist seit der Verwaltungsgerichtsbar-
keitsreform 2012 (in Kraft getreten 2014, siehe Abschnitt 2.2.1) die Zuständigkeit für
die Verwaltungsgerichtsbarkeit zwischen Bund und Ländern geteilt: Neben dem Ver-
waltungsgerichtshof, dem Bundesverwaltungsgericht und dem Bundesfinanzgericht be-
stehen neun Landesverwaltungsgerichte, die organisatorisch Einrichtungen der Länder
darstellen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit (VfGH) liegt ausschließlich beim Bund.
Die Verfassung legt – wie schon angesprochen – fest, dass die ordentliche Gerichts-
barkeit vom Bund ausgeht (Art 82 Abs 1 B-VG) und es im Bereich der ordentlichen
Gerichtsbarkeit daher nur Bundesgerichte gibt. Zur ordentlichen Gerichtsbarkeit
zählen die Zivil- und die Strafgerichtsbarkeit. Als oberste Instanz in Zivil- und Straf-
rechtssachen sieht die Verfassung den Obersten Gerichtshof (OGH) vor. Die weitere
Gerichtsorganisation und die Zuständigkeiten werden durch einfaches Bundesgesetz
normiert und unterliegen damit der Beschlussfassung mittels einfacher Mehrheit durch
das Parlament. Als die wichtigsten Gesetze sind in diesem Zusammenhang die Jurisdik-
tionsnorm (JN), die Strafprozessordnung (StPO) und das Gerichtsorganisationsgesetz
(GOG) anzusehen. Sie bilden die Rechtsgrundlage für die ordentlichen Gerichte, die
in vier Stufen organisiert sind. So werden die Aufgaben der Rechtsprechung derzeit
(Stand Mai 2022) von 115 Bezirksgerichten, 20 Landesgerichten, vier Oberlandesge-
richten (Graz, Innsbruck, Linz und Wien) und dem Obersten Gerichtshof erfüllt. Die
öffentlichen Interessen in der Strafrechtspflege werden von 16 Staatsanwaltschaften,
der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, vier Oberstaatsanwaltschaften und
der Generalprokuratur wahrgenommen. Der Strafvollzug erfolgt in 28 Justizanstalten
(Bundesministerium für Justiz 2022).
Die Einhaltung der gerichtlichen – und verwaltungsbehördlichen – Zuständigkeits-
ordnung ist grundrechtlich (Grundrecht auf den gesetzlichen Richter gemäß Artikel 83
Abs 2 B-VG) abgesichert und kann vor dem VfGH individuell durchgesetzt werden
(Berka 2021, 278).
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Aus dem in der Verfassung verankerten und bereits erwähnten Grundsatz der Tren-
nung von Justiz und Verwaltung (Art 94 B-VG) folgt, dass organisatorische Verflech-
tungen, gegenseitige Instanzenzüge oder Weisungsbeziehungen zwischen Gerichten
und Verwaltungsbehörden ausgeschlossen sind. Der Zweck dieser Regelung liegt in der
Gewährleistung der Unabhängigkeit der Rechtsprechung (Berka 2021, 122). Nur in
einzelnen Angelegenheiten kann der Gesetzgeber einen Instanzenzug von einer Verwal-
tungsbehörde zu einem ordentlichen Gericht vorsehen.
Als Organe der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden vorrangig Richter*innen und
in speziellen Fällen Mitwirkende aus dem Volk tätig, in der Strafgerichtsbarkeit auch
Staatsanwält*innen (siehe Abschnitt 2.1.2). Richter*innen sind Beamt*innen, gemäß
der Verfassung mit den erwähnten Garantien der richterlichen Unabhängigkeit und
Unparteilichkeit ausgestattet und berufsmäßig mit der Rechtsprechung betraut. Sie
werden von Rechtspfleger*innen, das sind besonders ausgebildete nichtrichterliche
Bundesbedienstete, und weiteren Hilfsorganen wie etwa Schriftführer*innen und
Schreibkräften unterstützt. Der*die Bundespräsident*in oder der*die dazu ermächtigte
Bundesminister*in für Justiz ernennt die Richter*innen auf Antrag der Bundesregie-
rung und nach nicht bindenden Vorschlägen der richterlichen Personalsenate (Art 86
B-VG).
2.1.1 Zivilgerichtsbarkeit
Zivilgerichtsbarkeit im funktionellen Sinn meint die Streitschlichtung zwischen Priva-
ten durch autoritativen Richterspruch (Stolzlechner/Bezemek 2018, 253). Über diese
bürgerlichen Rechtssachen, damit sind Streitigkeiten zwischen Privatpersonen, also pri-
vatrechtliche Streitigkeiten gemeint, entscheiden gemäß § 1 Jurisdiktionsnorm die or-
dentlichen Gerichte. Dieses aus dem Jahr 1895 stammende Gesetz über die Ausübung
der Gerichtsbarkeit und die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte geht wie auch
das zentrale Verfahrensgesetz für den Zivilprozess, die Zivilprozessordnung (ZPO), auf
den Rechtswissenschaftler und späteren Justizminister Franz Klein (1854–1926) zu-
rück. Seine Grundidee eines sozialen Zivilprozesses, der Rechtsstreitigkeiten möglichst
einfach, rasch und billig beilegt, ohne dass die Wahrheitsfindung zu kurz kommt, fand
internationale Beachtung und gilt im Grunde heute noch (Ballon et al. 2018, 3). Wie in
Abbildung 1 (Gerichtsbarkeit im Zivilrecht) dargestellt, sind Klagen je nach Höhe des
Streitwerts (oder kraft Eigenzuständigkeit) in erster Instanz beim örtlich zuständigen
Bezirksgericht beziehungsweise dem örtlich zuständigen Landesgericht einzubringen.
Der Instanzenzug führt dann bis zum OGH. Gerichtliche Entscheidungen können in
Form des Urteils (Entscheidung über die Begründet- oder Unbegründetheit eines ein-
geklagten Rechtsanspruchs) oder Beschlusses (alle anderen Entscheidungen) gefällt wer-
den. Gegen Urteile der ersten Instanz ist die Berufung, gegen jene der zweiten Instanz
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331Gerichtsbarkeit
(eingeschränkt) die Revision vorgesehen; Beschlüsse können mit Rekurs angefochten
werden (Ballon et al. 2018, 25). Zahlenmäßig fallen in erster Instanz mehr Fälle beim
Bezirksgericht als beim Landesgericht an.
2.1.2 Strafgerichtsbarkeit
Strafgerichtsbarkeit im funktionellen Sinn bedeutet die Fällung einer Entscheidung
über die strafrechtliche Anklage gegen eine Person aufgrund des bestehenden generellen
Rechts (Stolzlechner/Bezemek 2018, 253). Das von den ordentlichen Gerichten voll-
zogene Justizstrafrecht dient dem Schutz elementarer Rechtsgüter wie etwa Leib, Leben
und Eigentum. Im Strafgesetzbuch (StGB) sind die wichtigsten Tatbestände festgelegt
(Körperverletzung, Mord, Diebstahl, Betrug, Amtsmissbrauch etc.). Die Aufklärung
von Straftaten, die Verfolgung verdächtiger Personen und die damit in Zusammenhang
stehenden Entscheidungen erfolgen im Wege des Strafprozesses, der auf der Rechts-
grundlage der Strafprozessordnung (StPO) beruht (Seiler 2020, 21). Im Gegensatz dazu
ahndet das Verwaltungsstrafrecht Verwaltungsübertretungen wie etwa Übertretungen
der Straßenverkehrsordnung und wird im Wege von Verwaltungsstrafverfahren durch
Verwaltungsbehörden vollzogen (die nachträgliche gerichtliche Kontrolle erfolgt durch
die Verwaltungsgerichtsbarkeit).
Da die Verfassung die Trennung von Richter*in und Ankläger*in vorsieht (Anklage-
prinzip, Art 90 Abs 2 B-VG), sind in Form der Staatsanwaltschaften (Staatsanwält*in-
nen) eigene Anklagebehörden als Organe der ordentlichen Gerichtsbarkeit eingerichtet
(Art 90a B-VG). Diese nehmen Ermittlungs- und Anklagefunktionen bei Straftaten
wahr – ausgenommen bei Privatanklagedelikten wie zum Beispiel verschiedenen For-
men von Ehrenbeleidigung, wo mangels Berührung des öffentlichen Interesses das
Recht zur Verfolgung nur in der Hand der*des Verletzten liegt (Seiler 2020, 26). Staats-
anwält*innen sind weisungsgebunden, was durch den dadurch eröffneten möglichen
Einfluss der Politik auf die Führung von Strafprozessen nicht unumstritten ist (Berka
2021, 277). Angesichts steigender Wirtschaftskriminalität hat man im Jahr 2010 für
diesen Bereich eine eigene Ermittlungs- und Anklagebehörde geschaffen: Die Wirt-
schafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ist zur bundesweiten Verfolgung
von Korruptions- und Finanzstrafdelikten sowie Wirtschaftsstrafsachen berufen, die
über 5 Mio. Euro Schadenshöhe hinausgehen.
Als „demokratisches Korrektiv“ zu den Berufsrichter*innen (Berka 2021, 279) sieht
die Verfassung die Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung vor (Art 91 B-VG).
Diese Laienrichter*innen werden im Rahmen der Strafgerichtsbarkeit als Schöff*innen
oder Geschworene tätig. Während Schöff*innen in Fällen schwerer Kriminalität ge-
meinsam mit den Berufsrichter*innen über die Schuld und das Strafausmaß eines*einer
Angeklagten entscheiden, entscheiden Geschworene bei bestimmten, mit schwerer
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Strafe bedrohten Verbrechen (z.B. Mord oder Hochverrat) alleine über die Schuld. Dass
diese Entscheidung keiner Begründung bedarf, wird immer wieder kritisiert, wurde bis-
her jedoch vom VfGH als verfassungskonform angesehen.
Zur Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts zählen die Verwaltungs- und die Verfas-
sungsgerichtsbarkeit. Sie bilden wesentliche Elemente des rechtsstaatlichen Prinzips der
Bundesverfassung (Öhlinger/Eberhard 2022, 60).
2.2.1 Verwaltungsgerichtsbarkeit
Zentrale Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist die Sicherung der Gesetzmäßig-
keit der Verwaltung, insbesondere des Handelns der Verwaltungsbehörden. Verwal-
tungsbehörden (z.B. Bundesminister*innen, Landesregierungen, Bezirkshauptmann-
schaften, Finanzämter, Landespolizeidirektionen) sind mit Hoheitsgewalt ausgestattete
staatliche Organe. Das bedeutet, sie können verbindliche Anordnungen treffen und
Zwang ausüben, insbesondere Bescheide und Verordnungen erlassen sowie Akte un-
mittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (z.B. Festnahmen)
setzen. Dagegen ist verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz vorgesehen, wie auch aus
Abbildung 1 ersichtlich ist. Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ebenso
wie die Entstehung der Verfassungsgerichtsbarkeit ein Ergebnis des Liberalismus und
der Bemühungen für eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts (Hauer 2019, 2). Durch die bisher umfassendste Reform (Verwal-
tungsgerichtsbarkeitsreform 2012), die mit 1. Jänner 2014 wirksam geworden ist, wur-
de die bis dahin einstufige zu einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgebaut.
Seither existieren in Österreich nach dem Modell „9+2“ neun Verwaltungsgerichte in
den Ländern (Landesverwaltungsgerichte) sowie zwei Verwaltungsgerichte des Bundes
(Bundesverwaltungsgericht und Bundesfinanzgericht). Zur Überprüfung der Entschei-
dungen dieser Verwaltungsgerichte erster Instanz sind als zweite Instanz der Verwal-
tungsgerichtshof (VwGH) und in besonderen Fällen (insbesondere bei der Behauptung
von Grundrechtsverletzungen oder der behaupteten Anwendung verfassungswidriger
Gesetze und Verordnungen) der VfGH zuständig.
Die Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz
Durch die Verwaltungsgerichtsbarkeitsreform 2012 wurden, wie dargelegt, mit den
Landesverwaltungsgerichten erstmals auch die Länder an der Staatsfunktion der Ge-
richtsbarkeit beteiligt, die bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Bundessache sowohl
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333Gerichtsbarkeit
in der Gesetzgebung als auch in der Vollziehung gewesen war. Dafür wurden die ver-
fassungsrechtlichen Rechtsgrundlagen zur Gänze neu gefasst (Art 129 bis 136 B-VG).
Die Festlegung der Zuständigkeiten sowie deren Verteilung erfolgt ebenfalls unmit-
telbar durch die Verfassung (Art 130, 131 B-VG). Die wichtigsten Zuständigkeiten der
Verwaltungsgerichte betreffen Beschwerden gegen Bescheide von Verwaltungsbehörden
(Bescheidbeschwerde) sowie gegen die Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls-
und Zwangsgewalt (Maßnahmenbeschwerde, etwa gegen die Abnahme eines Führer-
scheins). Darüber hinaus sind die Verwaltungsgerichte erster Instanz auch im Falle der
Verletzung der Entscheidungspflicht von Verwaltungsbehörden (Säumnisbeschwerde)
zuständig (Grabenwarter/Fister 2019, 198).
Betreffend die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundes- und Landesverwaltungs-
gerichten sieht die Verfassung Folgendes vor (siehe Abb. 1): Für Beschwerden in An-
gelegenheiten der öffentlichen Abgaben und des Finanzstrafrechts ist das Bundesfinanz-
gericht zuständig; in Angelegenheiten der Vollziehung des Bundes, die unmittelbar von
Bundesbehörden besorgt werden (unmittelbare Bundesverwaltung, etwa auf dem Ge-
biet des Asylwesens), ist das Bundesverwaltungsgericht zuständig. Den Landesverwal-
tungsgerichten kommen als sachlicher Zuständigkeitsbereich alle übrigen Entscheidun-
gen zu, das sind vor allem die Entscheidungen über Beschwerden in Angelegenheiten
der Landesverwaltung und Gemeindeverwaltung (z.B. Baurecht) sowie in jenen Angele-
genheiten, die in mittelbarer Bundesverwaltung vollzogen werden (z.B. Gewerberecht).
Die Organisationsvorschriften der Bundes- und Landesverwaltungsgerichte sind ver-
gleichbar (Art 134, 135 B-VG). Das Bundesverwaltungsgericht besteht aus einem*einer
Präsidenten*Präsidentin, einem*einer Vizepräsidenten*Vizepräsidentin und sonstigen
Mitgliedern, die jeweils vom*von der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin auf Vor-
schlag der Bundesregierung ernannt werden. Die Ernennung der Mitglieder der Lan-
desverwaltungsgerichte erfolgt durch die Landesregierung. Handelt es sich nicht um die
Positionen der Präsident*innen und Vizepräsident*innen, erstatten die Verwaltungs-
gerichte Dreiervorschläge für die Bundes- und Landesregierung, die allerdings bundes-
verfassungsrechtlich nicht bindend sind.
Üblicherweise entscheiden die Verwaltungsgerichte durch Einzelrichter*innen, so-
fern nicht die Entscheidung durch Senate (bestehend aus einem*einer Richter*in als
Vorsitzende*m und zwei weiteren Mitgliedern als Beisitzer*innen) vorgesehen ist.
Der Verwaltungsgerichtshof
Der VwGH (Art 134, 135 B-VG) setzt sich aus einem*einer Präsidenten*Präsiden-
tin, einem*einer Vizepräsidenten*Vizepräsidentin und der erforderlichen Zahl sonsti-
ger Mitglieder (Senatspräsident*innen und Hofrät*innen) zusammen. Im Mai 2022
gehörten ihm insgesamt 68 Mitglieder an. Wenigstens ein Viertel der Mitglieder sollte
womöglich aus dem Verwaltungsdienst der Länder stammen. Alle Mitglieder werden
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ohne Unterschied auf Vorschlag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten bezie-
hungsweise der Bundespräsidentin ernannt. Ausgenommen die Positionen von Präsi-
dent*in und Vizepräsident*in ist der Vorschlag der Bundesregierung auf der Grund-
lage eines bindenden Dreiervorschlages des Verwaltungsgerichthofes zu erstellen. Dies
ist Ausdruck seiner Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive (Selbstergänzungsrecht).
Zur Sicherung der Unabhängigkeit bestehen überdies weitere Unvereinbarkeitsbestim-
mungen (ähnlich wie beim Verfassungsgerichtshof, siehe Abschnitt 2.2.2). In der Regel
entscheidet der VwGH in Senaten zu fünf Mitgliedern (Fünfersenate), in Verwaltungs-
strafsachen in Dreiersenaten (Öhlinger/Eberhard 2022, 295 f.).
Der VwGH ist in höchster Instanz zur Sicherung des gesetzmäßigen Handelns der
Verwaltung berufen und überprüft die Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte erster
Instanz (Art 133 B-VG). Die wichtigste Verfahrensart vor dem VwGH stellt die so-
genannte Revision dar. So entscheidet er über Revisionen gegen Entscheidungen (Er-
kenntnisse oder Beschlüsse) der Verwaltungsgerichte des Bundes und der Länder. Der
Zugang zum VwGH ist jedoch eingeschränkt: Die Revision ist nur zulässig, wenn sie
von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt
(Art 133 Abs 4 B-VG). Über die Zulässigkeit der Revision entscheidet das Verwaltungs-
gericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses. Neben dieser ordentlichen
Revision besteht auch die Möglichkeit der außerordentlichen Revision, wenn das Ver-
waltungsgericht die Revision zwar ausgeschlossen hat, die betroffene Partei diese jedoch
trotzdem erhebt. Weiters entscheidet der VwGH über Anträge auf Fristsetzung, wenn
ein Verwaltungsgericht nicht innerhalb von sechs Monaten entschieden hat, sowie über
Kompetenzkonflikte zwischen den Verwaltungsgerichten untereinander sowie zwischen
diesen und dem VwGH selbst. Explizit nimmt die Verfassung jene Rechtssachen von
der Zuständigkeit des VwGH aus, die in die Zuständigkeit des VfGH fallen. Beide
Gerichtshöfe stehen auf derselben Stufe und sind nebeneinander mit jeweils spezifi-
schem Fokus für die Überprüfung der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zustän-
dig – ein in der Vergangenheit nicht immer ganz friktionsfreies Verhältnis mit teilweise
schwierigen Abgrenzungsfragen.
2.2.2 Verfassungsgerichtsbarkeit
Als „Hüter der Verfassung“ kommt dem VfGH die wesentliche Befugnis zu, Gesetze
und Verordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls
aufzuheben. Er wird damit in Einzelfällen als „negativer Gesetzgeber“ tätig. Der VfGH
erfüllt dabei die heikle Mission, letztlich politische Konflikte mit den Mitteln und der
Rationalität des (Verfassungs-)Rechts zu lösen. Daher kommt ihm eine Sonderstellung
unter den Staatsorganen zu, die sich auch an der Regelung der Bestellung seiner Mit-
glieder zeigt.
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335Gerichtsbarkeit
Die Organisation des Verfassungsgerichtshofs
Dem VfGH (Art 147 B-VG) gehören vierzehn Mitglieder an, darunter ein*e Prä-
sident*in, ein*e Vizepräsident*in und zwölf weitere Mitglieder. Weiters sieht die Ver-
fassung sechs Ersatzmitglieder vor, die im Falle der Verhinderung eines der zwölf Mit-
glieder tätig werden. Der VfGH entscheidet grundsätzlich im Plenum, das heißt unter
Beteiligung aller Mitglieder, und mit Stimmenmehrheit. Bestimmte Angelegenheiten
können in „kleiner Besetzung“, das heißt bei Anwesenheit von einem*einer Vorsitzen-
den und vier Stimmführer*innen entschieden werden. Dies betrifft etwa die im Jahr
1984 zur Entlastung des VfGH eingeführte Möglichkeit zur Ablehnung von Beschwer-
den (Art 144 Abs 2 B-VG), die jedoch einstimmig erfolgen muss.
Die Sonderstellung des VfGH zeigt sich, wie erwähnt, insbesondere auch an der Be-
stellung seiner Mitglieder (Art 147 Abs 2 B-VG): Präsident*in, Vizepräsident*in, sechs
weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder werden aufgrund von Vorschlägen der Bun-
desregierung vom Bundespräsidenten beziehungsweise der Bundespräsidentin ernannt.
Die früher bestehende Möglichkeit des Staatsoberhauptes, aus einem Dreiervorschlag zu
wählen, wurde 1994 nach einem Konflikt um die Ernennung eines neuen Mitglieds ge-
strichen. Die Mitglieder sind aus dem Kreis der Richter*innen, Verwaltungsbeamt*innen
und Professor*innen eines rechtswissenschaftlichen Faches an einer Universität auszuwäh-
len. Die übrigen sechs Mitglieder und drei Ersatzmitglieder ernennt das Staatsoberhaupt
aufgrund von Vorschlägen des Nationalrats (drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder)
und des Bundesrats (drei Mitglieder, ein Ersatzmitglied). Die verfassungsrechtlich vor-
gesehene Differenzierung der Nominierungsrechte ist faktisch bedeutungslos, da ja – im
Normalfall – die regierenden Parteien nicht nur die Bundesregierung bilden, sondern
auch in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit haben. Im Sinne der Berück-
sichtigung der bundesstaatlichen Komponente Österreichs sieht die Verfassung weiters
vor, dass drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder ihren ständigen Wohnsitz außerhalb
Wiens haben müssen. Alle Mitglieder und Ersatzmitglieder des VfGH müssen ein rechts-
wissenschaftliches Studium abgeschlossen haben und über eine zehnjährige juristische
Berufserfahrung verfügen. Zur Sicherung der Unabhängigkeit des VfGH von politischen
Interessen enthält die Verfassung spezielle Unvereinbarkeitsregelungen. Darin ist festge-
legt, dass Mitglieder der Bundesregierung, einer Landesregierung, eines allgemeinen Ver-
tretungskörpers (damit sind Nationalrat, Bundesrat, Landtag und Gemeinderat gemeint)
oder des Europäischen Parlaments dem VfGH nicht angehören können. Andererseits
sind dessen Mitglieder – abgesehen von Verwaltungsbeamt*innen, die sonst weiterhin
weisungsgebunden wären – nicht hauptamtlich tätig (Ehs 2020, 585).
Die Aufgaben des Verfassungsgerichtshofes
Zu den wichtigsten Aufgaben des VfGH zählt die Prüfung von Gesetzen und Verord-
nungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung (Normenkontrolle, Art 139, Art 140
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336
B-VG). Der VfGH hat diesbezüglich ein Prüfungsmonopol. Hinsichtlich der Antrags-
legitimation unterscheidet man zwischen der abstrakten und der konkreten Normen-
kontrolle. Bei der abstrakten Normenkontrolle werden Gesetze und Verordnungen
losgelöst von einem Anlassfall einer Prüfung unterzogen. Antragsberechtigt sind hier-
zu die Bundesregierung im Hinblick auf Landesgesetze und die Landesregierungen
im Hinblick auf Bundesgesetze – die gespiegelten Anfechtungsbefugnisse dienen der
Austragung föderalistischer Streitfragen (Berka 2021, 373). Außerdem ist ein Drittel
der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates im Hinblick auf Bundesgeset-
ze beziehungsweise ein Drittel der Mitglieder des jeweiligen Landtages bezüglich der
Landesgesetze antragsberechtigt (sofern die jeweilige Landesverfassung diese Möglich-
keit vorsieht). Dieses Antragsrecht, der sogenannte „Drittelantrag“, ist als Oppositions-
recht konzipiert, das einer parlamentarischen Minderheit die Kompetenz zugesteht,
Gesetzesbeschlüsse der Mehrheit einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unter-
ziehen. Fälle der konkreten Normenkontrolle sind hingegen dadurch charakterisiert,
dass eine Anfechtung nur dann und nur soweit rechtlich möglich ist, als diese Norm
in einem anhängigen (laufenden) Verfahren anzuwenden ist. Legitimiert zur Anfech-
tung sind in dieser Hinsicht alle ordentlichen Gerichte sowie die Verwaltungsgerichte
und der VwGH, der VfGH von Amts wegen und auch eine Person („Partei“), die im
Zusammenhang mit der Erhebung eines Rechtsmittels gegen eine Entscheidung eines
ordentlichen Gerichts einen solchen Parteiantrag stellt. Darüber hinaus kann auch jede
Einzelperson, die durch das Wirksamwerden einer Norm unmittelbar in ihren Rech-
ten verletzt zu sein behauptet, ein Gesetzes- oder Verordnungsprüfungsverfahren be-
antragen. Dieser sogenannte Individualantrag hat als Impuls für die Aufhebung von
Gesetzen in letzter Zeit eine besondere Bedeutung erlangt. So gehen etwa auch die
Aufhebung des Kopftuchverbotes an Volksschulen oder die Liberalisierung im Bereich
der Sterbehilfe (durch die Aufhebung des Verbots der Beihilfe zum Suizid) im Jahr 2020
auf Individualanträge zurück (Unger 2021).
Im Wege der Entscheidungsbeschwerde gemäß Artikel 144 B-VG entscheidet der
VfGH über Beschwerden gegen Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, worin die
Verletzung von Grundrechten („verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte“) oder die
Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm (ins-
besondere eines verfassungswidrigen Gesetzes) behauptet wird. Diese Verfahrensart, die
einer Überprüfung des Verwaltungshandelns dient und insofern die Kontrolltätigkeit
des VwGH in verfassungsrechtlicher Hinsicht ergänzt, wird auch als Sonderverwal-
tungsgerichtsbarkeit bezeichnet. Sie ist die zahlenmäßig bedeutsamste Verfahrensart vor
dem VfGH, wie weiter unten aus Abbildung 4 deutlich wird. Weitere Kompetenzen
betreffen die Überprüfung der wichtigsten Wahlen (Wahlgerichtsbarkeit; z.B. Aufhe-
bung der Bundespräsidentenstichwahl 2016), die Entscheidung über Kompetenzkon-
flikte (Kompetenzgerichtsbarkeit), die Entscheidung über Anklagen gegen verschiedene
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337Gerichtsbarkeit
oberste Organe des Bundes und der Länder (Staatsgerichtsbarkeit) sowie die Kausal-
gerichtsbarkeit (Entscheidungen über vermögensrechtliche Ansprüche gegen Gebiets-
körperschaften).
2.3 Europäische Ebene
Auf europäischer Ebene bestehen mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und
dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zwei Gerichtshöfe, de-
ren Rechtsprechung auch für Österreich von erheblicher und wachsender Bedeutung
ist.
Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg kommt das Mono-
pol zur Entscheidung über die Geltung und Auslegung des Rechts der Europäischen
Union (Unionsrecht) zu. Hat ein österreichisches Gericht Zweifel an der Geltung oder
Auslegung des in einer Rechtssache anzuwendenden Unionsrechts, kann es diese Fra-
ge dem EuGH im Rahmen des sogenannten Vorabentscheidungsverfahrens vorlegen.
Letztinstanzliche Gerichte (OGH, VwGH, VfGH) sind zur Vorlage verpflichtet (Öh-
linger/Eberhard 2022, 114). Bei Gültigkeitszweifeln sind nach der Rechtsprechung des
EuGH auch nicht-letztinstanzliche Gerichte zur Vorlage verpflichtet. Durch seine dy-
namische und integrationsfreundliche Interpretation des Unionsrechts sorgt der EuGH
für die Weiterentwicklung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, auch Österreichs.
Der im Rahmen des Europarates eingerichtete Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg sichert die Einhaltung der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK). Dieser 1950 abgeschlossene und seither in
16 Zusatzprotokollen ergänzte völkerrechtliche Vertrag enthält einen Katalog an
Grundrechten wie etwa in Artikel 6 EMRK das Recht auf ein faires Verfahren oder
in Artikel 8 EMRK das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Durch die
Auslegung der Konvention, die in rechtsfortbildender Weise erfolgt (EMRK als „living
instrument“), nimmt der EGMR im Wege seiner Entscheidungen indirekt nicht un-
erheblich Einfluss auf das österreichische Verfassungsrecht und die Rechtsprechung des
VfGH, da die EMRK in Österreich im Verfassungsrang steht. Nach Erschöpfung des
innerstaatlichen Instanzenzuges (sowohl im Zivil- und Strafrecht als auch im öffentli-
chen Recht) ist es möglich, den EGMR im Rahmen der Individualbeschwerde anzuru-
fen. Eine Verurteilung Österreichs löst zwar eine völkerrechtliche Verpflichtung aus, die
Entscheidung des EGMR zu befolgen, hat aber keine unmittelbare Wirkung im inner-
staatlichen Bereich für die*den Betroffene*n (Öhlinger/Eberhard 2022, 90). Dennoch
gehen immer wieder nachhaltige Impulse für die Fortentwicklung der österreichischen
Rechtsordnung aus (vgl. die Judikatur zu Art 6 EMRK, die zur Reform der Verwal-
tungsgerichtsbarkeit beitrug), in jüngerer Zeit verstärkt auch in gesellschaftspolitisch
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sensiblen Fragen, was in Hinblick auf die gegenüber den nationalen Parlamenten re-
duzierte demokratische Legitimation des europäisch zusammengesetzten Richterkolle-
giums (ein*e Richter*in pro Mitgliedsstaat) immer wieder auch kritisch diskutiert wird.
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Verfassungsgerichtshof / Verwaltungsgerichtshof
Bundesverwaltungsgericht /
Bundesfinanzgericht
Landesverwaltungs-
gericht
idR. Landes-
verwaltungsgericht
unmittelbare
Bv.
mittelbare
Bv.
Bundesverwaltung (Bv.) Landesverwaltung Gemeindeverwaltung
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Oberster
Gerichtshof
Vergehen
(reine Geldstrafe
oder Freiheitsstrafe
bis zu 1 Jahr)1
Schwere
Verbrechen
(Freiheitsstrafe
mehr als 5 Jahre)1
Oberlandesgericht
Bezirksgericht
Landesgericht
Vergehen und
Verbrechen
(Freiheitsstrafe von
mehr als 1 bis
max. 5 Jahre)1
Berufungssenat Einzelrichter*in Schöff*innen- oder
Geschworenengericht
1 Bei diesen Zuständigkeitsregeln bestehen Ausnahmen.
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339Gerichtsbarkeit
Quelle: Abbildung 1/links oben ist angelehnt an Eberhard et al. (2018, 65); Abbildung 1/links unten und
rechts oben siehe die Website des Bundesministeriums für Justiz (2022).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
In diesem Abschnitt wird auf ausgewählte Rahmenbedingungen, insbesondere die so-
ziale Repräsentativität des Justizsystems und das Verhältnis der Österreicher*innen zur
Justiz, näher eingegangen. Ebenso wird die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit im his-
torischen Längsschnitt behandelt.
3.1 Die soziale Repräsentativität des Justizsystems
Wenngleich das österreichische Rechtssystem den einzelnen Richter*innen weniger
Gestaltungsmöglichkeiten gibt als etwa das angelsächsische Case Law (Fallrecht), geht
die Forschung dennoch der Frage nach, welche Rolle der soziale und politische Hin-
tergrund von Richter*innen bei ihren Entscheidungen spielen. Die von Montesqui-
eu, dem eoretiker der Gewaltentrennung, propagierte Rolle der Richter*innen als
„Mund der Gesetze“ steht in einem starken Kontrast zu tatsächlichen Freiräumen bei
der Entscheidung. Dazu zählen die Strafbemessung, die Sachverhaltsfeststellung bezie-
hungsweise Beweiswürdigung sowie die Auslegung unbestimmter Gesetzesausdrücke,
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Oberster Gerichtshof
Streitwert bis 15.000€ und
bestimmte Rechtssachen
Streitwert über 15.000€ und
bestimmte Rechtssachen
Oberlandesgericht
Landesgericht
Bezirksgericht in
1. Instanz
Oberster Gerichtshof
Landesgericht in
1. Instanz
oder
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340
etwa der „guten Sitten“ (Keller 1982, 323). Abgesehen von einzelnen Entscheidungen
kann die soziale Repräsentativität der Richterschaft auch generell die Legitimität des
Justizsystems beeinflussen. Ähnlich wie bei Fragen der sozialen Repräsentativität von
Parlamenten lag der Fokus des politischen, aber auch des wissenschaftlichen Interesses
bis in die 1970er-Jahre vor allem auf dem sozialen Hintergrund der Richterschaft (Zu-
gehörigkeit zu sozialen Schichten). Spätestens seit den 1990er-Jahren fokussiert sich die
Debatte in erster Linie auf die lange Zeit ungleiche Vertretung der Frauen.
Über die soziale Zusammensetzung der österreichischen Richterschaft liegen nur
sehr wenige Informationen vor. Vor allem im Zeitverlauf sind nur sehr eingeschränkte
Aussagen möglich. Inwieweit es die vor allem in den 1970er-Jahren betonte bürgerlich-
konservative, der oberen Mittelschicht angehörende Richterschaft tatsächlich gab und
wie stark sich dies im Lauf der Jahrzehnte verändert hat, muss weitgehend offenbleiben.
Eine Analyse des Einstellungsprofils von Richter*innen in Österreich und der Schweiz
(Wenner et al. 1978) ergab bei der Abtreibungsfrage recht ähnliche Werte wie in der
Gesamtbevölkerung1, allerdings zeigten sich die österreichischen Richter*innen deut-
lich offener für mögliche Einschränkungen des Wahlrechts auf der Basis von Intelligenz
und Bildung als ihre Schweizer Kolleg*innen. Ähnliche Befragungen wurden später
nicht mehr durchgeführt. Auch die nur spärlich vorhandenen Studien zum sozialen
Hintergrund der Richter*innen gingen auf deren Einstellungen nicht ein (vgl. Kohl/
Grünstäudl 2014, Grünstäudl 2018). Laut Scheiber rekrutiert sich die Richterschaft
auch im neuen Jahrtausend „im Wesentlichen aus der gehobenen Mittelschicht“ (2013,
489). Andere Einschätzungen sehen den Richterberuf für jüngere Generationen als
„Medium des sozialen Aufstiegs“ (Haller/Dimmel 2000, 7), gerade für Frauen (Haller
2002, 176).
Aktuell liegt der Fokus des Interesses weniger auf dem sozialen Hintergrund als auf
Fragen der gleichen Vertretung der Geschlechter. Auch in Österreich zeigt sich im Zeit-
verlauf eine starke „Feminisierung“ der Justiz, wenngleich die Anteile von Frauen unter
den Richter*innen und Staatsanwält*innen sowie unter den Rechtsanwält*innen im
internationalen Vergleich relativ klein sind (siehe dazu Abschnitt 4.). Im Zeitverlauf
zeigt sich jedoch vor allem im staatlichen Bereich, wo Frauen von Gleichstellungsmaß-
nahmen profitieren, ein deutlicher Anstieg (siehe Abb. 2). Bis in die 1970er-Jahre waren
Frauen noch extrem seltene Ausnahmen im Justizsystem: Während es bereits 1924 die
erste Rechtsanwältin gab (Hofmeister 2013, 334), wurde Frauen in der Ersten Republik
von der Richtervereinigung und der Justizverwaltung die Eignung als Richterin abge-
sprochen: „Frauen seien irrational und zu emotionell, es fehle ihnen die Fähigkeit zum
klaren, abstrakten Denken sowie die für die Ausübung des Richteramtes erforderliche
Autorität. Überdies würden Richterinnen bei der Bevölkerung auf Ablehnung stoßen.“
1 Diese Einschätzung beruht auf einem Vergleich mit dem Sozialen Survey (1986).
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341Gerichtsbarkeit
(Schneider 2017, 119). 1947 traten schließlich die ersten beiden Richterinnen ihr Amt
an (Schneider 2013, 496), 1959 die erste Staatsanwältin (Schneider 2017, 119).
Abb. 2 Wandel der Geschlechterverhältnisse: Anteil der Frauen im Justizbereich seit den
1960er-Jahren (Prozentwerte)
Rechtsanwält*innen ohne niedergelassene europäische Rechtsanwält*innen.
-
Dienstes (2022); Website der österreichischen Justiz (2022).
3.2 Das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Justiz
Im Verhältnis der Bürger*innen zur Justiz lassen sich zwei Entwicklungen erkennen: ein
Abbau von Hierarchien beziehungsweise autoritären Strukturen bei einem kontinuier-
lich hohen Vertrauen in die Institutionen der Gerichtsbarkeit.
Ein wesentlicher Schritt wurde 1975 mit der umfassenden Modernisierung des öster-
reichischen Strafrechts vollzogen: Das Strafgesetzbuch (StGB) enthielt neben der Neu-
definition einzelner Tatbestände vor allem ein neues Sanktionensystem, das etwa kurze
Freiheitsstrafen durch Geldstrafen nach dem Tagessatzsystem ersetzte und damit die
finanziellen Möglichkeiten von Verurteilten berücksichtigte. Zudem kam es zu einem
Ausbau der bedingten Strafnachsicht, der bedingten Entlassung und von Einrichtungen
der Bewährungshilfe. Mit dem 1985 geschaffenen Modellprojekt des außergerichtli-
chen Tatausgleichs wurde dem Verbrechensopfer eine aktive Rolle im Strafverfahren
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gegeben und eine Form der informellen Reaktion auf minder schwere Straftraten ge-
schaffen, um förmliche Verurteilungen vermeiden zu können. In weiterer Folge wurde
dies als „Diversion“ (wörtlich: „Umleitung“) in das allgemeine Strafrecht eingeführt
und mit dem 1.1.2000 gesetzlich verankert: Personen, die bestimmter strafbarer Hand-
lungen beschuldigt werden, bekommen von Staatsanwaltschaft bzw. Gericht eine Alter-
native zum Strafverfahren angeboten (z.B. Geldbußen, gemeinnützige Leistungen etc.).
Aktuell werden mehr Verfahren über eine Diversion als durch rechtskräftige Verurtei-
lungen erledigt.
Der kulturelle Wandel des Justizsystems zeigt sich aber auch beim Ablauf von Pro-
zessen. Bis in die frühen 1990er-Jahre „mussten alle Parteien und ZeugInnen in einem
österreichischen Gerichtsverfahren während ihrer Einnahme stehen, mitunter stunden-
lang, ohne adäquate Möglichkeit, mitgebrachte Unterlagen vor sich abzulegen. Heute
sitzen alle Befragten während ihrer Einvernahme. Der RichterInnentisch ist nicht mehr
oder nur geringfügig erhöht. Helles hat dunkles Holz in den Verhandlungssälen ab-
gelöst. All diese Veränderungen symbolisieren, was (noch) nicht ausgesprochen wird:
ein Gebot zur Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Gericht, AnwältInnen und
BürgerInnen“ (Scheiber 2013, 490).
Abb. 3 Vertrauen in die Gerichtsbarkeit und andere Institutionen, 1991–2017 (Prozentwerte)
Fragestellung: Schauen Sie bitte auf die Liste und sagen Sie mir, ob Sie sehr viel, ziemlich viel, wenig
oder überhaupt kein Vertrauen in die jeweils genannten Institutionen haben. Wortlaut der Items: 1991:
Die Rechtsprechung, Gesetze und Gerichte; 1999: Die Gerichte; 2008: Das Rechtssystem; 2017: Das
Rechtssystem.
Quelle: European Values Study (1990–2014, Wellen 2–5 [Österreich nahm an Welle 1 nicht teil]).
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343Gerichtsbarkeit
Inwieweit dieser Wandel das Vertrauen in die Justiz erhöht hat, lässt sich aufgrund
fehlender älterer Umfragedaten nicht systematisch belegen. In den vergangen drei Jahr-
zehnten hat die Justiz jedoch durchgängig hohe Vertrauenswerte genossen. Hinter der
Polizei, die traditionell das höchste Vertrauen genießt, nimmt die Gerichtsbarkeit tra-
ditionell den zweiten Platz ein. Deutlich weniger Vertrauen genießen der Nationalrat
sowie die politischen Parteien (siehe Abb. 3).
Die Vertrauenswerte stiegen in den vergangenen knapp 30 Jahren bei allen Institu-
tionen leicht an, nur beim Bundesheer kam es zu einem starken Anstieg. Abgesehen
vom Bundesheer kam es jedoch zu keinen Veränderungen der Rangplätze.
3.3 Entwicklung und Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit
In der vergleichenden Politikwissenschaft kommt der Verfassungsgerichtsbarkeit – im Ge-
gensatz zu anderen Aspekten der Gerichtsbarkeit – eine zentrale Rolle zu: Tsebelis (2002)
zählt Verfassungsgerichte zu den wichtigsten Vetospielern, Lijphart (2012) betont, dass
eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit den mehrheitsdemokratischen Charakter eines Lan-
des schwächt und daher als typisches Element von Konsensdemokratien anzusehen ist.
Aus einer demokratietheoretischen Perspektive kann die Rolle der Verfassungsge-
richtsbarkeit sehr unterschiedlich interpretiert werden: Ein liberales Konzept von De-
mokratie, das die (horizontale) Gewaltentrennung, individuelle Freiheitsrechte und die
Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit betont – und an dem sich auch die österreichische
Bundesverfassung orientiert –, weist einem Verfassungsgericht eine zentrale Rolle im
politischen System eines Landes zu. Ein populistisches Demokratieverständnis betont
hingegen die Souveränität des Volkes und sieht jede Einschränkung von dessen Willen,
gerade durch nicht gewählte Institutionen, kritisch (Poier et al. 2017).
Das österreichische System der Verfassungsgerichtsbarkeit geht wesentlich auf die
Vorschläge des Wiener Rechtsgelehrten Hans Kelsen (1881–1973) zurück, der maß-
geblich an der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung 1920 beteiligt war.
Die darin vorgesehene Einrichtung eines eigenständigen Verfassungsgerichtshofs, dem
allein die Kompetenz zur Überprüfung von Gesetzen übertragen wurde, war innovativ
und verlieh Österreich eine weltweite Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Verfassungs-
gerichtsbarkeit. Als historischer Vorläufer des VfGH gilt das gleichzeitig mit dem ers-
ten, noch heute in Geltung stehenden Grundrechtskatalog (Staatsgrundgesetz) 1867
geschaffene Reichsgericht (Kneihs 2020). In der Folge wurde das 1920 ausgebaute „ös-
terreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit“ zum Vorbild für zahlreiche andere
Staaten. Den Gegensatz zu diesem zentralisierten Modell bildet das amerikanische Mo-
dell, in dem jedes Gericht fallweise zur Überprüfung der Verfassungskonformität der
Gesetze befugt ist. Neben der Frage der Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeit
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bestehen im internationalen Vergleich aber auch Unterschiede bei dessen Stärke. Vor
allem die USA, aber auch Deutschland gelten als Beispiele einer besonders starken Ver-
fassungsgerichtsbarkeit. Österreich wird bei Lijphart (2012) der zweitstärksten von vier
Gruppen zugeordnet, wobei die vierte Gruppe aus jenen (demokratischen) Ländern
gebildet wird, die über kein solches System verfügen.
Durch die Kompetenz zur Aufhebung von Normen wird der VfGH, wie angespro-
chen, zum „negativen Gesetzgeber“, was ihn auch in ein Spannungsverhältnis zu Regie-
rung und Parlament bringen kann. Im Jahr 1933 führten derartige Konflikte tatsächlich
nach der Ausschaltung des Parlaments auch zur Ausschaltung des VfGH durch die
autoritäre Regierung unter Bundeskanzler Dollfuß (1892–1934).2
Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die Wiedererrichtung des VfGH mit seinen
Kompetenzen vor 1933 und die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit im Jahr 1946. Das Sys-
tem der Verfassungsgerichtsbarkeit ist seither von einer starken organisatorischen Stabili-
tät über die Zeit bei gleichzeitig erfolgter Veränderung der sozialen Zusammensetzung ge-
kennzeichnet. Die Ernennung der ersten weiblichen Verfassungsrichterin erfolgte 1994.
War die Praxis seiner Rechtsprechung über lange Jahrzehnte der Zweiten Republik
durch eine bewusste Zurückhaltung geprägt („judicial self-restraint“), nahm ab den
1980er-Jahren ausgehend von einem insbesondere auch durch den EGMR inspirierten
Wandel der Judikatur im Bereich der Grundrechte (insbesondere etwa im Bereich der
Erwerbsfreiheit: zum Beispiel Aufhebung von Bedarfsprüfungen etwa bei Taxikonzessi-
onen, Liberalisierung im Bereich der Ladenöffnungszeiten) die Zahl an Entscheidungen
in (politischen) Wertungsfragen zu (Öhlinger/Eberhard 2022, 308; Ehs 2015). Gerade
in der jüngeren Vergangenheit sorgte der VfGH für aufsehenerregende Entscheidungen
in gesellschaftspolitischen Fragen (vgl. zum Beispiel die Erkenntnisse zur „Ehe für alle“
– Ehe für homosexuelle Partner*innen aus dem Jahr 2017, zum „dritten Geschlecht“
aus dem Jahr 2018 oder zur Aufhebung des Verbots der Beihilfe zum Suizid im heik-
len Nahebereich zu der in Österreich immer noch verbotenen aktiven Sterbehilfe aus
dem Jahr 2020). Dadurch erfüllt der VfGH eine wesentliche Funktion in der Weiter-
entwicklung der Rechtsordnung und gerät dadurch noch stärker in ein Spannungsfeld
zum demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Angesichts dieser wesentlichen Rolle wird
auch die Bestellung der Höchstrichter*innen zu einem politisch bedeutungsvollen Akt.
Bis zur Jahrtausendwende gab es aufgrund des in Abschnitt 2. erläuterten Bestellmodus
allein von ÖVP oder SPÖ vorgeschlagene Mitglieder. Erst 2003, während der ersten
ÖVP-FPÖ-Regierung, wurde ein von der FPÖ vorgeschlagenes Mitglied ernannt (Ehs
2020, 582), 2020 im Rahmen der ÖVP-GRÜNE-Regierung erstmals eine von den
GRÜNEN vorgeschlagene VfGH-Richterin.
2 Vgl. https://www.vfgh.gv.at/verfassungsgerichtshof/geschichte/geschichte_ueberblick.
de.html (30.05.2022).
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345Gerichtsbarkeit
Wie aus Abbildung 4 deutlich wird, nahm die Tätigkeit des VfGH ab Mitte der
1980er-Jahre stark zu. Spitzenreiter unter den Verfahrensarten ist mit Abstand das Ver-
fahren der Entscheidungsbeschwerde (früher Bescheidbeschwerde, seit 2014 Erkennt-
nisbeschwerde), mit welcher die Kontrolle der Verwaltung in verfassungsrechtlicher,
insbesondere grundrechtlicher Hinsicht erfolgt. An zweiter und dritter Stelle folgen die
Gesetzes- und Verordnungsprüfung.
der Verfahrensarten, 1946–2020
Die Zahlen zeigen die jährlich an den VfGH „herangetragenen“ Fälle. 1996 kam es aufgrund einer
Quelle: Website des Verfassungsgerichtshofs (2022); jährliche Tätigkeitsberichte des VfGH (1946–
2020).
4. Einordnung des österreichischen Falls
Wie lässt sich das österreichische Rechtssystem international einordnen? In einem glo-
balen, über die EU hinausgehenden Vergleich wird diesem – wie dem politischen Sys-
tem insgesamt – eine sehr hohe Qualität zugeschrieben. So nimmt Österreich im „WJP
Rule of Law Index 2021“ (World Justice Project 2021) unter insgesamt 139 erfassten
Staaten den neunten Rang ein. Dieser globale Vergleich wird von Dänemark angeführt,
das Schlusslicht bildet Venezuela, doch liegen für mehrere vor allem afrikanische und
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arabische Staaten keine Informationen vor. Interessant ist ein Blick auf die Platzierung
Österreichs bei den insgesamt acht Hauptfaktoren, die zusammen den Indexwert bil-
den: Den besten Wert erreicht Österreich dort mit Platz 4 im Bereich „Criminal Justi-
ce“, den schlechtesten mit Platz 22 bei „Open Government“, da der Report auf Defizite
bei Informationsrechten verweist. Letzteres betrifft jedoch in erster Linie die Arbeit der
Verwaltung und ihr Verhältnis zu Bürger*innen und Journalist*innen, weniger die im
vorliegenden Kapitel behandelte Gerichtsbarkeit.
Die zentrale Referenzgröße für internationale Vergleiche des österreichischen Rechts-
systems stellen jedoch die übrigen EU-Mitglieder dar. Die von der Europäischen Kom-
mission erstellten jährlichen Berichte über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den
Mitgliedsländern kritisierten zuletzt vor allem Entwicklungen in Polen und Ungarn.
Österreich wird im Gegensatz dazu ein insgesamt gutes Zeugnis ausgestellt, doch wer-
den unter anderem Reformen wie die Schaffung einer unabhängigen Bundesstaatsan-
waltschaft und eine größere Unabhängigkeit der Ermittlungsbehörden – etwa durch
die Verringerung von Berichtspflichten an die jeweilige Oberstaatsanwaltschaft – ein-
gemahnt (Europäische Kommission 2021b). Mit dem „EU Justice Scoreboard“ (Euro-
päische Kommission 2021a) besteht zudem eine wichtige Quelle für komparative Ana-
lysen, da die dort gesammelten Daten die Effektivität der nationalen Rechtssysteme
anhand dreier Dimensionen vergleichen: Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit.
Tabelle 1 enthält ausgewählte Indikatoren zu diesen drei Dimensionen und zeigt die
Position Österreichs innerhalb der EU. Zusätzlich werden Zahlen zur Beanspruchung
des Rechtssystems gezeigt, das heißt Angaben zur Anzahl der bei Gericht verhandelten
Fälle, sowie eine Einschätzung des Ausmaßes der Korruption. Neben den Daten der
EU-Kommission werden dafür auch Daten des Europarats zum Bereich der Strafrechts-
gerichtsbarkeit (CEPEJ 2020) sowie eine Einschätzung der Offenheit des Zugangs zur
Zivilgerichtsbarkeit gezeigt, die dem bereits erwähnten World Justice Project (2021)
entnommen wurde. Für die Einschätzung der Korruption wurde auf Daten der NGO
Transparency International (2022) zurückgegriffen. Der Rangplatz Österreichs inner-
halb der EU sowie die Identifikation des jeweiligen Spitzenplatzes beziehungsweise
Schlusslichts orientiert sich an folgender Bewertung der Daten: Länder schneiden bes-
ser ab, wenn sie weniger und kürzere Gerichtsverfahren haben, wenn sie mehr Geld für
das Justizsystem ausgeben und dort mehr Personal (darunter mehr Frauen) beschäfti-
gen, wenn sie einen leichteren Zugang zur Zivilgerichtsbarkeit gewähren, wenn größere
Teile der Bevölkerung und Unternehmen die Justiz als unabhängig wahrnehmen und
wenn die Länder als weniger korrupt bewertet werden. Fast alle in Tabelle 1 angeführten
Zahlen basieren auf „harten“ statistischen Daten, dazu kommen zwei Einschätzungen
von Expert*innen (Zugang zur Zivilgerichtsbarkeit und Wahrnehmung der Korrupti-
on) sowie zwei Umfrageergebnisse (Wahrnehmung der Unabhängigkeit in der Gesamt-
bevölkerung und bei Unternehmen).
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347Gerichtsbarkeit
Tab. 1 Das österreichische Rechtssystem im EU-Vergleich
Dimension Indikator1Skala Jahr Österreich 27 EU-Mitglieder2
Wert Rang MW Spitzenplatz Schlusslicht
Beanspruchung:
Anzahl der Fälle
(1. Instanz)
Zivilrecht pro 100 EW 2019 0,94 6 2,27 0,15 FI 6,68 RO
Verwaltungsrecht pro 100 EW 2019 0,62 23 0,37 0,03 MT 1,72 SE
Strafrecht (CEPEJ) pro 100 EW 2018 0,79 4 2,24 0,70 CZ 7,77 CY
Effizienz:
Verfahrensdauer
(1. Instanz)
Zivilrecht Tage 2019 137 4 258 86 LU 637 EL
Verwaltungsrecht Tage 2019 440 17 357 96 LT 846 PT
Strafrecht (CEPEJ) Tage 2018 120 12 136 35 EE 361 IT
Qualität:
Ressourcen
Staatsausgaben für Gerichte I EUR pro EW 2019 122 6 90 235 LU 34 CY
Staatsausgaben für Gerichte II % BIP 2019 0,27 18 0,33 0,70 BG 0,14 CY
Anzahl Richter*innen pro 100.000 EW 2019 30 5 22 42 SI 3 IE
- Anteil Frauen (CEPEJ) % 2018 50,6 21 60,7 80,7 LV 38,8 IE
Anzahl Staatsanwält*innen
(CEPEJ)
pro 100.000 EW 2018 4 22 11 24 LT 2 IE
- Anteil Frauen (CEPEJ) % 2018 46,7 23 58,8 82,1 CY 45,0 IT
Anzahl Rechtsanwält*innen pro 100.000 EW 2019 75 24 190 474 CY 58 SE
- Anteil Frauen (CEPEJ) % 2018 22,5 21 44,3 55,6 FR 22,5 AT
Zugang zur Zivilgerichtsbarkeit
(WJP)3
0–1 2021 0,69 12 0,68 0,79 NL 0,51 HU
Unabhängigkeit Wahrnehmung Bevölkerung4% (sehr/ziemlich gut) 2021 83,5 1 55,7 83,5 AT 17,1 HR
Wahrnehmung Unternehmen5% (sehr/ziemlich gut) 2021 77,9 4 54,0 85,7 FI 15,9 HR
Korruption Wahrnehmungsindex (TI) 0–100 2021 74 7 64 88 DK/FI 42 BG
1 In Klammer die Quelle. Wenn keine Angabe, dann Europäische Kommission. 2 Bei einigen Indikatoren fehlen Daten zu einzelnen Ländern. 3 World Justice Project
Subdimension 7.1. 4 EB [Eurobarometer] Flash 489: Wie würden Sie auf Grundlage Ihrer Kenntnisse das Rechtssystem in Österreich im Hinblick auf die Unabhän-
gigkeit von Gerichten und Richtern beurteilen? Würden Sie sagen, dass es sehr gut, ziemlich gut, ziemlich schlecht oder sehr schlecht ist? 5 EB Flash 490 (Frage
wie EB 489).
Quellen: Europäische Kommission (2021a); CEPEJ (2020); World Justice Project (2021); Transparency International (2022).
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Die Einordnung Österreichs im EU-Vergleich fällt bei den verschiedenen Indikatoren
sehr unterschiedlich aus: Den einzigen Spitzenplatz gibt es bei der Wahrnehmung der
Unabhängigkeit der Gerichte in der Bevölkerung. Aber auch die befragten Unterneh-
men stellen der Justiz im hier angeführten Berichtsjahr 2021 ein gutes Zeugnis aus.
Einen letzten Platz gibt es hingegen beim Anteil der Frauen unter den Rechtsanwält*in-
nen, doch liegen nicht für alle 27 Länder Zahlen vor.
Bei der Länge der Verfahren liegt Österreich hinsichtlich der zivilrechtlichen Verfahren
im Spitzenfeld, in den beiden anderen Kategorien nur im Mittelfeld. Auffällig sind fer-
ner die Zahlen zur personellen Ausstattung des Rechtssystems: Während die Anzahl der
Richter*innen vergleichsweise hoch ist, gibt es im EU-Vergleich auffällig wenig Staatsan-
wält*innen und Rechtsanwält*innen. Inwieweit der letztgenannte Aspekt tatsächlich ein
Indikator für die Qualität eines Rechtssystems ist, bleibt jedoch offen. Auch in Bezug auf
den Frauenanteil zählt Österreich – trotz des in Abschnitt 3. gezeigten starken Wachs-
tums vor allem im staatlichen Bereich – keineswegs zu den Vorreitern innerhalb der EU.
Relativ kritisch wird von Expert*innen der Zugang zur Zivilgerichtsbarkeit ein-
geschätzt. Der hier gezeigte Indikator gibt an, inwieweit finanzielle, prozedurale und
andere Hürden den Zugang für Betroffene erschweren beziehungsweise inwieweit der
Staat aktive Maßnahmen für einen gleichberechtigten Zugang setzt. Österreich nimmt
auch hier nur einen Platz im Mittelfeld der EU-27 ein, da etwa die Gerichtsgebühren
im europäischen Vergleich besonders hoch ausfallen.3
Forschungsprojekt. „DiGrenz – Potenzial und Grenzen der Digitalisierung im
Asylverfahren“
In einem aktuellen Forschungsprojekt der Karl-Franzens-Universität Graz wird unter-
sucht, inwiefern der Einsatz digitaler Technologien, auch von KI (Künstliche Intelligenz),
helfen kann, die Fehleranfälligkeit von Entscheidungen im Asylrecht zu verringern und
damit die Qualität und Dauer der Verfahren zu verbessern.
Der schlagartige Anstieg der Anträge auf internationalen Schutz im Jahr 2015 auf
88.439 Fälle führte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) sowie beim
nachprüfenden Bundesverwaltungsgericht zu einem entsprechenden Rückstau und
einer deutlich längeren Verfahrensdauer. Auch wenn die Anzahl der Anträge in den
Folgejahren wieder kontinuierlich sank, werden in Österreich auch heute noch jährlich
mehrere tausend Asylverfahren durchgeführt. Dabei wird neben der immer noch lan-
gen Verfahrensdauer insbesondere auch die hohe Fehlerquote der erstinstanzlichen
3 Die Presse: „Bei Gerichtsgebühren sind wir Europameister“ (11.12.2018).
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Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle aufgehoben. Hier könnten digitale
Eine mögliche Digitalisierungsmaßnahme könnte zum Beispiel der Einsatz des Sprach-
analysetools „voice biometrics“ zur leichteren Bestimmung des Herkunftslandes sein
oder die Etablierung einer App zur Erleichterung der Kommunikation zwischen den
Asylwerber*innen und den Behörden. Auch eine stärkere Automatisierung im Sinne
von algorithmenunterstützten Entscheidungen wäre theoretisch denkbar. Der Einsatz
sich bei Asylverfahren um einen hochsensiblen Rechtsbereich handelt. Eine Fehlent-
scheidung kann schließlich existenz- und lebensbedrohliche Auswirkungen für die be-
einer möglichen Digitalisierung insbesondere auch die (verfassungs-)rechtlichen Gren-
zen für den Einsatz einer solchen.
Forschungsprojekt „DiGrenz – Potenzial und Grenzen der Digitalisierung im Asylverfah-
ren“ an der Karl-Franzens-Universität Graz,
poier/projekte/digrenz/ (21.07.2022).
5. Herausforderungen für die Zukunft
Angesichts einer seit langem währenden „budgetären Vernachlässigung des Justizres-
sorts“ sprach der in der Regierung Bierlein tätige Justizminister Jabloner von einem
„stillen Tod der Justiz“ (Jabloner 2019, 3) und forderte umfassende Maßnahmen zur
Aufstockung des Personalstandes. In der Zwischenzeit erfolgte auch tatsächlich bereits
ein Ausbau an Stellen, allerdings wird dies immer wieder als noch nicht ausreichend
kritisiert.
Ein wichtiges ema der Zeit ist Transparenz, so auch im Bereich der Gerichtsbarkeit.
Angesichts eines zunehmend aktiver gewordenen VfGH wird etwa immer wieder die
Frage aufgeworfen, ob es mehr Transparenz bei der Veröffentlichung der Entstehung von
Entscheidungen, etwa in Form von Sondervoten, geben soll. Entsprechende Reformüber-
legungen werden meist im Zusammenhang mit umstrittenen Entscheidungen geäußert,
weshalb Kritiker*innen einer solchen Änderung die Gefahr eines Legitimationsverlustes
des VfGH sehen (Gefährdung der nach außen sichtbaren „Einheit“ des Gerichts). Eben-
so wird kritisiert, dass bei einer Offenlegung des Abstimmungsverhaltens der politische
Druck auf die Richter*innen zunehmen könnte. Fragen der Transparenz stellen sich aber
auch bei anderen Gerichten: So gibt es etwa große Unterschiede bei der Veröffentlichung
von Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in den Ländern.
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Anschauliches. Sondervotum.
-
blieben.
Dissenting Opinion-
gebnis andere Entscheidung des Gerichts vertreten.
Concurring Opinion-
gebnis die Entscheidung des Gerichts unterstützen, allerdings dieses Ergebnis anders
Neben Vorwürfen einer mangelnden Transparenz, die nicht nur an die Judikative, son-
dern auch an die übrigen Staatsgewalten gerichtet werden, kam es in Österreich in
jüngster Vergangenheit zu öffentlich ausgetragenen Konflikten zwischen der Justiz und
der Politik. Hierbei besteht ein Spannungsverhältnis zwischen einer durchaus legitimen
Kritik an allen staatlichen Einrichtungen, einschließlich der Justiz, und der Gefahr einer
Druckausübung auf Strafverfolgungsbehörden. Die infolge der durch die Ibiza-Affäre
(2019) ausgelösten Ermittlungen – diese führten 2021 auch zum Rücktritt von Bundes-
kanzler Kurz (ÖVP) – aufgetretenen Konflikte sind jedoch kein neues Phänomen. Das
Verhältnis zwischen Politik und Justiz war auch in früheren Jahrzehnten konfliktreich,
wie etwa die in Zeiten von SPÖ-Regierungen aufgetretenen Affären Lucona und No-
ricum zeigten. Vorwürfe einer parteiischen Justiz wurden damals wie heute geäußert.
Jenseits aktueller Verdachtsmomente im Zusammenhang mit unterschiedlichen For-
men politischer Korruption stellt sich die wichtige Frage, ob und wie das Verhältnis
zwischen Politik und Justiz neu ausgestaltet werden muss. Dies betrifft unter anderem
die Frage der Bestellung von Richter*innen in den Höchstgerichten, wo etwa der ra-
sche Wechsel von einem Ministeramt in den VfGH auf Kritik stieß und eine Debatte
über die Einführung einer Cooling-Off-Phase auslöste. Für Bestellungsvorgänge in der
Gerichtsbarkeit liegen jedoch noch weitreichendere Vorschläge vor: Damit „parteipoli-
tische bzw. unsachliche Erwägungen“ dabei keinen Einfluss nehmen können, forderte
etwa die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter im Februar 2022,
dass allen richterlichen Ernennungen „verbindliche Besetzungsvorschläge richterlicher
Gremien vorangehen“.4 Dem wird freilich entgegengehalten, dass ein solches „Selbst-
ergänzungsrecht“ zu einer Abkoppelung von der in allen anderen staatlichen Bereichen
bestehenden (auf Wahlergebnisse rückführbaren) demokratischen Legitimation führen
würde (Vašek 2022). Ein anderes Beispiel für eine Neuordnung des Verhältnisses zwi-
4 Siehe https://richtervereinigung.at/wp-content/uploads/delightful-downloads/2022/02/Of-
fener-Brief_Besetzungsverfahren.pdf (22.05.2022).
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351Gerichtsbarkeit
schen Justiz und Politik ist die Diskussion über die Einführung einer weisungsfreien,
unabhängigen Bundesstaatsanwaltschaft, die – so die Befürworter*innen einer solchen
Institution – zu einer Entpolitisierung der Justiz beitragen würde, da nicht mehr der*die
Justizminister*in an der Spitze der Weisungskette stünde.
Die aktuelle Häufung von Skandalen beziehungsweise Verdachtsmomenten und die
offene Auseinandersetzung zwischen (Teilen der) Politik und (Teilen der) Justiz gefähr-
den das so wichtige Vertrauen der Bevölkerung in das Rechtssystem. Erste Umfragen,
so etwa im Nachrichtenmagazin profil im April 2022, deuten eine solche Entwicklung
bereits an.5 Bei den regelmäßig durchgeführten Befragungen des Eurobarometers ist ein
solcher Vertrauensverlust im Langzeitvergleich hingegen (noch?) nicht erkennbar. Auf-
grund einer Verbesserung der Werte in anderen Ländern hat Österreich zuletzt jedoch
seinen in Abschnitt 4. gezeigten Spitzenplatz beim Ausmaß des Vertrauens der Bevöl-
kerung in die Unabhängigkeit der Justiz eingebüßt, nimmt aber immer noch Platz drei
unter den EU-Mitgliedsländern ein.
Die Auseinandersetzungen zwischen Politik und Justiz werden auch von inter-
nationalen Beobachter*innen wahrgenommen und als ein Beispiel für die weltweite
Bedrohung der liberalen Demokratie interpretiert. Das Projekt V-Dem, eine an der
Universität Göteborg (Schweden) erstellte Studie über die Qualität der Demokratie in
202 Ländern, verwies im Frühjahr 2022 etwa auf eine Verschlechterung der Position
Österreichs bei der Kategorie „transparent laws and predictable enforcement“ (V-Dem
2022, 14). Diese Bewertung basierte auf nur zwei (anonymen) Expert*innen, trug
aber dennoch wesentlich zu einer Rückstufung Österreichs aus der Spitzengruppe der
liberalen Demokratien in die Gruppe der elektoralen Demokratien bei. Auch wenn
starke methodische Zweifel bleiben, kann dies als Warnzeichen interpretiert werden.
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Übungsfragen
Welche Funktion kommt der Gerichtsbarkeit innerhalb der drei klassischen Staats-
gewalten zu?
In welche verschiedenen Formen kann die österreichische Gerichtsbarkeit unterteilt
werden?
Mit welchen besonderen verfassungsrechtlichen Garantien sind Richter*innen aus-
gestattet?
Welche Formen der Beteiligung des Volkes an der Strafgerichtsbarkeit gibt es?
Welche Funktion erfüllt die Staatsanwaltschaft? Welcher Reformvorschlag hinsicht-
lich der Weisungsbindung wird aktuell diskutiert (Vor- und Nachteile)?
Was ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit und welche Aufgabe erfüllt sie?
Wie werden die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofes bestellt? Beschreiben Sie die
verfassungsrechtlichen Bestimmungen und die politische Praxis.
Warum wird der Verfassungsgerichtshof auch als „negativer Gesetzgeber“ bezeichnet
und weshalb kommt er als solcher in ein Spannungsfeld zur Politik?
Was versteht man unter dem österreichischen Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit
und wie kann es von anderen Modellen unterschieden werden?
Welche Entwicklungen im Verhältnis zwischen Bürger*innen und Justiz in den ver-
gangenen Jahrzehnten können Sie nennen?
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Teil 4:
Wahlen und Beteiligung
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Wahlrecht
Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Zusammenfassung
9In Österreich darf wählen, wer am Wahltag 16 Jahre alt ist und die österreichische Staats-
bürgerschaft hat sowie nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Bei Gemeinderats- und
EU-Parlamentswahlen dürfen zusätzlich auch Bürger*innen eines EU-Landes wählen. Ge-
wählt werden kann man ab 18 Jahren, als Bundespräsident*in ab 35 Jahren.
9
(Bundespräsidentschaft) zum Einsatz. Für den Nationalrat und die Landtage existieren
Sperrklauseln, die den Zugang für kleine und Kleinstparteien limitieren.
9Landtags- und Gemeindewahlordnungen unterscheiden sich in vielen Details voneinan-
der.
9Die Verhältniswahl in Österreich ist auch international weit verbreitet, die konkrete Ge-
staltung der Wahlsysteme variiert aber stark.
9Eine Herausforderung für die Zukunft ist die wachsende Kluft zwischen der Wohn- und
der Wahlbevölkerung.
1. Einleitung
Obwohl Wahlen bei weitem nicht das einzige Instrument politischer Beteiligung sind,
stehen sie doch im Zentrum politisch repräsentativer Systeme und erhalten große öf-
fentliche wie mediale Aufmerksamkeit. Die Möglichkeit, in gewisser Regelmäßigkeit
aus einem pluralistischen Parteien- oder Personenangebot die eigene Repräsentation
auswählen zu können, ist eine Grundvoraussetzung für ein demokratisches System.
Umgekehrt garantieren Wahlen keine Demokratie, auch in autoritären und totalitä-
ren Systemen werden Wahlen abgehalten, naturgemäß mit sehr geringer bis gar keiner
Bedeutung für den politischen Prozess und die Verteilung von Macht (Nohlen 2014,
30 f.).
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Das Wahlrecht legt alle damit in Zusammenhang stehenden Regeln fest. Dazu gehören:
Wer darf wählen? Aktives Wahlrecht
Wer darf kandidieren? Passives Wahlrecht
Wie wird gewählt? Wahlsystem
Wahlsysteme lassen sich in Verhältnis- und Mehrheitswahlsysteme (sowie Mischfor-
men; für einen Überblick siehe Bormann/Golder 2013) einteilen. Wesentlich dafür
ist, wie viele Repräsentant*innen in einem Wahlkreis (WK) bestimmt werden können.
Das bestimmt die Größe des Wahlkreises und ist unabhängig von der geographischen
Ausdehnung. Ein Wahlkreis kann ein ganzes Land ebenso umfassen wie eine kleine,
abgegrenzte Region. Eine Verhältniswahl in einem Wahlkreis, bei der nur eine Per-
son gewählt wird, ist so gesehen automatisch eine Mehrheitswahl. Damit verknüpft ist
die Unterscheidung zwischen Listen- und Persönlichkeitswahl. Bei einer Listenwahl
stimmen die Wahlberechtigten über eine gesamte Kandidat*innenliste ab (unter Um-
ständen mit der Möglichkeit, umzureihen), die Sitze werden meist via Verhältniswahl
vergeben. Mehrheitswahlen sind generell Persönlichkeitswahlen (Pelinka 2004, 79).
Verhältnis- und Mehrheitswahlsysteme sind nicht per se als „besser“ oder „schlech-
ter“ zu klassifizieren, sondern eine Abwägung von Vor- und Nachteilen sowie oft vor
dem Hintergrund der Geschichte und politischen Kultur von Systemen zu verstehen.
Als idealtypische Vereinfachung können – nach Arend Lijphart (1969), von diesem
anhand der Konfliktregelungsform als Indikator für eine Politische Kultur entworfen –
zwei Demokratietypen differenziert werden in:
− Konkurrenzdemokratien bzw. -regierungen, die mit dem Mehrheitswahlrecht als ex-
emplarisch wettbewerbsorientiert, sowie
− Konkordanzdemokratien, die nicht zuletzt infolge eines wie in Österreich sowohl
auf Bundesebene als auch allen Bundesländern bestehenden Verhältniswahlrechtes
konsensorientiert sind.
Die Konsequenzen dieser Unterscheidung sind mannigfaltig: Mehrheitswahlen fördern
oft dominante Einparteienregierungen und – weil Drittparteien für Teilerfolge in den
Wahlen keine anteiligen politischen Mandate und dadurch auch keine Grundlage für
ihre Politik bis zum nächsten Wahltermin erhalten – ein Zweiparteiensystem. Verhält-
niswahlen machen demgegenüber Koalitionsregierungen und ein Vielparteiensystem
zumindest wahrscheinlicher. In Österreich hat man sich aufgrund der konfliktreichen
Geschichte zwischen den politischen Lagern und Parteien bewusst für ein Verhältnis-
wahlrecht und ursprünglich in den meisten Bundesländern auch für ein erst später
großteils wieder abgeschafftes Proporzsystem – alle Parteien ab einem gewissen Anteil
von Wähler*innenstimmen haben automatisch Anspruch auf die Regierungsbeteiligung
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in Form einer aus dem Wahlergebnis berechneten Zahl von Regierungsämtern (siehe
dazu Dolezal/Fallend in diesem Band) – entschieden.
Zugleich gilt bei der Bundespräsidentenwahl sowie bei der Direktwahl der Bürger-
meister*innen in sechs Bundesländern (Burgenland, Kärnten, Oberösterreich, Salzburg,
Tirol und Vorarlberg) das Mehrheitswahlsystem: Wer die meisten Stimmen erhält, be-
kommt – allenfalls nach einem zweiten Wahlgang als Stichwahl – das entsprechende
Amt. In Österreich kennen wir somit sowohl die Verhältniswahl – diese gilt derzeit
genauso für Wahlen zum Europäischen Parlament – als auch die Mehrheitswahl.
Vor- und Nachteile der Modelle sind als Nullsummenspiel zwischen Entscheidungs-
effektivität und Repräsentativität zu verstehen: Konkurrenzdemokratien verfügen über
eine Struktur (Einparteienregierungen, unitarisch, kaum plebiszitäre Mitbestimmung
usw.), die auf das Ziel einer „raschen“ und institutionell möglichst ungehinderten
Durchsetzbarkeit des Mehrheitswillens ausgerichtet ist. Konkordanzdemokratien be-
ruhen auf Prinzipien einer fairen Repräsentation im Entscheidungsprozess (einer mög-
lichst „spiegelbildlichen“ Umsetzung des Wahlergebnisses in Parlamentssitze1) und neh-
men dafür eine Schwerfälligkeit des Entscheidungsverfahrens und häufig schwierige
Kompromissfindungen in Kauf.
Unabhängig vom Wahlsystem an sich gelten Wahlen gemeinhin als demokratisch,
wenn sie allgemein, gleich, direkt und geheim ablaufen (Nohlen 2014, 43–45). Die
österreichische Bundesverfassung sieht für Wahlen zum Nationalrat zudem vor, dass
diese frei und persönlich erfolgen müssen (Art 26 Bundes-Verfassungsgesetz/B-VG):
− Allgemein bedeutet, dass grundsätzlich alle Staatsbürger*innen an Wahlen teilneh-
men dürfen. Nicht davon betroffen sind Einschränkungen wie beispielsweise das
Wahlalter. Wer alles unter „allgemein“ zu verstehen ist, hat sich historisch gewandelt
(Stichwort Frauenwahlrecht).
− Gleich bezieht sich darauf, dass jede Stimme gleich viel „wert“ sein muss und nicht
etwa je nach Steuerleistung mehr oder weniger Gewicht haben darf. Gegenwärtig hat
das hinsichtlich der Einteilung von Wahlkreisen Bedeutung.
− Direkt (oder „unmittelbar“) meint, dass die Wähler*innen ihre Repräsentant*innen
selbst bestimmen, im Gegensatz zu indirekten/mittelbaren Wahlen, bei denen Perso-
nen gewählt werden, die ihrerseits dann erst die Repräsentant*innen wählen (entwe-
der an die Wähler*innen gebunden oder ungebunden). Inwieweit dieses Kriterium
als zwingend für demokratische Wahlen anzusehen ist, kann etwa mit Blick auf das
Electoral College, das Kollegium von Wahlmännern und -frauen bei der US-Prä-
sidentenwahl, diskutiert werden (für einen Überblick zu den US-Präsidentenwahlen
siehe etwa Polsby et al. 2019).
1 Diese Umsetzung kann nie perfekt sein, da eine Vielzahl an Stimmen auf vergleichsweise
wenig Mandate umgelegt werden muss. Zudem existieren Sperrklauseln.
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360 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
− Geheim bedeutet, dass die Wahl selbst geheim ablaufen muss. Wähler*innen dürfen
nicht bei ihrer Stimmabgabe beobachtet werden und die Stimmzettel nicht einzelnen
Personen zuordenbar sein, um eine unbeeinflusste Entscheidung zu ermöglichen.
Das ist die Voraussetzung für freie Wahlen. Dieser Punkt wird auch als Kritik an der
Briefwahl angeführt, da bei dieser eine geheime – und freie, siehe unten – Stimm-
abgabe nicht gleichermaßen als gegeben angesehen werden kann wie bei der persön-
lichen Stimmabgabe in der Wahlkabine.
− Frei überschneidet sich mit den Ansprüchen einer geheimen Wahl und bezieht sich
darauf, dass die Stimmabgabe unbeeinflusst und ohne Zwang erfolgen muss.
− Persönlich verlangt, dass das Wahlrecht grundsätzlich persönlich ausgeübt werden
muss, es gibt keine Möglichkeit, sich vertreten zu lassen. Auch die Briefwahl gilt als
persönlich. Körperlich behinderte Personen, die nicht selbst einen Stimmzettel aus-
füllen können, dürfen sich dabei unterstützen lassen.
Eine weitere Voraussetzung ist, dass es überhaupt eine Auswahl gibt, die Wähler*innen
also aus einem Angebot auswählen können und nicht nur eine Liste oder eine Person
gewählt werden kann. Insbesondere auf Gemeindeebene finden sich immer wieder Fäl-
le, bei denen etwa nur eine Partei oder ein*e Bürgermeisterkandidat*in antreten, was
diesem Anspruch nicht gerecht wird.
Das konkrete Wahlsystem lässt sich aus einer Vielzahl von möglichen Kombina-
tionen verschiedener Elemente zusammensetzen, die gleichzeitig Ansatzpunkte für die
Analyse sein können. Insbesondere gehören dazu (Nohlen 2014):
Wahlkreiseinteilung: Wie wird das Wahlgebiet eingeteilt? Verhältniswahlen kom-
men zumindest theoretisch mit einem einzigen Wahlkreis aus, Mehrheitswahlen (so-
fern nicht präsidentielle Wahlen) benötigen mehrere Wahlkreise. Wie groß sind die
Wahlkreise? Wie viele Mandate sind dort zu vergeben?
− Art der Kandidatur (Listen, Einzelpersonen): Können nur ganze Listen oder auch
Einzelpersonen gewählt werden? Kann man in die Listen eingreifen und sie verän-
dern oder sind sie starr?
− Stimmgebung: Wie viele Stimmen kann ein*e Wähler*in vergeben? Können mehrere
Stimmen auf unterschiedliche Parteien aufgeteilt (panaschieren) oder auf eine Person
konzentriert werden (kumulieren)? Können Kandidat*innen auf Listen gereiht oder
gestrichen werden?
− Umrechnung der Stimmen: Wie werden die Stimmen der Wahlberechtigten in Sitze
umgerechnet? Gibt es Mindestprozenthürden, Grundmandatshürden, mehrheitsför-
dernde Elemente?
Die entsprechenden Regelungen haben weitgehende Konsequenzen: Gibt es eine Min-
destprozenthürde (in Österreich vier Prozent, in Deutschland z.B. fünf Prozent), haben
kleine Parteien weniger Chancen, ins Parlament einzuziehen. Gibt es überhaupt kei-
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361Wahlrecht
ne Mindestgrenze, kann das zu einer Zersplitterung des Parteiensystems führen.2 Sind
die Wahlkreise sehr groß (gemessen an den Mandaten), haben kleinere Parteien mehr
Chancen auf solche Mandate. Sind sie umgekehrt sehr klein, erhalten überwiegend nur
große Parteien Sitze. Wahlkreise können dabei auch für eine bewusste Bevorzugung von
regionalen Parteien genutzt werden (etwa zum Schutz der Repräsentation von Minder-
heiten). Verwendet man ein Umrechnungssystem, das große Parteien bevorzugt, kön-
nen Mehrheiten mitunter leichter gebildet werden – umgekehrt schwächt es aber den
Gedanken der Proportionalität, wenn eine Partei beispielsweise bereits mit 46 Prozent
der Stimmen 50 Prozent der Mandate erhält.
Zusätzlich gibt es in der Praxis weitere Detailfragen, beispielsweise: Muss man sich
für die Wahlteilnahme registrieren oder ist man automatisch wahlberechtigt? Gibt es
Hürden, die eine Liste oder eine Person erfüllen muss, um überhaupt kandidieren zu
dürfen? Wann öffnen und schließen Wahllokale? Wie erfolgt die Stimmgebung? Wie
lange werden Briefwahlstimmen akzeptiert?
Alle diese Regeln sind nicht per se vorgegeben, sondern werden gesetzlich bestimmt.
Die Festlegung erfolgt dabei nicht im „luftleeren“ Raum. Das Wahlrecht und das Wahl-
system sind immer Ergebnis politischer Aushandlungsprozesse.
2. Gegenwärtige Situation
In Österreich werden die allgemeinen Vertretungskörper Nationalrat, Landtag und Ge-
meinderat (sowie in Wien die Bezirksvertretungen) direkt gewählt, zusätzlich der*die
Bundespräsident*in und in sechs Bundesländern die Bürgermeister*innen. Alle fünf
Jahre werden zudem die Abgeordneten Österreichs zum Europäischen Parlament ge-
wählt. Die entsprechenden Regeln dafür sind im B-VG und in den Landesverfassungen
(in Wien Stadtverfassung) sowie bei Statutarstädten in der jeweiligen Stadtverfassung
festgelegt.
Statutarstädte sind Städte mit eigenem Stadtrecht, das von den sonstigen gesetz-
lichen Grundlagen im Bundesland abweichen kann. Neben acht Landeshauptstädten
(Ausnahme Bregenz) sind dies Krems, Rust, Steyr, Villach, Waidhofen an der Ybbs,
Wels und Wiener Neustadt.
Dazu kommen die Nationalrats- und die Landeswahlordnungen (in Wien Gemein-
deratswahlordnung), das Bundespräsidentenwahlgesetz und die Europawahlordnung,
die die genauen Abläufe einfachgesetzlich definieren und entsprechend mit Mehrheits-
beschluss geändert werden können. Ein Beispiel der jüngeren Vergangenheit war die
2 De facto gibt es immer eine gewisse Mindesthürde, die bei Wahlen übersprungen werden
muss, sie sinkt mit der Zahl der zu vergebenden Mandate.
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362 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Wahlverschiebung der Gemeinderatswahlen in Vorarlberg und der Steiermark 2020.
Aufgrund der COVID-19-Pandemie gelangte man zur Übereinkunft, die beiden anste-
henden Wahltermine auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, um keine weiteren
Ansteckungen zu riskieren. Das war gesetzlich zu regeln.
Das sogenannte Homogenitätsprinzip gibt vor, dass das Wahlrecht auf Bundes-,
Länder- und Gemeindeebene in seinen Grundsätzen gleich gestaltet sein muss. Arti-
kel 95 des B-VG besagt, dass „[die] Landtagswahlordnungen […] die Bedingungen
des Wahlrechtes und der Wählbarkeit nicht enger ziehen [dürfen] als die Bundesverfas-
sung für Wahlen zum Nationalrat und die Bedingungen der Wählbarkeit nicht weiter
ziehen [dürfen] als die bundesgesetzlichen Bestimmungen für Wahlen zum National-
rat“. Anders ausgedrückt: Die Bundesländer dürfen das aktive Wahlrecht nicht stärker
beschränken als bei Nationalratswahlen, also z.B. eine Wahlaltergrenze von 18 Jahren
einführen. Umgekehrt können sie nicht eigenständig beispielsweise 16-Jährige zu wähl-
baren Personen erklären. Eine analoge Regelung findet sich für die Gemeinden, dort
allerdings mit dem Zusatz, dass Personen, die noch nicht ein Jahr in der Gemeinde
wohnen und „offensichtlich“ nur vorübergehend bleiben, vom Wahlrecht ausgeschlos-
sen werden können (Art 117 B-VG).
Eine direkte Folge des Homogenitätsprinzips war, dass nach der Wahlaltersenkung
2007 alle Bundesländer das aktive Wahlalter für die Landtage und Gemeinderäte ent-
sprechend senken mussten.
2.1 Aktives und passives Wahlrecht
Aktiv wahlberechtigt ist und somit seine Stimme abgeben darf seit 2007 jede*r öster-
reichische*r Staatsbürger*in, der*die das 16. Lebensjahr spätestens am Wahltag vollendet
hat und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Ein solcher Ausschluss kann bei einer
unbedingten fünährigen Freiheitsstrafe (oder in speziellen Fällen wie Landesverrat, NS-
Wiederbetätigung, Terror usw. bei einer unbedingten einjährigen Freiheitsstrafe) verhängt
werden, ist aber kein Automatismus. Der Ausschluss endet mit dem Verbüßen der Strafe.
Auslandsösterreicher*innen, also österreichische Staatsbürger*innen, die ihren
Hauptwohnsitz im Ausland haben, können bei bundesweiten Wahlen teilnehmen,
wenn sie sich davor in die Wählerevidenz eintragen lassen und am 1. Jänner des Jahres
der Eintragung das 15. Lebensjahr (EU-Wahlen: 14. Lebensjahr) vollendet haben. Bei
der Nationalratswahl 2019 waren dies 61.953 Personen. Die Eintragung gilt für zehn
Jahre. Bei Landtagswahlen haben Auslandsösterreicher*innen nur in Niederösterreich,
Tirol und Vorarlberg die Möglichkeit, teilzunehmen (siehe Tab. 5).
Passiv wahlberechtigt ist und somit kandidieren darf, wer am Stichtag die österrei-
chische Staatsbürgerschaft besitzt und spätestens mit Ablauf des Wahltages das 18. Le-
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363Wahlrecht
bensjahr vollendet hat. Lediglich für das Amt des Bundespräsidenten gilt ein passives
Wahlalter von 35 Jahren (Art 23a, 26, 60 B-VG). Eine unbedingte Verurteilung zu
mehr als sechs Monaten (oder eine bedingte Verurteilung zu mehr als einem Jahr) führt
automatisch zum Ausschluss von der Wählbarkeit.
Die Wahlberechtigten können in Österreich persönlich am Wahltag im Wahllokal ih-
res Wohnsitzsprengels3 ihre Stimme abgeben, zusätzlich ist eine Stimmabgabe mittels
Briefwahl in ganz Österreich sowie aus dem Ausland möglich.
In einigen Bundesländern gibt es zudem vorgezogene Wahltage (z.B. eine Woche vor
der Wahl am Freitag), um Wähler*innen die Möglichkeit zu geben, persönlich abzu-
stimmen, auch wenn sie am Wahltag selbst das nicht können oder wollen (z.B. bei Ge-
meinderatswahlen in der Steiermark am 9. Tag vor der Wahl zumindest zwischen 17 und
19 Uhr; 2015 nutzten dies rund sechs Prozent der Wahlberechtigten dort; bei der Ge-
meinderatswahl Graz 2021 waren es rund 4 Prozent der Wahlberechtigten oder knapp
acht Prozent der abgegebenen Stimmen). Das Risiko, dass sich zwischen dem Tag der
vorgezogenen Wahl und dem eigentlichen Wahltag etwas so dramatisch verändert, dass
man die eigene Stimme anders vergeben möchte, liegt dann bei den Wahlberechtigten.
Die Briefwahl hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Bei der Na-
tionalratswahl 2013 wurden rund 575.000 Wahlkarten abgegeben (rund 12 % der ab-
gegebenen Stimmen), 2017 waren es bereits knapp 800.000 (rund 16 %) und 2019
über 950.000 (rund 20 %) (Bundesministerium für Inneres, Wahlen, 2021). Insbe-
sondere während der Corona-Pandemie ist die Briefwahl sehr stark genutzt worden.
Die so abgegebenen Stimmen müssen bis Wahlschluss bei den zuständigen Stellen ein-
treffen (eine Nachfrist wurde 2011 gestrichen). Die Auszählung kann – wie etwa 2021
in Oberösterreich – gemeinsam mit den übrigen Stimmzetteln erfolgen, oder aber ge-
sondert durchgeführt werden, was zu zeitlichen Verzögerungen führt.4
Ein späteres Auszählen der Briefwahl birgt das Problem, dass im Fall einer großen
Anzahl an Briefwahlstimmen und einem deutlich anderen Stimmverhalten das Ergeb-
nis der Urnenwahl vom Wahltag noch verändert werden kann. Bei der (später auf-
3 Ein Sprengel ist die kleinste organisatorische Untergliederung des Gebietes, in dem gewählt
wird. Hier werden die Stimmen zunächst gesammelt und ausgezählt, bevor die Ergebnisse auf
die nächsthöhere Ebene weitergeleitet werden.
4 Für die Wahlanalyse ergibt sich zudem das Problem, dass Wahlkarten bisher nicht einzel-
nen Gemeinden zugeordnet wurden. Darstellungen von Ergebnislandkarten auf dieser Ebene
können daher – je nach Zahl der Briefwahlstimmen – verfälschend sein.
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364 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
gehobenen) Stichwahl um die Bundespräsidentschaft 2017 zwischen Alexander Van
der Bellen und Norbert Hofer „gewann“ letzterer die Urnenwahl mit rund 52 Prozent,
verlor aber in der Briefwahl mit nur rund 38 Prozent – ein Unterschied, der dazu führte,
dass Van der Bellen insgesamt mit 50,35 Prozent vorne lag (Bundesministerium für In-
neres, Wahlen, 2021). Zwar hatte eine entsprechende Hochrechnung am Wahltag von
ORF/SORA diesen Ausgang richtig prognostiziert, die Zeit zwischen dem vorläufigen
Ergebnis (ohne Wahlkarten) am Sonntag und dem Gesamtergebnis, das am Dienstag
vorlag, öffnete viel Raum für Spekulationen und Verschwörungstheorien (die von der
FPÖ und Hofer selbst befördert wurden5).
Eine allgemeine Wahlpflicht existiert in Österreich nicht mehr. Sie bestand bis 1982
bundesweit bei Bundespräsident*innenwahlen, danach nur mehr in einzelnen Bundes-
ländern, seit 2010 gar nicht mehr. Bei Nationalratswahlen gab es nie eine bundesweite
Wahlpflicht, sondern nur in jenen Bundesländern, die das vorsahen (z. B. Tirol und
Vorarlberg). 1992 wurde die entsprechende Möglichkeit im B-VG gestrichen, womit
auch die regionale Wahlpflicht beseitigt wurde. Die Wahlpflicht selbst, etwa in Tirol
und Vorarlberg schon 1919 eingeführt, steht historisch in Zusammenhang mit der Ein-
führung des Frauenwahlrechts, da die – das Frauenwahlrecht ablehnende – Christlich-
soziale Partei (CSP) eine stärkere Wahlbeteiligung sozialdemokratischer Wählerinnen
befürchtete (Pelinka/Rosenberger 2000, 157).
2.3 Nationalratswahlen
Nationalratswahlen müssen in Österreich zumindest alle fünf Jahre durchgeführt wer-
den (siehe dazu Praprotnik in diesem Band). Für die Wahl wird das Bundesgebiet in
39 Regionalwahlkreise (RWK) eingeteilt, die auf den politischen Bezirken und Statu-
tarstädten aufbauen. Bis 2008 gab es 43 Regionalwahlkreise, deren Zahl dann durch
die Zusammenlegung von acht RWKs in der Steiermark auf vier verringert wurde. Die
Wahlkreise sind nicht gleich groß: 2019 wohnten im Wahlkreis Graz und Umgebung
rund fünf Prozent aller Wahlberechtigten, in Osttirol 0,6 Prozent. Zu vergeben waren
neun sowie ein Mandat respektive. Wie viele Mandate pro RWK gewonnen werden
können, berechnet sich auf Basis der Zahl der Staatsbürger*innen laut Volkszählung
2011 plus der Auslandsösterreicher*innen, die in der Wählerevidenz eingetragen sind.
Dafür wird zunächst eine Verhältniszahl aus der Zahl der Staatsbürger*innen und den
183 zu vergebenden Mandaten gebildet. Jedem Wahlkreis werden so viele Mandate zu-
5 Hofer wurde beispielsweise zitiert mit „Bei den Wahlkarten wird ja immer so ein wenig eigen-
artig ausgezählt“; https://kurier.at/politik/inland/verlierer-sind-die-beamten/206.356.529
(31.05.2022).
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365Wahlrecht
geordnet, wie diese Verhältniszahl in der Zahl der Staatsbürger*innen im entsprechen-
den Gebiet enthalten ist.
Als zweite Wahlkreisebene existieren neun Landeswahlkreise (LWK), die geogra-
phisch den Bundesländern entsprechen. Die hier zu vergebenden Mandate entsprechen
der Summe der Mandate in den Regionalwahlkreisen des Bundeslandes. Dritte Ebene
ist das gesamte Bundesgebiet mit 183 Mandaten (Bundeswahlkreis, BWK).
Bei Nationalratswahlen können keine Personen, sondern nur wahlwerbende Parteien
kandidieren. Der Begriff „Partei“ bedeutet dabei nicht, dass es sich um eine beim Innen-
ministerium nach dem Parteiengesetz registrierte Partei handeln muss. Die wahlwerben-
den Parteien müssen pro Landeswahlkreis einen sogenannten Wahlvorschlag einbringen,
der wiederum zumindest einen Wahlvorschlag für einen Regionalwahlkreis enthalten
muss. Die Zahl der Namen auf der Liste ist auf die doppelte Anzahl der zu vergebenden
Mandate im jeweiligen Wahlkreis begrenzt. Für eine bundesweite Kandidatur müssen
neun Landeswahlvorschläge und ein Bundeswahlvorschlag eingebracht werden.
Um kandidieren zu dürfen, benötigt die wahlwerbende Partei entweder die Unter-
schrift von drei Nationalratsabgeordneten oder Unterstützungserklärungen. Deren Zahl
ist von der Größe des Landeswahlkreises abhängig und liegt zwischen 100 (Burgenland,
Vorarlberg) und 500 (Niederösterreich, Wien). Für eine österreichweite Kandidatur
sind 2.600 Unterschriften notwendig, die von den Unterstützer*innen persönlich auf
einem Gemeindeamt geleistet werden müssen. Zusätzlich ist ein Druckkostenbeitrag
von 435 Euro zu bezahlen. Wenn Parteien nur in einzelnen Landeswahlkreisen antre-
ten, sind entsprechend weniger Stimmen nötig.
Für die Kandidatur (und zahlreiche weitere Schritte im Wahlprozess) ist der so-
genannte Stichtag wesentlich, der ausgehend vom Wahltag berechnet wird. Er ist am
82. Tag vor der Wahl (Art 1 Nationalratswahlordnung). Landeswahlvorschläge müssen
beispielsweise zwischen Stichtag und dem 58. Tag vor der Wahl eingebracht werden,
Bundeswahlvorschläge bis zum 48. Tag vor der Wahl.
Für die Erstellung der Wahlvorschläge gibt es keine einheitlichen Vorgaben, sie wer-
den innerparteilich festgelegt, wobei sich das Procedere zwischen den Parteien unter-
scheidet (z.B. hinsichtlich der Frage, wer kandidieren und wer wählen darf). Eine
Person kann nicht in mehreren Wahlkreisen der gleichen Ebene (z.B. in zwei Landes-
wahlkreisen) kandidieren, sehr wohl aber vertikal z.B. auf der Bundes- und einer Lan-
desliste. Die Reihung der Personen auf den Listen ist wesentlich, da die Mandate in
dieser Reihung vergeben werden (die erste Person erhält das erste Mandat usw.).
Bei der Wahl selbst können die Wahlberechtigten eine Stimme für eine wahlwerbende
Partei sowie jeweils eine Vorzugsstimme pro Wahlkreisebene (also insgesamt drei) abge-
ben. Die Vergabe von Vorzugsstimmen ist nicht verpflichtend, ohne eine Parteistimme ist
der Stimmzettel allerdings ungültig. Vergibt jemand eine Vorzugsstimme für eine*n Kan-
didaten*Kandidatin einer anderen Partei als der gewählten, verfällt diese Vorzugsstimme.
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366 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Die Vorzugsstimmen sollen den Wähler*innen die Möglichkeit geben, Einfluss auf
die ansonsten starr vorgegebene Liste zu nehmen. Erreicht ein*e Kandidat*in 14 Pro-
zent der Stimmen ihrer*seiner Partei im Regionalwahlkreis, wird diese Person an erster
Stelle gereicht. Für die Landesebene gilt eine Hürde von zehn Prozent (oder die Wahl-
zahl), für die Bundesebene (seit 2013) von sieben Prozent.
In der Praxis erweisen sich diese Hürden als hoch und Umreihungen sind die Aus-
nahme. Die erfolgreichsten Vorzugsstimmenwerber*innen sind üblicherweise Kandi-
dat*innen, die auf den Parteilisten weit vorne gereiht sind (was auch an deren Bekannt-
heit und Präsenz liegt; siehe Abb. 1). Bei der Nationalratswahl 2019 übersprangen
nur der Listenerste Sebastian Kurz (ÖVP) und Listenzweiter Herbert Kickl (FPÖ) die
7-Prozent-Hürde für eine Umreihung auf Bundesebene. Die Landeshürde wurde von
niemandem erreicht, in den Regionalwahlkreisen schafften einige Personen die nötigen
14 Prozent, nur drei konnten aufgrund eines Grundmandats ihrer Partei diesen Erfolg
auch nützen – tatsächlich angenommen hat das gewonnene Mandat nur eine Person.
Vereinzelt kandidieren prominente Politiker*innen gezielt auf hinteren Plätzen, um
dadurch zusätzliche Stimmen zu lukrieren (z.B. die damalige Nationalratsabgeordnete
und stellvertretende Bundessprecherin der GRÜNEN Eva Glawischnig bei der Kärnt-
ner Landtagswahl 2004).
Unabhängig von der Vorzugsstimmenregelung der Nationalratswahl treffen Partei-
en mitunter eigene interne Regelungen6, die die Vorzugsstimmen für Umreihungen
heranziehen. Diese bedürfen eines freiwilligen Mandatsverzichts der betroffenen Kan-
didat*innen, da diese nach der Wahl von der Partei rechtlich nicht gezwungen werden
können, ihren Sitz aufzugeben.
Das Umrechnungsverfahren der Stimmen in Mandate folgt den drei Wahlkreisebe-
nen. Auf Regional- und Landesebene kommt in Österreich das System nach Hare zum
Einsatz. Die Berechnung erfolgt, indem man zunächst die abgegebenen gültigen Stim-
men in einem Landeswahlkreis durch die zu vergebenden Mandate teilt. Das Ergebnis
wird aufgerundet und stellt die sogenannte Wahlzahl dar. Es gibt damit nur eine Wahl-
zahl pro Landeswahlkreis und alle darunterliegenden Regionalwahlkreise.
Die Parteien erhalten im ersten Ermittlungsverfahren so viele Mandate, wie die
Wahlzahl in ihrer Stimmenzahl im jeweiligen Regionalwahlkreis enthalten ist. Auf die-
sem Weg erzielte Mandate heißen Grund- oder Direktmandate. In absoluten Stimmen
kosteten sie 2019 zwischen rund 23.000 und rund 28.000 Stimmen. Der tatsächliche
Preis im Verhältnis zur Zahl der Wahlberechtigten geht weiter auseinander: Das güns-
tigste Direktmandat kostete rund elf Prozent der gültigen Stimmen in einem RWK, das
teuerste – jenes in Osttirol – über 93 Prozent, was realistischerweise damit auch nicht
erreichbar ist. Insgesamt erzielten die Parteien bei dieser Wahl 79 solche Grundmanda-
te, die meisten die ÖVP (48).
6 Etwa eine Regelung, bei der bereits eine geringere Stimmenzahl für eine Vorreihung reicht.
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367Wahlrecht
Im zweiten Ermittlungsverfahren werden die Parteisummen des ganzen Landeswahl-
kreises herangezogen und erneut durch die Wahlzahl dividiert. An diesem Schritt kön-
nen nur mehr Parteien teilnehmen, die zumindest vier Prozent der gültigen Stimmen
auf Bundesebene oder ein Grundmandat in einem RWK erzielt hatten. Diese Mandate
sind günstiger und kosteten 2019 zwischen rund drei und rund 14 Prozent. Von den
so vergebenen Mandaten werden jene aus den RWKs wieder abgezogen, womit bei der
jüngsten Nationalratswahl 77 Landeswahlkreismandate verteilt wurden.
Abb. 1 Vorzugsstimmenanteil am Parteiergebnis auf der jeweiligen Wahlkreisebene (Regio-
nal-, Landes-, Bundeswahlkreis) bei der Nationalratswahl 2019
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2019); eigene Berechnung.
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368 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
-
kreis 2019
ÖVP SPÖ FPÖ GRÜNE NEOS Gesamt
RWK-Mandate 48 16 10 5 0 79
LWK-Mandate 15 19 16 17 10 77
BWK-Mandate 8 5 5 4 5 27
Gesamt 71 40 31 26 15 183
RWK (Regionalwahlkreis), LWK (Landeswahlkreis), BWK (Bundeswahlkreis).
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2019), eigene Berechnung.
Für die dritte Ebene – das gesamte Bundesgebiet – wird das Höchstzahlverfahren nach
d’Hondt verwendet. Dazu werden die Parteisummen der Größe nach geordnet neben-
einander geschrieben. In die nächste Zeile schreibt man die Hälfte, darunter ein Drittel,
dann ein Viertel usw. der ursprünglichen Parteisummen. Anschließend sucht man die
183.-größte Zahl. 183 deshalb, weil dies der Anzahl der zu vergebenden Mandate ent-
spricht. Die Parteien enthalten so viele Mandate, wie diese Zahl in ihrer Parteisumme
enthalten ist. Von diesem Ergebnis sind die schon vergebenen Mandate wieder abzu-
ziehen, 2019 wurden 27 Mandate über die dritte Ebene vergeben. Hätten übrigens zwei
oder mehr Parteien Anspruch auf das letzte Mandat, also die gleiche Stimmenzahl in
der jeweiligen Berechnung, käme es zu einem Losentscheid (für die Details siehe Arti-
kel 107 Nationalratswahlordnung).
ÖVP SPÖ FPÖ GRÜNE NEOS
Parteiergebnis 1.789.417,00 1.011.868,00 772.666,00 664.055,00 387.124,00
dividiert durch
2
894.708,50 505.934,00 386.333,00 332.027,50 193.562,00
…3 596.472,33 337.289,33 257.555,33 221.351,67 129.041,33
…4 447.354,25 252.967,00 193.166,50 166.013,75 96.781,00
…5 357.883,40 202.373,60 154.533,20 132.811,00 77.424,80
…6 298.236,17 168.644,67 128.777,67 110.675,83 64.520,67
…7 255.631,00 144.552,57 110.380,86 94.865,00 55.303,43
…x
…31 57.723,13 32.640,90 24.924,71 21.421,13 12.487,87
Die markierte Zahl ist die 183.-größte Zahl und damit die Wahlzahl.
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2019), eigene Berechnung.
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369Wahlrecht
2.4 Wahlen zum Europäischen Parlament
Die Wahlen zum Europäischen Parlament (siehe dazu Meyer in diesem Band) finden
alle fünf Jahre statt. Grundlage ist der Europa-Direktwahlakt, der Rahmenbedingun-
gen für die Wahl aufstellt. So gilt etwa in allen Ländern das Verhältniswahlrecht, Vor-
zugsstimmen sind erlaubt, die Obergrenze für eine Sperrklausel beträgt fünf Prozent
(Bundesministerium für Inneres, 2022). In Österreich lag sie zuletzt bei vier Prozent,
in Deutschland beispielsweise gab es keine Sperrklausel. Das hatte zur Folge, dass 2019
auch Parteien mit weniger als einem Prozent der Stimmen Sitze im EU-Parlament
erhielten. Für die Zukunft ist eine einheitliche Sperrklausel für Länder mit mehr als
35 Sitzen pro Wahlkreis geplant, die Umsetzung steht aber noch aus.
Abseits dieser grundlegenden Vorgaben ist die Gestaltung der Wahl den Mitglieds-
staaten überlassen. In Österreich gilt auch hier – abweichend von den anderen EU-Staa-
ten – das aktive Wahlalter von 16 Jahren. Wahltag ist hierzulande Sonntag, in anderen
Staaten beginnt die Wahl bereits am Donnerstag.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sind nicht nur österreichische Staats-
bürger*innen wahlberechtigt, sondern auch EU-Bürger*innen mit Hauptwohnsitz in
Österreich, die am Stichtag (mindestens 72 Tage vor der Wahl) in der Wählerevidenz ei-
ner österreichischen Gemeinde eingetragen sind. 2019 waren dies 38.672 der 6.416.177
Wahlberechtigten (0,6 %). Zum Vergleich, bei derselben Wahl waren 44.723 Auslands-
österreicher*innen in der Wählerevidenz registriert. Die tatsächliche Wahlbeteiligung
der EU-Bürger*innen wird nicht erfasst.
Um bei einer EU-Wahl kandidieren zu können, benötigt ein Wahlvorschlag die
Unterschriften von drei Nationalratsabgeordneten oder einer*einem EU-Abgeordne-
ten Österreichs oder 2.600 Unterstützungserklärungen von wahlberechtigten Personen.
Quoten für einzelne Bundesländer entfallen, da keine Landeswahlkreise existieren. Für
die Wahl wird das gesamte Bundesgebiet als ein Wahlkreis betrachtet, die Mandate wer-
den wieder mittels des Verfahrens nach d’Hondt unter jenen Parteien vergeben, die die
Sperrklausel schaffen. Vorzugsstimmen können vergeben werden, für eine Vorreihung
genügen fünf Prozent der Parteistimmen. 2019 erzielten ausschließlich Personen auf
den vorderen Listenplätzen die notwendige Zahl an Vorzugsstimmen (was bei der ÖVP
einen Tausch zwischen erstem und zweitem Platz bedeutete), einzig bei der FPÖ wurde
Heinz-Christian Strache vom letzten auf den zweiten Listenplatz vorgereiht (nahm das
Mandat allerdings nicht an).
Die EU-Wahl ist ein gutes Beispiel für den Einfluss, den die Stimmenumrechnung
auf das Ergebnis haben kann. Während in Österreich die Mandate nach d’Hondt be-
rechnet werden, folgt der gleiche Prozess in Deutschland dem Verfahren nach Sainte-
Laguë (auch Verfahren nach Schepers genannt). Dieses unterscheidet sich nur dadurch,
dass erstens nicht durch 1, 2, 3 usw., sondern durch 0,5, 1,5, 2,5 usw. dividiert wird.
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370 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Zweitens wird das Ergebnis nicht abgerundet, sondern „normal“ gerundet, sprich Werte
ab 0,5 werden erhöht. Das Argument dafür ist, dass d’Hondt aufgrund der verwendeten
Ganzzahlen größere Parteien bevorzugt. Wendet man diese Berechnungsmethode auf
das österreichische Ergebnis von 2019 an, dann verschieben sich einige Mandate (siehe
Tab. 3). Beide Zugänge sind legitim und werden in der Praxis verwendet, die politische
Entscheidung für eine Methode hat aber Auswirkungen auf die Mandatsverteilung.
Tab. 3 Ergebnis der Europawahl 2019 nach unterschiedlichen Berechnungsmethoden
Mandate nach … d’Hondt Sainte-Laguë
ÖVP 7 6
SPÖ 5 4
FPÖ 3 3
GRÜNE 2 3
NEOS 1 2
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2019), eigene Berechnung.
2.5 Bundespräsidentschaftswahlen
Für Bundespräsident*innenwahlen wird das Bundesgebiet zwar in Stimmbezirke einge-
teilt (deckungsgleich mit den politischen Bezirken und Statutarstädten), die zu Regio-
nal- und Landeswahlkreisen zusammengefasst werden. Diese spielen für die Ergebnis-
ermittlung aber keine spezielle Rolle, sondern haben nur organisatorische Funktionen.
Jede*r Wahlberechtigte hat eine Stimme und diese abgegebenen Stimmen müssen nicht
umgerechnet werden, sondern stellen direkt das Wahlergebnis dar.
Um kandidieren zu können, müssen 6.000 Unterstützungserklärungen gemeinsam
mit dem Wahlvorschlag eingebracht werden. Eine Unterstützung durch Abgeordnete
analog zur Nationalratswahl erspart nicht das Sammeln dieser Erklärungen. Als Kosten-
beitrag sind 3.600 Euro zu bezahlen.
Gewählt ist bei einer Bundespräsidentenwahl, wer die absolute Mehrheit der gül-
tigen Stimmen erreicht (das heißt mindestens 50 Prozent und eine Stimme). Erreicht
kein*e Kandidat*in die absolute Mehrheit, ist vier Wochen nach der Wahl ein zweiter
Wahlgang durchzuführen, an dem nur mehr die erst- und zweitplatzierte Person teil-
nehmen. Bisher gab es nur vier Stichwahlen (1951, 1986, 1992 und 2016; die aufge-
hobene Stichwahl 2016 wird nicht mitgezählt). Trat der Amtsinhaber7 zur Wiederwahl
an, gewann er diese jedes Mal im ersten Wahlgang.
7 Bisher gab es nur Bundespräsidenten und keine Bundespräsidentinnen in Österreich.
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371Wahlrecht
Tab. 4 Wahlrecht bei bundesweiten Wahlen
NRW EUW BPW
Wahlberechtigte16.333.109 6.416.169 6.363.489
Wahlbeteiligung %175,59 59,77 65,19
Mindestprozenthürde 4 4 -
Grundmandat ja - -
Wahlkreise139 RWK, 9 LWK, 1 BWK 1 1
Ermittlungsverfahren 3 Stufen, 2x Hare, 1x d’Hondt d’Hondt Mehrheit
Verhältniszahl Mandate Staatsbürger*innen laut Volks-
zählung 2011/183
- -
Verteilung Mandate auf
Wahlkreise
Bevölkerung in RWK/LWK/
Verhältniszahl (s.o.)
- -
Anzahl Mandate pro
RWK
1–9 - -
Aktives Wahlrecht 16 Jahre, öst. Staatsbürgerschaft, nicht vom Wahlrecht
ausgeschlossen2
Auslandsösterreicher*in-
nen wahlberechtigt?
ja ja ja
EU-Bürger*innen wahl-
berechtigt
nein ja nein
Passives Wahlrecht alle jeweils Wahlberechtigten, die nicht von der Wählbarkeit aus-
geschlossen sind3
Passives Wahlrecht/Alter 18 35
Eintreffen der Briefwahl bis 17 Uhr am Wahltag
Vorzugsstimmen je 1 pro Wahlkreisebene 1 -
Umreihung durch Vor-
zugsstimmen
ab 14% der Parteisumme im
RWK, 10% im LWK, 7%
BWK
ab 5% der Partei-
summe
-
Wahlzahl erstes Ermitt-
lungsverfahren
gültige Stimmen/Mandate im
LWK
d’Hondt -
Wahlzahl zweites Ermitt-
lungsverfahren
gültige Stimmen/Mandate im
LWK
- -
Wahlzahl drittes Ermitt-
lungsverfahren
d’Hondt - -
Berechnung Restmandate alle Parteistimmen - -
Billigstes Grundmandat123.055 Stimmen - -
Billigstes Grundman-
dat %*
11,2 (Graz/Umgebung) - -
Teuerstes Grundmandat127.765 Stimmen - -
Teuerstes Grund-
mandat %*
92,6 (Osttirol) - -
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NRW EUW BPW
Unterstützungserklärun-
gen für Kandidatur
Unterschriften pro LWK (100
B/V, 200 K/S/T, 400 OÖ/ST,
500 NÖ/W; 2.600 insgesamt)
2.600 Unterschrif-
ten
6.000
Alternativ Unterstützung
durch Abgeordnete
3 NR-Abgeordnete 3 NR-Abgeordnete
oder
1 EU-Abgeord-
nete*r
-
bezieht sich auf die jeweils letzte Wahl: NRW 2019, EUW 2019, BPW 2022.
2 unbedingte Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren oder mindestens einem Jahr in speziellen
Fällen (Landesverrat, NS-Wiederbetätigung, Terrorismus usw.), muss von einer*einem Rich-
ter*in verhängt werden.
3
Jahr.
2.6 Landtagswahlen
Landtagswahlen (siehe dazu Dolezal/Fallend in diesem Band) in Österreich folgen der
Verhältniswahl. Die Ergebnisermittlung erfolgt auf zwei Ebenen, den Wahlkreisen
und dem gesamten Landesgebiet. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Variationen (siehe
Tab. 5). Das aktive Wahlrecht ist an das Alter (16) und die Staatsbürgerschaft geknüpft,
bis auf drei Bundesländer können Auslandsösterreicher*innen jedoch nicht teilnehmen.
Dafür können im Burgenland auch Personen ohne Hauptwohnsitz im Bundesland ihre
Stimme abgeben, sofern sie eine entsprechende Begründung liefern. In Niederöster-
reich wurde eine entsprechende Regelung erst 2022 abgeschafft.
Um kandidieren zu dürfen, bestehen unterschiedliche Voraussetzungen: Partei-
en müssen z.B. bereits im Landtag vertreten sein (Vorarlberg, Wien), eine oder drei
Unterschriften von Abgeordneten vorlegen oder zwischen 180 (Burgenland) und
1.800 (Wien) Unterschriften von Wahlberechtigten für ein landesweites Antreten vor-
weisen können. In Tirol wird die Grenze prozentuell auf Basis der vorangegangenen
Wahl errechnet, eine Abgeordneten-Unterschrift ersetzt dabei ein Drittel der notwen-
digen Unterschriften.
Kärnten wird für Landtagswahlen in vier Wahlkreise geteilt, Niederösterreich in
20. Das billigste Grundmandat kostete (bei der jeweils letzten Wahl) gemessen an der
Zahl der Wahlberechtigten 6,25 Prozent (Steiermark, Wahlkreis 1/Graz), das teuers-
te 66,67 Prozent (Niederösterreich, mehrere Wahlkreise). Die Sperrklausel beträgt im
Burgenland, in Nieder- und Oberösterreich vier, in den übrigen Bundesländern fünf
Prozent. In der Steiermark gibt es keine prozentuelle Mindestprozenthürde, Parteien
müssen hier ein Direktmandat in einem Wahlkreis schaffen, wenn sie an der landes-
weiten Mandatsermittlung teilnehmen wollen. Umgekehrt gibt es in Niederösterreich
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373Wahlrecht
keine Möglichkeit, über ein Direktmandat am zweiten Ermittlungsverfahren teilzuneh-
men.
Auch in der Stimmverrechnung im ersten Ermittlungsverfahren gibt es Unterschie-
de: In Oberösterreich wird z.B. zuerst eine Sperrzahl ermittelt, die darüber Auskunft
gibt, welche Parteien überhaupt am Mandatsvergabeverfahren teilnehmen dürfen. Die
eigentliche Wahlzahl errechnet sich dann nur mehr auf Basis der gültigen Stimmen,
die für diese Parteien abgegeben wurden. Im Burgenland wird eine einzige Wahlzahl
auf Landesebene für alle Regionalwahlkreise berechnet. In Niederösterreich, Tirol und
Wien wird die Zahl der Mandate zur Berechnung der Wahlzahl um 0,5 erhöht, in der
Steiermark und in Vorarlberg um 1. Damit werden Grundmandate teurer, was sich
dahingehend mehrheitsfördernd auswirken kann, dass größere Parteien mehr Mandate
erhalten. Generell erzielen größere Parteien einen höheren Mandats- als Stimmenanteil
(siehe Abb. 2). Für die Landesebene kommt einheitlich das d’Hondt’sche Verfahren
zum Einsatz.
Anschauliches. Disproportionalität eines Wahlystems
Um die Disproportionalität eines Wahlsystems, also das Verhältnis der Stimmen- zur
dieses Ergebnis und summiert es für alle Parteien. Die Summe wird durch zwei dividiert
und daraus wieder die Wurzel gezogen. Das Ergebnis liegt zwischen 0 und 100, je nied-
riger der Wert ist, desto geringer ist die Disproportionalität des Wahlsystems. Durch
die Quadrierung fallen wenige große Abweichungen stärker ins Gewicht als viele klei-
ne Abweichungen, die etwa durch das Antreten zahlreicher Kleinparteien entstehen
könnten.
-
österreich den geringsten Wert mit 1,72 und Wien den höchsten mit 6,62 (in dieser
Beispielrechnung sind alle Parteien, die angetreten sind, berücksichtigt, es gibt auch
Varianten, die Parteien unter einem bestimmten Stimmenanteil streichen oder zusam-
menfassen).
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374 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Vergleich zum Stimmenanteil, der Wert in Klammer hinter dem Bundesland die Zahl, die bei der Be-
Quelle: Wahldatenbank (2022); eigene Berechnung.
In Salzburg und der Steiermark kann eine Vorzugsstimme vergeben werden, in Vor-
arlberg sind fünf möglich, in Niederösterreich ist die Zahl nicht vorgegeben. Vorarlberg
und das Burgenland erlauben zudem, bis zu zwei Stimmen auf dieselbe Person abzuge-
ben (Kumulieren). Generell sind Vorzugsstimmen ungültig, wenn die*der Kandidat*in
nicht der gewählten Partei angehört. Im Burgenland und in Niederösterreich schlägt
hingegen die Vorzugsstimme die Parteistimme: Das bedeutet, dass wenn eine Stimme
für eine Person einer anderen Partei als eigentlich gewählt abgegeben wird, zählt die
Stimme für die Partei der angegebenen Person.
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375Wahlrecht
Die Berechnung, ob es durch Vorzugsstimmen zu Umreihungen kommt, ist wesentlich
komplexer als bei Nationalratswahlen und nicht einheitlich. In einigen Bundesländern
reicht für eine Vorreihung im Wahlkreis das Erreichen eines Anteils der Wahlzahl (30 %
in Tirol) oder der gesamten Wahlzahl. In anderen Bundesländern werden Wahlpunkte
berechnet, die sich aus der Listenplatzierung und der Vorzugsstimmenzahl errechnen, die
Vorzugsstimmen sind dabei unterschiedlich viel wert (z.B. 25 Punkte in Oberösterreich,
32 Punkte in Vorarlberg). Die Berücksichtigung des Listenplatzes bedeutet in diesen Fäl-
len auch eine Abschwächung der Vorzugsstimmen, da weiter vorne platzierte Personen
deutlich mehr Punkte aus dieser Platzierung erzielen können als weiter hinten gereihte.
Dazu ein Rechenbeispiel: Bei der Landtagswahl Burgenland erreichte die SPÖ im
Wahlkreis Neusiedl am See – mit sieben zu vergebenden Mandaten – 17.136 Stimmen.
Die Listenerste bekam damit 14 x 17.136 = 239.904 Listenpunkte.8 Der Listenzweite
bekam 13 x 17.136 = 222.768, würde also für eine Vorreihung zumindest 857 Vorzugs-
stimmen mehr benötigen ((239.904 – 222.768)/20 Punkte pro Vorzugsstimme). Das
entsprach wiederum fünf Prozent der SPÖ-Stimmen im Wahlkreis. Tatsächlich erreich-
te der Listenzweite 995 Vorzugsstimmen mehr als die Listenerste und wurde vorgereiht.
2.7 Gemeinderatswahlen
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Gemeinderatswahlen werden mit Ausnahme
der Statutarstädte in Landesgesetzen (den Gemeindewahlordnungen) geregelt. Im Fol-
genden wird nur auf diese allgemeinen Gemeindewahlordnungen eingegangen.
Bundeslandweite Daten zu Gemeinderatswahlen sind wenig aussagekräftig, handelt
es sich doch um 2.094 individuelle Wahlen (ohne Wien). Die Größe der Gemeinderäte
variiert, steigt jedoch mit der Bevölkerungszahl (siehe dazu Stainer-Hämmerle in diesem
Band)9. Die Gemeinderatswahlen finden innerhalb eines Bundeslandes zum gleichen
Termin statt. Ausnahme können Statutarstädte sein. Das Gemeindegebiet kann – ab
einer gewissen Größe (z.B. 500 Wahlberechtigte im Burgenland oder Tirol, 1.000 in
Vorarlberg) oder geographischen Ausdehnung – in Sprengel unterteilt werden, die aber
für die Mandatsermittlung keine Bedeutung haben. Teilweise ist eine Mindestgröße
(z.B. 30 Wahlberechtigte) vorgegeben, um das Wahlgeheimnis zu gewährleisten.
Die
notwendige Zahl für Kandidaturen schwankt zwischen den Bundesländern: Tirol und
8 Für eine genaue Erklärung der Berechnungsmethode siehe die Anmerkungen bei der folgen-
den Tabelle.
9 Eine Schwierigkeit in der Ergebnisanalyse ist die nicht immer eindeutige Zuordenbarkeit lo-
kaler Listen zu übergeordneten Parteien. Einige Bundesländer ordnen sie dennoch den Land-
tagsparteien zu, andere verzichten gänzlich darauf.
© 2023 Böhlau Verlag | Brill Österreich GmbH
https://doi.org/10.7767/9783205215950| CC BY-NC-ND 4.0
376 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
B K NÖ OÖ S ST T V W
Wahlberechtigte1250.181 434.121 1.386.356 1.094.074 390.091 955.795 535.112 270.521 1.133.010
Wahlbeteiligung %174,94 68,63 66,56 81,63 64,96 63,46 65,02 68,44 65,27
Mindestprozenthürde 4 5 4 4 5 - 5 5 5
Alternativ Grundmandat ja ja nein ja ja ja ja ja ja
Wahlkreise17 4 20 5 6 4 9 4 18
Verteilung Mandate auf
Wahlkreise
Staatsbürger*innen
mit Hauptwohnsitz
im Bundesland/An-
zahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
(Anzahl Mandate
+ 1)
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
d’Hondt nach Zahl der
Staatsbürger*innen mit
Hauptwohnsitz im Bundes-
land
Mandate pro Wahlkreis 2–7 8–10 1–6 9–14 4–10 8–15 1–9 6–12 3–11
Aktives Wahlrecht 16 Jahre, öst.
Staatsbürgerschaft,
Hauptwohnsitz im
Bundesland, nicht
vom Wahlrecht aus-
geschlossen3
mit Begründung auch
ohne Hauptwohnsitz
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst. Staatsbürger-
schaft, Hauptwohnsitz im
Bundesland, nicht vom
Wahlrecht ausgeschlossen3
Auslandsösterreicher*in-
nen wahlberechtigt?
nein nein auf Antrag, für
eine Dauer von
10 Jahren
nein nein nein auf Antrag, für
eine Dauer von
10 Jahren
auf Antrag, für
eine Dauer von
10 Jahren
nein
Passives Wahlrecht Wahlberechtigte ab 18, die nicht von der Wählbarkeit ausgeschlossen sind4
Eintreffen der Briefwahl5bis zum zweiten Tag
vor der Wahl, 14 Uhr
Wahlschluss bis 6.30 Uhr am
Wahltag
Wahlschluss Wahlschluss Wahltag bis 16
Uhr
bis zum zweiten
Tag vor der Wahl,
14 Uhr
Wahlschluss Wahltag bis 17 Uhr
Vorzugsstimmen 1 Landesliste, bis zu 3
Wahlkreisliste
Bis zu 3 1 Landesliste, 1
Wahlkreisliste
1 Landesliste, 1
Wahlkreisliste
1 1 1 Landesliste, 1
Wahlkreisliste
Bis zu 5, 2x2
kumulieren
2 Stadtwahlvorschlag, 1
Kreiswahlvorschlag
Umreihung durch
Vorzugsstimmen 1. Er-
mittlungsverfahren
Zuweisung der
Mandate nach Wahl-
punkten7
1 Mandat pro Partei
geht an die Person mit
den meisten Wahl-
punkten, die sonst
kein Mandat hat
Wahlpunkte in
Höhe von einem
Drittel der Wahl-
zahl im WK8
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
Zuweisung der
Mandate nach
Wahlpunkten9
14% der Partei-
summe im WK,
mindestens die
halbe Wahlzahl
im WK
alle weiteren
Mandate nach
Wahlpunkten10
Wahlzahl im WK
(in der Reihenfol-
ge der Vorzugs-
stimmen)
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
Wahlzahl im WK
(in der Reihenfol-
ge der Vorzugs-
stimmen)
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
30% der Wahl-
zahl im WK
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
12% der Partei-
summe im WK
Alle weiteren
Mandate nach
Wahlpunkten11
Wahlzahl im WK (in der
Reihenfolge der Vorzugs-
stimmen)
Umreihung durch
Vorzugsstimmen 2. Er-
mittlungsverfahren
4% der Parteisumme - 4% der gültigen
Stimmen
10% der Partei-
summe, mindes-
tens die Wahlzahl
alle weiteren
Mandate nach
Wahlpunkten12
- - Wahlzahl
alle weiteren
Mandate nach
Listenreihung
-1,25fache der Wahlzahl
alle weiteren Mandate nach
Listenreihung
Tab. 5 Wahlrecht bei Landtagswahlen
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377Wahlrecht
B K NÖ OÖ S ST T V W
Wahlberechtigte1250.181 434.121 1.386.356 1.094.074 390.091 955.795 535.112 270.521 1.133.010
Wahlbeteiligung %174,94 68,63 66,56 81,63 64,96 63,46 65,02 68,44 65,27
Mindestprozenthürde 4 5 4 4 5 - 5 5 5
Alternativ Grundmandat ja ja nein ja ja ja ja ja ja
Wahlkreise17 4 20 5 6 4 9 4 18
Verteilung Mandate auf
Wahlkreise
Staatsbürger*innen
mit Hauptwohnsitz
im Bundesland/An-
zahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
(Anzahl Mandate
+ 1)
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
Staatsbür-
ger*innen mit
Hauptwohnsitz
im Bundesland/
Anzahl Mandate
d’Hondt nach Zahl der
Staatsbürger*innen mit
Hauptwohnsitz im Bundes-
land
Mandate pro Wahlkreis 2–7 8–10 1–6 9–14 4–10 8–15 1–9 6–12 3–11
Aktives Wahlrecht 16 Jahre, öst.
Staatsbürgerschaft,
Hauptwohnsitz im
Bundesland, nicht
vom Wahlrecht aus-
geschlossen3
mit Begründung auch
ohne Hauptwohnsitz
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst.
Staatsbürger-
schaft, Haupt-
wohnsitz im Bun-
desland, nicht
vom Wahlrecht
ausgeschlossen3
16 Jahre, öst. Staatsbürger-
schaft, Hauptwohnsitz im
Bundesland, nicht vom
Wahlrecht ausgeschlossen3
Auslandsösterreicher*in-
nen wahlberechtigt?
nein nein auf Antrag, für
eine Dauer von
10 Jahren
nein nein nein auf Antrag, für
eine Dauer von
10 Jahren
auf Antrag, für
eine Dauer von
10 Jahren
nein
Passives Wahlrecht Wahlberechtigte ab 18, die nicht von der Wählbarkeit ausgeschlossen sind4
Eintreffen der Briefwahl5bis zum zweiten Tag
vor der Wahl, 14 Uhr
Wahlschluss bis 6.30 Uhr am
Wahltag
Wahlschluss Wahlschluss Wahltag bis 16
Uhr
bis zum zweiten
Tag vor der Wahl,
14 Uhr
Wahlschluss Wahltag bis 17 Uhr
Vorzugsstimmen 1 Landesliste, bis zu 3
Wahlkreisliste
Bis zu 3 1 Landesliste, 1
Wahlkreisliste
1 Landesliste, 1
Wahlkreisliste
1 1 1 Landesliste, 1
Wahlkreisliste
Bis zu 5, 2x2
kumulieren
2 Stadtwahlvorschlag, 1
Kreiswahlvorschlag
Umreihung durch
Vorzugsstimmen 1. Er-
mittlungsverfahren
Zuweisung der
Mandate nach Wahl-
punkten7
1 Mandat pro Partei
geht an die Person mit
den meisten Wahl-
punkten, die sonst
kein Mandat hat
Wahlpunkte in
Höhe von einem
Drittel der Wahl-
zahl im WK8
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
Zuweisung der
Mandate nach
Wahlpunkten9
14% der Partei-
summe im WK,
mindestens die
halbe Wahlzahl
im WK
alle weiteren
Mandate nach
Wahlpunkten10
Wahlzahl im WK
(in der Reihenfol-
ge der Vorzugs-
stimmen)
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
Wahlzahl im WK
(in der Reihenfol-
ge der Vorzugs-
stimmen)
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
30% der Wahl-
zahl im WK
alle weiteren
Mandate nach
Listenplatz
12% der Partei-
summe im WK
Alle weiteren
Mandate nach
Wahlpunkten11
Wahlzahl im WK (in der
Reihenfolge der Vorzugs-
stimmen)
Umreihung durch
Vorzugsstimmen 2. Er-
mittlungsverfahren
4% der Parteisumme - 4% der gültigen
Stimmen
10% der Partei-
summe, mindes-
tens die Wahlzahl
alle weiteren
Mandate nach
Wahlpunkten12
- - Wahlzahl
alle weiteren
Mandate nach
Listenreihung
-1,25fache der Wahlzahl
alle weiteren Mandate nach
Listenreihung
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378 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
B K NÖ OÖ S ST T V W
Wahlzahl erstes Ermitt-
lugnsverfahren
Summe aller Partei-
stimmen, die 4 Pro-
zent erreicht haben/
Mandate (aufgerun-
det)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
Mandate (auf-
gerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 0,5)
(aufgerundet)
Summe aller Par-
teistimmen, die
4 Prozent oder
Grundmandat
erreicht haben/
Mandate (ohne
Dezimalrest)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
Mandate (auf-
gerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 1)
(aufgerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 0,5)
(aufgerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 1)
(aufgerundet)
Gültige Stimmen im Wahl-
kreis/(Mandate + 0,5) (auf-
gerundet)
Wahlzahl zweites Ermitt-
lungsverfahren
d‘Hondt
Berechnung Restman-
date
Reststimmen Reststimmen alle Parteistim-
men
alle Parteistim-
men
alle Parteistim-
men
Reststimmen Reststimmen Reststimmen Reststimmen
Billigstes Grundmandat15.24967.972 10.571 13.406 5.657 10.939 6.773 3.852 5.050
Billigstes Grundmandat
%1
14,3 10,0 15,4 7,1 10,0 6,3 10,5 7,7 8,3
Teuerstes Grundmandat15.24968.562 16.811 16.132 7.818 12.127 9.390 4.329 7.360
Teuerstes Grundman-
dat %1
46,6 12,5 66,7 11,1 50,0 11,1 66,7 14,3 25,0
Unterstützungserklärun-
gen für Kandidatur
fünfmal so viele
Unterschriften wie
Mandate pro WK
(10–35, insgesamt
180)
100 Unterschrif-
ten pro WK (400
insgesamt)
50 Unterschriften
pro WK (1.000
insgesamt)
80 Unterschriften
pro WK (400
insgesamt)
100 Unterschrif-
ten pro WK (600
insgesamt)
200 Unterschrif-
ten pro WK (800
insgesamt)
1% der Wahlzahl
des vorangegan-
genen Wahl pro
WK (68–94, 764
insgesamt2)
100 Unterschrif-
ten pro WK (400
insgesamt), falls
die Partei noch
nicht im Landtag
vertreten ist
100 Unterschriften pro
Wahlkreis (1.800 insgesamt),
falls die Partei noch nicht im
Gemeinderat vertreten ist
Alternativ Unterstützung
durch Abgeordnete
1 3 3 3 3 1 1 LT-Abgeord-
nete*r ersetzt
1/3 der nötigen
Unterschriften
- -
1
V 2019, W 2020.
2 gerechnet auf das Ergebnis der Landtagswahl 2018
3 unbedingte Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren oder von mindestens einem Jahr in speziel-
len Fällen (Landesverrat, NS-Wiederbetätigung, Terrorismus usw.); nicht automatisch.
4
Jahr.
5 eine persönliche Abgabe der Wahlkarte ist jeweils bis zum Wahlschluss möglich.
6 im Burgenland gibt es eine einheitliche Wahlzahl für alle Wahlkreise.
7 Wahlpunkte: Listenpunkte + Vorzugspunkte; Listenpunkte: Listenerste*r erhält pro Parteistim-
Vorzugsstimme.
8 Wahlpunkte: 1 Punkt pro Vorzugsstimme.
9 Wahlpunkte: Grundpunkte + Vorzugspunkte; Grundpunkte: Listenerste*r erhält pro Parteistim-
der Liste diese Zahl – 1 usw.; Vorzugspunkte: 3 * Grundpunkte der*des Listenersten.
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379Wahlrecht
B K NÖ OÖ S ST T V W
Wahlzahl erstes Ermitt-
lugnsverfahren
Summe aller Partei-
stimmen, die 4 Pro-
zent erreicht haben/
Mandate (aufgerun-
det)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
Mandate (auf-
gerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 0,5)
(aufgerundet)
Summe aller Par-
teistimmen, die
4 Prozent oder
Grundmandat
erreicht haben/
Mandate (ohne
Dezimalrest)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
Mandate (auf-
gerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 1)
(aufgerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 0,5)
(aufgerundet)
Gültige Stimmen
im Wahlkreis/
(Mandate + 1)
(aufgerundet)
Gültige Stimmen im Wahl-
kreis/(Mandate + 0,5) (auf-
gerundet)
Wahlzahl zweites Ermitt-
lungsverfahren
d‘Hondt
Berechnung Restman-
date
Reststimmen Reststimmen alle Parteistim-
men
alle Parteistim-
men
alle Parteistim-
men
Reststimmen Reststimmen Reststimmen Reststimmen
Billigstes Grundmandat15.24967.972 10.571 13.406 5.657 10.939 6.773 3.852 5.050
Billigstes Grundmandat
%1
14,3 10,0 15,4 7,1 10,0 6,3 10,5 7,7 8,3
Teuerstes Grundmandat15.24968.562 16.811 16.132 7.818 12.127 9.390 4.329 7.360
Teuerstes Grundman-
dat %1
46,6 12,5 66,7 11,1 50,0 11,1 66,7 14,3 25,0
Unterstützungserklärun-
gen für Kandidatur
fünfmal so viele
Unterschriften wie
Mandate pro WK
(10–35, insgesamt
180)
100 Unterschrif-
ten pro WK (400
insgesamt)
50 Unterschriften
pro WK (1.000
insgesamt)
80 Unterschriften
pro WK (400
insgesamt)
100 Unterschrif-
ten pro WK (600
insgesamt)
200 Unterschrif-
ten pro WK (800
insgesamt)
1% der Wahlzahl
des vorangegan-
genen Wahl pro
WK (68–94, 764
insgesamt2)
100 Unterschrif-
ten pro WK (400
insgesamt), falls
die Partei noch
nicht im Landtag
vertreten ist
100 Unterschriften pro
Wahlkreis (1.800 insgesamt),
falls die Partei noch nicht im
Gemeinderat vertreten ist
Alternativ Unterstützung
durch Abgeordnete
1 3 3 3 3 1 1 LT-Abgeord-
nete*r ersetzt
1/3 der nötigen
Unterschriften
- -
10 Wahlpunkte: Listenpunkte + Vorzugspunkte; Listenpunkte: Listenerste*r erhält pro Parteistimme
diese Anzahl – 1 usw.; Vorzugspunkte: 25 pro Vorzugsstimme.
11 Wahlpunkte: Listenpunkte + Vorzugspunkte; Listenpunkte: Listenerste*r erhält pro Parteistimme
weniger usw.; Vorzugspunkte: 32 Punkte pro Vorzugsstimme.
12 Wahlpunkte: Listenpunkte + Vorzugspunkte; Listenpunkte: Listenerste*r erhält 28 Punkte pro Par-
teistimme, die/der Zweite 27 usw.; Vorzugspunkte: 25 pro Vorzugsstimme. Stand: 2022.
Quellen: Nationalratswahlordnung; Europawahlordnung; Landeswahlordnungen/Gemeindewahlord-
nung.
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https://doi.org/10.7767/9783205215950| CC BY-NC-ND 4.0
380 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Salzburg verlangen ein Prozent der Einwohnerzahl, Vorarlberg ein Prozent der Wahl-
berechtigten, die übrigen Bundesländer staffeln vorgegebene Unterschriftenzahlen nach
Gemeindegröße. Kärnten und Vorarlberg erlauben stattdessen auch die Unterschrift von
bereits amtierenden Gemeinderät*innen. Eine Sperrklausel gibt es nicht, was kleinere
Listen bei steigender Mandatszahl tendenziell begünstigt (Karlhofer/Pallaver 2013, 14).
In sechs Bundesländern gibt es eine Bürgermeister*innendirektwahl, die nach dem
Mehrheitswahlrecht abläuft. Gewählt ist, wer eine absolute Mehrheit erreicht. Sollte
diese nicht im ersten Wahlgang erzielt werden, folgt eine Stichwahl der Erst- und Zweit-
platzierten, die Fristen dafür sind unterschiedlich. Die Bürgermeister*innendirektwahl
kann dazu führen, dass die*der gewählte Kandidat*in einer Partei einer anderen partei-
politischen Mehrheit im Gemeinderat gegenübersteht.
Das aktive Wahlrecht haben bei Gemeinderatswahlen auch EU-Bürger*innen ab
16 Jahren, die auch in den Gemeinderat oder zum*zur Bürgermeister*in gewählt wer-
den können. Analog zu den Landtagswahlen ist im Burgenland nicht der Hauptwohn-
sitz Voraussetzung für die Wahlberechtigung, was in der Vergangenheit zu Diskussionen
über die nur unklar geregelte Zuerkennung des Wahlrechts geführt hat.
Jede*r Wähler*in hat bei der Gemeinderatswahl und im Falle einer Bürgermeister*in-
nendirektwahl eine Stimme, dazu kommen wieder unterschiedliche Vorzugsstimmen-
regelungen. Im Burgenland (insgesamt drei Vorzugsstimmen) und in Vorarlberg (fünf)
können je zwei Stimmen analog zur Landtagswahl bei einer Person kumuliert werden.
In Niederösterreich ist die Zahl der Vorzugsstimmen nicht limitiert. Das geht Hand in
Hand mit der Verwendung nicht amtlicher Stimmzettel: Im Bundesland können diese
Stimmzettel, die bereits eine Reihung von Personen enthalten, von Parteien verteilt
werden. Sie „stechen“ den amtlichen Stimmzettel bei der Wahl.
Die Umrechnung der Vorzugsstimmen ist ähnlich komplex wie auf Länderebene,
Grenzen für die Umreihung reichen von 15 bis 70 Prozent der Parteistimmen oder der
Wahlzahl, auch Wahlpunktesysteme gibt es. Für die Mandatsvermittlung gibt es nur
eine Runde, die der Methode nach d’Hondt folgt.
In Tirol können Listen gekoppelt werden, d.h. sie zählen für die Wahl (und die da-
rauffolgende Gemeinderatsperiode) als eine wahlwerbende Gruppe, scheinen aber auf
dem Wahlzettel als mehrere Gruppierungen auf, die auf einen klaren Parteibezug ver-
zichten. Die ÖVP Tirol verweist in ihrem Parteistatut darauf, unterschiedliche ÖVP-Lis-
ten „tunlichst zu koppeln“, die Partei machte in der Vergangenheit auch am meisten von
dieser Möglichkeit Gebrauch (Karlhofer 2013, 136–139).
10
10 § 59/4 Landesparteiorganisationsstatut der Tiroler Volkspartei, https://www.tiroler-vp.at/fi-
leadmin/userdaten/Download_PDF/Landesorganisationsstatut_der_Tiroler_Volkspartei.pdf
(23.06.2022).
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381Wahlrecht
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Die Wahlrechtsentwicklung in Österreich zeigt, dass die Interpretation von „allgemein“
und „gleich“ einem Wandel unterworfen war und ist. Männer erhielten das allgemeine
und gleiche Wahlrecht bereits 1907, während es davor an den Stand und das Vermögen
(Kurienwahlrecht) gebunden war. Frauen blieben vom Wahlrecht ausgeschlossen. Zu-
dem gab es bei der Mandatsberechnung diskriminierende Unterschiede für deutsch-
und nicht-deutschsprachige Parteien, wie viele Stimmen für einen Sitz im Parlament
erforderlich waren. Erst seit 1918 – die Monarchie zerfiel mit dem Ende des Ersten
Weltkriegs und es begann die Erste Republik – gibt es auch ein allgemeines und gleiches
Frauenwahlrecht (siehe Abb. 3).
Allerdings bestand nach wie vor eine Ungleichheit in der Stimmengewichtung.
Quelle: Nohlen (2014, 49).
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382 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Für die Zweite Republik war es nach den Ereignissen in der Zwischenkriegszeit und
im Februar 1934, als es bewaffnete Kämpfe zwischen den Parteien und gegen die den
Ständestaat anstrebende Regierung mit hunderten Toten gab, sowie nach der Zeit des
nationalsozialistischen Regimes von 1938 bis 1945 naheliegend, dass das Verhältnis-
wahlrecht bevorzugt wurde. Erst in der jüngeren Vergangenheit des 21. Jahrhunderts
gab es vermehrt Initiativen für mehrheitsfördernde Wahlrechtsformen.
1945 waren ehemalige Nationalsozialist*innen vom Wahlrecht ausgeschlossen, dies
betraf gut eine halbe Million Menschen. 1949 durften sogenannte Minderbelastete
(„nur“ einfache NSDAP-Mitglieder) wieder wählen, nach 1950 auch wieder sogenann-
te Belastete.
Das aktive und passive Wahlalter verschoben sich in der zweiten Republik beständig
nach unten (während es 1929 und in einigen Bundesländern 1932 – zur Schwächung
der Nationalsozialisten gedacht – noch erhöht worden war). 1945 durfte man bei Na-
tionalratswahlen mit 21 Jahren wählen und mit 29 Jahren gewählt werden, 1949 sank
das Alter auf 20/26, 1968 auf 19/25 und 1992 auf 18/19 Jahre. Seit 2007 liegt das
aktive Wahlalter bei 16, das passive bei 18 Jahren.11
Auf Länderebene galt schon vor 2007 punktuell ein niedrigeres Wahlalter, so etwa
im Burgenland, wo ab 2002 16-Jährige bei Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen
mitstimmen durften, aber auch in Wien. 2004 gab es analoge Regelungen in der Steier-
mark und in Salzburg, 2005 im Burgenland eine erste Landtagswahl, bei der das aktive
Wahlalter 16 Jahre betrug.
Größere Änderungen am Wahlsystem gab es 1970, 1992 und 2007. 1970 wurde die
Verhältnismäßigkeit insofern gestärkt, als der Mandatsanteil nun dem Stimmenanteil
stärker entsprach (siehe Abb. 4) und eine für kleinere Parteien gerechtere Umwand-
lung der Stimmen in Mandate angewandt wurde (Pelinka/Rosenberger 2000, 153).
Die Ermittlung der nun 183 Mandate (davor 165) erfolgte auf zwei Ebenen: Im ersten
Ermittlungsverfahren wurden die Sitze in neun Wahlkreisen (nicht mehr 25) nach dem
Hare’schen System vergeben, im zweiten in zwei Wahlkreisverbänden (nach d’Hondt).
Zugangshürde für das zweite Ermittlungsverfahren war ein Mandat im ersten Ermitt-
lungsverfahren (Grundmandat). Erstmals konnten Vorzugsstimmen vergeben werden.
1992 wurde für die Mandatsvergabe eine vorgelagerte regionale Ebene (Regional-
wahlkreise, zunächst 43, aktuell 39) eingeführt, das damals geschaffene System ist auch
heute noch im Einsatz. Dieser Schritt sollte eine weitere Stärkung der Proportionalität,
also der „gerechten“ Verteilung, des Wahlsystems erreichen. Gleichzeitig war es der Ver-
such, eine direktere Verbindung zwischen Wähler*innen und Gewählten herzustellen
(Pelinka/Rosenberger 2000, 154). Dazu dienten einerseits die nun neuen 43 Regional-
wahlkreise, in denen starke Kandidat*innen in geographisch vergleichsweise kleinen
11 Siehe demokratiezentrum.org (15.05.2022).
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383Wahlrecht
Räumen theoretisch ein Direktmandat erreichen konnten, andererseits die Möglich-
keit, durch Vorzugsstimmen die Reihenfolge der Mandatsvergabe auf den Listen zu
beeinflussen – dieser Effekt ist allerdings gering geblieben (ebd., 155; siehe oben).
Die jüngste Wahlrechtsreform 2007 brachte neben der angesprochenen Senkung des
Wahlalters eine Ausweitung der Briefwahl. Davor war fast ausschließlich die Urnen-
wahl – also die Stimmabgabe im Wahllokal – vorgesehen. Ausnahmen gab es lediglich
für körperlich bzw. gesundheitlich beeinträchtigte Personen, die von „fliegenden Wahl-
kommissionen“ besucht wurden, sowie für ständig im Ausland lebende Staatsbürger*in-
nen. Zudem wurde die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre verlängert.
Angaben in Prozent der Parteianteile an den gültigen Stimmen sowie der Parteianteile an den zu ver-
-
FPÖ umgekehrt einen Stimmenüberhang, reduzierten sich diese Unterschiede ab 1971 auf unter einen
Prozentpunkt.
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2021); eigene Berechnung.
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384 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
Insbesondere die Reformen 1970 und 2007 zeigen, dass die Gestaltung des Wahl-
rechts auch Ausdruck politischer Interessen ist und nicht losgelöst von den jeweiligen
Mehrheitsverhältnissen betrachtet werden kann. Die Reform 1970 war auch das Er-
gebnis der Stützung der Minderheitsregierung Kreisky durch die FPÖ, die dafür ein
Wahlrecht erreichte, das kleinere Parteien nicht mehr so stark benachteiligte wie zuvor.
2007 strebte insbesondere die SPÖ die Senkung des Wahlalters an, die ÖVP hingegen
die Ausweitung der Briefwahl.
Nennenswert ist die Initiative Wiens im Jahr 2002, ein Ausländerwahlrecht einzu-
führen. Auf Ebene des Gemeinderats, der in Wien identisch mit dem Landtag ist, soll-
ten Personen ohne Staatsbürgerschaft das aktive und passive Wahlrecht erhalten, wenn
diese fünf Jahre ununterbrochen ihren Hauptwohnsitz in Wien hatten. Die Bundes-
regierung beeinspruchte die Regelung, der Verfassungsgerichtshof hob das Ausländer-
wahlrecht 2004 mit Verweis auf die unbedingte Notwendigkeit einer österreichischen
Staatsbürgerschaft auf. Das bereits 1989 eingeführte Wahlrecht für Auslandsösterrei-
cher*innen unterstreicht die Dominanz der Staatsbürgerschaft gegenüber dem Wohn-
sitz als Entscheidungskriterium.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Für den Vergleich des österreichischen Wahlrechts mit anderen Staaten wird im Folgen-
den die Nationalratswahl herangezogen.
Österreich nimmt in Sachen Wahlrecht international nur hinsichtlich des Wahlalters
eine Sonderstellung ein. Ein generelles Wahlalter von 16 Jahren findet sich nur in wenigen
Staaten (z.B. Malta, Nicaragua, Argentinien oder Brasilien; ACE Electoral Knowledge
Network 2022). Das Verhältniswahlrecht ist das meistgenutzte System in Demokratien
weltweit, das gilt auch für die Berechnungsmethoden nach Hare und d’Hondt (Bormann/
Golder 2013, 364). Die Mindestprozenthürde von vier Prozent ist international gesehen
keine besonders hohe, aber auch keine besonders niedrige Grenze (Nohlen 2014, 121).
Im Detail unterscheiden sich Wahlsysteme trotz dieser groben Trends sehr stark von-
einander, wie ein beispielhafter Vergleich von Österreich, Deutschland und der Schweiz
zeigt. Zwar ist das aktive und passive Wahlrecht (bis auf das Alter) praktisch gleich,
auch eine Briefwahl ist möglich (und in der Schweiz sogar die dominante Form der
Stimmabgabe).
Die Stimmgebung ist hingegen unterschiedlich: Der Parteistimme und den Vorzugs-
stimmen in Österreich stehen zwei Stimmen in Deutschland und eine bis 35 Stimmen
in der Schweiz gegenüber. Parteien können dort mit mehreren Listen antreten und diese
verbinden, die Wähler*innen können diese Listen umordnen, zwei Stimmen auf eine
Person konzentrieren (Kumulieren) oder auch Kandidat*innen von unterschiedlichen
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385Wahlrecht
Listen unterstützen (Panaschieren). Eine Umreihung der Parteilisten ist in Deutsch-
land hingegen nicht vorgesehen, dafür können in den Wahlkreisen auch Einzelpersonen
kandidieren und theoretisch über ein Direktmandat in den Bundestag einziehen.
Tab. 6 Wahlrecht in Österreich, Deutschland und der Schweiz
Österreich Deutschland Schweiz
Kammer Nationalrat Bundestag Nationalrat Ständerat
Legislaturperiode 5 5 4 4
Wahlsystem Verhältniswahl Personalisierte Ver-
hältniswahl
Verhältniswahl2Mehrheitswahl
(außer Jura und
Neuenburg)
Sitze 183 variabel, mindestens
598
200 463
Wahlkreise 39, 9, 1 299 264264
Aktives Wahlrecht116 Jahre, Staats-
bürgerschaft, nicht
ausgeschlossen
18 Jahre, Staatsbürgerschaft, nicht ausgeschlossen
Wahlrecht Aus-
landsbürger*innen
ja
Briefwahl ja
Passives Wahlrecht118 Jahre, Staatsbürgerschaft, nicht ausgeschlossen
Sperrklausel 4% oder Grund-
mandat
5% oder Grundman-
date in drei Wahl-
kreisen4
- -
Stimmen 1, bis zu drei Vor-
zugsstimmen
2, Erststimme für
Wahlkreiskandidat*in,
Zweitstimme für Partei
so viele Stimmen,
wie Sitze im Kan-
ton zu vergeben
sind (1–35)
so viele Stimmen,
wie Sitze im Kan-
ton zu vergeben
sind (1–2)
Ermittlungsver-
fahren
Hare, d’Hondt Erststimme: relative
Mehrheit
Zweitstimme: Sainte-
Laguë/Schepers5
Hagenbach-
Bischoff6
absolute Mehrheit
im ersten, relative
Mehrheit im
zweiten Wahlgang
Umreihung der
Listen
ja nein ja ja
1
kommt dazu.
2
3 der Sitz von Appenzell Innerrhoden wird durch die Landsgemeinde schon vor der eigentlichen Wahl
gewählt.
4 deckungsgleich mit den Kantonen, jeder Kanton muss zumindest einen Sitz erhalten.
5
6 -
Stand: 2022.
Quellen: Nationalratswahlordnung; Bundeswahlleiter; Parlament Schweiz.
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386 Flooh Perlot / Peter Filzmaier
5. Herausforderungen für die Zukunft
Debatten über Wahlrechtsänderungen sind kein österreichisches Spezifikum, sondern
finden sich in allen demokratischen Systemen (siehe etwa Debatten über die Abschaf-
fung der Mehrheitswahl in den USA und Großbritannien). Wichtig zu differenzieren
ist, ob die Motivation für mögliche Änderungen in einem tatsächlichen Defizit des
Wahlsystems (etwa aufgrund geänderter Rahmenbedingungen) liegt oder nur eine ge-
wisse Unzufriedenheit mit den jeweiligen Mehrheitsverhältnissen widerspiegelt.
In Österreich gab und gibt es etwa den Befund, dass es nur/zu wenige „realistische“
Regierungsmehrheiten gibt. Nach der langjährigen Festlegung der SPÖ, mit der FPÖ
nicht koalieren zu wollen, waren 2017 und 2019 ausschließlich Zweierkoalitionen zwi-
schen ÖVP und SPÖ oder ÖVP und FPÖ möglich (Dreierkoalitionen waren 2019
aufgrund der Abgrenzung der GRÜNEN von der FPÖ ebenso ausgeschlossen wie 2017
aufgrund der Mehrheitsverhältnisse). Dies ist aber kein Effekt des Wahlsystems, son-
dern eine parteipolitische Entscheidung, die in Zukunft auch wieder geändert werden
kann.
Eine große Herausforderung ist eine wachsende Kluft zwischen der wahlberechtigten
Bevölkerung und der Wohnbevölkerung. Durch Zuwanderung, aber auch durch die
Niederlassungsfreiheit in der EU, gibt es immer mehr Menschen in Österreich, die hier
leben und von den Entscheidungen des politischen Systems betroffen sind, dieses aber
nicht mitbestimmen können. Besonders groß ist diese Kluft in Wien mit zuletzt rund
30 Prozentpunkten (siehe Abb. 5).
Das Problem wird insofern verschärft, als nicht wahlberechtigte Personen in erster
Linie für Parteien nicht „interessant“ sind, da sie bei Wahlen eben keine Stimme ab-
geben können. Solche Gruppen werden damit automatisch weiter marginalisiert, bis es
entweder ein parteipolitisches Kalkül gibt, dass eine Inklusion dieser Gruppe den eige-
nen Wahlchancen nützen könnte, oder aber einen breiteren politischen/gesellschaft-
lichen Konsens darüber, dass die Exklusion demokratiepolitisch nicht mehr tragbar ist.
Diese Situation zeigt ein grundsätzliches Spannungsverhältnis auf, nämlich jenes, wenn
eine Gruppe mit Wahlrecht darüber entscheiden muss, dieses Wahlrecht zu teilen und
damit die eigene Bedeutung zu verringern.
Weitere Reformdebatten beziehen sich grundsätzlich auf das Wahlsystem in dem
Sinn, dass ein Wechsel vom aktuellen Verhältniswahlrecht hin zu einem stärker mehr-
heitsfördernden System bis hin zu einem Mehrheitswahlrecht diskutiert wird. Ein Hin-
tergrund dieser Überlegungen ist, dass die im Verhältniswahlrecht angelegte Tendenz
zu Koalitionsregierungen zu einer Verwässerung der politischen Positionen von Partei-
en führt. Vereinfacht ausgedrückt: Keine Partei kann alle Wahlversprechen umsetzen,
wenn sie mit einer oder mehreren anderen Parteien koalieren muss (was sich auch in der
Forschung bestätigt; omson et al. 2017): Neben den damit einhergehenden Kom-
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387Wahlrecht
promissen und Verhandlungen würde damit auch ein effizientes Arbeiten der Regierung
erschwert. Demgegenüber könnte ein Mehrheitswahlrecht zu einer absoluten Mehrheit
(allenfalls zuzüglich gewisser Regeln zum Schutz kleiner Parteien) einer Partei führen,
die dann für die folgende Legislaturperiode ihr Programm umsetzen könnte. Die Ver-
antwortlichkeit wäre ebenfalls klarer geregelt, da eben nur eine (oder zumindest eine
dominierende) Partei in der Regierung wäre.
Dem lässt sich entgegenhalten, dass gerade die Notwendigkeit von Kompromissen
in einer Koalition zu einem Ausgleich gesellschaftlicher Interessen führt. Zudem führen
Mehrheitswahlsysteme nicht zwingend zu absoluten Mehrheiten, wie das Beispiel der
Unterhauswahlen in Großbritannien 2010 und 2017 gezeigt hat.
Ein weiterer Aspekt ist die Rolle der Parteien im Wahlsystem: Man kann kritisieren,
dass aufgrund des Listenwahlrechts in Österreich der Zugang zu politischen Ämtern
von den politischen Parteien kontrolliert wird. Über den Prozess der Listenerstellung
entscheiden sie, wer gute oder schlechte Chancen hat, tatsächlich in den Nationalrat
oder einen Landtag gewählt zu werden. Das Vorzugsstimmensystem in seiner jetzigen
Form stellt vergleichsweise hohe Hürden für einen Eingriff der Wähler*innen auf. Ein-
mal gewählt, verfügen die Abgeordneten zwar über das freie Mandat und sind an keine
Abb. 5 Unterschied zwischen Wohn- und Wahlbevölkerung pro Bundesland
Angaben in Prozent der Wahlbevölkerung an der Wohnbevölkerung ab 16 Jahren (= 100 %). Der Ver-
gleich ist nicht exakt möglich, da keine Daten zur Wohnbevölkerung am Wahltag und keine Daten
zur Wahlbevölkerung zu Jahresbeginn vorliegen. Verglichen werden daher die Wohnbevölkerung zu
Jahresbeginn 2020 und die Zahl der Wahlberechtigten bei der Nationalratswahl 2019. Stand: 2022.
Quellen: Statistik Austria; Bundesministerium für Inneres.
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Parteilinie o.ä. gebunden, im eigenen Interesse einer Wiederaufstellung durch eben jene
Partei besteht aber ein informeller Druck, sich nicht gegen deren Standpunkte zu posi-
tionieren. Somit sei der Weg für parteiunabhängige Personen in die Politik praktisch
kaum möglich.
Dem lässt sich entgegenhalten, dass Parteien durch diesen Auswahlprozess eine ihrer
Hauptfunktionen, nämlich die Rekrutierung politischen Personals, erfüllen. Weiters
gewährleisten sie, dass der Erwerb politischer Ämter nicht zu stark von individuellen
Ressourcen – konkret Geld und Bekanntheit – abhängt, womit eine breitere Bevölke-
rungsschicht grundsätzlich die Chance hat, gewählt zu werden.
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Übungsfragen
Welche Vor- und Nachteile haben Mehrheits- und Verhältniswahlrecht aus Ihrer
Sicht?
Was spricht für die Stärkung eines Persönlichkeitswahlrechts in Österreich, was da-
gegen?
Welche gesetzlichen und sonstigen Hürden fallen Ihnen ein, die neuen Parteien ein
Antreten bei Nationalratswahlen erschweren? Ist es sinnvoll, solche Hürden einzu-
ziehen, oder sollte man sie soweit möglich reduzieren? Warum?
Grundvoraussetzungen für demokratische Wahlen sind, dass diese allgemein, gleich,
geheim und direkt ablaufen. Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht, ob das Wahlrecht
möglichst einfach verständlich ist?
Berechnen Sie das Mandatsergebnis der Nationalratswahl 2019 selbst anhand der
Ergebnisdatei des Bundesministeriums für Inneres.
Was ändert sich an der Mandatsverteilung, wenn Sie die Mindestprozenthürde strei-
chen?
Nehmen Sie an, in den 39 Regionalwahlkreisen in Österreich würden mittels Mehr-
heitswahl je drei Mandate vergeben – wie würde das Ergebnis von 2019 aussehen?
Basis für die Mandate, die in jedem Regionalwahlkreis vergeben werden, ist derzeit
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die Volkszählung 2011. Was ändert sich an der Verteilung, wenn Sie stattdessen eine
aktuelle Zahl der Staatsbürger*innen heranziehen?
Gemeinderatswahlen haben in Österreich überwiegend keine Sperrklausel: De fac-
to gibt es aber aufgrund der Verrechnungsmethode immer eine Art Mindesthürde.
Wählen Sie ein beliebiges Gemeindeergebnis aus und berechnen Sie diese (fiktive)
Hürde. Wovon hängt deren Höhe ab?
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Wahlkampf
Zusammenfassung
9-
-
dend sein.
9Wahlkämpfe in Österreich waren zuletzt turbulent und wurden wiederholt von Skandalen
und Enthüllungen überschattet.
9Die Rahmenbedingungen für Wahlkämpfe in Österreich unterscheiden sich von amerika-
nischen Präsidentschaftswahlen in Hinblick auf das Wahlrecht und die gesetzlichen Rege-
9Der Anteil der späten Wahlentscheidung ist in Österreich im internationalen Vergleich bis-
her eher gering, wodurch die Auswirkungen von Kurzfristfaktoren abgefedert wurden.
9Die größte Herausforderung stellt die Verbesserung der Qualität des Informationsange-
bots im Wahlkampf dar. Es besteht zudem Reformbedarf in Hinblick auf die Transparenz
1. Einleitung
Wahlkämpfe sind Zeiten intensivierter politischer Kommunikation (Schoen 2005).
Die zentralen Akteur*innen der Wahlkampfkommunikation sind (1) die Parteien und
Kandidat*innen, (2) die Medien sowie (3) die Bürger*innen (Abb. 1). Die Parteien und
Kandidat*innen werben über vielfältige Kommunikationskanäle um die Stimmen der
Wahlberechtigten, die Medien berichten verstärkt über die Wahlen und die Bürger*in-
nen suchen vermehrt nach politischen Informationen. Der Startzeitpunkt des Wahl-
kampfs ist dabei nicht immer präzise auszumachen. Per Konvention wird der Zeitraum
von einem Jahr vor der Wahl als der lange Wahlkampf („long campaign“) und die Phase
der letzten zwei Monate vor der Wahl als der kurze Wahlkampf („short campaign“) be-
zeichnet (Miller et al. 1990). Manche Forscher*innen gehen sogar davon aus, dass wir
zunehmend einen Wandel hin zu einem permanenten Wahlkampf“ erleben (Blumen-
thal 1982), womit gemeint ist, dass sich die Politik zunehmend dauerhaft im Wahl-
kampf-Modus befindet. Allerdings bleibt diese ese umstritten. Denn obwohl Pub-
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lic-Relations-Methoden auch zwischen Wahlen zum Einsatz kommen, verstärken die
politischen Akteur*innen ihre werbenden Aktivitäten weiterhin vorwiegend im Zeit-
raum vor Wahlen. Wir gehen in diesem Kapitel daher davon aus, dass sich trotz eines
Trends zum ständigen taktischen Manövrieren Wahlkämpfe weiterhin von denjenigen
zwischen Wahlzeiten grundsätzlich abgrenzen lassen, und fokussieren im Folgenden auf
den Zeitraum unmittelbar vor der Wahl.
Quelle: Eigene Darstellung.
In der Vorbereitung auf Wahlen sollen Wahlkämpfe einen Beitrag zur Herstellung von
Legitimation in repräsentativen Demokratien leisten und für die Demokratie kons-
titutive Funktionen erfüllen (Dahl 1989). Insbesondere soll durch den Wettbewerb
zwischen den Parteien sowie vielfältige Informationsangebote eine breite Beteiligung
und aufgeklärte Meinungsbildung ermöglicht werden. Wahlkämpfe sollen auf die Wahl
aufmerksam machen, politisches Interesse wecken, mobilisieren und dazu beitragen,
dass sich die Bürger*innen informieren und mit dem personellen und inhaltlichen An-
gebot der Parteien auseinandersetzen.
Wahlkämpfe sind Zeiten im Vorfeld von Wahlen, in denen sich die politische Kommuni-
Inwiefern die real-existierende Wahlkampf-Praxis diesen normativ-wünschenswerten
Zielen gerecht werden kann, ist jedoch strittig. Die frühe Forschung zu Wahlkämp-
fen des Teams um den österreichisch-amerikanischen Soziologen Paul F. Lazarsfeld
Parteien und
Kandidat*innen
Bürger*innen Medien
Wahlkämpfe sind Zeiten intensivierter
politischer Kommunikation zwischen...
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393Wahlkampf
hat gezeigt, dass Wahlkämpfe vor allem politische Grundeinstellungen verstärken und
aktivieren (Berelson et al. 1954; Lazarsfeld et al. 1948). Für einen großen Teil der
Wähler*innen steht die Wahlentscheidung in der Regel bereits lange vor Beginn des
Wahlkampfs aufgrund ihrer politischen Grundeinstellungen fest. Der Wahlkampf be-
stärkt diese Wähler*innen vor allem darin, wählen zu gehen und bei ihrer präferierten
Partei zu bleiben („reinforcement“). Bei Wähler*innen, die sich erst während des Wahl-
kampfs entscheiden, aktiviert der Wahlkampf zumeist die politischen Prädispositio-
nen, wodurch sie mobilisiert werden und letztlich in der Regel bei jener Partei landen,
der sie aufgrund ihrer Grundeinstellungen am nächsten stehen. Ein Meinungswandel
(„conversion“) ist demgegenüber selten, was zuweilen so gedeutet wurde, dass Wahl-
kämpfe nur „minimale Effekte“ haben (Finkel 1993). Dieses grundsätzliche Muster
der Wahlkampfwirkungen konnte vielfach bestätigt werden. Darüber hinaus ist auch
weithin bekannt, dass sich Wahlergebnisse gut anhand von vorlaufenden Indikatoren
wie der Wirtschaftslage vorhersagen lassen (Rosenstone 1983). Daher sprechen manche
Studien dem Wahlkampf eine geradezu „erleuchtende“ Wirkung zu, demzufolge der
Wahlkampf den fundamentalen Bestimmungsgrößen des Wählens zur Geltung verhelfe
(Gelman/King 1993).
Dennoch gibt es Hinweise, dass zugleich Defizite bestehen. Wahlkämpfe gelten oft
als inhaltsleer, langweilig und oberflächlich. Politische Beobachter*innen sowie auch
die Bürger*innen nehmen sie zudem manchmal als unfair, aggressiv oder übermäßig
emotionalisiert wahr (siehe Abb. 2 sowie Box Anschauliches). Statt über Sachthemen
zu informieren, fokussiert ein großer Teil der Berichterstattung auf Personen und die
strategische Meta-Kommunikation, insbesondere Umfragen, was einerseits politi-
schen Zynismus befeuern (De Vreese/Elenbaas 2008), andererseits Signale für kurz-
fristig strategisches Wählen freisetzen kann (Meffert/Gschwend 2010). Zudem werden
Wahlkämpfe zuweilen von politischen Skandalen, Enthüllungen und Fehltritten über-
schattet, die sich schnell zum alles dominierenden Wahlkampfthema entwickeln und
kurzfristige Effekte auf das Wahlverhalten ausüben können (Johnston et al. 2004). In
jüngerer Zeit wird vor allem ein möglicher Einfluss von Desinformation und sozialen
Medien zunehmend als kritisch erachtet.
Obwohl das Potenzial für kurzfristige Wahlkampfeffekte durch die oben skizzierten
langfristigen und mittelfristigen Einflussgrößen begrenzt wird, kann das Ausmaß an
kurzfristigen Fluktuationen in der öffentlichen Meinung bei hochkompetitiven Wah-
len aufgrund der Knappheit des Wahlausgangs dennoch wahlentscheidend sein. Die
zunehmende Lockerung von traditionellen Parteibindungen und die Abschwächung
des Einflusses von soziodemographischen Merkmalen, wie zum Beispiel der sozialen
Schicht, auf politisches Verhalten hat zu einem stetigen Anstieg des Anteils an Wechsel-
wähler*innen und Spätentscheider*innen geführt (Dalton et al. 2002). Die dadurch be-
dingte Verschärfung des politischen Wettbewerbs verleiht der Phase des Wahlkampfes
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und dem Wahlkampfgeschehen ein größeres politisches Gewicht. Daher ist es wichtig,
das Informationsumfeld im Wahlkampf zunehmend sehr genau zu beobachten, um
beurteilen zu können, inwiefern es für eine aufgeklärte Meinungsbildung geeignet er-
scheint.
Die Parteien versuchen den Wahlkampf und ihre Kommunikationsstrategien mög-
lichst optimal im Sinne der Stimmenmaximierung zu gestalten. Sie nutzen eine breite
Palette an Kommunikationskanälen und setzen sowohl auf direkten Kontakt mit den
Bürger*innen wie zum Beispiel mit Hausbesuchen, Informationsständen und öffentli-
chen Reden, aber auch auf andere Formen der Wahlwerbung, wie zum Beispiel Wahl-
plakate, Wahlprogramme und Broschüren. Die eingesetzten Wahlwerbemittel haben
sich im Laufe der Zeit stark verändert und deren Vielzahl ist heute größer denn je.
Besonders die elektronischen Massenmedien sowie die zunehmende Verbreitung von
sozialen Medien haben die Wahlkampfführung verändert. Während traditionelle Wahl-
kämpfe hauptsächlich von einfachen Parteimitgliedern betrieben wurden und sich auf
die direkte Kommunikation mit den Wähler*innen vor Ort konzentrierten, hat die
Bedeutung der Massenmedien (wie zum Beispiel das Fernsehen) über die Zeit zuge-
nommen. Gleichzeitig hat sich die Wahlkampfführung immer mehr professionalisiert,
das heißt, dass die Wahlkampfkommunikation von Parteien sorgfältig geplant und von
professionellen Werbeagenturen und PR-Berater*innen betreut wird.
Weil eine gute beziehungsweise schlechte Wahlkampfführung heute in zunehmen-
dem Maß über den Ausgang von Wahlen entscheiden kann, hat das (politik-)wissen-
schaftliche Interesse an bestimmten Strategien der Parteienkommunikation in den
letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Insbesondere drei Strategien sind in diesem
Zusammenhang zu erwähnen:
1. Selektive emenbetonung: Hier wird der Wettbewerb über die unterschiedlich
starke Hervorhebung von emen geführt (Budge/Farlie 1983). Dabei ist es von
besonderer Bedeutung, welcher Partei von der Bevölkerung bei einem bestimmten
ema die größte Kompetenz zugeschrieben wird (hier spricht man auch von e-
menführerschaft oder Issue Ownership, Petrocik 1996). Für Parteien und Kandi-
dat*innen ist es vorteilhaft, diese emen besonders häufig anzusprechen und dafür
zu sorgen, dass ihre emen möglichst prominent in der öffentlichen Diskussion
vertreten sind. In Österreich gelten beispielsweise die GRÜNEN als besonders kom-
petent beim ema Umweltschutz, die FPÖ wiederum für Zuwanderung. Der ÖVP
wird im Bereich Wirtschaftspolitik eine hohe Kompetenz zugeschrieben, während
die SPÖ auf dem Gebiet Arbeit und Beschäftigung als besonders fähig betrachtet
wird (Aichholzer et al. 2020). Andererseits kommt jedoch keine Partei an emen
vorbei, die für eine große Anzahl an Wähler*innen von Bedeutung sind und in der
Öffentlichkeit und den Medien stark diskutiert werden, was den Spielraum zur se-
lektiven emenbetonung begrenzt.
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395Wahlkampf
2. Negative Campaigning: Ein weiterer wichtiger Aspekt des Parteienwettbewerbs ist
das sogenannte Negative Campaigning. Hier geht es darum, inwiefern die Parteien
und Kandidat*innen ihre politischen Konkurrent*innen im Wahlkampf angreifen
und versuchen, sie in ein schlechtes Licht zu rücken. Unter Negative Campaigning
werden also Kritik am und Angriffe auf den politischen Gegner verstanden, im Ge-
gensatz zum Positive Campaigning, das der eigenen positiven Selbstdarstellung dient
(Walter 2014, 43). Negative Campaigning ist ein durchaus umstrittenes Stilmittel
der Kampagnenführung, dennoch greifen österreichische Parteien seit den 1980er-
Jahren verstärkt darauf zurück. Presseaussendungen, Zeitungsinserate, Wahlplaka-
te, aber auch Fernsehdebatten sind beliebte Kanäle für Angriffe auf den politischen
Gegner (Dolezal et al. 2014b). Dabei geht es darum, die Kompetenz und die Glaub-
würdigkeit der Mitbewerber*innen in Frage zu stellen und deren Versäumnisse und
Fehlleistungen in den Vordergrund zu stellen. Auch Affären und Skandale, die sich
beispielsweise mit Korruption und Geldzuwendungen oder auch der Vergangenheit
von Politiker*innen beschäftigen, spielen in Wahlkämpfen häufig eine wichtige Rol-
le. Durch ihre hohe Emotionalität und ihren Neuigkeitswert sind sie besonders ge-
eignet, um eigene Parteianhänger*innen und Wähler*innen gegen andere Parteien
zu mobilisieren. Allerdings kann die Verwendung von negativen Kommunikations-
strategien unter Umständen auch eine Reihe von negativen Folgewirkungen haben,
wie zum Beispiel ein sinkendes Vertrauen in politische Eliten, eine zunehmende
Politikverdrossenheit sowie eine Demobilisierung von Wähler*innen (Ansolabehere/
Iyengar 1995).
3. Personalisierung: Die Spitzenkandidat*innen verkörpern im Wahlkampf die Pro-
gramme, Ziele und Schwerpunkte ihrer Parteien und werden so oft selbst zum
Gegenstand der Wahlentscheidung. Vor allem für Wechselwähler*innen, aber auch
für Parteianhänger*innen ist ein*e populäre*r Spitzenkandidat*in ein wichtiges Kri-
terium und maßgeblich für den Wahlerfolg einer Partei. Damit zusammen hängt
auch das Phänomen der zunehmenden Personalisierung des Wahlkampfes durch
Parteien, Medien und Wähler*innen, welche die Rolle und das Image der Spitzen-
kandidat*innen zu einem wichtigen Faktor im Wahlkampf macht. Das Ausmaß der
Personalisierung lässt sich dabei an verschiedenen Aspekten festmachen (Dolezal et
al. 2014a): zum einen an der Kommunikation von Parteien, wenn diese ihre Spitzen-
kandidat*innen in den Mittelpunkt der Wahlkampagne stellen. Deren Präsentation
soll so erfolgen, dass wichtige positive Eigenschaften in den Vordergrund gerückt
werden, wie Problemlösungskompetenz, Managementfähigkeiten sowie Integrität.
Außerdem spricht man von einer Personalisierung der Wahlberichterstattung, wenn
die Medien sich vor allem auf die Spitzenkandidat*innen und ihre Persönlichkeit
fokussieren und weniger über die politischen Parteien und deren inhaltliche Stand-
punkte berichten. Darüber hinaus kann Personalisierung auch die Wahrnehmung
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und Evaluierung der Kandidierenden durch die Wähler*innen sowie deren Wahlver-
halten beeinflussen, wenn diese sich zunehmend am personellen Angebot der Partei-
en orientieren, anstatt an deren inhaltlichen Programmen.
Da alle Parteien gleichermaßen versuchen, ihre Kommunikationsstrategien optimal zu
gestalten, heben sich im allgemeinen Effekte der Wahlkampfkommunikation oft gegen-
seitig auf (Zaller 1996). Zudem können sie aufgrund ihrer Kurzlebigkeit oft sehr schwer
messbar sein (Hill et al. 2013). Dies bedeutet aber nicht, dass eine Partei einseitig auf
die Wahlkampfkommunikation verzichten könnte. Am sichtbarsten werden die Wir-
kungen der Parteienkommunikation nämlich dann, wenn es einer Seite nicht gelingt
zu optimieren und eine asymmetrische Kommunikationssituation entsteht (Vavreck
2009). In der Praxis ergibt sich daraus ein kostspieliges Wettrüsten, das sich in der hei-
ßen Schlussphase des Wahlkampfs intensiviert und nur teilweise durch die Regelungen
zur Wahlkampffinanzierung und Wahlwerbung eingedämmt werden kann.
Hinzu können kurzfristige Effekte der Medienberichterstattung treten. Die For-
schung zu Agenda-Setting, Priming und Framing hat gezeigt, dass die (notwendiger-
weise) selektive Betonung von Akteur*innen, emen oder Argumenten in der Bericht-
erstattung die Wichtigkeit und kognitive Zugänglichkeit von Einstellungen kurzzeitig
beeinflussen kann (McCombs 2014; Lecheler/De Vreese 2019). Daher ist die Ausgewo-
genheit der Medienberichterstattung in Hinblick auf die Menge der Berichterstattung
(„coverage bias“), die Auswahl der emen („agenda bias“) und die Tonalität der Be-
richterstattung („statement/tonality bias“) über die Parteien hinweg besonders wichtig,
da sich sonst verzerrende Einflüsse auf die öffentliche Meinung ergeben können (Eberl
et al. 2017).
In der Gesamtschau ergibt sich ein gemischtes Bild. Real-existierende Wahlkämpfe
können die ihnen aus demokratietheoretisch-normativer Sicht zugeschriebenen Funk-
tionen wohl nicht in Gänze erfüllen. Wahlkämpfe haben vorrangig eine mobilisierende
und aktivierende Wirkung. Sie können latente gesellschaftliche Konfliktlinien aktivie-
ren und den Einfluss langfristiger Loyalitäten verstärken, wodurch das Potenzial für
manipulative Kampagnenwirkungen begrenzt wird. Allerdings bestehen Zweifel daran,
inwiefern das Informationsumfeld im Wahlkampf für eine informierte und aufgeklär-
te Meinungsbildung förderlich ist. Denn hier dominieren selektive emenbetonung,
Schmutzkübelkampagnen, Skandale, Enthüllungen, Personalisierung, Umfragewerte,
Fake News und soziale Medien. Die Kommunikationssituation im Wahlkampf scheint
damit insgesamt weit entfernt von der Habermas’schen idealen Sprechsituation, die für
einen rationalen Diskurs im Sinne deliberativer Demokratietheorien erforderlich wäre
(Habermas 1981). In hoch kompetitiven Wahlen können sich in dieser volatilen In-
formationsumgebung leicht kurzfristige Stimmungslagen herausbilden, die dann zum
„Zünglein an der Waage“ werden können.
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397Wahlkampf
2. Gegenwärtige Situation
Schaut man zurück auf die Wahlkämpfe zur Nationalratswahl 2017 und 2019, be-
stätigen sich einige der genannten Bedenken gegenüber der Qualität des Informations-
umfelds in Wahlkämpfen. Abbildung 2 zeigt die Wahrnehmungen der Wahlkämpfe in
diesen beiden Wahljahren durch Wahlberechtigten anhand von Daten der Österreichi-
schen Wahlstudie (AUTNES, siehe dazu auch Box Forschungsprojekt). Auffällig ist,
dass beide Wahlkämpfe als wenig fair und ziemlich aggressiv wahrgenommen wurden.
So gaben beispielsweise im Wahlkampf von 2017 76 Prozent der Befragten an, der
Wahlkampf sei sehr oder ziemlich aggressiv gewesen; im Wahlkampf 2019 waren dies
rund 65 Prozent. Nur 18 Prozent (2017) bzw. 26 Prozent (2019) empfanden den Wahl-
kampf als ziemlich oder sehr fair.
Abb. 2 Wahrnehmung der Nationalratswahlen 2017 und 2019
Fragestellung: Wie fanden Sie im Großen und Ganzen den Wahlkampf? War der Wahlkampf …?
Angesichts der Ereignisse in diesen Wahlkämpfen erscheinen diese Wahrnehmungen
wenig verwunderlich. Denn beide Wahlkämpfe wurden durch Skandale und Enthül-
lungen überschattet (Hofer/Tóth 2019 & 2017). So stand beispielsweise der Wahlkampf
zur Nationalratswahl 2017 im Schatten der Enthüllungen rund um den SPÖ-Politbe-
rater Tal Silberstein, der aufgrund des Verdachts der Geldwäsche festgenommen und
zudem beschuldigt wurde, über die Social-Media-Plattform Facebook eine verdeckte Ne-
gativkampagne gegen den ÖVP-Kanzlerkandidaten Sebastian Kurz betrieben zu haben,
woraufhin sich die SPÖ von Silberstein distanzierte (Bodlos/Plescia 2018; Berk et al.
2021). Auch zwei Jahre später stand der Nationalratswahlkampf wieder im Schatten
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eines Skandals, nachdem die ÖVP-FPÖ-Regierungskoalition zunächst über die Enthül-
lungen rund um das Ibiza-Video zerbrochen war und in der letzten Woche vor der Wahl
der Spesenskandal um den zurückgetretenen Vize-Kanzler und ehemaligen FPÖ-Partei-
obmann Heinz Christian Strache für weiteres Aufsehen sorgte (Eberl et al. 2020).
Forschungsprojekt. Austrian National Election Study (AUTNES)
Die österreichische nationale Wahlstudie (AUTNES – Austrian National Election Study)
befasst sich mit der umfassenden sozialwissenschaftlichen Analyse der österreichi-
schen Nationalratswahlen. AUTNES untersucht sowohl die „Angebotsseite“ (Parteien
-
erstattung im Wahlkampf. Die im Rahmen des Projekts erhobenen Daten sind über das
Austrian Social Science Data Archive (AUSSDA) verfügbar.
Auch jenseits des medialen Skandalgeschehens wiesen die Parteikampagnen Merkmale
auf, die zumindest Fragen aufwerfen, inwiefern die rezenten österreichischen Wahl-
kämpfe einer aufgeklärten Meinungsbildung zuträglich waren. Zu beobachten war
beispielsweise eine überaus starke Personalisierung in der Kommunikationsstrategie
der ÖVP, die im Vorfeld der Nationalratswahl 2017 ein Rebranding vollzog und als
„Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“ antrat (Eberl et. al 2017). Zudem wur-
de thematisch vor allem das hochgradig polarisierte und emotionalisierte Migrations-
thema selektiv betont (Bodlos/Plescia 2018). Gleich mehrere Parteien überschritten
die Wahlkampfkosten-Obergrenze von 7 Millionen Euro (ÖVP: ca. 13 Mio., FPÖ:
ca. 10,7 Mio., SPÖ: 7,3 Mio.) und mussten in weiterer Folge Strafzahlungen leisten
(Der Standard 2018). Auch im Nationalratswahlkampf 2019 war die Kommunikati-
onsstrategie der ÖVP wieder stark kandidatenzentriert ausgerichtet. Darüber hinaus
ließen sich bei dieser Wahl auch erstmals Auffälligkeiten bei der Facebook-Werbung
beobachten, da die Plattform diese Angaben erstmals bereitstellte. So gab beispiels-
weise die FPÖ in der letzten Woche vor der Wahl 95.000 Euro und somit mehr als alle
anderen Parteien zusammengenommen für Facebook-Werbung aus (Eberl et al. 2020).
Doch wie veränderten sich die Wählerpräferenzen während dieser Wahlkämpfe?
Abbildung 3 zeigt die Wähler*innen-Ströme in den letzten Monaten vor den Natio-
nalratswahlen. Für das Wahljahr 2017 stammt der erste Messzeitpunkt aus dem Juni
(pre), beim zweiten Zeitpunkt handelt es sich um die Nachwahlbefragung aus dem
Oktober (pos). Für das Wahljahr 2019 stammt die erste Messung aus dem Mai (pre),
unmittelbar nach der Europawahl 2019, und beim zweiten Messpunkt handelt es sich
um die Daten aus der Nachwahlbefragung, die in Anschluss an die Nationalratswahl
2019 Ende September standfand (pos). Es zeigt sich im Einklang mit den auf Basis der
Literatur zu erwartenden Mustern, dass für viele Wähler*innen die Wahlentscheidung
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399Wahlkampf
schon bereits mehrere Monate vor der Wahl feststand und der Wahlkampf für sie ver-
mutlich vorwiegend eine bestärkende Rolle spielte. Zudem sieht man, insbesondere
Abb. 3 Veränderungen der Wahlpräferenzen während der Wahlkämpfe zu den Nationalrats-
wahlen 2017 und 2019
2017 bzw. 29. September 2019 voraussichtlich Ihre Stimme geben?
Fragestellung (post-election): Und welche Partei haben Sie bei der Nationalratswahl 2017 bzw. 2019
gewählt?
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400
für den 2017er-Wahlkampf eine ausgeprägte Mobilisierung und Kristallisation von
Wählerpräferenzen: Unentschlossene und mögliche Nichtwähler*innen konnten ins-
besondere durch die drei größeren Parteien – ÖVP, SPÖ und FPÖ – erreicht werden.
Für die ÖVP erhöhte sich der Stimmenanteil (prozentuiert auf alle Wahlberechtigten)
dabei insgesamt von rund 25 Prozent in der Vorwahlbefragung auf ca. 27,5 Prozent in
der Nachwahlbefragung, für die FPÖ von rund 20 Prozent auf fast 23 Prozent und für
die SPÖ von rund 17 Prozent auf etwa 23 Prozent.
Darüber hinaus ist ein komplexes Wirrwarr von Wechselströmen zu erkennen. Auch
wenn diese Ströme quantitativ zunächst weniger stark hervorstechen und manche Be-
wegungen sich gegenseitig aufheben, so lassen sich doch einige dieser Pfade in Verbin-
dung mit Wahlkampfereignissen bringen, die die Kampagnen und die Wahlergebnisse
durchaus entscheidend prägten. Ein Beispiel ist die Abwanderung von den GRÜNEN
2017 zur SPÖ, aber auch zu den „anderen“ Parteien, wobei es sich bei Letzterem vor-
rangig um eine Folge der Gründung einer grünen Splitterpartei LISTE PILZ handelte.
Die Folge dieser Dynamik war, dass den GRÜNEN 2017 nicht der Einzug in den Nati-
onalrat gelang, da die Partei knapp die Vierprozenthürde verfehlte. Ein weiteres Beispiel
ist die Abwanderung von FPÖ-Wähler*innen im skandalbehafteten 2019er-Wahlkampf
in das Lager der Nichtwähler*innen, was in einem deutlichen Stimmenverlust Nieder-
schlag fand. Insgesamt illustrieren diese Beispiele, dass Meinungsänderungen zwar eher
selten auftreten, aber selbst diese moderaten Veränderungen einen erheblichen Einfluss
auf den Wahlausgang nehmen können (siehe dazu auch Box Anschlauliches).
Anschauliches. Wahlkampf-Praxis in Österreich
Fragen an den Experten und Politikberater Dr. Thomas Hofer
der Wähler*innen? Welche Rolle spielen langfristige Parteibindungen?
Messbar ist der Einuss nicht. Einzelne Kanäle wie die in Österreich beliebten Plakate sind
überschätzt. Aber natürlich macht es einen Unterschied, wie professionell eine Partei an
Wahlkämpfe herangeht. Es geht um Platzierung und Inszenierung von Themen und Per-
sonen sowie um die Frage, wer eher in die Oensive kommt. Weil die Bedeutung traditio-
neller Parteibindungen schwindet und der „Wählermarkt“ volatiler wird, ist der Faktor
Kampagnenfähigkeit zentral. Das haben die jüngsten Nationalratswahlen gezeigt.
Was ist wichtiger: Inhalte oder Spitzenkandidat*innen? Kommt es zu einer zunehmen-
den Personalisierung der Wahlkämpfe?
Auch in Österreich kommt zu einer Personalisierung. Inhalte sind zuletzt in den Hinter-
grund getreten oder waren Beiwerk zur persönlichen Imageauadung. Damit einher
geht auch eine Fokussierung auf Negative und Dirty Campaigning. Eine völlige Absenz
von Inhalt fällt aber irgendwann auf. Die deutlich sichtbare Überinszenierung einzelner
Persönlichkeiten erönet zudem die Möglichkeit, wieder gegenläuge, scheinbar „fade-
re“ Politiker*innen zu forcieren. Ohne Chancen ist inhaltliche Fokussierung also nicht.
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401Wahlkampf
Gibt es in Österreich eine Entwicklung hin zum „permanenten Wahlkampf“ (Stichwort:
Auch hier kommt es zu einer Annäherung an professionalisierte Kampagnenmärkte wie
jenen der USA. Es ist so, dass Positionierungskämpfe permanent auch während der Le-
gislaturperiode ausgefochten werden, Parteien ständig im Kampagnenmodus sind. Nach
Message Control innerhalb des eigenen Apparats strebt jede Partei. Problematisch wird es,
wenn jemand versucht, dieses Prinzip auf unabhängige Dritte, etwa Medien, auszudehnen.
Wiens Ex-Bürgermeister Michael Häupl hatte mit dem Diktum der „fokussierten Unintelli-
genz“ in Wahlkämpfen nicht unrecht. Jede Partei versucht, ihren „Spin“ durchzubringen
und es ist wesentlich, welche Strategien entwickelt werden und wer die dann umsetzt.
Dann gibt es aber auch noch die Medien als vierte Macht, die diesen Spin dekuvrieren.
Außerdem: Man sollte sich von der Mär verabschieden, Wahlkämpfe wären je vorwiegend
informativ gewesen. Das Problem ist eher die überbordende Emotionalisierung in der poli-
tischen Kommunikation.
-
bilisierung?
Zuerst ist der Begri „soziale Medien“ schon ein „Spin“: Medien sind nie per se „sozial“ oder
„unsozial“, es kommt drauf an, was man daraus macht. Aber klarerweise erönet die Mög-
lichkeit der direkten, vom professionell-journalistischen Filter abgekoppelten Konversation
mit abgegrenzten Zielgruppen neue Möglichkeiten für Wahlkämpfer*innen. Das geht noch
dazu kostengünstiger als früher. Und auch Negativkommunikation bleibt leichter unentdeckt.
Auswirkungen ergeben sich für die Unterstützung von Parteien und des demokrati-
schen System insgesamt?
Der Fokus auf das Negative hat potenziell schädliche Auswirkungen auf das Demokratie-
zutrauen. Das gilt nicht nur für Aären. Generell ist es so, dass fast unabhängig vom The-
ma die Angst zur dominierenden Emotion in der politischen Kommunikation zu werden
droht. Eine Hinwendung zu einer diskursorientierten Form der politischen Debatte ist so
nur schwer möglich.
Welche Herausforderungen sehen Sie für zukünftige Wahlkämpfe? Bräuchte es zusätz-
liche Regulierungen und Vorschriften, z.B. mit Blick auf die Parteien- und Wahlkampf-
In Österreich ist eine strengere und transparentere Form der Parteiennanzierung über-
fällig. Allerdings sieht man in anderen Kampagnenwelten, dass sich das Geld trotz Regeln
seinen Weg bahnt (siehe US-Super-PACs). Das größte Problem in absehbarer Zukunft wird
wohl das immer schwierigere Entlarven von „Fake News“. Zu erwarten ist eine Profes-
sionalisierung bei der Manipulation von Bewegtbild. Das kann gerade in von kritischen
Medien abgekoppelten Kanälen verheerende Wirkung haben.
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402
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Das Wahlrecht und die Regeln zur Wahlkampffinanzierung stellen wichtige Rahmen-
bedingungen für die Wahlkampfführung dar. So führt etwa das Mehrheitswahlrecht bei
den amerikanischen Präsidentschaftswahlen zu einer Teilung des Landes in hochgradig
umkämpfte „swing states“ und die wenig kompetitiven „safe states“. Die Wahlwerbung
konzentriert sich dabei stark auf die Bundesstaaten, in denen ein knapper Wahlausgang
erwartet wird, während andere Landesteile, wo eindeutigere Mehrheitsverhältnisse be-
stehen, nur wenig vom Wahlkampf mitbekommen (Shaw 2006). Zudem sind die ame-
rikanischen Präsidentschaftswahlkämpfe aufgrund des Wahlsystems, das eine direkte
Personenwahl vorsieht, stark personalisiert. Die gesetzlichen Regelungen zur Kampag-
nenfinanzierung, die die finanziellen Zuwendungen zu Parteien begrenzen sollen, werden
dabei durch „unabhängige“ Organisationen (sog. Super-PACs), die Geld für die Kan-
didat*innen sammeln und ihre Wahlkämpfe unterstützen, zum Teil umgangen. Hohe
finanzielle Ressourcen kommen zum Einsatz und die Wahlkämpfe werden sehr intensiv
geführt.
Die Rahmenbedingungen für Wahlkämpfe in Österreich unterscheiden sich von
diesem Modell. Österreich hat ein proportionales Wahlrecht, wodurch eine Regiona-
lisierung des Wahlkampfgeschehens, wie in den Vereinigten Staaten, kaum eine Rolle
spielt. Jede Stimme zählt gleich viel, unabhängig davon, in welchem Bundesland sie
gewonnen wird. Vorrangig werden Parteilisten gewählt, auf denen die Reihenfolge der
Kandidierenden von den Parteien festgelegt wird (siehe dazu Perlot/Filzmaier in diesem
Band). Zusätzlich wurde jedoch mit der Wahlrechtsreform von 1992 eine Möglichkeit
zur Personalisierung geschaffen: Es wurde ein Vorzugsstimmensystem eingeführt, mit
der Einführung von Vorzugsstimmen auf Bundesebene sowie der Absenkung der Man-
datshürden in den Regional- und Landeswahlkreisen (Aichholzer et al. 2014). Mithilfe
eines Vorzugsstimmenwahlkampfs können Kandidat*innen auf aussichtslosen Listen-
plätzen den Sprung in das Parlament schaffen. In der Praxis sind die Hürden allerdings
zu groß, als dass die Wähler*innen tatsächlich einen Einfluss auf die Parteilisten haben
und eine Vorreihung herbeiführen könnten. So gelang es bisher nur zwei Kandida-
ten bei EU-Parlamentswahlen, auf einem aussichtslosen Listenplatz aufgrund der An-
zahl der Vorzugsstimmen vorgereiht zu werden (Josef Cap von der SPÖ und Andreas
Mölzer von der FPÖ). Außerdem betreiben viele Spitzenkandidat*innen und andere
Kandidat*innen auf sicheren Listenplätzen ebenfalls Vorzugsstimmenwahlkämpfe, um
die eigene Person stärker in den Vordergrund zu rücken und sich innerparteilich zu
profilieren. Trotz des Vorzugsstimmensystems bleibt daher der Listenplatz das wich-
tigste Kriterium für die Erringung eines Mandats. Es kann also festgestellt werden,
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403Wahlkampf
dass die Kandidat*innen in Österreich stark von ihrer Partei abhängig und daher im
Wahlkampf auch kaum als eigenständige Akteur*innen zu betrachten sind (Eder et al.
2015).
Zu den wichtigsten Einnahmequellen für die Wahlkampffinanzierung der österrei-
chischen Parteien zählt die direkte und indirekte staatliche Parteienfinanzierung. Denn
neben der direkten Parteienfinanzierung übernimmt der österreichische Staat auch ei-
nen Großteil der Kosten, die mit der Abhaltung von Wahlen verbunden sind (Sickinger
2013, 209). Im Nationalrat vertretene Parteien erhalten eine jährliche staatliche Förde-
rung bestehend aus einem Grundbetrag (für Parlamentsklubs) und einem Steigerungs-
betrag (je nach Stimmenanteil). Daneben erhalten auch Parteien, die den Einzug in den
Nationalrat verpasst, aber mehr als ein Prozent der Stimmen erreicht haben, in Wahl-
jahren eine eigenständige Förderung (Sickinger 2013, 140). Weitere Möglichkeiten für
Parteien, um die Wahlkampfkosten zu decken, sind beispielsweise Mitgliedsbeiträge
sowie gezielte Sammelaktionen, um Kleinspenden von Mitgliedern zu lukrieren. Hinzu
kommen Kostenbeteiligungen von Kandidat*innen auf aussichtsreichen Listenplätzen,
welche häufig etwa ein Monatsgehalt ihrer zukünftigen Bezüge betragen (Sickinger
2013, 244). Zusätzlich werden von den Parteien häufig Kredite aufgenommen, wenn
beispielsweise das nötige Wahlkampfbudget nicht mit Spendenaktionen oder Rück-
lagen aus Nicht-Wahljahren gedeckt werden kann oder die Kosten höher ausfallen als
ursprünglich erwartet (Sickinger 2013, 110).
Mehrere Gründe sprechen für die Begrenzung der Wahlwerbungskosten: Feste
Obergrenzen für Wahlkampfausgaben sind eine wichtige und notwendige Maßnahme,
um ein exzessives finanzielles Wettrüsten der Parteien zu unterbinden (Sickinger 2013,
237). Außerdem wird dadurch der Wettbewerbsvorteil von finanzstarken Parteien zu-
mindest ein Stück weit reduziert und auch kleineren Parteien mit eingeschränkten fi-
nanziellen Ressourcen ermöglicht, bei Wahlen anzutreten und an Wahlkämpfen zu par-
tizipieren. Jedoch sind die Anreize zur Umgehung solcher Regelungen zur Begrenzung
der Wahlkampfkosten aufgrund der hochkompetitiven Wettbewerbssituation enorm,
weshalb eine Gefahr zur Verschleierung von Zuwendungen besteht.
Hinsichtlich der Transparenz von Parteien- und Wahlkampffinanzierung stellt
die Einwerbung von Parteispenden eines der größten Probleme dar. Insbesondere in
Wahlkampfzeiten zeigen sich Unternehmen und wohlhabende Individuen mitunter
äußerst großzügig. Darunter fallen neben direkten Zahlungen auch indirekte Zuwen-
dungen, wie zum Beispiel Inserate in Parteipublikationen, Kostenübernahmen oder
auch Sachspenden (Sickinger 2013, 83). Die Bestimmungen im Parteiengesetz 2012
(PartG 2012) sehen vor, dass Spenden, Sponsorings und Inserate ab einer bestimm-
ten Höhe unverzüglich offengelegt werden müssen. Die Annahme von Spenden von
Parlamentsklubs oder Landtagsklubs, Parteiakademien sowie (teil-)staatlicher Unter-
nehmen und öffentlich-rechtlicher Körperschaften ist verboten. Im PartG 2012 wur-
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404
de außerdem erstmals eine Obergrenze für Wahlkampfkosten in Österreich gesetzlich
verankert, die für alle wahlwerbenden Parteien rechtsverbindlich gilt. Konkret wurde
festgelegt, dass Parteien im Zeitraum zwischen dem Stichtag (welcher 82 Tage vor dem
Wahltermin liegen muss) und dem Wahltag nicht mehr als 7 Millionen Euro für Wahl-
werbeausgaben aufwenden dürfen (Sickinger 2013, 235). Dazu zählen unter anderem
Ausgaben für Plakate, Inserate und Werbeeinschaltungen, Werbe-, PR- und Kommu-
nikationsagenturen sowie Online-Werbung. Ausgenommen hiervon sind jedoch Aus-
gaben einzelner Kandidat*innen für auf die eigene Person zugeschnittene Wahlwer-
bung bis zu einer Summe von 15.000 Euro (Sickinger 2013, 235). Überschreitungen
dieser Obergrenzen werden mit Geldbußen sanktioniert. Im Zuge des Ibiza-Skandals
offenbarte sich allerdings ein rechtliches „Schlupfloch“, wie diese Regelungen umgan-
gen werden können: So können scheinbar unabhängige Vereine von Parteien als Um-
gehungskonstruktion genutzt werden, um Zuwendungen von Spender*innen verdeckt
anzunehmen. Es besteht Klärungsbedarf, wie zukünftig mit parteinahen Vereinen um-
gegangen werden sollte.
3.2 Phasen der politischen Kommunikation im Wahlkampf
Die historische Entwicklung von Wahlkämpfen wird allgemein in drei Phasen der
politischen Kommunikation unterteilt (Blumler/Kavanagh 1999). Demnach wird die
Phase bis 1960 als vormoderner Wahlkampf bezeichnet, der in Österreich von einem
parteiendominierten Kommunikationssystem geprägt war (Plasser/Ulram 2004). Wäh-
rend dieser Phase waren Wahlkämpfe und politische Kommunikation hauptsächlich
auf Parteiorganisationen und die Parteipresse fokussiert. Auch der persönliche Kontakt
mit den Wähler*innen auf Wahlveranstaltungen und Kundgebungen spielte im Wahl-
kampf eine zentrale Rolle. Aufgrund starker Parteibindungen der Wähler*innen war
das Wahlverhalten relativ stabil. Parteien konzentrierten sich deshalb im Wahlkampf
vorrangig darauf, die eigenen Wähler*innen zu mobilisieren.
Die Phase des modernen Wahlkampfs ab Mitte der 1960er-Jahre ist durch die stei-
gende Professionalisierung der Wahlkampforganisation charakterisiert, verbunden mit
einer zunehmenden Bedeutung von externen Beratern und Meinungsumfragen (Norris
2000). Die Verbreitung des Fernsehens als dominantes Medium führte auch zum Trend
der Personalisierung, weil dadurch die Spitzenkandidat*innen in den Vordergrund der
Kampagne gerückt wurden. Parteizeitungen wurden durch unabhängige Tageszeitun-
gen (wie die Neue Kronen Zeitung und Der Standard) ersetzt und dies führte dazu, dass
Parteien stärker gezwungen sind sich einer kommerziellen Medienlogik zu unterwerfen.
Durch die Aufweichung von traditionellen Konfliktlinien und damit verbundenen Par-
teibindungen wurde das Wahlverhalten volatiler.
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405Wahlkampf
Ab den 1990er-Jahren wird von einer postmodernen Phase des Wahlkampfs ge-
sprochen. Diese ist von einer multimedialen Angebotsvielfalt an Informationskanälen
und Programmen gekennzeichnet (Plasser/Ulram 2004). Dazu zählt zum einen die
Verbreitung des Kabel- und Satellitenfernsehens verbunden mit sinkenden Marktan-
teilen des ORF, aber auch die steigende Zahl an Internetnutzer*innen in Österreich.
Während dieser Phase kam es zur steigenden Fragmentierung der politischen Kommu-
nikation, die eine zielgruppenorientierte Kommunikation von politischen Botschaften
ermöglicht (Norris 2000). Parteien greifen für die Planung ihrer Kampagnen in noch
stärkerem Maße auf Umfragen, Fokusgruppen und PR-Berater*innen zurück. Auf Sei-
te der Wähler*innen nimmt die Zahl der Parteimitglieder und Personen mit starker
Parteiidentifikation weiter ab, während der Anteil an Wechselwähler*innen zunimmt.
Entsprechend rücken kurzfristige Entscheidungsfaktoren wie die Einstellungen der
Wähler*innen gegenüber emen und Kandidat*innen stärker in den Vordergrund.
Zusätzlich zu den oben beschriebenen drei Phasen der Wahlkampfkommunikation
wird in der neueren Literatur ein „fourth age of political communication“ identifiziert
(Blumler 2013; Magin et al. 2017). Durch die extreme Zunahme an Programmkanälen
sowie On-Demand Plattformen und Streamingdiensten ist es zunehmend schwerer für
Parteien, die Wähler*innen zu erreichen. Deswegen werden auch in Österreich in zu-
nehmendem Maße Social-Media-Plattformen (wie Facebook oder Instagram) genutzt,
die es den Parteien ermöglichen, die Wähler*innen direkt anzusprechen. Mithilfe so-
zialer Medien können Parteien außerdem ihre Inhalte und Botschaften gezielt an be-
stimmte Zielgruppen verbreiten, zum Beispiel basierend auf dem Geschlecht, Alter oder
Wohnort der Wähler*innen.
4. Einordnung des österreichischen Falls
4.1 Fluidität von Wählermärkten im Vergleich
Im Vergleich mit anderen entwickelten Demokratien folgt Österreich allgemein den in-
ternationalen Langfristtrends hin zu einer zunehmenden Entkoppelung von Wähler*in-
nen und Parteien, einer zunehmenden Fragmentierung des Parteiensystems und einer
zunehmend professionalisierten Wahlkampfführung. International ist beispielsweise zu
beobachten, dass der Trend zu späten Wahlentscheidungen, die erst im Wahlkampf ge-
troffen werden, zugenommen hat (Dalton et. al. 2002), und ein beträchtlicher Anteil
von Wähler*innen sich erst in den letzten Wochen und Tagen vor der Wahl entscheiden.
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406
Tab. 1 Anteil der Spätentscheider*innen in ausgewählten entwickelten Demokratien
Land Wahltermin % Spätentscheider*innen Wahlstudie (Datenquelle)
Österreich 29.09.2019 31,7 AUTNES (Aichholzer et al. 2020)
Großbritannien 06.05.2010 37,3 BES (Whiteley/Sanders 2014)
Australien 18.05.2019 46,5 AES (McAllister et al. 2019)
Deutschland 26.09.2021 50,6 GLES (Roßteutscher et al. 2021)
Kanada 19.10.2015 58,8 CES (Fournier et al. 2015)
Schweiz 20.10.2019 62,2 SELECTS (Bernhard et al. 2020)
Niederlande 17.03.2021 62,6 DEPS (Jacobs et al. 2022)
Es wurde zur Berechnung die jeweils letzte verfügbare Studie verwendet, die die relevante Frage nach
dem Zeitpunkt der Wahlentscheidung enthielt. Die Antwortkategorien variieren etwas über die Länder
Tabelle 1 zeigt den Anteil der „späten Wahlentscheidungen“ für Österreich im Vergleich
zu anderen Ländern. Demnach ist die Entwicklung hin zur späten Wahlentscheidung
in Österreich bislang noch nicht ganz so weit vorangeschritten wie in den anderen Län-
dern: 31,7 Prozent der Befragten gaben für die Nationalratswahl 2019 an, sich erst in
den letzten Wochen vor der Wahl festgelegt zu haben. Das ist bereits ein beträchtlicher
Anteil, jedoch liegen in den Vergleichsländern die Anteile noch höher, teilweise sogar
fast doppelt so hoch, wie zum Beispiel in der Schweiz und den Niederlanden. In diesen
Ländern entschieden sich bei den letzten Wahlen fast zwei Drittel der Wähler*innen
erst in der Wahlkampfphase. Österreich weist also insgesamt noch eine hohe Stabilität
in den Wahlpräferenzen auf. Es ist aber angesichts der übergreifenden langfristigen Ent-
wicklungen zu erwarten, dass auch in Österreich die Fluidität des Wählermarkts und
somit die Wichtigkeit der Wahlkampfkommunikation noch weiter zunehmen werden.
Um im Wahlkampf möglichst viele Wähler*innen mit unterschiedlichen Interessen und
Meinungen zu überzeugen und zu mobilisieren, bedarf es verschiedener Kommunikati-
onsinstrumente. Einerseits wenden sich die Parteien dabei direkt an die Wähler*innen,
etwa mit Wahlplakaten, Inseraten in Printmedien, Flugblättern oder Wahlkampfauf-
tritten von (Spitzen-)Kandidat*innen. Andererseits erreichen die Parteien die Wahl-
berechtigten aber auch indirekt, beispielsweise über Presseaussendungen, deren Inhalte
dann von den Medien aufgegriffen und verbreitet werden. Entsprechend unterscheidet
man in der Wahlkampfkommunikation von politischen Akteur*innen zwischen Paid
Media (bezahlte Formen der politischen Kommunikation) und Free Media (kostenlose
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407Wahlkampf
Kommunikationsformen) (Schoen 2005). Ein Vorteil von bezahlter Werbung ist, dass
sie vollständige Kontrolle über die Inhalte erlaubt. Kostenlose Formen der politischen
Kommunikation, wie die Berichterstattung in den Medien, erlauben den politischen
Akteur*innen dagegen nur einen geringeren Einfluss auf die vermittelten Inhalte.
Eine ganz zentrale Rolle für die Parteienkommunikation im Wahlkampf spielen die
Wahlprogramme: Die Planung der Wahlkampfstrategie beginnt bei den Parteien meist
mit der Festlegung der Kernthemen der Kampagne, das heißt jenen emen, auf die
sie sich während des Wahlkampfes fokussieren möchten. Auf dieser Basis an emen
wird dann das Wahlprogramm entwickelt (Dolezal et al. 2012). An diesem Prozess sind
verschiedene Akteur*innen innerhalb der Parteien beteiligt, wie zum Beispiel der Parla-
mentsklub, die Minister*innenbüros und der Parteivorstand, die wesentlich zur Entste-
hung des Wahlprogramms beitragen. Nach der Finalisierung wird das Wahlprogramm
dann meist von der Parteispitze verabschiedet und gewöhnlich vier bis acht Wochen vor
der Wahl der Öffentlichkeit vorgestellt (Dolezal et al. 2012). Dieses enthält Vorschläge
und thematische Schwerpunkte für die nächste Gesetzgebungsperiode.
Die Wahlprogramme bilden eine wesentliche Grundlage für die inhaltliche Ausrich-
tung des Wahlkampfs. Obwohl sie selbst nur von wenigen Wähler*innen gelesen wer-
den, erfüllen sie für Parteien dennoch wichtige Funktionen: Wahlprogramme dienen der
innerparteilichen Befriedung von Konflikten und die durch sie erzeugte parteiinterne
Einigung ist eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf. Außerdem
dienen sie als Ausgangspunkt für Kampagnenmaterialien sowie als Grundlage für die
Kandidat*innen für Diskussionen mit ihrer potenziellen Wählerschaft (Eder et al. 2017).
Darüber hinaus richten sie sich an die Medien und werden dort oft ausführlich diskutiert
(Dolezal et al. 2012). Auch nach der Wahl dienen Wahlprogramme als Basis für Koali-
tionsverhandlungen beziehungsweise parlamentarisches Handeln in der Opposition.
In Österreich ist im Vergleich zu anderen Staaten außerdem die Wahlwerbung mit
Plakaten nach wie vor sehr verbreitet (Bodlos/Plescia 2018). Bis zu 40 Prozent des
Wahlkampfbudgets werden von den Parteien dafür aufgewendet, dafür ist die Reich-
weite von Wahlplakaten auch entsprechend hoch (Hayek 2012). Auch wenn sie die
Wahlentscheidung der Bürger*innen kaum beeinflussen, sprechen dennoch verschiede-
ne Gründe für die Verwendung von Plakaten: Erstens werden Wahlplakate von vielen
Menschen wahrgenommen und können so zur Informationsvermittlung über emen-
schwerpunkte und Kandidat*innen betragen. Zweitens signalisieren Wahlplakate durch
ihre massive Präsenz im öffentlichen Raum, dass sich der Wahlkampf in der „heißen“
Phase befindet. Dadurch können sie auch politisch weniger interessierte Menschen zur
Wahlteilnahme mobilisieren. Drittens ziehen Wahlplakate meist die Aufmerksamkeit
der Medien auf sich und werden in der Berichterstattung aufgegriffen.
TV-Werbung spielt hingegen in österreichischen Wahlkämpfen nur eine untergeord-
nete Rolle, da die Ausstrahlung von parteipolitischen Werbespots im öffentlich-recht-
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408
lichen Rundfunk gesetzlich verboten ist. Fernsehwerbung der politischen Parteien blieb
damit lange Zeit auf die österreichischen Privatsender sowie auf die Werbefenster der
ausländischen Fernsehsender beschränkt (Lederer 2010). Im internationalen Vergleich
sind diese Zugangsbeschränkungen als sehr restriktiv einzustufen, da viele andere Län-
der den Parteien kostenlose Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zur Verfü-
gung stellen oder zumindest bezahlte Werbung ermöglichen (Holtz-Bacha/Kaid 2006).
Die Relevanz von Video-Formaten zu Wahlkampfzwecken hat sich erst in den letzten
Jahren mit zunehmendem „Online Campaigning“ und Möglichkeiten der direkten An-
sprache von Wähler*innen auf eigenen Internet-Plattformen und Social-Media-Kanä-
len geändert und für die österreichischen Parteien an Attraktivität gewonnen.
Fernsehdebatten und TV-Konfrontationen bilden aber einen wichtigen Teil des
Wahlkampfs und erregen große Aufmerksamkeit, sowohl bei Wähler*innen als auch
Journalist*innen (Plasser/Lengauer 2010). Das Format bietet Politiker*innen die Mög-
lichkeit, emen und Inhalte mit der eigenen Person zu assoziieren und dient dazu,
die eigene Anhänger*innenschaft zu mobilisieren und gegebenenfalls unentschlossene
Wähler*innen anzusprechen. Diese Diskussionen, zu denen üblicherweise alle Spit-
zenkandidat*innen der im Parlament vertretenen Parteien entweder gleichzeitig oder
paarweise im Duell-Format eingeladen werden, werden nach wie vor durch den öffent-
lich-rechtlichen ORF dominiert. Darüber hinaus veranstalten aber auch private Fern-
sehsender ähnliche Debatten und Diskussionsformate (Eberl et al. 2020). Insbesondere
durch die österreichische Besonderheit, alle im Mehrparteienkontext logisch möglichen
paarweisen Debatten abzuhalten, ergibt sich dabei, dass während des Wahlkampfs fast
kein Tag ohne TV-Diskussion bis zur Wahl vergeht.
Spätestens ab dem Wahlkampf für die Nationalratswahl 2013 hat die Bedeutung des
Internets für die österreichischen wahlwerbenden Parteien aber auch ihre Aktivitäten
im Web und auf sozialen Medien stark zugenommen (Dolezal/Zeglovits 2014). Für die
Parteien sind soziale Netzwerke besonders wichtig, um sich im Wahlkampf direkt an
die Öffentlichkeit zu wenden und vor allem jüngere Zielgruppen anzusprechen und zu
informieren. Facebook, Twitter, Youtube, Instagram und WhatsApp gehören hier zu den
wichtigsten Plattformen für die Parteien. Ein Vorteil der Nutzung von Onlinemedien
im Wahlkampf liegt darin, dass politische Akteur*innen ihre Botschaften und Infor-
mationen ohne die Filterwirkung traditioneller Massenmedien an die Wähler*innen
verbreiten können.
5. Herausforderungen für die Zukunft
In Hinblick auf die elektorale Integrität (Norris 2013) verorten sowohl die Wahlberech-
tigten als auch politische Beobachter*innen die größten Probleme von Wahlen in Ös-
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409Wahlkampf
terreich im Bereich des Informationsumfelds für die Meinungsbildung (Partheymüller
et al. 2022). Insbesondere die Medienberichterstattung, mögliche Verzerrungen durch
soziale Medien und der Einfluss aus dem Ausland werden als problematisch erachtet.
Dies deckt sich auch mit wissenschaftlichen Analysen, die die Qualität des Informa-
tionsangebots in Wahlkämpfen untersucht haben. Ein problematischer Trend ist bei-
spielsweise, dass sich der Wahlkampf und auch die Berichterstattung in den Medien
häufig auf den politischen Wettbewerb an sich beziehen und nur ein immer kleinerer
Teil sich tatsächlich mit politischen Inhalten beschäftigt. Durch eine stärkere Orientie-
rung an der Medienlogik im Kampf um Aufmerksamkeit rückt die Inszenierung des
politischen Wettstreits in den Vordergrund, während die Diskussion von inhaltlichen
Standpunkten und sachpolitischen Fragen vernachlässigt wird (Lengauer et al. 2004).
Obwohl politische Auseinandersetzung und politische Inhalte keinen Widerspruch an
sich darstellen, wird diese Entwicklung dann problematisch, wenn Parteitaktik und die
mediale Berichterstattung nur noch dem „Game Schema“ der Politikdarstellung folgen
und kein Platz mehr bleibt für die Bearbeitung inhaltlicher Probleme. Das wiederum
kann schwerwiegende Folgen für politische Repräsentation, Legitimation und Vertrau-
en in das politische System haben.
Eine weitere kritische Entwicklung ist die Möglichkeit, personalisierte Werbung in
sozialen Netzwerken nur an eine genau definierte, themenspezifische Zielgruppe aus-
zuspielen. Mithilfe von „Microtargeting“ ist es also möglich, bestimmte politische Bot-
schaften nur bestimmten Gruppen an Wähler*innen anzeigen zu lassen. Diese Methode
lässt sich nicht nur zur Mobilisierung potenzieller Wähler*innen einsetzen, sondern
auch zur Demobilisierung vermeintlicher Unterstützer*innen von anderen Parteien.
Problematisch ist, dass sich diese Form der politischen Werbung der Kontrolle der Öf-
fentlichkeit und der Medien weitgehend entzieht, da nur sehr schwer nachvollzieh-
bar ist, wer welche Werbeanzeige aufgrund bestimmter Merkmale (wie zum Beispiel
Wohnort, Geschlecht, Alter oder Einkommen) zu sehen bekommt. Diese zunehmende
Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit in eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten
ist eine große Herausforderung für die Qualität und Standards von massenmedialer
Politikvermittlung. Im Hinblick auf die Informationsfunktion von Wahlkämpfen ist in
diesem Zusammenhang außerdem die zunehmende Verbreitung von Desinformation
und Falschmeldungen (Fake News) in sozialen Medien eine besorgniserregende Ent-
wicklung.
Weitere Herausforderung bestehen zudem in der Regulierung der Wahlkampf- und
Parteienfinanzierung (vgl. Box Anschauliches). Zwar wurden Probleme in diesem Zu-
sammenhang durch Skandale bekannt und durch gerichtliche Prozesse post-hoc unter-
sucht. Damit aber faire Wettbewerbsbedingungen für den Wahlkampf bestehen, wäre es
erforderlich sicherzustellen dass, klare Spielregeln definiert werden und für Transparenz
bereits im Vorfeld von Wahlen gesorgt wird. Insbesondere wäre auch dafür zu sorgen,
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410
dass bekannt gewordene Probleme in Zusammenhang mit Umgehungskonstruktionen
systematisch aufgedeckt und geregelt werden. Hier braucht es eine kritische Öffentlich-
keit, die entsprechende Reformen einfordert.
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413Wahlkampf
Tipps
Die Daten vieler nationaler Wahlstudien sind für die wissenschaftliche Nutzung, auch
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(DANS)
Canadian Election Study (CES) 1965 Canadian Opinion Research Archive
(CORA)
Danish National Election Study (DNES) 1971 Centre for Survey and Survey/Register Data
(CSSR)
Estonian National Election Study
(ENES)
2003 Estonian National Election Study (ENES)
Finnish National Election Study (FNES) 2003 Finnish Social Science Data Archive (FSD)
French Election Study (FES) 1958 French Data Archives For Social Sciences
(CDSP)
German Longitudinal Election Study
(GLES)
1949 GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissen-
schaften
British Election Study (BES) 1963 UK Data Service
Hellenic National Election Studies
(ELNES)
2009 Inter-university Consortium for Political and
Social Research (ICPSR)
Hungarian Election Study 1996 TÁRKI Social Research Institute (TARKI)
Icelandic National Election Study
(ICENES)
1983 Social Science Research Institute (SSRI)
Irish National Election Study (INES) 2002 Irish Social Science Data Archive (ISSDA)
Israel National Election Studies (INES) 1969 Israel National Election Studies (INES)
Italian National Election Study (ITA-
NES)
1968 Italian National Election Study (ITANES)
Japanese Election Study (JES) 1983 Social Science Japan Data Archive (SSJDA)
Lithuanian National Election Study
(LNES)
2012 Lietuvos HSM duomenų archyvas (LiDA)
Dutch Parliamentary Election Studies
(DPES)
1971 Data Archiving and Networked Services
(DANS)
New Zealand Election Study (NZES) 1990 New Zealand Election Study (NZES)
Norwegian National Election Studies
(NNES)
1957 Norwegian Centre for Research Data (NSD)
Polish National Election Study (PGSW) 1997 GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissen-
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414
Portuguese Election Study (CEP) 2002 Production and Archive of Social Science
Data (PASSDA)
Spanish Election Studies (CIS) 1977 Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS)
Swedish National Election Studies
(SNES)
1960 Swedish National Data Archive (SND)
Swiss Election Study (Selects) 1971 FORS – Swiss Centre of Expertise in the
Social Sciences
American National Election Study
(ANES)
1948 American National Election Study (ANES)
Übungsfragen
Wie lässt sich der Begriff Wahlkampf definieren? Erläutern Sie den Begriff unter
Bezugnahme auf das Dreieck der Wahlkampfkommunikation.
Zu welchen konstitutiven Funktionen von Demokratie können Wahlkämpfe aus de-
mokratietheoretischer Sicht einen Beitrag leisten?
Welche Kommunikationsstrategien nutzen politische Parteien im Wahlkampf, um
die Stimmen der Wähler*innen zu gewinnen? Nennen Sie drei Beispiele.
In welche Phasen lässt sich die historischen Entwicklung von Wahlkämpfen in Ös-
terreich einteilen?
Welche Funktionen haben Wahlprogramme für politische Parteien?
Was ist der Unterschied zwischen Positive Campaigning und Negative Campaig-
ning?
Wie beeinflusst das Wahlsystem in Österreich den Wahlkampf von Kandidat*innen?
Was ist mit dem Konzept der emenführerschaft oder Issue Ownership gemeint?
Nennen Sie jeweils drei Beispiele für Free Media und Paid Media im Wahlkampf.
Wie finanzieren Parteien ihre Wahlkämpfe?
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Wähler*innen und Wahlverhalten
Zusammenfassung
9Die Wahlbeteiligung bei Nationalratswahlen ist seit 1945 gesunken und liegt bei den letz-
ten Nationalratswahlen zwischen 75 und 80 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung.
9
wählen, das heißt sie fühlen sich ihr nahe.
9Sozio-demographische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Klasse, Bildung und Wohnort hän-
gen systematisch mit der Wahlentscheidung zusammen, die Erklärkraft dieser Faktoren
ist aber nicht sehr stark.
9Das Wahlverhalten der österreichischen Wähler*innen ist volatiler geworden.
9Kurzfristige Faktoren wie Themensalienz, Kompetenz und Kandidat*innenbeliebtheit
kennzeichnen verstärkt das Wahlverhalten.
9
-
deutung in der Wahlentscheidung dazugewonnen.
1. Einleitung
Die Wahlforschung ist ein zentrales Forschungsgebiet in der (vergleichenden) Poli-
tikwissenschaft, wobei besonders zwei Aktionen in der Analyse von Bedeutung sind:
(a) Wahlbeteiligung und (b) Wahlentscheidung.1 Wir nehmen zunächst Bezug auf das
Phänomen der Wahlbeteiligung. Seit einigen Jahrzehnten ist eine sinkende Wahlbeteili-
1 Der Fokus dieses Kapitels liegt auf dem Wahlverhalten in Österreich aus aktueller und ver-
gangener Perspektive, den Erklärungsfaktoren für individuelle Wahlentscheidungen sowie
den Auswirkungen von Wahlverhalten. Dafür werden insbesondere die Nationalratswahlen
beleuchtet, da diese allgemein als die wichtigste Wahl in parlamentarischen Demokratien
wie Österreich angesehen werden. Daneben gibt es auch noch weitere Wahlen, die von Be-
deutung sind, wie beispielsweise die Bundespräsidentschaftswahl und die Wahlen zum Euro-
päischen Parlament als weitere Wahlen auf nationaler Ebene, oder Wahlen auf Landes- und
Bezirksebene oder im Bereich der Sozialpartner. Diese Wahlen werden jedoch nicht besonders
in diesem Kapitel berücksichtigt.
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416
gung in westlichen liberalen Demokratien zu beobachten. Dieser Rückgang ist teilweise
auf veränderte Rahmenbedingungen zurückzuführen, wie beispielsweise die Abschaf-
fung der Wahlpflicht, ist aber auch der zunehmenden geographischen und sozialen Mo-
bilität geschuldet (Franklin 2004). Wähler*innen weisen dadurch schwächere politische
Bindungen auf, was zu einer größeren Wahrscheinlichkeit der Wahlenthaltung führt.
Das Wahlverhalten beinhaltet zwei Entscheidungen von Bürger*innen: Nehmen sie an
der Wahl teil (Wahlbeteiligung)? Und, wenn ja, welcher wahlwerbenden Partei geben
sie ihre Stimme (Wahlentscheidung)? Wähler*innen sind dabei alle Stimmberechtigten,
nicht nur die, die tatsächlich wählen gehen, da auch die Nichtwahl eine bewusste, poli-
tische Entscheidung von Wähler*innen sein kann.
Im Zusammenhang mit Wahlbeteiligung gilt es, das in der Literatur zentrale „Civic-
Voluntarism-Model“ von Verba et al. (1995) anzuführen, welches besagt, dass die
Wahlteilnahme mit den Ressourcen des*der einzelnen Bürgers*Bürgerin in Verbindung
steht. Bürger*innen müssen Ressourcen wie Zeit in die Informationsbeschaffung und
Entscheidungsfindung investieren. Des Weiteren bedarf es verschiedenster staatsbür-
gerlicher Fähigkeiten, wie politisches Wissen, sowie politischer Motivation und Enga-
gement, wie politisches Interesse, um sich an Wahlen zu beteiligen. Diese Ressourcen
sind jedoch ungleich über die Bürger*innen verteilt, was zu unterschiedlicher Wahl-
beteiligung führen kann.
Rationale Modelle des Wahlverhaltens zeigen dabei interessanterweise, dass wäh-
len gehen an sich schwer durch Kosten-Nutzen-Rechnungen gerechtfertigt werden
kann: Die Kosten der Wahlbeteiligung (Zeit, Informationssuche) übersteigen immer
die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Stimme wahlentscheidend sein wird (Downs
1957). Als Antwort darauf wird die Wahlbeteiligung daher eher als ein sozialer Akt gese-
hen als eine Bürger*innenpflicht („civic duty“), die man als Teil einer Gruppe ausführt,
für die man bereit ist, Ressourcen zu investieren, ohne einen unmittelbaren Nutzen
dadurch zu erzielen (Riker/Ordeshook 1968).
Für Österreich ist in Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung auch noch das Wäh-
len mit 16 von Bedeutung. Österreich ist neben Malta derzeit das einzige Land der EU-
Mitgliedsstaaten, welches eine Wahlbeteiligung ab 16 Jahren für alle Wahlen ermög-
licht. Angesichts der vielerorts sinkenden Wahlbeteiligung wurde die ese entwickelt,
dass durch eine Wahlaltersenkung auf 16 Jahre die Wahlbeteiligungsraten langfristig
wieder steigen könnten, da Bürger*innen dadurch bereits in sehr jungen Jahren ein
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417Wähler*innen und Wahlverhalten
habituelles Teilnahmeverhalten an Wahlen entwickeln werden (Plutzer 2002).2 Die Er-
gebnisse der ersten Nationalratswahl 2008, bei denen 16- und 17-jährige Wähler*innen
erstmals wählen konnten, zeigen, dass diese Gruppe von Erstwähler*innen eine höhe-
re Wahlbeteiligung aufweist als ältere Erstwähler*innen (18- bis 20-Jährige) (Zeglovits
2011).
Zur Erklärung von Wahlentscheidungen haben sich drei wesentliche Erklärungs-
modelle in der politikwissenschaftlichen Literatur etabliert: das soziologische Modell,
das sozialpsychologische Modell und das Modell des rationalen Wählens (Gallagher et
al. 2011; Kritzinger et al. 2013). Diese drei Modelle haben sich chronologisch entwi-
ckelt und bauen jeweils aufeinander auf beziehungsweise erweitern das vorhergehende
Modell.
Beim soziologischen Modell – auch bekannt unter dem Namen Modell der Colum-
bia School – wird das Wähler*innenverhalten primär durch die Zugehörigkeit zu be-
stimmten sozialen Gruppen erklärt. Soziale Charakteristika bestimmen die politischen
Präferenzen und somit die Parteiwahl bei Wahlentscheidungen (Lazarsfeld 1949). Zu
diesen sozialen Charakteristika zählen unter anderem Herkunft, soziale Klasse, Reli-
giosität, aber auch demographische Merkmale wie Geschlecht oder Alter werden in
diesem Modell oft als Faktoren hinzugenommen, um das Wahlverhalten der Bürger*in-
nen zu erklären. Aus dem soziologischen Modell ergeben sich auch Aussagen über die
Konfliktlinien (sogenannte „Cleavages“) in einer Gesellschaft. Konfliktlinien sind dabei
Ausdruck eines „dauerhaften Konflikts, der in der Sozialstruktur verankert ist und im
Parteiensystem seinen Ausdruck gefunden hat“ (Pappi 1977, 493). Vier traditionel-
le Konfliktlinien werden dabei festgemacht (Lipset/Rokkan 1967): die Konfliktlinie
(a) zwischen Kirche und Staat (Religion), (b) zwischen Zentrum und Peripherie (dies
bedeutet zwischen dominanter und untergeordneter Kultur), (c) zwischen Stadt und
Land (Urbanisierung) und (d) zwischen sozialen Klassen (Bildung und Beruf). Die
Zugehörigkeit zu einer Gruppe innerhalb dieser Konfliktlinien determiniert in weiterer
Folge das Wahlverhalten (siehe weiter unten).
Beim sozialpsychologischen Modell – auch bekannt als Modell der Michigan School –
ist die individuelle Parteiidentifikation der zentrale Faktor, welcher das Verhalten der
Wähler*innen beeinflusst. Die Parteiidentifikation umfasst die affektive Bindung an
eine Partei und wird auch als eine Form sozialer Identität betrachtet. Die Parteiidentifi-
kation funktioniert dabei auch als Filter, der die Wahrnehmung der politischen Realität
beeinflusst, was sich dann auch auf die Bewertung anderer politischer Faktoren aus-
wirkt. So kann die Parteiidentifikation beispielsweise beeinflussen, wie politische Kan-
didat*innen bewertet werden oder welche emenausrichtung als richtig oder wichtig
angesehen wird. Andere Gruppenidentitäten (wie zum Beispiel Religionszugehörigkeit)
2 siehe auch Wagner et al. (2012); Aichholzer/Kritzinger (2020).
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418
und Mitgliedschaft in politischen Organisationen (wie zum Beispiel Gewerkschaften)
können ähnliche Effekte auf Wähler*innen haben wie Parteiidentifikation, da auch sie
wie soziale Identitäten wirken können.
Beim Modell des rationalen Wählens – auch bekannt als Modell der Rochester
School – wird davon ausgegangen, dass kurzfristig wirkende Faktoren für die Wahl-
entscheidung entscheidend sind. Die Grundprämisse dieses Modells ist, dass sich Wäh-
ler*innen für jene Parteien beziehungsweise jene Kandidat*innen entscheiden, von
dessen*deren Politik sie sich den größten Nutzen versprechen. Basierend auf der Wett-
bewerbstheorie bieten die verschiedenen Parteien eine spezifische emenagenda und
unterschiedliche Parteipositionen zu verschiedensten emen an. Die Positionen der
Parteien bilden dann die Grundlage für die Bewertungen und die Entscheidung der
Wähler*innen für eine bestimmte Partei. Jene Partei, die für den*die einzelne*n Wäh-
ler*in den größten Nutzen verspricht, hat laut diesem Modell die größte Wahrschein-
lichkeit von diesem*dieser auch gewählt zu werden. Das Modell des rationalen Wählens
wurde im Rahmen von Downs (1957) ökonomischer eorie der Politik entwickelt.
Das Ineinandergreifen dieser drei Erklärungsmodelle wird in der Literatur auch als
Trichter der Kausalität („Funnel of Causality“) beschrieben. Die langfristig angelegten,
stabilen sozialstrukturellen Faktoren (soziologisches Modell) bedingen Parteiidentifi-
kationen (sozialpsychologisches Modell). Diese beiden Faktoren bilden die Basis des
Trichters, welche in weiterer Folge die (kurzfristigen) emenpräferenzen und Parteien-
beziehungsweise Kandidat*innenbewertungen beeinflussen, die dann unmittelbar auf
die Wahlentscheidungen einwirken.
2. Gegenwärtige Situation
Zur allgemeinen Betrachtung der gegenwärtigen Situation ziehen wir die Nationalrats-
wahlen der letzten zehn Jahre in Österreich heran.
2.1 Wahlbeteiligung
Die Wahlbeteiligung ist in Österreich nach wie vor auf einem relativ hohen Niveau:
2013 nahmen 74,9 Prozent, 2017 80 Prozent und 2019 75,6 Prozent der Bevölke-
rung an den Nationalratswahlen teil. Die Wahlbeteiligung ist auch nach wie vor im
Vergleich zu anderen europäischen Demokratien im oberen Bereich anzusiedeln (siehe
auch Abb. 5 in Abschnitt 4.).
Dieses Bild ist bei Landtags-, Bundespräsidentschafts- und EP-Wahlen etwas diffe-
renzierter. Während bei Landtagswahlen die Wahlbeteiligung grundsätzlich hoch ist
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419Wähler*innen und Wahlverhalten
(Schwankungen je nach Bundesland bei der letzten Wahl zwischen 76,4 % in Ober-
österreich 2021 und 60 % in Tirol 2018), ist die Beteiligung bei EP-Wahlen eher ge-
ring: Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 gaben in Österreich lediglich
45,4 Prozent der Wahlberechtigten eine Stimme ab, wobei die Wahlbeteiligung 2019 auf
knapp 60 Prozent stieg. Bei Bundespräsidentschaftswahlen hängt die Wahlbeteiligung
stark davon ab, wie kompetitiv die Wahl ist. Während bei der Wahl zum Bundespräsi-
denten 2010, wo der Amtsinhaber Heinz Fischer erneut als unabhängiger Kandidat an-
trat und neben der SPÖ auch von den GRÜNEN unterstützt wurde, 53,5 Prozent der
Wahlberechtigten eine Stimme abgaben, war die Beteiligung 2016 im ersten Wahlgang
im April mit 68,5 Prozent und im Dezember im zweiten Wahlgang mit 74,2 Prozent
durchaus ähnlich hoch wie bei Nationalratswahlen. Einerseits war im ersten Wahlgang
ein starker Wettbewerb zwischen den Kandidat*innen vorhanden, stellten doch beinahe
alle im Nationalrat vertretenen Parteien eine*n Kandidaten*Kandidatin auf; anderer-
seits kam es im zweiten Wahlgang zu einem polarisierenden Zweierwahlkampf zwischen
einem Kandidaten, der den GRÜNEN zuzuordnen war (Alexander Van der Bellen),
und einem Kandidaten der FPÖ (Norbert Hofer).
Wenn wir uns den Ergebnissen der Nationalratswahlen zuwenden, nehmen drei Par-
teien für österreichische Wähler*innen eine herausragende Rolle ein: die ÖVP, die SPÖ
und die FPÖ. Alle drei Parteien haben einen relativ stabilen Sockel an Unterstützung
und können, wie zum Beispiel die FPÖ 2019, auch bei schwierigen Rahmenbedingun-
gen eine wichtige Partei im österreichischen Parteiensystem bleiben. Neben diesen drei
Hauptkonkurrenten nehmen noch die GRÜNEN (seit den 1980er-Jahren) und die
NEOS (seit den 2010er-Jahren) eine wichtige Rolle im österreichischen Parteienspek-
trum ein. Obwohl die Unterstützung der GRÜNEN und NEOS zahlenmäßig etwas
kleiner ist, ist diese dennoch meistens stabil. Aktuell ist das Wahlverhalten bei National-
ratswahlen durchaus von einer gewissen Stabilität gekennzeichnet, was sich auch in der
allgemeinen Struktur des Parteiensystems widerspiegelt.
Gleichzeitig gibt es jedoch einiges an Volatilität. So scheiterten bei der Nationalrats-
wahl 2017 beispielsweise die GRÜNEN an der Vier-Prozent-Hürde an Stimmenantei-
len, die für den Einzug in den Nationalrat übersprungen werden muss – schafften es
aber zwei Jahre später bei der Wahl 2019 mit einem Stimmenanteil von knapp 14 Pro-
zent wieder in den Nationalrat. Einer der Gründe für das Scheitern der GRÜNEN
2017 war der Erfolg der LISTE PILZ, die von einem ehemaligen Mandatar der GRÜ
NEN angeführt wurde. Auch das ist ein Merkmal rezenter Wahlen: Neben den etab-
lierten Parteien können regelmäßig neue Parteien wie zum Beispiel das BZÖ, NEOS,
TEAM STRONACH oder eben die LISTE PILZ aus dem Stand Wahlerfolge feiern.
Aus diesen Reihen haben es bisher jedoch nur die NEOS geschafft, sich dauerhaft bei
den Wähler*innen zu etablieren. Außerdem gilt es die gelegentlich großen Veränderun-
gen in den Wahlanteilen einzelner Parteien zu erwähnen, die zur Volatilität beitragen.
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420
So verlor die FPÖ beispielsweise zwischen 2017 und 2019 fast zehn Prozent Wähler*in-
nenanteile, während die GRÜNEN über zehn Prozent gewannen.
2.2 Wahlentscheidung
Welche Faktoren hängen mit der Parteiwahl zusammen? Um dies zu veranschauli-
chen, ziehen wir Daten der Austrian National Election Study (AUTNES; siehe dazu
Box Forschungsprojekt) für die Nationalratswahl 2017 heran (Aichholzer et al. 2018)
und betrachten den Zusammenhang zwischen Parteiwahl und soziologischen, sozial-
psychologischen und rationalen Motivationen. Als soziologische Faktoren nehmen wir
Alter, Geschlecht, Religion, Bildung, Beruf und Urbanisierungsgrad, da in Österreich
die Konfliktlinien soziale Klasse, Religion und Stadt–Land von Bedeutung sind (Krit-
zinger et al. 2013). Als sozialpsychologisches Merkmal benutzen wir nur die Gewerk-
schaftsmitgliedschaft; wir nehmen bewusst die Parteiidentifikation in diesen Modellen
nicht auf, da diese sehr stark mit der Wahlentscheidung korreliert und andere Muster
überdeckt. Als rationales Motiv nehmen wir die politische Ideologie (gemessen als die
Position der*des Befragten auf einer Links-Rechts-Dimension). Diese Faktoren werden
gemeinsam in linearen Regressionsmodellen analysiert, wobei die Entscheidung für jede
Partei separat modelliert wird.3
Diese Ergebnisse der Modelle werden in Tabelle 1 dargestellt. Die einzelnen Koeffi-
zienten können hierbei als der Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit gewertet werden, die
jeweilige Partei eher zu wählen. Zum Beispiel sagt uns die Variable Weiblich, dass die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau SPÖ wählt, um 4,7 Prozent höher geschätzt wird als
die eines Mannes, unter Berücksichtigung der weiteren Kontrollvariablen; für die FPÖ
ist die gleiche Wahrscheinlichkeit um 7,6 Prozent niedriger. Für jedes Lebensjahr steigt
die geschätzte Wahrscheinlichkeit ÖVP zu wählen um ungefähr 0,4 Prozent. Wie oben
erwähnt sind Alter und Geschlecht nicht Teil klassischer „Cleavages“, strukturieren aber
dennoch oft das Wahlverhalten. In Österreich zeigen sich in multivariaten Modellen ba-
sierend auf den Daten der Nationalratswahl 2017 einige Zusammenhänge: Die GRÜ
NEN und die SPÖ erfahren stärkere Unterstützung von Frauen, die FPÖ weniger.
Ältere Wähler*innen stimmen eher für die ÖVP, jüngere eher für FPÖ und GRÜNE.
3 Nähere Erklärungen zu Regressionsmodellen finden Sie in Statistikbüchern wie etwa Müller-
Benedict (2011).
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421Wähler*innen und Wahlverhalten
Tab. 1 Regressionsmodelle, Parteiwahl (Nationalratswahl 2017)
Variablen SPÖ ÖVP FPÖ GRÜNE NEOS
Alter in Jahren 0,00058 0,0035*** -0,0028*** -0,00083 -0,0017***
(0,00097) (0,0011) (0,00088) (0,00051) (0,00052)
Weiblich 0,047** 0,042 -0,076*** 0,026** -0,015
(0,023) (0,027) (0,021) (0,012) (0,012)
Stadt–Land, Referenzkategorie: Dorf
Kleinstadt -0,012 -0,012 -0,061** -0,0058 0,032*
(0,033) (0,038) (0,030) (0,017) (0,018)
Mittlere Stadt 0,12*** -0,083* -0,051 -0,026 0,017
(0,041) (0,048) (0,038) (0,022) (0,022)
Zentrum einer
Großstadt
0,15*** -0,18*** -0,036 -0,012 0,032*
(0,032) (0,037) (0,029) (0,017) (0,017)
Stadtrand einer
Großstadt
0,071* -0,13*** 0,044 -0,019 0,028
(0,037) (0,043) (0,034) (0,019) (0,020)
Frequenz Besuch
Gottesdienst
0,0014 0,00033 -0,0033*** 0,0013* -0,00063
(0,0013) (0,0015) (0,0012) (0,00068) (0,00070)
Bildung, Referenzkategorie: andere
Matura -0,013 0,12*** -0,20*** 0,014 0,013
(0,029) (0,034) (0,027) (0,015) (0,016)
Tertiäre
Ausbildung
-0,13*** 0,14*** -0,25*** 0,078*** 0,055***
(0,033) (0,038) (0,030) (0,017) (0,017)
Beschäftigung, Referenzkategorie: Angestellte
Arbeiter*innen 0,12*** -0,20*** 0,065** 0,021 -0,023
(0,036) (0,041) (0,033) (0,019) (0,019)
Landwirt*innen -0,038 0,087 -0,13* 0,038 0,0023
(0,080) (0,092) (0,072) (0,042) (0,042)
Selbstständige -0,025 0,039 -0,11*** 0,020 0,074***
(0,041) (0,047) (0,037) (0,021) (0,022)
in Pension 0,18*** -0,21*** -0,20*** 0,085*** -0,0021
(0,056) (0,065) (0,051) (0,029) (0,030)
andere 0,11*** -0,11** -0,046 0,012 0,037*
(0,039) (0,045) (0,036) (0,020) (0,021)
Gewerkschafts-
mitglied
0,20*** -0,14*** -0,075*** 0,0033 -0,033**
(0,030) (0,034) (0,027) (0,015) (0,016)
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422
Variablen SPÖ ÖVP FPÖ GRÜNE NEOS
Ideologische
Selbsteinstufung
(Links-Rechts)
-0,079*** 0,055*** 0,061*** -0,018*** -0,0014
(0,0074) (0,0085) (0,0067) (0,0039) (0,0039)
Selbsteinstufung^2 0,00088*** -0,00064*** -0,00069*** 0,00021*** 0,000024
(0,000084) (0,000096) (0,000076) (0,000044) (0,000044)
Konstante 0,39*** -0,017 0,33*** 0,10*** 0,12***
(0,076) (0,087) (0,069) (0,039) (0,040)
Befragte 1,122 1,122 1,122 1,122 1,122
R20,221 0,166 0,233 0,077 0,059
Fragetexte werden im Detail in Aichholzer et al. (2018) beschrieben; Links-Rechts-Selbsteinstufung wird
eine Variable mit sieben Skalenpunkten von 1 (nie) bis 6 (einmal die Woche oder öfter). Der R2-Wert
Quelle: Eigene Analysen basierend auf der AUTNES-Umfrage von Aichholzer et al. (2018).
Wenn wir zu den klassischen „Cleavages“ gehen, zeigen sich die erwarteten Unterschie-
de. Hier zeigt die Tabelle bei Bildung, Berufsgruppen und Urbanisierungsgrad die Un-
terschiede im Vergleich zu den Referenzkategorien. Die Referenzkategorie für Bildung
sind Wähler*innen mit weniger Bildung als Matura, für Berufsgruppen ist die Referenz-
kategorie die Gruppe der Angestellten und für Urbanisierungsgrad die Dorfbewoh-
ner*innen. Effekte in der Tabelle zeigen immer die Unterschiede zu diesen Gruppen.
Daher zeigen die Modelle, dass Wähler*innen mit hoher (universitärer) Bildung eher
NEOS, ÖVP und GRÜNE wählen als jene mit einer eher niedrigen formalen Bildung.
Diese stimmen eher für SPÖ und FPÖ. Bei den Berufsgruppen zeigt sich ein differen-
ziertes Bild. Bei Arbeiter*innen konnte die ÖVP im Vergleich zu den Angestellten we-
niger punkten; in dieser Gruppe ist die FPÖ besonders stark. Selbstständige wählen im
Vergleich zu Angestellten eher NEOS und eher weniger FPÖ. In Bezug auf die Religion
zeigt sich, dass die ÖVP-Wähler*innen nicht mehr besonders religiös sind. Schließlich
zeigen sich beim Urbanisierungsgrad nur wenige Unterschiede, wobei die SPÖ und die
GRÜNEN eher in Städten und die ÖVP eher in ländlichen Gebieten unterstützt wird.
Zusammengefasst lassen sich die traditionellen Konfliktlinien in Österreich – Religi-
on, Urbanisierung, soziale Klasse – also durchaus noch wiederfinden. ÖVP-Wähler*in-
nen sind höher gebildet, wohnen weniger in Städten und sind seltener Arbeiter*innen.
Das Gegenteil ist bei SPÖ-Wähler*innen der Fall. Durch die Vielfalt an Parteien wird
dieses klare Bild jedoch getrübt. Zum Beispiel waren die FPÖ bei Arbeiter*innen und
die NEOS bei Selbstständigen besonders beliebt, Gruppen, die historisch jeweils der
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423Wähler*innen und Wahlverhalten
SPÖ beziehungsweise der ÖVP zugeordnet wurden. Auch ist die Erklärungskraft rein
soziologischer Modelle nicht überwältigend, wenn man zum Beispiel die erklärte Va-
rianz (R2) solcher Regressionsmodelle heranzieht.
Ziehen wir als Nächstes das sozialpsychologische Modell der Wahlentscheidungen
heran, welches auch nach wie vor Wahlverhalten in Österreich in Teilen erklärt. Ge-
werkschaftsmitglieder wählen eher SPÖ und eher nicht ÖVP, FPÖ oder NEOS (siehe
Tab. 1). Tabelle 2 zeigt darüber hinaus, wie viel Prozent der Wähler*innenschaft jeder
Partei sich auch mit dieser identifizieren. Wir sehen, dass generell über 70 Prozent der
Wähler*innen jeder Partei sich dieser Partei auch nahe fühlen. Die einzige Ausnahme
sind die NEOS, die als neuere Partei diese Loyalitäten von Seiten ihrer Wähler*innen
womöglich noch nicht aufbauen konnte.
Parteiwahl % mit Parteiidentifikation
ÖVP 72
SPÖ 84
FPÖ 70
GRÜNE 76
NEOS 49
Die Tabelle gibt an, wie viel Prozent der Wähler*innen jeder Partei im Jahr 2017 auch der Partei nahe-
-
terreich stehen einige Leute einer bestimmten politischen Partei nahe, obwohl sie ab und zu auch eine
andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen? Stehen Sie im Allgemeinen einer politischen Partei nahe?“
und bei einer „nein/weiß nicht“- Antwort, „Stehen Sie denn einer bestimmten Partei ein wenig näher als
den anderen Parteien?“). Alle, die auf eine der zwei Fragen mit „ja“ antworteten, wurden gefragt, um
welche Partei es sich dabei handele. Die obige Tabelle zeigt die Verteilung dieser Antworten.
Quelle: Eigene Analysen basierend auf der AUTNES-Umfrage von Aichholzer et al. (2018).
Forschungsprojekt. Austrian National Election Study (AUTNES)
AUTNES – Austrian National Election Study ist eine umfassende sozialwissenschaftliche
Analyse der österreichischen Nationalratswahlen, welche sowohl die „Nachfrageseite“
(Wähler*innen) und die „Angebotsseite“ (politische Parteien sowie Kandidat*innen)
und die Wissenschaftsgemeinschaft für die Nationalratswahlen 2008, 2013, 2017 und
2019 werden über AUSSDA – The Austrian Social Science Data Archive zur Verfügung
gestellt.
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424
Als Letztes schauen wir uns die rationalen Motive als Gründe von Wahlentschei-
dungen an. Es zeigt sich, dass die Position der Wähler*innen auf der ideologischen
Links-Rechts-Dimension ein wichtiger Erklärungsfaktor für die Wahlentscheidung
ist: Wähler*innen, die sich eher links positionieren, wählen eher SPÖ und GRÜNE,
wohingegen Wähler*innen rechts der Mitte eher ÖVP und FPÖ favorisieren (siehe
Abb. 1). Wähler*innen der FPÖ sind dabei etwas weiter rechts im Durchschnitt als
diejenigen der ÖVP. Insgesamt hängt die Links-Rechts-Position auffallend stark mit der
Wahlentscheidung zusammen. Bei den NEOS ist auffallend, dass der Zusammenhang
mit der Links-Rechts-Position von Wähler*innen (noch?) schwach ist. Ansonsten ist die
Wähler*innenschaft der verschiedenen Parteien jedoch ideologisch jeweils klar mit der
Links-Rechts-Zuordnung der Wähler*innen in Übereinstimmung.
Abb. 1 Positionierung der Wähler*innen auf der Links-Rechts-Achse und Wahlwahrscheinlichkeiten
-
net wurden. x-Achse: Links-Rechts-Selbsteinstufung der befragten Personen, 0–10-Skala. y-Achse:
vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, für jede Partei zu stimmen. Für eine*n Wähler*in mit einer Links-
Rechts-Positionierung auf dem Wert 6 liegt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, die ÖVP zu wählen,
bei etwas über 40 Prozent, jene, die SPÖ zu wählen, nur bei etwas über zehn Prozent.
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Umfrage von Aichholzer et al. (2018).
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425Wähler*innen und Wahlverhalten
Zum Verständnis des rationalen Wählens in Österreich lohnt es sich daher, das auf
emen basierte Wählen, das sogenannte „issue-voting“, genauer zu betrachten. Hierfür
zeigen wir die Verteilung der Parteien in einem mehrdimensionalen politischen Raum.
Abbildung 2 stellt die Position der österreichischen Parteien laut Expert*innenmeinun-
gen auf drei Dimensionen dar: (a) die Parteiposition zu wirtschaftlichen Fragen, zum
Beispiel Umverteilung und Steuerlast, (b) die Parteiposition zu gesellschaftspolitischen
Fragen, zum Beispiel Migration und LGBTQ-Rechte, und (c) die Parteiposition zu
Fragen der Europäische Integration. Die Abbildung zeigt, dass das wirtschaftspolitische
Feld zweigeteilt ist, wobei die SPÖ und GRÜNE linksgerichtete und NEOS-ÖVP-
FPÖ rechtsgerichtete Positionen vertreten. Daher wählen Personen mit den jeweils aus-
gerichteten wirtschaftspolitischen Einstellungen auch eher diese Parteien. Gesellschafts-
politisch gestaltet sich das Feld anders, mit SPÖ, GRÜNE und NEOS auf der einen
und FPÖ und ÖVP auf der anderen Seite des politischen Raums. Auch hier sieht man
klar, welche Wähler*innen welche Parteien unterstützen sollten: FPÖ- und ÖVP-Wäh-
ler*innen sollten eher konservative und nationalistische gesellschaftspolitische Positio-
nen vertreten, SPÖ-, NEOS- und GRÜN-Wähler*innen eher liberale. Hinsichtlich der
europäischen Integration sind alle Parteien bis auf die FPÖ als pro-europäisch zu positi-
onieren. Wähler*innen, die der EU skeptisch gegenüberstehen, werden daher auch eher
die FPÖ wählen. Diese Wähler*innenverteilung bei den emenpositionen konnte von
Plescia et al. (2020) für die Nationalratswahl 2017 auch gezeigt werden.
Die emenpositionen der Parteien sind aber nur ein Aspekt, der für die Wahlent-
scheidung von Einfluss sein kann. Parteien betonen emen auch unterschiedlich stark:
dies ist die sogenannte emenwichtigkeit oder „Issue-Salienz“. Betrachten Wähler*in-
nen die Positionen von Parteien, ziehen sie auch die Betonung und die Wichtigkeit des
emas beziehungsweise der emen in Betracht. So ist das Wirtschaftsthema für die
ÖVP und die SPÖ zentraler als für andere Parteien, wohingegen die GRÜNEN und
die FPÖ – und seit 2017 auch die ÖVP – gesellschaftspolitische emen (insbesonde-
re Migrations- und Klimathemen) besonders in den Vordergrund stellen. Zusätzlich
haben Parteien über die Zeit hinweg zu bestimmten emen auch eine starke Reputa-
tion aufgebaut: Dies bedeutet, dass Wähler*innen mit bestimmten emen bestimmte
Parteien in Verbindung bringen und ihnen hier erhöhte Kompetenz zuschreiben. Diese
Reputation, auch oft „Issue Ownership“ genannt, kann auch wahlentscheidend sein,
vor allem in Zusammenhang mit „Issue Salienz“. Ist beispielsweise ein ema, welches
einer bestimmten Partei zugeschrieben wird, während des Wahlkampfs besonders pro-
minent, so erhöhen sich die Chancen für die Partei, mit diesem ema bei den Wäh-
ler*innen punkten zu können.
Die Veränderung in den Wahlergebnissen zwischen 2017 und 2019 dient als gutes
Beispiel, diese Dynamiken von „Issue Salienz“ und „Issue Ownership“ in Österreich
aufzuzeigen. Zunächst kann man zwischen 2017 und 2019 eine Veränderung in der
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emensalienz beobachten: Während 2017 bei den Wähler*innen noch das Migrati-
onsthema im Vordergrund stand, wurden 2019 die emen Klimawandel und Um-
weltpolitik mehr diskutiert. Die Stimmengewinne der GRÜNEN 2019 lassen sich zum
Teil durch diese veränderte emensalienz erklären (Kritzinger et al. 2020). Auch das
Abb. 2 Parteipositionen in Österreich
Die Abbildung zeigt die Parteipositionen auf drei Dimensionen: wirtschaftspolitische Fragen (x-Achse,
sowohl oberes als auch unteres Panel), gesellschaftspolitische Fragen (y-Achse, oberes Panel) und
EU-Integration (y-Achse, unteres Panel).
Quelle: Eigene Darstellung nach Jolly et al. (im Erscheinen).
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427Wähler*innen und Wahlverhalten
Migrationsthema war durchaus dynamisch in den letzten Wahlen. 2017 hat die ÖVP
bei diesem ema der FPÖ in puncto Salienz und Kompetenz Konkurrenz gemacht
(Plescia et al. 2020). Im Gegensatz dazu haben SPÖ und GRÜNE dieses sehr saliente
ema 2017 eher weniger angesprochen. Die SPÖ hat sich beispielsweise auf emen
wie soziale Gerechtigkeit und Umverteilung fokussiert. Dies sind zwar emen, bei
denen die SPÖ traditionell die emenführerschaft besitzt, die aber 2017 von weniger
großer Salienz für die Wähler*innenschaft war (Plescia et al. 2020) und daher auch
weniger das Wahlverhalten beeinflusst und weniger Wähler*innen angezogen haben.
Schließlich spielt noch die Beliebtheit von Kandidat*innen eine durchaus wichti-
ge Rolle. Hier muss man vor allem für die jüngere österreichische Vergangenheit den
ehemaligen ÖVP-Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Sebastian Kurz hervorheben,
dessen persönliche Beliebtheit für das starke Abschneiden der ÖVP 2017 und 2019
eine wichtige Rolle gespielt hat. Während mit der Person Kurz auch Positionen und
emen verbunden waren (z.B. zur Migration), war er als Politiker auch abseits dieser
Positionierung besonders beliebt. Auch diese Faktoren können bei Wahlentscheidungen
eine wichtige Rolle spielen (Plesica/Aichholzer 2017).
„Issue Ownership“ ist auch hinsichtlich retrospektivem Wählen von Bedeutung.
Bei retrospektivem Wählen bewerten die Wähler*innen die Performanz der Parteien
in der Vergangenheit, insbesondere in der letzten Legislaturperiode. Auf Basis dieser
Bewertung setzt sich dann die Wahrscheinlichkeit zusammen, ob für eine Partei erneut
gestimmt wird. Ist die Performanzbewertung positiv, dann steigt die Wahrscheinlich-
keit, die Partei zu belohnen und sich erneut für sie zu entscheiden; ist sie negativ, so
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man die Partei bestrafen möchte und sich deshalb für
eine andere Partei entscheidet. „Issue Ownership“ kann sich nun positiv oder negativ
auf retrospektive Bewertungen auswirken. Einerseits kann eine Partei bei emen, wo
sie eine emenführerschaft besitzt, auf positive Erwartungshaltung in der Vergangen-
heit setzen und kurzfristige negative Performanz darüber aussitzen. Andererseits kann
aber „Issue Ownership“ auch dazu führen, dass Wähler*innen bezüglich der Perfor-
manz höhere Erwartungen an eine Partei mit emenführerschaft haben und daher bei
Nichterfüllung besonders enttäuscht sind. Für Österreich konnte gezeigt werden, dass
die Regierungsparteien bei emen, bei denen sie die emenführerschaft besitzen,
mit größerer Wahrscheinlichkeit von den Wähler*innen abgestraft werden, wenn diese
negativ bewertet werden. Offensichtlich haben Wähler*innen hohe Erwartungen im
Hinblick auf die Problemlösung bei diesen emen; werden diese Erwartungen nicht
erfüllt, wird umso mehr abgestraft (Plescia/Kritzinger 2018).
Insgesamt bleibt die individuelle Wahlentscheidung ein komplexes Phänomen.
Langfristige Einflüsse wie soziale Zugehörigkeit, ideologische Orientierungen und e-
menführerschaft bilden dabei die Grundstruktur des Wahlverhaltens in Österreich. Die
doch recht weitgehende Wähler*innenvolatilität bei den letzten Nationalratswahlen
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zeigt aber, dass kurzfristige Faktoren wie zum Beispiel emensalienz, Parteikompetenz
oder Kandidat*innenbeliebtheit einen starken Einfluss darauf haben können, wie be-
stimmte Wahlen ausgehen.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
In diesem Kapitelabschnitt nehmen wir eine historische Perspektive entlang der oben
genannten Faktoren ein und betrachten die Entwicklung des Wahlverhaltens seit dem
Beginn der Zweiten Republik 1945. Wie erwähnt hat die Wahlbeteiligung im Laufe der
Jahrzehnte stetig abgenommen (siehe Abb. 3). Bis in die 1980er-Jahre lag sie noch regel-
mäßig über 90 Prozent, nahm dann aber in den Jahren danach beziehungsweise bei den
darauffolgenden Wahlen ab, bis sie 1999 auf ungefähr 80 Prozent fiel. Nach einem kurzen
Anstieg 2002 hat sich die Wahlbeteiligung auf einem niedrigeren Niveau um die 80 Pro-
zent eingependelt. Der Tiefststand wurde dabei 2013 erreicht, als nur knapp 75 Prozent
an der Nationalratswahl teilgenommen haben. Für dieses Wahljahr gibt es eindeutige
Befunde, welche Bürger*innen eher weniger wählen gehen (Aichholzer et al. 2014b). So
gibt es eine niedrige Wahlbeteiligung bei jenen, denen es an politischem Interesse und
politischem Wissen mangelt und die die österreichische Politik eher zynisch betrachten.
Bürger*innen mit geringer religiöser Bindung und mit Migrationshintergrund sowie jün-
gere Wähler*innen beteiligen sich generell weniger an Wahlen (Aichholzer et al. 2014b).
Abb. 3 Wahlbeteiligung bei Nationalratswahlen in Österreich, 1945–2019
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2019).
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429Wähler*innen und Wahlverhalten
In Bezug auf die Wahlergebnisse zeigen die Nationalratswahlen eine komplexere Dy-
namik (siehe Abb. 4). Bis in die 1980er-Jahre hinein haben fast alle Österreicher*innen
eine von zwei Parteien gewählt: die ÖVP oder die SPÖ. In den 1950er-Jahren haben die
zuvor erwähnten etablierten Konfliktlinien die Wahlentscheidungen von großen Tei-
len der Bevölkerung geprägt. Hervorzuheben sind dabei die soziale Klasse (z.B. Arbei-
ter*innen, Landwirt*innen, Bürgerliche, also das „class cleavage“) und die religiös-kon-
fessionelle Ausrichtung (insb. der Grad des Katholizismus). Dabei stand die ÖVP für
ländlich-kleinstädtische, religiöse (v.a. katholische) und bürgerliche Milieus, während
die SPÖ städtische und weniger religiöse Arbeiter*innen repräsentierte (Kritzinger et
al. 2013). In Österreich fielen also mehrere der von Lipset und Rokkan identifizierten
Konfliktlinien zur Erklärung von Wahlverhalten zusammen (Lipset/Rokkan 1967; Lip-
set 1983). Diese überlappenden Konfliktlinien haben auch zur Stabilität des Wahlver-
haltens in dieser Periode beigetragen.
Abb. 4 Wahlentscheidungen bei Nationalratswahlen 1945–2019
Stimmenanteile der wichtigsten Parteien bei Nationalratswahlen, in Prozent der gültigen Stimmen.
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2019).
Stabilitätsfördernd war auch der umfassende Einfluss der zwei Volksparteien, die in den
ersten Jahrzehnten der zweiten Republik das politische, wirtschaftliche und kulturelle
Leben in Österreich bestimmt haben. Die gesellschaftlich zentrale Rolle der Parteien
mündete in starke Parteiidentifikation und eine klare Lagermentalität (Plasser et al.
1992; van Biezen et al. 2012; Müller et al. 1995). Außerdem gab es durch die starke
Stellung der Parteien auch handfeste, durchaus rationale Gründe, loyal gegenüber einer
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Partei zu bleiben, zum Beispiel, um sich dadurch berufliche Vorteile zu verschaffen
(Ennser-Jedenastik 2013). Der Anteil der Österreicher*innen mit Parteimitgliedschaft
war in diesen Jahrzehnten bemerkenswert hoch, auch im länderübergreifenden Ver-
gleich (Mair/van Biezen 2001). Der Wettbewerb der Parteien um die Stimmen der
Wähler*innen war daher in diesen Jahrzehnten begrenzt (Plasser/Ulram 2008).
Im Laufe der 1980er- und insbesondere seit den 1990er-Jahren sind jedoch neue
Politikfelder und ideologische Konflikte immer zentraler geworden. Dabei waren vor
allem für Wähler*innen der FPÖ die ematiken Zuwanderung und Europäische Inte-
gration von Wichtigkeit, während bei GRÜN-Wähler*innen das ema Umweltschutz
von Bedeutung war (Kritzinger et al. 2013). Die FPÖ und die GRÜNEN können
dabei als Nischenparteien angesehen werden, also Parteien, die ihren Wahlkampf be-
sonders auf ihre Kernthemen begrenzen und dadurch in den Augen der Wähler*innen
mit diesen stark verbunden werden (Meguid 2005; Wagner 2012). Mit diesen emen
konnten sie sich ab den 1990er-Jahren im österreichischen Parteiensystem etablieren
und neue emen bei den Wähler*innen platzieren.
Im Detail: Die emen Zuwanderung und europäische Integration haben den Auf-
stieg der FPÖ begünstigt. Dieser begann 1986, als Jörg Haider den Vorsitz der Partei
übernahm; ihr bisheriger Höhepunkt war 1999, als die FPÖ fast 27 Prozent der Stim-
men erhalten konnte und mit der ÖVP die erste schwarz-blaue Regierung gebildet hat.
Sehr ähnlich waren dann, fast 20 Jahre später, die Ergebnisse bei der Wahl 2017, als die
FPÖ wieder über 25 Prozent der Stimmen gewinnen konnte und erneut als Juniorpart-
ner in die Regierung mit der ÖVP eingetreten ist. Beide Male war der Stimmen-Hö-
henflug von relativ kurzer Dauer, und die darauffolgenden Wahlen (2002 bzw. 2019)
führten zu einem Absturz der FPÖ in der Gunst der Wähler*innen. Besonders emen
rund um die Zuwanderung waren für die Wahlentscheidung zugunsten der FPÖ von
Bedeutung (Aichholzer et al. 2014a).
Am anderen Ende des politischen Spektrums haben sich die GRÜNEN als linke
Kraft etabliert, die bis auf das bereits erwähnte Wahldebakel 2017 seit den 1980ern im
Nationalrat vertreten sind. Die GRÜNEN stehen dabei für eine links-liberale ideologi-
sche Ausrichtung, mit besonderer Betonung des Umweltschutzes. Die NEOS, ab 2013
erfolgreich im Nationalrat, haben die ideologische Lücke gefüllt, die durch die wenig
stabilen Ergebnisse des LIF entstanden ist, und zwar als wirtschaftlich gemäßigte bis
rechte, aber sozial und kulturell liberale Partei (zu den österreichischen Parteien siehe
auch Jenny in diesem Band).
Zusammen stehen die FPÖ und vor allem die GRÜNEN und NEOS für eine zu-
nehmende Zwei- beziehungsweise Mehrdimensionalität des politischen Raums. Wäh-
rend Wähler*innen ideologisch bis in die 1980er auf einer Links-Rechts-Dimension
platziert werden konnten, braucht man zur Erklärung des Wahlverhaltens in Öster-
reich nun zumindest zwei Dimensionen, die in Abbildung 2 dargestellt sind. Die tra-
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ditionellen Konfliktlinien in Österreich wurden somit aufgebrochen und neben der
Links-Rechts-Dimension hat die gesellschaftspolitische Dimension (insbes. das ema
Migration) über Zeit an Bedeutung in den Wahlentscheidungen von österreichischen
Wähler*innen (insb. der FPÖ-Wähler*innen) gewonnen (Aichholzer et al. 2014a; Krie-
si et al. 2008). Diese Entwicklung hat in den 1980ern ihren Anfang genommen, und es
gibt wenig Anzeichen, dass die ideologische Komplexität des österreichischen Wahlver-
haltens wieder abnehmen könnte.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Welche Vergleiche lassen sich nun mit anderen Ländern für Österreich ziehen? Da-
für ziehen wir verschiedene Indikatoren heran: Wahlbeteiligung, die Anzahl von Wäh-
ler*innen für neuere Parteien, die Größe des Parteiensystems sowie die Wähler*innen-
volatilität. Ausgewählte Länder, die wir für diesen Vergleich herangezogen haben, sind
andere westeuropäische Länder wie Deutschland, Schweiz, Italien, Großbritannien, die
Niederlande und Spanien.
Betrachten wir zunächst die Wahlbeteiligung bei den jeweils letzten nationalen Par-
lamentswahlen in diesen europäischen Ländern, wobei hier Kontextunterschiede von
Bedeutung sind, die wir kurz darstellen wollen: Mehrheitswahlsysteme (z.B. Großbri-
tannien) weisen in der Regel eine geringere Wahlbeteiligung auf als Verhältniswahlsys-
teme (z.B. Österreich, Niederlande). Über die Länder hinweg gibt es auch Unterschiede
hinsichtlich einer Wahl- oder Registrierungspflicht sowie des Zeitpunktes, an dem die
Wahl durchgeführt wird. All dies können Gründe für höhere oder niedrigere Wahl-
beteiligung sein.
Vergleicht man Österreich nun mit den oben genannten Ländern sowie auch noch
Polen, dann ist aus Abbildung 5 ersichtlich, dass Österreich im Vergleich nach wie vor
eine hohe Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen aufweist, mit einer ähnlichen Wahl-
beteiligungsrate wie in den Niederlanden (2021: 79,3 %), Deutschland (2021: 76,6 %)
und Italien (2018: 73 %). Deutschland, die Niederlande und Österreich haben Verhält-
niswahlsysteme und sind daher durch eine hohe Proportionalität in der Zuweisung von
Stimmenanteilen zu Mandaten gekennzeichnet. Die niedrigste Wahlbeteiligung unter
den analysierten Ländern weist die Schweiz auf (2019: 45,1 %), was wohl zum Teil den
häufigen Wahlgängen in der Schweiz aufgrund der regelmäßigen Referendumsabstim-
mungen geschuldet ist. In Polen, Spanien und Großbritannien ist die Wahlbeteiligung
etwas geringer als in Österreich.
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Abb. 5 Wahlbeteiligung im internationalen Vergleich
Quelle: International Parliamentary Union (2022).
Als Nächstes betrachten wir die Wahlentscheidungen, wobei wir uns besonders auf die
Wahlanteile von grünen und radikal-rechten Parteien in den oben erwähnten westeuro-
päischen Ländern konzentrieren. Großbritannien berücksichtigen wir hier nicht weiter,
da aufgrund des Mehrheitswahlsystems sowohl die grünen als auch radikal-rechte Par-
teien auf nationaler Ebene von geringer Bedeutung sind.
Aus Abbildung 6 ist ersichtlich, dass in Österreich sowohl die Wähler*innenanteile
für die GRÜNEN als auch die FPÖ relativ hoch sind. Die Wähler*innenanteile für diese
beiden Parteien sind in Deutschland ähnlich hoch, wenn auch der Anteil an radikal-
rechten Wähler*innen geringer ist. Die Schweiz ist in dieser Vergleichsgruppe der soge-
nannte Ausreißer: Mit der seit Jahren starken SVP auf der rechten Seite und den starken
Stimmengewinnen der GRÜNEN beziehungsweise Grünliberalen bei der letzten Natio-
nalratswahl 2019 auf der anderen Seite unterscheidet sich die Schweiz von den anderen
berücksichtigten Ländern in dieser Analyse. In Italien, Spanien und den Niederlanden
sind die Wahlanteile für die GRÜNEN entweder nicht vorhanden oder vernachlässig-
bar, während in allen drei dieser Länder der Anteil der Wähler*innen radikal-rechter
Parteien in etwa gleich hoch ist wie in Österreich. Dabei weist vor allem Italien aufgrund
der Zersplitterung des extrem rechten Lagers hier einen etwas höheren Anteil auf. Was
zeichnet nun das österreichische Ergebnis aus? Es gilt die relativ hohen Wahlanteile so-
wohl der GRÜNEN als auch der FPÖ hervorzuheben. Beiden Parteien sind bereits seit
vielen Jahrzehnten Teil des österreichischen Parteiensystems und konnten somit bereits
sehr früh Wahlerfolge einfahren, im Unterschied zu Ländern wie Italien oder Spanien
bei den GRÜNEN beziehungsweise Deutschland bei der rechtsradikalen AfD.
Als Nächstes betrachten wir die effektive Anzahl von Parteien in einem politischen
System. Der sogenannte „Effective Number of Parties“-Index (ENEP) erfasst die Frag-
mentierung des Parteiensystems. Er berechnet sich, indem die absolute Anzahl von Par-
teien in einem Land herangezogen wird, diese Anzahl aber mit der relativen Stärke der
jeweiligen Partei gewichtet wird, wobei hierfür entweder der Stimmenanteil oder die
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Mandatszahl herangezogen werden kann; hier benutzen wir den Stimmenanteil. Durch
diese Gewichtung ist die effektive Parteienzahl geringer als die tatsächliche Anzahl der
im Parlament vertretenen Parteien. Lediglich bei gleicher Stärke würde die effektive An-
zahl der absoluten Anzahl entsprechen.
Zieht man nun diese Maßzahl, erstellt von Gallagher (2022), heran, so ist aus Ab-
bildung 7 ersichtlich, dass Österreich mit einer effektiven Anzahl von Parteien von 4,2
in etwa im Mittelfeld liegt (Werte auf der y-Achse). Die Niederlande ist mit ihrem zer-
splitterten Parteiensystem am oberen Ende (9,26) anzusiedeln, während Länder wie die
Abb. 6 Wahlanteile grüner und radikal-rechter Parteien
GRÜNEN
und FPÖ (AT), Die GRÜNEN und AfD/NPD/die Basis (DE), GPS/GLP und SVP/SD/Nationale Aktion (CH),
Fratelli (IT), Partia Zieloni und Konfederacia (PL), Greens (UK).
Quelle: Parlgov (2022); Jolly et al. (im Erscheinen).
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Schweiz, Deutschland und Spanien mit Werten von 6,47, 6,18 und 6,07 jeweils einen
etwas höheren Wert als Österreich aufweisen. Italien hingegen liegt zwischen Österreich
und den genannten Ländern, während Großbritannien in diesem Ländervergleich mit
3,23 den kleinsten Wert aufweist.
Die Gründe für diese Unterschiede in der effektiven Zahl der Parteien sind viel-
fältiger Natur. In Österreich gibt es im Unterschied zu Spanien und Italien geringe
ethnische Diversität beziehungsweise regionale Konflikte, was sich u.a. in einem ein-
facheren Parteiensystem widerspiegelt, da es in Österreich keine erfolgreichen Regio-
nalparteien auf nationaler Ebene gibt. Auch die 4-Prozent-Hürde, die für den Einzug
in den österreichischen Nationalrat genommen werden muss, sowie die starke Partei-
Abb. 7 ENEP und Volatilität im internationalen Vergleich
siehe Chiaramonte/Emanuel (2015); berechnet nach Pedersen (1979).
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bindung – durchaus auch in Form von formeller Parteimitgliedschaft – führt dazu, dass
die effektive Anzahl von Parteien in Österreich geringer ausgeprägt ist als in anderen
Ländern. Großbritannien mit seinem Mehrheitswahlsystem hingegen weist wenig über-
raschend eine geringere effektive Anzahl von Parteien auf als Österreich. Aber auch
Komponenten eines Mehrheitswahlsystems, wie dies in Italien der Fall ist, sind dafür
verantwortlich, dass der Wert entgegen landläufigen Meinungen dort relativ gering ist.
Auf der x-Achse der Abbildung 7 ist die Wähler*innenvolatilität ablesbar. Die Vo-
latilitätsindex beruht auf Daten von Chiaramonte und Emanuele (2015) und berück-
sichtigt, inwiefern sich Wähler*innenanteile aufgrund neuer Parteien verschoben ha-
ben, aber auch wie stark der Wähler*innenanteil zwischen den Parteien geschwankt
hat. Berechnet wird Volatilität als die gesamte Verschiebung von Stimmen zwischen
zwei Wahlen; die dargestellten Werte ziehen dabei alle Bewegungen von 1992 bis 2015
mit ein. Die Wähler*innenvolatilität ist in Italien (siehe die massive Veränderung des
italienischen Parteiensystems 1992 aufgrund der Korruptionsskandale, die die damals
vorherrschenden Parteien erfasste und in weiterer Folge verschwinden ließ) und den
Niederlanden (hohe absolute Anzahl von Parteien mit relativ kleinem Wahlanteil) am
höchsten, gefolgt von Österreich, welches verschiedenste Parteineugründungen in die-
sem Zeitraum sah (LIBERALES FORUM, BZÖ, NEOS, TEAM STRONACH). Die
geringste Wähler*innenvolatilität weist Großbritannien auf, was angesichts des nach
wie vor dominanten Zweiparteiensystems nicht verwunderlich ist. Relativ stabil blieben
auch die Schweiz sowie Spanien, die jedoch im Unterschied zu Großbritannien eine
größere Anzahl von effektiven Parteien aufweisen.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Obwohl mit der Wahlrechtsreform 2007 der Wahlzyklus von vier auf fünf Jahre ver-
längert wurde, zeichnen sich die letzten Nationalratswahlen dadurch aus, dass in noch
kürzeren Abständen gewählt wurde. 2017 wurde bereits nach vier Jahren gewählt, 2019
aufgrund des Ibiza-Skandals bereits nach zwei Jahren. Die gegenwärtigen Entwicklun-
gen und politischen Skandale lassen den Verdacht aufkommen, dass auch die derzeitige
Legislaturperiode nicht vollständig bis 2024 ausgeschöpft wird, sondern (etwas) vorzei-
tig gewählt wird. Welche Auswirkungen diese Skandale auf die Wahlbeteiligung sowie
die Wahlentscheidungen haben werden, ist noch schwer einzuschätzen. Analysen zu
vorherigen Skandalen im Zuge der Nationalratswahlen 2017 und 2019 lassen darauf
schließen, dass jene Parteien, die von den Skandalen betroffen sind, an Wähler*innen-
unterstützung verlieren werden, dass sie aber bei den Wähler*innen, die eine starke
Parteiidentifikation mit der betroffenen Partei aufweisen, wenig bewirken werden. Die
Unterstützung für die betroffene Partei wird in dieser Wähler*innengruppe weiterhin
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gegeben sein (Plescia et al. 2021; Eberl et al. 2020). Wie bereits seit den 1980er-Jahren
ersichtlich, kommt es auch in Österreich zu Veränderungen im politischen Raum und
damit einhergehend in der emensetzung. Neben dem ema der Migration sind
dies emen im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes. Durch die COVID-19-Pan-
demie sind des Weiteren die emen Gesundheit, staatliche Eingriffe und individuelle
Freiheit bei einigen Wähler*innen wichtiger geworden, was zum Aufstieg einer neuen
Partei (Menschen – Freiheit – Gesundheit, MFG) geführt hat. Wie sehr sich diese e-
men verfestigen und zu einer dauerhaften Konfliktlinie in Österreich führen können,
wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Auf jeden Fall führt dies schon mal zu einer
Polarisierung in der österreichischen Bevölkerung, wie Wagner und Eberl (2022) mit
aktuellen Daten zeigen konnten. Der Ukrainekrieg könnte auch zu einer neuen e-
mensetzung im Bereich der Sicherheit- und Neutralitätspolitik führen, genauso wie das
ema der Europäischen Integration und der damit einhergehenden Friedenssicherung
an Bedeutung gewinnen könnte. Besonders diese letztgenannten emen könnten zu
einer größeren Unterstützung der Volksparteien ÖVP und SPÖ führen, da diese mit
diesen emen stark verbunden werden.
Gleichzeitig wird die beobachtete erhöhte Volatilität unter den Wähler*innen er-
halten bleiben, auch bedingt durch den demographischen Wandel und die dadurch
nochmals verstärkte Abnahme an Parteibindungen. Kurzfristige Faktoren inklusive der
verschiedenen Krisen werden auf das Wahlverhalten verstärkt Einfluss nehmen sowie
auch die Wahlbeteiligung bedingen. In diesem Zusammenhang wird es auch von Inter-
esse sein, die langfristigen Auswirkungen der Absenkung des Wahlalters zu beobachten:
Konnte dadurch ein langfristiger erhöhter Wahlhabitus in der österreichischen Wäh-
ler*innenschaft erzielt werden? Vergleichende Studien mit anderen Ländern können
darüber Aufschluss geben.
Gleichzeitig gilt es die abnehmende Zufriedenheit mit dem Funktionieren der öster-
reichischen Demokratie und den Vertrauensverlust in politische Institutionen wie dem
Parlament oder der Regierung zu beobachten (Rathkolb/Aichholzer 2021; Kowarz/
Pollak 2020; Krejca et al. 2021), um einem schleichenden Legitimationsverlust der
demokratischen Institutionen entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang bedarf es
auch weiterführender Analysen zu Politikverdrossenheit und Polarisierung in der öster-
reichischen Wähler*innenschaft: Welche Wähler*innengruppen betrifft dies? Zu wel-
chen emen? Und inwiefern sind diese emotional aufgeladen? Für die Auswirkung auf
die demokratische politische Stabilität Österreichs sind dies zentrale Fragen, die es gilt,
kontinuierlich zu beobachten und zu analysieren.
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440
Wissenschaftliche Blogs zu den Nationalratswahlen (2017, 2019) können unter https://
viecer.univie.ac.at abgerufen werden.
Wissenschaftliche Daten zur Austrian National Election Study (2008, 2013, 2017, 2019)
können unter https://data.aussda.at/dataverse/autnes heruntergeladen werden.
Übungsfragen
Beschreiben Sie die wichtigsten Wahlschulen und ihre Ausrichtung!
Was beinhalten die Begriffe „Issue Salienz“ und „Issue Ownership“?
Welche „Cleavages“ beschreiben laut Lipset und Rokkan europäische Gesellschaften?
Wie lässt sich der Trend in der Wahlbeteiligung bei österreichischen Nationalrats-
wahlen zusammenfassen?
Wie setzt sich der „Effective Number of Parties“-Index zusammen?
Wie hat sich das Wahlverhalten in Österreich seit den 1980er-Jahren verändert und
wieso?
Hängt die Links-Rechts-Selbsteinstufung von Wähler*innen mit ihrer Wahlentschei-
dung zusammen?
Welche Parteien wurden 2017 eher von Männern, welche eher von Frauen gewählt?
Welche Parteien haben 2017 bei der urbanen Bevölkerung eher gepunktet?
Was sind Nischenparteien?
Anhang
Tab. A.1 Nationale Wahlen für internationale Vergleiche (Wahlbeteiligung, ENEP, Volatilität,
Wahlanteil grüner und radikal-rechter Parteien)
Land Wahl Datum
Österreich Nationalratswahl 29. September 2019
Deutschland Bundestagswahl 26. September 2021
Schweiz Nationalratswahl 20. Oktober 2019
Spanien Parlamentswahl 10. November 2019
Italien Parlamentswahl 4. März 2018
Niederlande Parlamentswahl 15. März 2021
Polen Parlamentswahl 13. Oktober 2019
Vereinigtes Königreich Unterhauswahl 12. Dezember 2019
Quelle: eigene Darstellung.
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Politische Partizipation
abseits von Wahlen
Zusammenfassung
9Es gibt unterschiedliche Formen der politischen Partizipation abseits von Wahlen, je nach
Grad der Institutionalität der Form.
9
von Produkten.
9Nebst der klassischen Wahlteilnahme bietet Österreich seinen Bürger*innen auch drei
Formen der direkten Demokratie zur Beteiligung: das Volksbegehren, die Volksabstim-
-
ren, welche den Charakter einer Initiative haben. Damit können Bürger*innen selbst ein
Thema auf die politische Agenda setzen.
9Die politischen Themen, die den Bürger*innen wichtig sind, werden immer vielfältiger. Die
-
titionen oder Demonstrationen gemacht. Nach wie vor (oder besser gesagt wieder) stellt
auch die Umwelt ein zentrales Thema dar. Gerade durch die Fridays for Future-Bewegung
hat das Thema erneut an Popularität gewonnen.
9Das Internet stellt eine Herausforderung für Wissenschaft und Politik dar, wenn es um
partizipatorische Teilnahme geht. Es bietet sowohl Chancen als auch Gefahren (Stichwort:
Hasskommentare).
1. Einleitung
Politische Partizipation wird gemeinhin als freiwilliges Verhalten von Personen defi-
niert, welches sich zum Ziel setzt, Einfluss auf die Ausgestaltung politischer Entschei-
dungen und Einfluss auf die Gestaltung gesellschaftlicher Werte zu nehmen (Barnes/
Kaase 1979, 42; van Deth 1986, 262; Verba/Nie 1972, 2).
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-
Eine Herausforderung für das Konzept der politischen Partizipation stellt heutzuta-
ge das Internet dar. Mit den sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter oder YouTube
tun sich ganz neue Möglichkeiten der Mitsprache auf. Ob das Posten oder Teilen von
Online-Inhalten unter politische Partizipation fällt, darüber ist sich die Literatur bis
dato uneinig, auch weil die Möglichkeiten rasant wachsen. eocharis und van Deth
(2018, 3 f.) nennen in ihrem Buch „Political Participation in a Changing World“ die
sogenannte „ice-bucket challenge“ als Beispiel für die Schwierigkeit, etwas als politische
Partizipation zu definieren oder zu erkennen. Zur Erinnerung: Im Rahmen der „ice-
bucket challenge“, welche 2014 in Kalifornien ihren Anfang nahm, wurde online dazu
aufgerufen sich einen Kübel Eis-Wasser über den Kopf zu schütten, ein Video davon zu
machen, es dann online zu posten und eine*n Nachahmer*in zu nominieren. Das Ziel
der Challenge war es, Aufmerksamkeit für die Nervenkrankheit Amyotrophe Lateral-
sklerose (ALS) zu schaffen. Dieses Ziel konnte auch erreicht werden. Weltweit wurden
Millionen solcher Videos online gestellt und das Komitee der ALS-Vereinigung freute
sich ein Jahr später über 220 Millionen Dollar Spenden. Aber ist das jetzt politische
Partizipation? Das Beispiel zeigt uns, dass, je mehr Möglichkeiten wir zur politischen
Teilhabe haben, desto wichtiger ist einerseits eine klare Konzeptdefinition und anderer-
seits eine anhaltende Debatte darüber.
Für das empirische Konzept der politischen Partizipation bedeutet das, dass es auf
vielfältige Weise konzipiert und analysiert werden kann (Ekman/Amnå 2012). In der
wissenschaftlichen Literatur haben sich in den vergangenen Jahrzehnten daher unter-
schiedliche Unterscheidungskriterien entwickelt, wie sich die klassischste Form der Par-
tizipation, also die Teilnahme an Wahlen, von anderen Formen, wie unter anderem
der Beteiligung an Demonstrationen unterscheidet (Barnes/Kaase 1979; Ekman/Amnå
2012; Marien et al. 2010; Sabucedo/Arce 1991; van Deth 2014).
Die etablierteste Art der Differenzierung bezieht sich auf die Institutionalität der
Partizipationsform (siehe Barnes/Kaase 1979, 409–477). So lässt sich die politische
Partizipation in institutionelle und nicht-institutionelle Formen trennen. Unter insti-
tutionell versteht man vor allem Formen, die sich direkt auf eine politische Institution
oder den politischen Prozess beziehen (Hooghe/Marien 2013; Topf 1995). In der Praxis
sind das die Wahlteilnahme, die Mitgliedschaft in einer Partei oder einer Interessens-
gemeinschaft, das Kontaktieren von Politiker*innen und das Nutzen von direkt-demo-
kratischen Instrumenten. Nicht-institutionell sind Formen, die nicht in unmittelbarem
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Zusammenhang mit einer politischen Institution oder dem elektoralen Prozess stehen.
Beispiele hierfür sind die Teilnahme an Demonstrationen, „Boycotting“ oder „Buycot-
ting“ von Produkten oder auch das Unterzeichnen von Petitionen. Wesentlich ist, dass
all diese nicht-institutionellen Formen ein politisches Ziel haben müssen. Das reine
Boykottieren einer bestimmten Marke, weil einem diese zum Beispiel nicht gefällt, ist
allein freilich keine Form von politischer Partizipation.
Da gerade Formen der nicht-institutionellen Partizipation stetig zunehmen und es
nicht immer klar zu unterscheiden ist, welche neue Form politisch oder nicht politisch
ist, hat van Deth (2014, 354–360) eine Minimaldefinition sowie Regeln entworfen,
die uns bei der Entscheidung, ob etwas als nicht-institutionelle politische Partizipation
gewertet werden kann oder nicht, helfen sollen. Erstens sollte es sich dabei um ein Ver-
halten handeln. Zweitens sollte dieses Verhalten freiwillig sein. Drittens soll die Aktivi-
tät von einem*einer Wähler*in – also nicht von Politiker*innen, Lobbyist*innen oder
Beamt*innen – ausgeführt werden. Letztlich muss sich die Aktivität an die Regierung,
den Staat oder die Politik richten. Sie muss sich also in der gesellschaftlichen Sphäre
des Politischen befinden. Diese vier Grundregeln sollen uns dabei helfen zu definieren,
ob in der Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft etwas als politische, nicht-institutionelle
Partizipation definiert werden kann oder nicht. Dies ist insbesondere wichtig, da mit
dem Aufkommen sozialer Medien auch eine Vielfalt neuer politischer Partizipations-
formen (oder eben nicht) entstanden ist.
Im folgenden Kapitel wird die gegenwärtige Situation der politischen Partizipation
und deren beliebteste Formen (Parteimitgliedschaft, Nutzen von direktdemokratischen
Instrumenten, Demonstrationen und Petitionen) in Österreich näher beleuchtet. Des
Weiteren werden aktuelle Forschungsergebnisse zu dieser ematik vorgestellt. An-
schließend, in Abschnitt 3. dieses Kapitels, werden die Rahmenbedingungen und der
geschichtliche Hintergrund verschiedener Formen politischer Partizipation besprochen.
Zuletzt soll Österreich noch in den internationalen Kontext eingebettet werden, indem
es mit weiteren europäischen Ländern verglichen wird.
2. Gegenwärtige Situation
Lange Zeit galt die Teilnahme an politischen Wahlen als die Kernform der politischen
Partizipation in Österreich. Doch seit geraumer Zeit befindet sich der Anteil der Wäh-
lenden in Österreich in einem Abwärtstrend (BMI 2019). Dies ist insbesondere prob-
lematisch, weil die politische Wahlteilnahme der Bürger*innen als ein Zeichen der De-
mokratiequalität gewertet wird (Franklin 2004; van Deth 2014). Nehmen also immer
weniger Bürger*innen an Wahlen teil, so schwindet einerseits die Verbindung zwischen
den Bürger*innen und dem politischen System und andererseits wird der Demokratie
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zunehmend die Legitimation entzogen (Schwarzer/Zeglovits 2009). Doch soll es hier
nicht ums Wählen (siehe dazu Kritzinger/Wagner in diesem Band), sondern um andere
Formen der politischen Partizipation abseits von Wahlen gehen, welche die Verbindung
zwischen den Bürger*innen und dem politischen System stärken. Eine Übersicht über
die weiteren Formen der Partizipation, die abseits vom Wahlgang in Österreich aus-
geübt werden können, findet sich in Tabelle 1. In den folgenden Subkapiteln werden
die für den österreichischen Fall relevantesten Formen beschrieben und auf die aktuelle
Situation eingegangen.
Tab. 1 Übersicht über Partizipationsformen abseits von Wahlen
Institutionelle Formen Nicht-institutionelle Formen
• Parteimitgliedschaft
• Nutzen von direktdemokratischen Inst-
rumenten:
- Volksabstimmung
- Volksbegehren
- Volksbefragung
• Mitgliedschaft in Vereinen
• Kontaktieren von Politiker*innen
• Teilnahme an Demonstrationen
• Boykottieren/Buykottieren von Produk-
ten
• Unterschreiben von Petitionen
• Tragen politischer Abzeichen
• Geldspenden
2.1 Institutionelle Formen der Partizipation
2.1.1 Parteimitgliedschaft
In der wissenschaftlichen Debatte gilt Österreich als der Archetypus eines Parteien-
staates. Charakteristisch für diese Form des demokratischen politischen Systems ist
die Dominanz der politischen Parteien, welche eine quasi-monopol Stellung in der
Interessensvertretung haben (Dolezal 2019a, 137). Die Zivilgesellschaft ist in solchen
Systemen tendenziell eher schwach ausgeprägt und folglich sind institutionelle Partizi-
pationsformen die beliebtere Form der politischen Teilhabe. Eine davon ist die Partei-
mitgliedschaft. Sie war und ist ein vergleichsweise häufig genutztes Mittel, um sich
in Österreich institutionell politisch und gesellschaftlich zu beteiligen. Fast jede*jeder
Zehnte hat derzeit in Österreich ein Parteibuch.
2.1.2 Direkte Demokratie
Obwohl Österreich eine parlamentarische Demokratie ist, räumt die Bundesverfassung
(BV) dem*der Bürger*in einige Möglichkeiten zur direkten, institutionellen Teilhabe
ein. Zu nennen sind die Nutzung mehrerer direktdemokratischer Instrumente. Am
bekanntesten sind wohl die Teilnahme an einer Volksabstimmung, an einer Volksbe-
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fragung sowie an einem Volksbegehren. Alle drei Möglichkeiten sind Instrumente der
direkten Demokratie auf Bundesebene. Folgend sollen hier alle Instrumente vorgestellt
werden, bevor in Abschnitt 3. Dieses Kapitels der rechtliche und historische Hinter-
grund beleuchtet wird.
Bei einer Volksabstimmung trifft das Volk zu einer vom Parlament vorgeschlage-
nen Angelegenheit die letztinstanzliche Entscheidung, die rechtlich bindend ist. Obli-
gatorisch ist eine Volksabstimmung, wenn es zu einer Gesamtrevision der Verfassung
kommt (Wirnsberger/Haller 2015). Gegenstand einer Volksabstimmung ist entweder
ein Gesetzesbeschluss des Nationalrats, welcher Gesetzeskraft erlangen soll, oder – auf
Vorschlag der Bundesversammlung – die Absetzung des Bundespräsidenten.1 Zudem
kann eine Volksabstimmung auch von einem Drittel des Nationalrates oder des Bun-
desrates zu einem Verfassungsgesetz initiiert werden.
Das Ergebnis einer Volksbefragung ist hingegen unverbindlich und hat lediglich
einen beratenden Charakter. Im Gegensatz zur Volksabstimmung wird sie vor der parla-
mentarischen Beschlussfassung durchgeführt. Eingeführt wurde die Volksbefragung erst
1989. Die Volksbefragung sieht entweder Ja-Nein-Fragen zur Abstimmung vor oder
zwei alternative Lösungsansätze. Inhaltlich muss es sich bei der Volksbefragung um eine
„Angelegenheit von grundsätzlicher und gesamtösterreichischer Bedeutung handeln“.2
Beide, Volksabstimmung und Volksbefragung, werden durch die Entschließung
des*der Bundespräsidenten*Bundespräsidentin angeordnet.
Im Vergleich zu den beiden oben genannten Möglichkeiten, hat das Volksbegehren
einen initiativen Charakter, sprich die Bürger*innen können selbst Gesetzesvorschläge
auf die politische Agenda des Nationalrats setzen. Bevor das Anliegen aber Verhand-
lungsgegenstand im Nationalrat wird, muss es noch das Einleitungs- sowie das Ein-
tragungsverfahren durchlaufen (siehe Abschnitt 3.). Besteht das Begehren diese beiden
Verfahren und können die Initiatoren mindestens 100.000 Unterschriften vorlegen,
muss das Anliegen im Nationalrat diskutiert werden. Nach spätestens vier Monaten
muss der zuständige Ausschuss Bericht über seine Arbeit erstatten. Dann wird das An-
liegen dem Plenum zur Diskussion vorgelegt.
Inhalt eines Volksbegehrens kann nur ein Anliegen sein, für das der Bundesgesetz-
geber zuständig ist. Die Ergebnisse von Volksbegehren sind rechtlich nicht bindend und
bleiben meist ohne weitreichende politische Konsequenzen (Wirnsberger/Haller 2015).
Der Nationalrat muss keinen Gesetzesbeschluss fassen.
1 Siehe „Volksabstimmung“ auf der Webseite oesterreich.gv.at: https://www.oesterreich.gv.at/
themen/leben_in_oesterreich/buergerbeteiligung_direkte_demokratie/Seite.320411.html
(23.05.2022).
2 Siehe „Volksbefragung“ auf der Webseite oesterreich.gv.at: https://www.oesterreich.gv.at/
themen/leben_in_oesterreich/buergerbeteiligung_direkte_demokratie/Seite.320410.html
(23.05.2022).
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446
2.2 Nicht-institutionelle Formen der Partizipation
2.2.1 Demonstrationen
Das Mittel der Demonstration wurde in Österreich vermutlich noch nie so häufig ge-
nutzt wie seit Beginn der COVID-19-Krise. Fast jedes Wochenende wurde in Wien und
auch in anderen Landeshauptstädten demonstriert oder Kundgebungen abgehalten.
ematisch ging es dabei seit dem Ausbruch der COVID-19-Krise mehrheitlich um
die Beschneidung von Freiheitsrechten aufgrund der Corona-Maßnahmen, aber auch
um zahlreiche verschwörungstheoretische Inhalte im Zusammenhang mit COVID-19
(Eberl/Lebernegg 2021a). Politisch wurden diese Demonstrationen mehrheitlich von
rechten Gruppierungen beziehungsweise von der rechtspopulistischen Freiheitlichen
Partei Österreichs (FPÖ) angeführt oder unterstützt (Eberl/Lebernegg 2021b). Dies
ist insofern außergewöhnlich, als dieses Mittel des nicht-institutionellen politischen
Protests bis dahin mehrheitlich von linken Parteien und Bündnissen verwendet wurde
(Giugni/Grasso 2019; Norris et al. 2005). So auch noch vor der COVID-19-Krise. Re-
gelmäßig demonstrierten freitags Schüler*innen, Student*innen und Klimaaktivist*in-
nen gegen die nationale und internationale Klimapolitik. Dazu aufgerufen wurden sie
von der Fridays for Future-Bewegung. Diese international tätige Bewegung setzt es sich
zum Ziel, auf das ema Klimapolitik, erstens, aufmerksam zu machen und, zweitens,
konkrete Forderungen an die Politik zu stellen. Obwohl dem Klima-Protest während
der COVID-19-Krise eher weniger Aufmerksamkeit zuteilwurde, flachte der Protest
nicht ab, sondern wurde hauptsächlich online fortgeführt. Für beide Lager, also sowohl
für das rechte COVID-19-Maßnahmen-skeptische als auch für das linke, spielen die so-
zialen Medien generell eine große Rolle. Die Demonstrierenden und Unterstützenden
werden hauptsächlich über die sozialen Medien wie Facebook, Instagram oder Telegram
mobilisiert und über aktuelle emen informiert. Dies ist im Vergleich zu früheren
Protest-Bewegungen eine große Veränderung.
2.2.2 Petitionen
Auch für das Erstellen von Petitionen spielt das Internet eine große Rolle. Mussten
Unterschriften früher noch eher mühsam auf der Straße und im Freund*innen- und
Bekannten-Kreis gesammelt werden, so können sie heute via Online-Plattformen wie
openPetition oder change.org gesammelt werden. Empfänger*innen von Petitionen kön-
nen sowohl Politiker*innen, Parteien oder die Regierung sein, aber auch Konzerne und
Interessengemeinschaften. Zum Beispiel hat die Stadt Wien zur schnelleren und prak-
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447Politische Partizipation abseits von Wahlen
tischeren Einreichung eine Petitionsplattform3 eingerichtet, wo aktuelle Petitionen auf-
gelistet sind.
Nebst den drei bereits beschriebenen Instrumenten der direkten Demokratie auf
Bundesebene, gibt es noch zwei weitere Möglichkeiten der direkten Beteiligung, die
hier allerdings als nicht-institutionelle Formen eingestuft werden. Sie unterscheiden
sich insofern von der Volksabstimmung, der Volksbefragung und dem Volksbegehren,
als sie an weniger Voraussetzungen gebunden sind beziehungsweise durch das Sammeln
von Unterschriften für ein bestimmtes ema und das folgende Überreichen an eine*n
Politiker*in eher dem Charakter einer Petition entsprechen als dem Charakter eines
direkt demokratischen Instrumentes. Obwohl beide Instrumente letztlich den Staat
miteinbinden, kann hier argumentiert werden, dass der Fokus eher auf dem Sammeln
von Unterschriften und dessen Überreichen an beziehungsweise Kontaktieren von Poli-
tiker*innen liegt. Bei beiden Instrumenten kommt es außerdem infolge zu keiner direkt
demokratischen Abstimmung.4
Erstens wäre da das Instrument der parlamentarischen Bürgerinitiative. Damit kön-
nen Wähler*innen ein bestimmtes Anliegen in Form einer Petition vor den Nationalrat
bringen. Dazu sind mindestens fünfhundert Unterschriften wahlberechtigter österrei-
chischer Staatbürger*innen notwendig.5 Inhaltlich können nur Anliegen eingereicht
werden, für die der Bund in Gesetzgebung und Vollziehung zuständig ist.
Die zweite Möglichkeit für eine*n Bürger*in ein bestimmtes Anliegen vor den Na-
tionalrat zu bringen, ist die parlamentarische Petition. Dabei wird das Anliegen stell-
vertretend durch eine*n Nationalratsabgeordnete*n vor das Parlament gebracht bezie-
hungsweise im Ausschuss für Petitionen und Bürgerinitiativen behandelt.
Forschungsergebnisse. Nutzung (nicht)institutioneller Formen
der Partizipation
Zur Nutzung institutioneller und nicht-institutioneller Formen der Partizipation wurden
im Frühjahr 2020 im Rahmen des Projekts Austrian Democracy Lab (ADL) mithilfe des
Demokratieradars rund 4.500 Bürger*innen befragt. Der Demokratieradar ist eine halb-
jährliche repräsentative Umfrage zum aktuellen Stand der Demokratie in Österreich.
3 Siehe „Petitionsplattform“ auf der Webseite der Stadt Wien: https://www.wien.gv.at/petition/
online/ (13.04.2022).
4 Dementsprechend soll hier auch nochmal auf die Schwierigkeit der Einordnung als institu-
tionelle oder nicht-institutionelle Partizipation verwiesen werden.
5 Siehe dazu „Parlamentarische Bürgerinitiative“ auf der Webseite oesterreich.gv.at: https://
www.oesterreich.gv.at/themen/leben_in_oesterreich/buergerbeteiligung___direkte_demo-
kratie/1/Seite.320440.html (23.05.2022)
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-
Tabelle 2 zeigt, wie oft im Jahr 2020 drei unterschiedliche institutionelle Formen der
der größte Teil der Befragten keine der drei Formen im vergangenen Jahr getätigt hat,
also weder eine*n Politiker*in kontaktiert, noch in einer politischen Partei oder in einer
anderweitigen sozialen Bewegung mitgearbeitet hat. Die beiden letzteren Formen
wurden aber von zumindest vier Prozent beziehungsweise sechs Prozent monatlich
praktiziert. Acht Prozent geben immerhin an, mindestens ein- bis zweimal pro Jahr ei-
Abseits der institutionellen Formen haben sich in den vergangenen Jahren aber auch
unzählige nicht-institutionelle Formen entwickelt beziehungsweise an Beliebtheit ge-
-
ture-Bewegung, die weltweit große Demonstrationen oder Besetzungen gegen den
gegen die aktuelle Corona-Politik, die sich seit dem Beginn der Pandemie im Winter
2020 mehren. Dies sind nur die zwei jüngsten von zahlreichen politischen Bewegun-
gen, die abseits von Wahlen und institutionellen Formen unzählige Bürger*innen zur
politischen Partizipation mobilisieren konnten. Gemeinsam haben all diese Bewegun-
Demonstrationen organisieren, Kundgebungen und Besetzungen veranstalten, große
Tab. 2 Institutionelle Partizipation
Quelle: Austrian Democracy Lab (2020); Demokratieradar Welle 5 (Daten gewichtet); eigene
Berechnung.
Wie oft pro Jahr: Eine*n Politiker*in
kontaktiert?
(in %)
In einer Partei oder
politischen Gruppie-
rung mitgearbeitet?
(in %)
In einer sozialen
Gruppierung mit-
gearbeitet?
(in %)
Nie 85 90 76
1- bis 2-mal pro Jahr 8 3 10
Vierteljährlich 4 1 5
Halbjährlich 1 0 1
Dreivierteljährlich 1 1 2
Monatlich 2 4 6
N 4.486 4.482 4.475
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449Politische Partizipation abseits von Wahlen
Österreicher*innen diese Formen praktizieren, wurde ebenfalls im Rahmen des Demo-
kratieradars im Frühjahr 2020 abgefragt.
In Tabelle 3 und 4 sind die sechs gängigsten Formen der nicht-institutionellen Partizi-
pation aufgelistet.6-
zeichnen von Petitionen sowie das Boykottieren von Produkten. Ersteres haben 23 Pro-
unterzeichnet zu haben. Das Boykottieren von Produkten (aus politischen Gründen) ist
Drittel tun dies sehr regelmäßig. Jede*r Zehnte gibt an, es zumindest ein- bis zweimal
pro Jahr zu tun. Die unbeliebteste Form der nicht-institutionellen Beteiligung ist ge-
mäß der Befragung das Tragen eines politischen Abzeichens oder Kampagnenstickers.
Rund 92 Prozent aller 4.484 Befragten antworteten auf diese Frage mit „nie“. Das ist
-
fragten Formen.
Was sagen uns diese Zahlen nun zum aktuellen Stand der politischen Partizipation
in Österreich abseits von Wahlen? Zum einen lässt sich festhalten, dass die Österrei-
-
des Demokratieradars antwortete auf alle Fragen nach ihrer politischen Teilhabe (ab-
6 Es sei hier verwiesen, dass die Liste der unkonventionellen Partizipationsformen durch die
zunehmende Relevanz des Internets stetig verlängert werden kann.
Tab. 3 Nicht-institutionelle Partizipation I
Quelle: Austrian Democracy Lab (2020); Demokratieradar Welle 5 (Daten gewichtet);
eigene Berechnung.
Wie oft pro Jahr: Petition unter-
zeichnet?
(in %)
Politisches Ab-
zeichen/Sticker
getragen?
(in %)
An legaler
Demonstration
teilgenommen?
(in %)
Nie 65 92 88
1- bis 2-mal pro Jahr 23 4 8
Vierteljährlich 7 1 2
Halbjährlich 1 0 0
Dreivierteljährlich 2 1 1
Monatlich 2 1 0
N 4.466 4.484 4.491
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gesehen von Wahlen) mit Ablehnung. Vergleicht man die Zahlen mit anderen Ländern
(siehe Abschnitt 4.) sind die Österreicher*innen sehr behäbig. Wie wir gleich erfahren
des politischen Systems.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Stand in Abschnitt 2. dieses Kapitels noch die aktuelle Situation in Österreich im Vor-
dergrund, so beschäftigen wir uns nun mit der rechtlichen Verankerung und dem histo-
rischen Kontext der wichtigsten Formen der institutionellen und nicht-institutionellen
Partizipation in Österreich.
3.1 Institutionelle Formen der Partizipation
3.1.1 Parteimitgliedschaft
Formell geregelt wird die Parteimitgliedschaft in den Parteistatuten einer Partei. Darin
werden etwa die Rechte und Pflichten der Mitglieder festgelegt sowie auch die Gründe,
welche zu einem Parteiausschluss führen können, klar definiert. Nebst der klassischen
Mitgliedschaft bieten manche Parteien mittlerweile auch abgeschwächte Formen der Teil-
nahme an der Partei an, beispielsweise indem sie den Parteisympathisant*innen den Sta-
tus als Unterstützer*in anbieten. Auch deren Rechte und Pflichten werden in den Partei-
Tab. 4 Nicht-institutionelle Partizipation II
Quelle: Austrian Democracy Lab (2020); Demokratieradar Welle 5 (Daten gewichtet); eigene Be-
rechnung.
Wie oft pro Jahr: Produkt
boykottiert?
(in %)
Für politisches Anlie-
gen Geld gespendet?
(in %)
Ehrenamtlich
gearbeitet?
(in %)
Nie 50 90 92
1- bis 2-mal pro Jahr 10 6 4
Vierteljährlich 7 2 1
Halbjährlich 2 0 0
Dreivierteljährlich 3 0 1
Monatlich 27 2 1
N 4.424 4.482 4.484
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451Politische Partizipation abseits von Wahlen
statuten geregelt. Dass es diese neue Form, die als Parteimitgliedschaft „light“ bezeichnet
werden kann, gibt, kann als Reaktion auf die sinkende Nutzung der Parteimitgliedschaft
als eine Form der institutionellen Partizipationsmöglichkeit verstanden werden (Gauja
2015; Scarrow 2014). Eine Studie von Krouwel (2012), die die Trends der Parteimitglied-
schaften in westlichen Staaten analysiert, kommt zu dem Schluss, dass in Österreich bis in
die 1970er-Jahre noch rund dreißig Prozent des Elektorates eine Mitgliedschaft bei einer
Partei innehatten (Krouwel 2012, 232). Das war im Vergleich zu den anderen Ländern
ein absoluter Spitzenwert. In anderen Staaten nahm die Parteimitgliedschaft schon ab den
frühen 50er-Jahren deutlich ab. Im Laufe der Jahrzehnte sank aber auch in Österreich die
Zahl der Parteimitglieder. Vor allem in den frühen 1990ern mussten die österreichischen
Parteien einen enormen Rückgang an Mitgliedern verkraften.
Aktuell sind etwa 13 Prozent der Wähler*innen Mitglied einer politischen Partei.
Dies ist im Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern nach wie vor ein hoher
Wert, wenn man bedenkt, dass beispielsweise in Irland dieser nur mehr ein Prozent
des Elektorats beträgt. Auch Dolezal (2019a) kommt so folglich zum Schluss, dass die
Parteimitgliedschaft nach wie vor eine häufige Form der institutionellen Teilhabe in
Österreich ist, auch wenn sie stetig sinkt.
3.1.2 Direkte Demokratie
Wie bereits erwähnt, räumt die Bundesverfassung den Bürger*innen mehrere direkt-
demokratische Rechte ein. Die genauen Abläufe werden dabei im Bundesverfassungs-
gesetzt (B-VG) geregelt, genauer gesagt im zweiten Hauptstück „Gesetzgebung des
Bundes“, Abschnitt D „Der Weg der Bundesgesetzgebung“.7
Artikel 43 bis 48 des Bundesverfassungsgesetzes (B-VG) definieren dabei das Vor-
gehen und die Voraussetzungen für die Volksabstimmung. Gemäß Artikel 43 B-VG
„ist jeder Gesetzesbeschluss des Nationalrates, […], [einer Volksabstimmung zu un-
terziehen], wenn der Nationalrat es beschließt oder die Mehrheit der Mitglieder des
Nationalrates es verlangt“. Verpflichtend ist eine Volksabstimmung bei einer Gesamt-
änderung der Bundesverfassung oder bei einer Teiländerung, wenn das ein Drittel des
Nationalrates oder des Bundesrates verlangen (Art 44 Abs 3 B-VG). In einem nächsten
Schritt wird die Volksabstimmung vom Bundespräsidenten angeordnet (Art 46 Abs 1
B-VG). Nach Artikel 45 BV-G entscheidet dann die Mehrheit der gültig abgegebenen
Stimmen. Das Ergebnis ist amtlich zu verlautbaren.
7 Siehe „Bundesrecht konsolidiert: Gesamte Rechtsvorschrift für Bundes-Verfassungsgesetz,
Fassung vom 20.05.2022“ auf der Webseite des Rechtsinformationssystems des Bundes,
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnum-
mer=10000138 (20.05.2022).
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Zur Volksabstimmung kam es bis dato lediglich zweimal. Das erste Mal im Jahr
1978, als es um die Inbetriebnahme des Kraftwerks Zwentendorfs ging beziehungs-
weise im weiteren Sinne um die friedliche Nutzung von Kernenergie in Österreich.
Die Abstimmenden lehnten das Vorhaben der friedlichen Nutzung der Kernenergie
mit 50,5 Prozent ab. Zur zweiten Volksabstimmung kam es 1994 im Zuge des ge-
planten Beitritts Österreichs zur Europäischen Union (EU). Basierend auf 66,6 Prozent
Ja-Stimmen (33,4 % Nein-Stimmen) trat Österreich 1995 der EU bei.
Das Volksbegehren ist in Artikel 41, Absatz 2 und 3 BV-G geregelt. Absatz 2 schreibt
vor, dass „jedes von 100.000 Stimmberechtigten oder von je einem Sechstel der Stimm-
berechtigten dreier Länder unterstützte Volksbegehren von der Bundeswahlbehörde
dem Nationalrat zur Behandlung vorzulegen“ ist. Zuvor muss das Begehren aber noch
zwei Verfahren durchlaufen. Nämlich das Einleitungs- und das Eintragungsverfahren.
Beim Einleitungsverfahren muss das Anliegen zunächst beim Bundesministerium
für Inneres (BMI) angemeldet werden, welches dann innerhalb von zwei Wochen ent-
scheidet, ob das Vorhaben zugelassen wird oder nicht. Wird es zugelassen, müssen
von Seiten der Initiator*innen mindestens 8.4018 Unterstützungserklärungen vorge-
legt werden. Diese gelten dann auch automatisch als Unterschriften für das eigentliche
Volksbegehren. Wenn das Einleitungsverfahren positiv abgeschlossen werden konnte,
beginnt das Eintragungsverfahren.
Zunächst legt das BMI eine achttägige Eintragungsphase fest. Während dieser Zeit
können alle für die Nationalratswahl berechtigten Wähler*innen das Vorhaben unter-
stützen. Ein Volksbegehren wurde erfolgreich eingereicht, wenn es von mindestens
100.000 Wähler*innen oder je einem Sechstel der Stimmberechtigten aus drei Bundes-
ländern unterstützt wird (Öhlinger 2014). Verläuft auch die Eintragungsphase positiv,
wird das Anliegen vom BMI zum Nationalrat weitergeleitet, welcher es dem fachlich
entsprechenden Ausschuss zuteilt. Dort kommt es zu Vorberatungen, indem beispiels-
weise Expert*innen oder Sachverständige hinzugezogen werden. Nach spätestens vier
Monaten muss der Ausschuss dem Nationalrat Bericht erstatten. Danach wird das An-
liegen im Nationalrat behandelt.
Der Inhalt eines Begehrens muss eine durch Bundesgesetze geregelte Angelegen-
heit betreffen und „kann in Form eines Gesetzesantrags gestellt werden“ (Art 41 Abs 2
B-VG). Ein Volksbegehren hat also einen initiativen Charakter, sprich die Wahlberech-
tigten können so selbst konkrete Anliegen vor den Nationalrat bringen. Das Volksbegeh-
ren ist unter anderem auch deswegen das am häufigsten genutzte direktdemokratische
Instrument (siehe Tab. 5). Seit 1945 wurden insgesamt 57 Volksbegehren eingereicht.
8 Die angeforderte Zahl an Unterstützungserklärungen muss ein Promille von der letzten
Volkszählung entsprechen (siehe „Volksbegehren“ auf der BMI-Webseite: https://www.bmi.
gv.at/411/start.aspx#pk_01, 20.05.2022).
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453Politische Partizipation abseits von Wahlen
Tab. 5 Alle Volksbegehren von 1945 bis 2021
Titel Jahr Gesamtanzahl an
Unterstützer*innen
Österreichischer Rundfunk, Gesellschaft m.b.H 1964 832.353
Schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche 1969 889.659
Abschaffung der 13. Schulstufe 1969 339.407
Schutz des menschlichen Lebens 1975 895.665
Pro-Zwentendorf-Volksbegehren 1980 421.282
Anti-Zwentendorf-Volksbegehren 1980 147.016
Konferenzzentrum-Einsparungsgesetz 1982 1.361.562
Konrad-Lorenz-Volksbegehren 1985 353.906
Volksbegehren zwecks Verlängerung des Zivildienstes 1985 196.376
Volksbegehren gegen Abfangjäger – für eine
Volksabstimmung
1985 121.182
Anti-Draken-Volksbegehren im Bundesland
Steiermark
1986 244.254
Anti-Privilegien-Volksbegehren 1987 250.697
Volksbegehren zur Senkung der Klassenschülerzahl 1989 219.127
Volksbegehren zur Sicherung der Rundfunkfreiheit in
Österreich
1989 109.197
Volksbegehren für eine Volksabstimmung über einen
Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum
1991 126.834
Volksbegehren „Österreich zuerst“ 1993 416.531
Volksbegehren „Pro Motorrad“ 1995 75.525
Tierschutz-Volksbegehren 1996 459.096
Neutralitäts-Volksbegehren 1996 358.156
Gentechnik-Volksbegehren 1997 1.225.790
Frauen-Volksbegehren 1997 644.665
Volksbegehren „Schilling- Volksabstimmung“ 1997 253.949
Volksbegehren „Atomfreies Österreich“ 1997 248.787
Familien-Volksbegehren 1999 183.154
Volksbegehren neue EU-Abstimmung 2000 193.901
Bildungsoffensive- und Studiengebühren-Volksbegehren
2001 173.594
Volksbegehren Veto gegen Temelin 2002 914.973
Volksbegehren „Sozialstaat Österreich“ 2002 717.102
Volksbegehren gegen Abfangjäger 2002 624.807
Volksbegehren „Atomfreies Europa“ 2003 131.772
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Titel Jahr Gesamtanzahl an
Unterstützer*innen
Pensions-Volksbegehren 2004 627.559
Volksbegehren „Österreich bleib frei!“ 2006 258.281
Volksbegehren „Stopp dem Postraub“ 2009 140.582
Volksbegehren „RAUS aus EURATOM“ 2011 98.678
Volksbegehren Bildungsinitiative 2011 383.724
Volksbegehren „Demokratie Jetzt!“ 2013 69.740
„Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien“ 2013 56.673
EU-Austritts-Volksbegehren 2015 261.056
Volksbegehren „Gegen TIPP/CETA“ 2017 562.379
Frauenvolksbegehren 2018 481.959
Volksbegehren „Don’t smoke“ 2018 881.692
Volksbegehren „ORF ohne Zwangsgebühren“ 2018 320.264
Volksbegehren „Für verpflichtende Volksabstimmungen“
2019 27.568
Volksbegehren „CETA-Volksabstimmung“ 2019 28.539
Volksbegehren „Bedingungsloses Grundeinkommen“ 2019 69.939
Volksbegehren „Asyl europagerecht umsetzen“ 2020 135.087
Volksbegehren „EURATOM-Ausstieg Österreichs“ 2020 100.482
Volksbegehren „Smoke-JA“ 2020 33.265
Volksbegehren „Smoke-NEIN“ 2020 140.526
Klimavolksbegehren 2020 380.590
Tierschutzvolksbegehren 2021 416.229
Volksbegehren „ FÜR IMPFFREIHEIT“ 2021 259.149
Volksbegehren „ Ethik für ALLE“ 2021 159.978
Volksbegehren „Notstandshilfe“ 2021 79.134
Volksbegehren „ Impfpflicht: Notfalls JA“ 2021 65.729
Volksbegehren „ Impfpflicht: Striktes NEIN“ 2021 269.391
Volksbegehren „ Kauf Regional“ 2021 146.295
Quelle: Bundesministerium für Inneres (2022); eigene Darstellung.
Die stimmenstärksten Volksbegehren waren bis dato das Begehren zum Konferenzzen-
trum- Einsparungsgesetz (1982), konkret ging es um den Bau des Austria Centers in
Wien, und das Gentechnik-Volksbegehren von 1997. Ersteres wurde rund 1,36 Mil-
lionen Mal unterzeichnet, zweiteres wurde von 1,23 Millionen Österreicher*innen
unterschrieben (BMI 2021). Im Zeitverlauf ist zu erkennen – siehe Tabelle 5 – dass
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455Politische Partizipation abseits von Wahlen
die Anzahl an eingereichten Volksbegehren jährlich steigt. Im Jahr 2021 wurden mit
sieben Einreichungen bis jetzt die meisten Volksbegehren innerhalb eines Jahres dem
Parlament vorgelegt. Anhand von Tabelle 5 wird aber auch deutlich, dass über die Zeit
gesehen immer weniger Unterschriften gesammelt werden konnten. Es ist also immer
schwieriger geworden, Unterstützer*innen unter den Wähler*innen zu finden. Zu die-
sem Ergebnis kam auch eine Studie von Glavanovits et al. (2019). Gaben 1986 noch
rund 45 Prozent an, in den vergangenen zwölf Monaten ein Volksbegehren unterstützt
zu haben, so waren es 2004 und 2016 nur noch zirka ein Viertel aller Befragten (Gla-
vanovits et al. 2019, 446).
Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Volksbefragung sowie deren Ablauf wer-
den in Artikel 49b B-VG geregelt. Absatz 1 besagt, dass eine Volksbefragung zu einem
grundsätzlichen und gesamtösterreichischen ema dann stattfinden muss, wenn ent-
weder der Nationalrat basierend auf einem Antrag seiner Mitglieder das beschließt oder
es die Bundesregierung nach Vorbereitung im Hauptausschuss anordnet. Weiters besagt
der Absatz, dass Wahlen oder Angelegenheiten, für die eine Verwaltungsbehörde zu-
ständig ist, nicht Gegenstand einer Volksbefragung sein können. Darüber hinaus muss
der Antrag die entsprechende Frage – eine Ja-/Nein-Frage oder eine Auswahl aus zwei
alternativen Lösungsvorschlägen – enthalten. Das einzige Beispiel einer solchen Befra-
gung ist bis dato die Befragung über die Wehrpflicht im Jahr 2013. Die Mehrheit der
abstimmenden Bevölkerung entschied sich damals für die Beibehaltung des aktuellen
Systems, in dem Bürger*innen zwischen Wehrpflicht oder Zivildienst entscheiden kön-
nen.
3.2 Nicht-institutionelle Formen der Partizipation
3.2.1 Versammlungsfreiheit & Petitionsrecht
Das Recht auf Versammlungsfreiheit und das Petitionsrecht sind nationalstaatlich durch
Artikel 11 und 12 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbür-
ger*innen (StGG) von 1867 gewährleistet. Ersteres ist seit 1958 zudem auch durch
Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) europarechtlich ge-
schützt.
Dennoch war die Ausübung nicht-institutioneller Partizipation in Österreich lange
Zeit vergleichsweise schwach ausgeprägt (Dolezal 2021). Historisch begründet ist das
durch die korporatistischen Strukturen, welche sich nach dem Ende des Zweiten Welt-
krieges in Österreich entwickelten (Dolezal 2019a). Die beiden großen Parteien SPÖ
und ÖVP setzten nach 1945 eher auf Konsens statt auf Konflikt und prägten damit den
Begriff der „Lagerdemokratie“ (Plasser/Seeber 2017). Die stark ausgeprägten Struktu-
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456
ren der Konsensdemokratie begrenzten die politische Involvierung der Bürger*innen
auf die Wahlteilnahme. Die Zeit nach 1945 war folglich lange durch ein hohes Maß an
Eliten- und Systemvertrauen der Österreicher*innen sowie durch starke Legitimation
des politischen Systems geprägt.
Die Zivilgesellschaft blieb unter diesen Rahmenbedingungen unterentwickelt und
agierte eher passiv. Stattdessen kam den politischen Parteien und den mit ihnen ver-
wobenen Interessensgruppen wie der Arbeiterkammer (AK), dem Gewerkschaftsbund
(ÖGB) oder der Österreichischen Wirtschaftskammer (WKO) und der Industriellen-
vereinigung (IV) starke Bedeutung zu.
Doch es hat sich sowohl politisch als auch zivilgesellschaftlich viel getan in den ver-
gangenen Jahrzehnten. Vor allem mit dem Aufkommen neuer politischer Gegner in
der Wahlarena – konkret der FPÖ und der GRÜNEN – hat sich auch die politische
Kultur seit den 1970ern und 1980ern gewandelt (Dolezal/Hutter 2007; Plasser/Seeber
2017). Eines der ersten großen Protestereignisse der Nachkriegszeit fand 1975 statt.
Umweltaktivist*innen demonstrierten gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerks
Zwentendorf. Nachdem sich immer mehr Bürger*innen und Parteien der Anti-Atom-
kraft-Bewegung anschlossen, fand 1978 eine nationale Volksabstimmung über die In-
betriebnahme des AKWs statt. Das Ergebnis der Abstimmung fiel – wie oben bereits
erwähnt – negativ aus. Die Mehrheit der Abstimmenden stimmte gegen die Nutzung
von Kernenergie. Diesem Ereignis folgte im Jahre 1984 die Besetzung der Hainburger
Au. Ebenfalls ein Protestereignis angeführt von Umweltaktivist*innen, welche die
Hainburger Au besetzten, um damit den Bau eines Wasserkraftwerks zu verhindern.
Diese beiden erfolgreichen Protestereignisse können als ein langsames Erwachen der ös-
terreichischen Zivilgesellschaft angesehen werden. Immer weitere zivilgesellschaftliche
Protestereignisse formierten sich in den darauffolgenden Jahren; zu nennen seien zum
Beispiel die Donnerstagsdemonstrationen gegen die schwarz-blaue Bundesregierung im
Jahr 2000 oder die Friedensdemonstrationen gegen den Irak-Krieg 2003.
Zwei umfassende und tiefgreifende Studien von Dolezal und Hutter (2007) und
Dolezal (2021) haben sich mit der Entwicklung politischen Protests von 1970 bis 2005
in Österreich beschäftigt. Im Rahmen dieser haben die Autoren umfassende Daten zu
Protestereignissen und Teilnehmer*innen erhoben und ausgewertet. Die Studie liefert
folgende Ergebnisse:
Die Anzahl von Protestereignissen seit den 1970ern ist im internationalen Vergleich ex-
trem niedrig (Dolezal/Hutter 2007, 343). Nach der Studie von Dolezal und Hutter (2007,
343), welche jeweils die Montagsausgaben einer Zeitung analysiert haben, schwanken sie
zwischen zwanzig und dreißig Ereignissen pro Jahr. Lediglich 1996 und 2000 stiegt die
Anzahl auf über dreißig (1996 aufgrund der neuen Student*innenbewegung und 2000
wegen der Donnerstagsdemonstrationen gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung). Einen generel-
len Trend zur Zunahme an Protestereignissen können die Autoren nicht feststellen.
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457Politische Partizipation abseits von Wahlen
Ebenso niedrig ist die Anzahl der Teilnehmer*innen an Protesten. Auch diese ist im
Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten äußerst niedrig, nämlich viermal nied-
riger, und überschreitet die Millionengrenze nur selten (Dolezal/Hutter 2007, 343 f.).
Ein Ausreißer ist wiederum das Jahr 2000, als sich große Proteste gegen die damalige
schwarz-blaue Koalition formierten. Gemäß der Analyse von Dolezal haben außerdem
selbst groß angelegte Streiks im internationalen Vergleich nur relativ wenige Teilneh-
mer*innen. Dennoch stellt ein solcher organisierter Streik der Arbeitnehmer*innen
das Teilnehmer*innen-stärkste Protestereignis dar: Rund 800.000 Arbeitnehmer*innen
streikten im Jahr 2003.
Die beliebtesten Formen der nicht-institutionellen Partizipation in Österreich sind
das Unterzeichnen von Petitionen und die Teilnahme an Demonstrationen oder Kund-
gebungen. Fast drei Viertel aller Ereignisse entfallen auf diese Formen (Dolezal/Hutter
2007, 344). Nur zirka ein Viertel bis ein Fünftel entfällt auf konfrontative Formen des
Protests. Zu gewalttätigen Ausbrüchen kommt es nur sehr selten.
ematisch beschäftigen sich die meisten Ereignisse mit dem ema Umwelt und
AKW (23,6 %) gefolgt von Student*innen-Protesten (7 %) und Rechtsextremismus
(6,6 %). Inhaltlich werden die Proteste allerdings immer heterogener. Die Autoren stel-
len eine zunehmende thematische Varianz fest. Dominierte in den 1970ern bis 1980ern
noch das ema Umwelt, so wird das ema Migration in den vergangenen Jahren
immer häufiger zum Gegenstand politischen Protests (Dolezal 2019a).
4. Einordnung des österreichischen Falls
Wie eingangs erwähnt, wurde unter politischer Partizipation in Österreich lange Zeit
vor allem die Teilnahme an Wahlen oder Abstimmungen auf unterschiedlichen politi-
schen Ebenen oder die Parteimitgliedschaft verstanden. Doch nicht nur in Österreich,
sondern auch in anderen post-industriellen, westlichen Demokratien nahmen diese
klassischen Formen der politischen Teilnahme generell ab (Dalton 2013; Klingemann/
Fuchs 1995; Norris 2002). Dies ist insbesondere problematisch, da sich die „Demo-
kratie auf das Regieren durch die Bürger bezieht“ (van Deth 2009, 141). Im Gegensatz
zur sinkenden Wahlbeteiligung bildeten sich in den westlichen Demokratien in den
vergangenen Jahrzehnten aber zahlreiche weitere Formen der politischen Teilhabe aus.
Die Teilnahme an Demonstrationen, das Unterschreiben von Petitionen, politischer
Konsumismus oder Geldspenden werden im Zeitverlauf immer beliebter (Marien et al.
2010; Sabucedo/Arce 1991). In der wissenschaftlichen Debatte spricht man in dieser
Hinsicht auch von der Entstehung der „critical citizens“, die sich im Zuge der kulturel-
len Revolution der 1968er entwickelten (Norris 2002). Bürger*innen westlicher Demo-
kratien wurden seither immer skeptischer gegenüber dem politischen System und ihren
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Regierenden. Das Vertrauen sank und der Wille zur demokratischen Mitbestimmung
wuchs. Folglich ist das Aufkommen und die Nutzung solch neuer Partizipationsformen,
so Dalton (2004), ein wichtiger Faktor für die Erstarkung der Legitimation liberaler
Demokratien und die Konsolidierung der bröckelnden Verbindung zwischen Staat und
Bürger*innen.
Zur Einordnung, wie es um die politische Partizipation abseits von Wahlen in Ös-
terreich im internationalen Vergleich bestellt ist, werden Daten des „European Social
Surveys“, Runde 9 (ESS) von 2018 herangezogen. Verglichen werden die Zahlen der
institutionellen und nicht-institutionellen Partizipation in Österreich mit Deutschland,
Frankreich, Schweden und Großbritannien.
4.1 Institutionelle Formen der Partizipation
In Tabelle 6 sind die Anteile institutioneller Partizipationsformen im Vergleich darge-
stellt. 21 Prozent der Österreicher*innen gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten
eine*n Politiker*in kontaktiert zu haben. Das ist im Vergleich mit den anderen Ländern
ein hoher Wert. Im Vergleich ebenfalls höher ist der Prozentwert für die Tätigkeit „in ei-
ner politischen Gruppierung oder Interessensvertretung“. Mit politischer Gruppierung
ist auch die Parteimitgliedschaft gemeint, welche in Österreich wie erwähnt besonders
hoch ist. Trotzdem liegt der Wert hier nur bei knapp sieben Prozent.
Tab. 6 Institutionelle Partizipation im Vergleich
Land Eine*n Politiker*in
kontaktiert
In politischer Partei
oder Interessensgruppe
gearbeitet
Ehrenamtlich in
Organisation oder
Verein gearbeitet
Ja Nein Ja Nein Ja Nein
Österreich 21 79 7 93 20 80
Deutschland 17 83 4 96 28 72
Frankreich 11 82 3 97 14 86
UK 18 82 2 98 7 93
Schweden 21 79 5 95 36 64
N 1.892 8.698 428 10.164 2.217 8.374
-
dest einmal ausgeübt haben.
Quelle: European Social Survey (2018); Runde 9 (Daten gewichtet); eigene Berechnung.
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459Politische Partizipation abseits von Wahlen
Die Werte für die Mitarbeit in einer anderen Organisation sind für alle Länder (ver-
glichen mit den anderen institutionellen Aktivitäten) relativ hoch. In Österreich geben
immerhin zwanzig Prozent an, dies getan zu haben. Besonders hoch ist der Wert aber in
Schweden und Deutschland. 36 Prozent respektive 28 Prozent gaben in diesen beiden
Ländern an, in einer anderen Organisation oder einem Verein mitgearbeitet zu haben.
Zusammengefasst kann also festgehalten werden, dass andere institutionelle Formen
der Teilhabe, nebst der Wahlteilnahme, in Österreich im internationalen Vergleich re-
lativ stark genutzt werden, dennoch sind sie mit Werten zwischen sieben und einund-
zwanzig Prozent absolut betrachtet auf einem niedrigen Niveau.
4.2 Nicht-institutionelle Formen der Partizipation
In Tabelle 7 werden nun die Werte der nicht-institutionellen Partizipationsformen ver-
glichen. Sieht man sich die Zahlen pro Land an, fällt auf, dass die Schwed*innen in
dieser Hinsicht besonders aktiv sind. 15 Prozent der befragten Schwed*innen gaben an,
im letzten Jahr eine politisches Abzeichen oder Sticker getragen zu haben. Rund 41 Pro-
zent unterzeichneten in den letzten zwölf Monaten des Weiteren eine Petition und sogar
die Hälfte boykottierte ein Produkt aus politischen Gründen.
Tab. 7 Nicht-institutionelle Partizipation im Vergleich
Land Ein Abzeichen/
Sticker getragen
Petition
unterzeichnet
An legaler
Demonstration
teilgenommen
Produkt
boykottiert
Ja Nein Ja Nein Ja Nein Ja Nein
Österreich 5 95 33 67 9 91 25 81
Deutschland 6 94 36 64 9 91 36 64
Frankreich 12 88 32 68 14 86 33 67
GB 8 92 42 58 5 95 24 76
Schweden 15 85 41 59 11 89 50 50
N 911 9.671 3.806 6.771 948 9.641 3.465 7.101
-
dest einmal ausgeübt haben. Eigene Berechnung, Daten gewichtet.
Quelle: European Social Survey (2018); Runde 9 (Daten gewichtet); eigene Berechnung.
Einen Badge zu tragen oder an einer Demonstration teilzunehmen, sind in Österreich
mit rund fünf beziehungsweise neun Prozent nur wenig beliebte Mittel der nicht-in-
stitutionellen Partizipation. Lediglich das Unterzeichnen einer Petition oder das Boy-
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kottieren eines Produkts wird von zirka einem Drittel beziehungsweise einem Viertel
der Befragten getätigt.
Abb. 1 Ausmaß nicht-institutioneller Partizipation im Vergleich
Summiert man alle nicht-institutionellen Tätigkeiten, zeigt sich, dass in keinem an-
deren Land die Zahl der komplett Abstinenten so hoch ist. Gemäß Abbildung 1 haben
über sechzig Prozent aller österreichischen Befragten mit „nie“ geantwortet, sprich zwei
Drittel haben keine einzige nicht-institutionelle Partizipationsform ausgeübt. Zwanzig
Prozent der österreichischen Befragten antworteten mit „eine Aktivität“, zwölf Prozent
der österreichischen Befragten sagen, sie haben mindestens zweimal nicht-institutionell
partizipiert, und die verbleibenden fünf bis sieben Prozent aller österreichischen Befrag-
ten haben sogar drei oder mehr Formen ausgeübt. Auch in den anderen untersuchten
Ländern hat die größte Gruppe der Befragten zwar nie eine Form nicht-institutioneller
Partizipation ausgeübt, dennoch ist deren Anteil bedeutend kleiner als im österreichischen
Fall. In Schweden sagen lediglich knapp 35 Prozent, nie auf die abgefragte Art partizipiert
zu haben. In den anderen drei Ländern schwankt diese Zahl zwischen vierzig und fünfzig
Prozent. Wenn partizipiert wird, dann am häufigsten nur in „einer Form“. In Frankreich
ist dieser Wert mit knapp zwanzig Prozent zirka gleich hoch wie in Österreich. In Deutsch-
land und Großbritannien liegt er jeweils bei knapp dreißig Prozent. Fast vierzig Prozent
der schwedischen Befragten gaben an, eine Form der nicht-institutionellen Partizipation
im vergangenen Jahr getätigt zu haben. Rund jede*r Fünfte der schwedischen und der
deutschen Befragten gaben des Weiteren an, auf zwei Arten partizipiert zu haben. In den
restlichen drei Ländern liegt dieser Wert zwischen zehn und fünfzehn Prozent.
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461Politische Partizipation abseits von Wahlen
Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass Österreich im internationalen Ver-
gleich deutlich hinterherhinkt, was die politische Partizipation abseits von der Wahl-
teilnahme angeht, vor allem bezüglich nicht-institutioneller Formen. Am ehesten sticht
noch die Beliebtheit des Unterzeichnens einer Petition beziehungsweise das Boykottie-
ren von Produkten heraus. Doch auch diese Zahlen sind vergleichsweise niedrig. Die
Daten dieser Analyse bestätigen, was andere Studien (siehe Dolezal 2021 & 2019b &
2019a; Dolezal/Hutter 2007) bereits gezeigt haben. Die österreichische Bevölkerung
bevorzugt nach wie vor die Wahlteilnahme respektive die Parteimitgliedschaft im Ver-
gleich zu anderen Partizipationsformen.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Eine der größten Herausforderungen der Zukunft dürfte wohl die Legitimation des
Systems durch politische Teilhabe der Bürger*innen – so wie wir sie kennen – dar-
stellen. Zwar ist die Wahlteilnahme in Österreich vergleichsweise nach wie vor hoch,
doch durch die tendenzielle Abnahme wäre es demokratiepolitisch wichtig, dass das
dadurch möglicherweise entstehende Legitimationsdefizit durch andere Formen der
Partizipation ausgeglichen wird. Dies scheint bis dato nicht der Fall zu sein. Wie oben
beschrieben, liegt Österreich im internationalen Vergleich teilweise weit hinter anderen
europäischen Ländern zurück, wenn es um die Wahrnehmung von Beteiligungsrechten
geht. Selbst die gesetzlich festgehaltenen direktdemokratischen Instrumente, wie Volks-
abstimmung, Volksbegehren und Volksbefragung, oder die parlamentarische Bürger-
initiative und die parlamentarische Petition werden nur sparsam genützt.
Die generelle Behäbigkeit des österreichischen Elektorats, wenn es um die Teilnahme
oder die Ausübung anderer politischer institutioneller oder nicht-institutioneller Par-
tizipationsformen geht, sollte als ernstzunehmende Herausforderung gesehen werden.
Wenn auch nicht die Lösungen, so könnte das Entwickeln und Bereitstellen von offizi-
ellen Online-Partizipationsmöglichkeiten doch Anreize zu einer vermehrten Teilnahme
am politischen Prozess setzen. Das Internet bietet dazu jetzt schon zahlreiche Möglich-
keiten, Stichwort „e-Voting“. Warum diese Möglichkeiten nicht weiterentwickeln?
Bietet das Internet also einerseits Chancen, so stellt es die Wissenschaft auch vor
komplexe Herausforderungen, insbesondere wenn es um die Definition von politischer
Partizipation geht. Was tun mit Likes von politischen Statements und dem Verfassen
von politischen Kommentaren? Beides kann, erstens, als Verhalten gesehen werden,
wenn es auch manchmal nur ein Klick ist. Zweitens ist anzunehmen, dass beides sowohl
freiwillig, und drittens, auch von einem*einer Bürger*in und nicht von einer Institution
ausgeübt wird. Viertens richten sich politische Kommentare und Likes von politischen
Postings zumeist an die Regierung, die Opposition oder generell an Politiker*innen.
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Wir sehen also: Gemäß der Definition von van Deth (2014) könnte man argumentie-
ren, dass das Verfassen von politischen Hasskommentaren als politische Partizipation
gewertet werden muss. Der zentrale Punkt bei dieser Problematik ist die Definition von
Verhalten. Reicht ein Klick, ein Kommentar schon aus, um als „politisches“ Verhalten
zu gelten? Oder erfordert es doch mehr, um ernsthaft politisch zu partizipieren. Hier
muss die Wissenschaft ansetzen und bald eine klarere Definition entwickeln.
Das rasante Entstehen von immer neuen Möglichkeiten, seine politische Meinung
im Internet kundzutun, stellt aber nicht nur die Wissenschaft vor ganz neue Probleme,
sondern auch Recht und Politik. Meistens sind es derzeit noch die Gerichte, die fallwei-
se definieren, was ein nicht gesetzeskonformer Hasskommentar ist und was der freien
Meinungsäußerung entspricht. Auch hier der Appell an die Politik sowie an die Rechts-
und Politikwissenschaft, entsprechende Gesetze und Definitionen zu entwickeln.
Eine weitere Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem Internet ist natürlich auch der
Datenschutz. Jede Form von Online-Partizipation muss ihrem*ihrer Nutzer*in eine sichere
Beteiligung gewährleisten, indem die Persönlichkeitsrechte der Nutzer*innen so weit wie
möglich geschützt werden. Hier scheint es derzeit noch an patenten Lösungen zu fehlen.
Der Datenschutz ist mitunter auch der Hauptgrund, warum e-Voting nach wie vor in den
Kinderschuhen steckt und an ein flächendeckendes System (noch) nicht zu denken ist.
Nebst dem fehlenden Datenschutz muss aber auch bedacht werden, dass das Nutzen
von Computern, Handys, Tablets et cetera und die daraus entstehende Chance, das
Internet zu verwenden, nicht jedem*jeder möglich ist. Es droht dadurch eine Exklu-
sion von bestimmten sozialen und gesellschaftlichen Gruppen. Werden große Teile der
Wähler*innenschaft von der Online-Partizipation ausgeschlossen, so verzerrt dies auch
das Bild der gelebten politischen Partizipation. Als Beispiel soll hier die Exklusion von
älteren Wähler*innen genannt werden. Häufig besitzen sie kein entsprechendes Gerät
oder das nötige Know-how, um letzteres bedienen zu können. Infolgedessen kommt es
zu einem Ausschluss einer besonders relevanten Wähler*innen-Gruppe. Die Ergebnisse
von Online-Partizipation sind dann dahingehend verzerrt, dass vor allem die Interessen
oder Meinungen von jüngeren Gruppen repräsentiert werden.
Dies sind nur einige der Schwierigkeiten, die das Verschieben der Partizipation von
der Offline-Welt in die Online-Welt mit sich bringt. Es gibt also viel zu tun. Für Politik-
wissenschaftler*innen sowie auch für Recht und Politik.
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(16.08.2022).
Übungsfragen
Worin unterscheiden sich institutionelle und nicht-institutionelle Formen der Par-
tizipation?
Was sind in Österreich die beliebtesten Arten der politischen Partizipation?
Zählen Sie die vier Regeln auf, die uns helfen können, nicht-institutionelle politische
Partizipation einzugrenzen.
Welches Ministerium entscheidet, ob ein Volksbegehren eingeleitet wird?
Wie viele Unterstützungserklärungen sind für die Einleitung eines Volksbegehrens
notwendig?
Wie viele Volksabstimmungen gab es bisher in Österreich und welchen Grund be-
ziehungsweise welchen Zweck hatten diese?
Österreicher*innen üben, verglichen mit Schweden, äußerst oft nicht-institutionelle
Formen der Partizipation aus. Wahr oder falsch?
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Teil 5: Prozesse
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Sozialpolitik
Laurenz Ennser-Jedenastik
Zusammenfassung
9Österreich verfügt über einen der am stärksten ausgebauten Sozialstaaten Europas:
9Daraus ergibt sich eine starke Umverteilungswirkung: Fast die Hälfte der Einkommens-
ungleichheit wird durch das Steuer- und Sozialsystem ausgeglichen.
9Der österreichische Sozialstaat hat seine Wurzeln in den 1880er-Jahren. Damals wurden
die ersten Gesetze zur Unfall- und Krankenversicherung für Arbeiter*innen verabschie-
det.
9Österreich gehört zu den konservativen Sozialstaatstypen: Das äußert sich in einem ro-
Leistungen, dezentralen Strukturen (Selbstverwaltung, Bedeutung des Dritten Sektors)
und einer Familienpolitik, die traditionelle Rollenbilder fortschreibt.
9Im europäischen Vergleich sind besonders die Pensionsausgaben in Österreich hoch. Beim
Arbeitslosengeld hingegen ist die Nettoersatzrate vergleichsweise niedrig. In der Fami-
lienpolitik gibt es in Österreich relativ hohe Geldleistungen (Familienbeihilfe, Kinderbe-
treuungsgeld), aber niedrige Ausgaben für Sachleistungen (Kinderbetreuung).
9Die österreichische Sozialpolitik war lange von der Sozialpartnerschaft geprägt. Kern der
Sozialpartnerschaft ist der Interessensausgleich und die Abstimmung politischer Vorha-
ben zwischen Regierung und den Interessensvertretungen der Arbeitnehmer*innen und
Arbeitgeber*innen.
9Eine Ursache für die jahrzehntelange Stabilität der Sozialpartnerschaft ist die enge per-
-
mer*innen-Verbände (ÖGB, AK) stehen dabei der SPÖ, die Arbeitgeber*innen-Verbände
1. Einleitung
Sozialpolitik umfasst alle politischen Maßnahmen und Prozesse zur Errichtung, Aus-
und Umgestaltung des Sozialstaates. Während Sozialstaaten in unterschiedlichen Län-
dern und zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden aussehen, ist ihnen doch eines
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470 Laurenz Ennser-Jedenastik
gemein: Sie benutzen die Mittel des Staates (etwa durch Gesetze), um das Spiel der
Marktkräfte in dreierlei Hinsicht einzuschränken: erstens, um ein Mindesteinkommen
unabhängig vom Erwerbseinkommen zu sichern; zweitens, um Unsicherheit, die durch
soziale Risiken (etwa Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit) entsteht, abzufedern; und drit-
tens, um bestimmte Sozialleistungen unabhängig von Stand oder Klasse allen bestmög-
lich zur Verfügung zu stellen (Kuhlmann 2018, 16 f.).
Der österreichische Sozialstaat umfasst eine Reihe von Teilbereichen: Arbeitsrecht,
Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Familienleistungen, Gesundheitsversorgung, Pflege, Invali-
dität/Unfall, Pensionen und Wohnungspolitik (BMASGK 2018).
-
cen, um soziale Risiken wie etwa Krankheit, Alter, Invalidität oder Arbeitslosigkeit ab-
ihrem Erwerbseinkommen gesichert. Sozialpolitik umfasst alle politischen Prozesse
Gemessen an den Staatsausgaben ist der Sozialstaat der bei weitem größte Politikbe-
reich in Österreich (wobei nicht alle Leistungen direkt von staatlichen Einrichtungen
erbracht oder finanziert werden) Im Jahr 2019 wurden in den Bereichen Soziale Si-
cherung und Gesundheitswesen über 113 Milliarden Euro von der öffentlichen Hand
ausgegeben, was etwa 59 Prozent der Staatsausgaben entsprach (Statistik Austria 2021,
223).
Der überwiegende Teil sozialstaatlicher Leistungen wird durch die öffentliche Hand
finanziert und ein guter Teil auch direkt von öffentlichen Einrichtungen (z.B. Sozialver-
sicherungsträger, Arbeitsmarktservice) erbracht. Damit wird deutlich, dass der Sozial-
staat nicht nur den Löwenanteil an staatlicher Tätigkeit in Österreich darstellt. Er ist
auch ein bedeutender Faktor für die gesamte Volkswirtschaft. Gemessen an der Wirt-
schaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) betrugen die Sozialausgaben in Österreich 2018
rund 28 Prozent (Eurostat 2021). Im Vergleich mit anderen Mitgliedsstaaten der Euro-
päischen Union liegt Österreich damit im Spitzenfeld (siehe Abb. 1).
Zur eingehenderen Analyse von Sozialpolitik vergleicht man aber nicht nur über
Länder und Politikbereiche hinweg, sondern unterscheidet zwischen bestimmten Arten
von Sozialleistungen. Zunächst differenziert man verschiedene Formen von Leistun-
gen: Geldleistungen umfassen alle direkten Zahlungen wie etwa Pensionen, Arbeits-
losengeld oder Familienbeihilfe. Demgegenüber stehen Sach- beziehungsweise Dienst-
leistungen wie etwa medizinische Versorgung, Medikamente, Kinderbetreuung oder
Sozialwohnungen. Darüber hinaus umfasst die Sozialpolitik Rechte beziehungsweise
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471Sozialpolitik
Rechtsansprüche, die nicht im engeren Sinn konsumiert werden, sondern Schutz in be-
stimmten Situationen bieten (etwa Kündigungsschutz, Mutterschutz, Arbeitszeitrege-
lungen, Arbeitnehmerschutz). In Österreich haben außerhalb des Gesundheitssystems
traditionell Geldleistungen Vorrang vor Sachleistungen (Obinger 2015).
Außerdem unterscheidet man zwischen verschiedenen Umverteilungsprinzipien,
gemäß denen eine bestimmte Sozialleistung funktioniert (Deutsch 1975). Manche
Leistungen fallen für Bezieher*innen höherer Einkommen höher aus (Proportionali-
tät). Dabei handelt es sich in der Regel um Versicherungsleistungen, wo die Ansprüche
sich nach vorher eingezahlten Beiträgen richten (etwa in der Pensions- oder Arbeits-
losenversicherung). Andere Leistungen sind unabhängig vom Einkommen für alle Be-
zieher*innen gleich hoch (Universalität), wie es etwa bei vielen Familienleistungen der
Fall ist. Wieder andere Leistungen stehen nur Personen mit niedrigen Einkommen zur
Verfügung (Bedürftigkeit), etwa die Sozialhilfe. Rein quantitativ sind in Österreich Ver-
sicherungsleistungen, die dem Proportionalitätsprinzip folgen, dominant. Das liegt vor
allem an den im internationalen Vergleich großzügigen Leistungen der Pensionsver-
sicherung (OECD 2019, 154).
In der österreichischen Sozialpolitik finden auch grundlegende institutionelle We-
senszüge des politischen Systems ihren Niederschlag, etwa die föderale Struktur und
die österreichische Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Zwar sind die meisten
Sozialleistungen Bundessache, jedoch spielen die Länder und Gemeinden eine wesent-
liche Rolle in den Bereichen Gesundheitspolitik (etwa als Träger von Krankenanstal-
ten), Pflege, Kinderbetreuung, Wohnungspolitik und Sozialhilfe (Obinger 2002). Die
unmittelbaren Gestaltungsmöglichkeiten der Europäischen Union in der Sozialpolitik
sind zwar auf wenige Bereiche beschränkt, jedoch garantiert die EU ihren Bürger*innen
in Österreich diskriminierungsfreien Zugang zum österreichischen Sozialsystem. Aus
diesem Grund kommt in strittigen Fällen auch dem Europäischen Gerichtshof Gewicht
als sozialpolitisch relevanter Akteur zu (Blauberger et al. 2020).
2. Gegenwärtige Situation
Der österreichische Sozialstaat zählt heute zu den am stärksten ausgebauten Wohlfahrts-
staaten weltweit. Seinen Kern bildet das System der Sozialversicherung, das ein Pflicht-
versicherungssystem bestehend aus Unfallversicherung, Krankenversicherung, Pen-
sionsversicherung und Arbeitslosenversicherung darstellt (Österle/Heitzmann 2019,
21).1
1 Im Gegensatz zu den anderen drei Komponenten ist die Arbeitslosenversicherung keine von
den Versicherten selbstverwaltete Institution, sondern wird über eine staatliche Stelle – das
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Die österreichische Sozialversicherung funktioniert nach dem Prinzip der Selbstver-
waltung (Art 120a B-VG). Das bedeutet, dass die leitenden Organe der Sozialversiche-
rungsträger nicht von staatlichen Stellen bestellt werden, sondern mit Vertreter*innen
der Versicherten besetzt sind, die auf Basis der Ergebnisse der Arbeiter-, Wirtschafts-
und Landwirtschaftskammerwahlen entsendet werden. Innerhalb des gesetzlichen Rah-
mens agieren die Organe der Sozialversicherung weisungsfrei gegenüber den staatlichen
Behörden.
Die Sozialversicherung knüpft an der Erwerbstätigkeit an: Die Versicherungspflicht
begründet sich in einer Erwerbstätigkeit mit einem Bruttogehalt über der sogenannten
Geringfügigkeitsgrenze (monatlich rund 476 Euro im Jahr 2021). Über dieser Grenze
bezahlen Dienstgeber- und Dienstnehmer*innen zu etwa gleichen Teilen Sozialversi-
cherungsbeiträge, aus denen ein guter Teil der Leistungen der Sozialversicherung finan-
ziert wird (der Rest wird über staatliche Zuschüsse gedeckt).
Die Anknüpfung an die Erwerbsarbeit bringt es auch mit sich, dass das österreichi-
sche Sozialversicherungssystem nach Berufsgruppen fragmentiert ist. Trotz mehrmali-
ger Zusammenlegungen (zuletzt 2018/19) gibt es bis heute eigene Versicherungsträger
für Selbstständige (Sozialversicherungsanstalt der Selbstständigen, SVS) und den öf-
fentlichen Dienst (Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Berg-
bau, BVAEB). Bis Ende 2002 bestanden aber etwa in der Pensionsversicherung auch
noch getrennte Träger für Arbeiter*innen und Angestellte. Diese Fragmentierung hat
zur Folge, dass sich auch die Versicherungsleistungen für bestimmte Bevölkerungsgrup-
pen unterscheiden können.
Die Sozialversicherung erbringt beziehungsweise finanziert zwei Arten von Leistun-
gen: Geldleistungen und Sachleistungen. Zu den bedeutendsten Geldleistungen gehören
die Pensionen, das Krankengeld und – als staatliche Leistungen außerhalb des selbstver-
walteten Systems der Sozialversicherung – das Arbeitslosengeld und die Notstandshilfe.
2
Alle drei folgen dem Prinzip der Proportionalität: Wer höhere Beiträge einzahlt, erhält
auch höhere Auszahlungen. Allerdings wird diese Proportionalität durch Sockel- und
Deckelbeträge abgeschwächt. Außerdem begründen etwa in der Pensionsversicherung
nicht nur Erwerbszeiten Ansprüche auf Leistungen, sondern auch Kinderbetreuungszei-
ten. Die wichtigsten Sachleistungen der Sozialversicherung sind medizinische Versorgung
und Heilmittel bei Unfall und Krankheit. Diese folgen dem Universalitätsprinzip: gleiche
Leistungen für alle Versicherten, unabhängig von der Höhe der Beiträge.
Arbeitsmarktservice (AMS) – abgewickelt. Ein Grund dafür ist, dass die Arbeitslosenversi-
cherung stark prozyklisch funktioniert: Der Bedarf an Leistungen ist genau dann besonders
hoch, wenn die Beitragszahlungen niedrig sind – nämlich bei hoher Arbeitslosigkeit.
2 Die Notstandshilfe ist eine Versicherungsleistung, die nach dem Auslaufen des Arbeitslosengel-
des greift. Sie ist zeitlich unbegrenzt und in der Regel etwas niedriger als das Arbeitslosengeld.
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473Sozialpolitik
Die Ausgestaltung der Sozialversicherung weist Österreich als Bismarck’schen So-
zialstaat aus (benannt nach Otto von Bismarck, 1871 bis 1890 Deutscher Reichs-
kanzler und Mitbegründer der modernen Sozialgesetzgebung) (Obinger/Tálos 2010).
Typisch für das Bismarck’sche Modell sind die Orientierung an der Erwerbsarbeit, die
Bedeutung von beitragsfinanzierten Versicherungsleistungen nach dem Proportionali-
tätsprinzip, die Selbstverwaltung durch die Versicherten und damit einhergehend die
Fragmentierung nach Berufsgruppen (Palier 2010, 24). All diese Charakteristika sind
im österreichischen Sozialsystem noch immer deutlich ausgeprägt.3
Neben der Sozialversicherung (inklusive Arbeitslosenversicherung) sind die Regu-
lierung der Arbeitsbeziehungen, aktive Arbeitsmarktpolitik (d.h. Beratung, Schulung,
Weiterbildung, Vermittlung), Familien- und Pflegeleistungen sowie Wohnungspoli-
tik und Sozialhilfe die wichtigsten Elemente des österreichischen Sozialstaats (Tálos/
Obinger 2020).
Die Regulierung von Arbeitsbeziehungen erfolgt teils durch Gesetze und Verordnun-
gen (etwa das Arbeitszeitgesetz oder das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz), teils durch
Kollektivverträge und Betriebsvereinbarungen, die zwischen den Interessensvertretun-
gen von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen ausverhandelt werden (siehe auch
Ausführungen zur Sozialpartnerschaft unten). Die aktive Arbeitsmarktpolitik umfasst
jene Leistungen, die die Wiedereingliederung Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt direkt
unterstützen sollen – entweder durch Hilfestellungen bei der Arbeitsvermittlung oder
durch bessere Qualifizierung Arbeitssuchender. Diese Leistungen werden durchwegs
als Sach- beziehungsweise Dienstleistungen erbracht und sind unabhängig von der Bei-
tragshöhe zur Arbeitslosenversicherung.
Unter Familienleistungen fallen zum einen Geldleistungen wie Familienbeihilfe und
Kinderbetreuungsgeld, die nach dem Universalitätsprinzip
4
allen Eltern mit Kindern zu-
3 Dem Bismarck’schen Modell steht idealtypisch das Beveridge-Modell gegenüber (benannt
nach dem britischen Ökonomen und Politiker William Henry Beveridge, der die Grundzüge
des modernen britischen Wohlfahrtsstaates entwarf ). Das Beveridge-Modell setzt nicht bei
der Erwerbstätigkeit an, sondern umfasst die gesamte Wohnbevölkerung, es finanziert sich
aus Steuern (nicht Versicherungsbeiträgen) und bietet unabhängig vom Einkommen einheit-
lich hohe Geldleistungen und staatlich bereitgestellte Sachleistungen etwa in der Gesund-
heitsversorgung (Benassi 2010).
4 Seit 2017 besteht die Option einer einkommensabhängigen Auszahlung des Kinderbetreu-
ungsgeldes. Der Bruch mit dem Universalitätsprinzip erfolgte mit der Absicht, eine größere
Zahl an (im Durchschnitt deutlich besserverdienenden) Vätern zur Inanspruchnahme des
Kinderbetreuungsgeldes zu bewegen und dadurch die Väterbeteiligung in der Betreuung von
Kleinkindern zu erhöhen. Tatsächlich ist die Väterbeteiligung bei dieser Variante des Kinder-
betreuungsgeldes am höchsten – wiewohl weit entfernt von einer Parität zwischen Vätern und
Müttern (Rechnungshof 2020, 24–26).
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474 Laurenz Ennser-Jedenastik
teilwerden, zum anderen Sach- beziehungsweise Dienstleistungen in der Betreuung von
Kindern. Zu den direkten Geldleistungen kommen auch Steuerbegünstigungen in Form
von Absetzbeträgen (Schratzenstaller 2015). Wie oben erwähnt, ist Kinderbetreuung An-
gelegenheit der Länder, dementsprechend groß sind die Unterschiede in der Angebots-
dichte und folglich Inanspruchnahme. In Summe ist die Familienpolitik in Österreich
stark auf Geldleistungen ausgerichtet, was mit niedrigen Betreuungsquoten bei Klein-
kindern und einer hohen Teilzeitquote bei Müttern einhergeht (Rathgeb/Wiß 2020).
Im Bereich der Pflege ist die wichtigste staatliche Leistung das Bundespflegegeld,
dessen Höhe sich nach dem Pflegebedarf, nicht aber nach dem Einkommen richtet
(Heitzmann/Österle 2008, 55). Die Ausgaben dafür haben sich in den vergangenen
20 Jahren auch aufgrund der zunehmenden Alterung beinahe verdoppelt. Daneben
stellen die Förderung der 24-Stunden-Pflege und die Finanzierung beziehungsweise der
Betrieb von Pflegeheimen (seit 2018 ohne Rückgriff auf das Vermögen der betroffenen
Familie) die wichtigsten öffentlichen Leistungen dar (Österle/Heitzmann 2019, 34 f.).
In der Wohnungspolitik spielen – wie bei Pflege und Sozialhilfe – die Länder und
Gemeinden eine wichtige Rolle. Ein knappes Viertel aller Wohnsitze in Österreich ent-
fällt auf den geförderten Wohnbau (d.h. Gemeinde- oder Genossenschaftswohnungen),
in Wien sind es über 40 Prozent (Statistik Austria 2020) – ein im europäischen Ver-
gleich sehr hoher Wert (Scanlon et al. 2015).
Die Sozialhilfe/Mindestsicherung wird bei starker Bedürftigkeit ausgezahlt (kein
Einkommen, kein nennenswertes Vermögen). Sie unterliegt einer geteilten Zustän-
digkeit: Der Bund tritt als Rahmengesetzgeber auf, die Länder verabschieden Ausfüh-
rungsgesetze. Wiewohl die Sozialhilfe einen kleinen Teil der Sozialausgaben ausmacht
(weniger als ein Prozent), ist sie in den letzten Jahren Gegenstand intensiver politischer
Debatten gewesen (siehe Abschnitt 2.2; Ennser-Jedenastik 2020, 8).
2.1 Akteur*innen und Politikgestaltung
2.1.1 Parteien
Gerade die Sozialpolitik wird oft als Resultat von Parteienkonkurrenz und -kompro-
miss verstanden (Schmidt 2010): Parteien werben mit verschiedenen sozialpolitischen
Programmen um Stimmen und das schlägt sich dann auch in der Politikgestaltung nie-
der. Die Parteidifferenzhypothese besagt etwa ganz simpel, dass Regierungen mit unter-
schiedlichen Parteienzusammensetzungen unterschiedliche (sozial-)politische Outputs
produzieren (Zohlnhöfer 2003): Parteien links der Mitte bevorzugen großzügigere So-
zialleistungen und dementsprechend hohe Steuern und Abgaben, während jene rechts
der Mitte geringere Leistungsniveaus bei gleichzeitig niedrigeren Steuern- und Abgaben
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475Sozialpolitik
vorsehen. Christdemokratische Parteien nehmen hier oft eine Mittelposition ein (Kaly-
vas/Van Kersbergen 2010).
Die Positionierung der österreichischen Parteien folgt im Großen und Ganzen die-
sem Muster. Abbildung 1 zeigt Daten aus Expert*innenbefragungen des Chapel Hill
Expert Surveys (2022). Bezüglich ihrer sozio-ökonomischen Positionierung – also was
etwa Umverteilung und staatliche Eingriffe in den Markt angeht – lassen sich die ös-
terreichischen Parteien demnach klar in ein linkes (SPÖ, GRÜNE) und ein rechtes
(ÖVP, FPÖ, LIF/NEOS) Lager einteilen (wobei die FPÖ zeitweise in Richtung Mitte
abweicht). Untersucht man die Wahlprogramme der Parteien, kommt man zu sehr ähn-
lichen Ergebnissen (Ennser-Jedenastik 2021).
Abb. 1 Ökonomische Links-Rechts-Position österreichischer Parteien
einer Skala von 0 (extrem links) bis 10 (extrem rechts).
Quelle: Chapel Hill Expert Survey (2019).
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476 Laurenz Ennser-Jedenastik
Der österreichische Sozialstaat ist daher auch Resultat der programmatischen Po-
sitionen der Parteien in Regierungsverantwortung. Das hohe Leistungsniveau bei
gleichzeitigem Fokus auf Erwerbsarbeit und Versicherungsprinzip ist ein Produkt der
parteipolitischen Kräfteverhältnisse, die über weite Strecken von einer starken sozial-
demokratischen (SPÖ) und einer starken christdemokratischen Partei (ÖVP) geprägt
waren (Tálos/Obinger 2020).
2.1.2 Verbände und Sozialpartnerschaft
Neben den Parteien sind die gesetzlichen und freiwilligen Interessensvertretungen der
Arbeitnehmer*innen (AN) und Arbeitgeber*innen (AG) zentrale Akteure der österrei-
chischen Sozialpolitik. Die Arbeitnehmer*innenseite wird vom auf freiwilliger Mitglied-
schaft basierenden Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB) und den auf Pflichtmit-
gliedschaft beruhenden Arbeiterkammern (AK) repräsentiert. Auf Arbeitgeber*innenseite
sind die Wirtschaftskammer Österreich (WKO) und die Landwirtschaftskammern (LK)
die wichtigsten Verbände (beide ebenso mit Pflichtmitgliedschaft).
Die enge Interessensabstimmung zwischen Dachverbänden (Akkordierung) und ihre
privilegierte Einbindung in die Politikgestaltung (Konzertierung) vor allem bei Fragen
der Wirtschafts-, Lohn-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ist der Kern der österreichi-
schen Sozialpartnerschaft (Tálos/Kittel 2001). Die Institutionalisierung der Sozial-
partnerschaft als Verhandlungssystem fand ab den 1950er-Jahren statt, unter anderem
durch die Einrichtung der (ursprünglich nur provisorisch vorgesehenen) Paritätischen
Kommission für Preis- und Lohnfragen (Tálos/Hinterseer 2019, 28–31). Ihre Hoch-
phase erlebte die Sozialpartnerschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren, ab Mitte der
1980er geht ihr Einfluss in der Politikgestaltung aber deutlich zurück (Praprotnik et al.
2015; Tálos 2006).
Zwar ist die Sozialpartnerschaft im internationalen Vergleich keineswegs einzigartig,
doch kann sie getrost als Extremfall korporatistischer Interessenspolitik gelten (Korpo-
ratismus bezeichnet die institutionalisierte Einbindung von AN- und AG-Verbänden in
die Politikgestaltung). In praktisch allen bekannten Korporatismusindizes liegt Öster-
reich unter den reichen Industriestaaten an der Spitze (Jahn 2016; Siaroff 1999). Für
die Herausbildung dieses Systems waren demnach auch spezifische Voraussetzungen
notwendig – viele davon in der Struktur der Verbändelandschaft begründet: Die hohe
Konzentration und Zentralisierung der AG- und AN-Dachverbände, ihre politische
Privilegierung (Pflichtmitgliedschaft, Zugang zur Politik), ihre enge Verflechtung mit
den Parteien, ihre Ausrichtung an gesamtwirtschaftlichen Interessen – all diese Fak-
toren begünstigten den Austrokorporatismus (Tálos 2006). Zudem stützten die hohe
Akzeptanz in der Bevölkerung und das Machtduopol von ÖVP und SPÖ in den ersten
Nachkriegsjahrzehnten die Sozialpartnerschaft.
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477Sozialpolitik
Der Bedeutungsverlust der Sozialpartnerschaft ab den 1980ern hat ebenso mannig-
faltige Wurzeln: In wirtschaftlicher Hinsicht spielten langsameres Wachstum, höhere
Arbeitslosigkeit, geringere Reallohnzuwächse und die Zunahme atypischer Beschäfti-
gung eine Rolle. Die dadurch mitverursachten budgetären Engpässe erhöhten das Kon-
fliktpotenzial zwischen ÖVP und SPÖ und schmälerten den Spielraum für Interessens-
abtausch im sozialpartnerschaftlichen Kompromiss (Tálos/Hinterseer 2019, 86–88).
Auf politischer Ebene kam hinzu, dass neue Akteure mit geringer sozialpartnerschaft-
licher Verankerung deutlich an Zuspruch gewannen (FPÖ, GRÜNE, liberale Partei-
en) und teils auch Regierungsverantwortung erlangten. Im Gegenzug sank etwa der
Organisationsgrad des ÖGB (der Anteil der Erwerbstätigen, die Gewerkschaftsmitglied
sind) zwischen 1960 und 2019 von 60 auf rund 26 Prozent (Visser 2019). Zu guter
Letzt schränkte auch der EU-Beitritt Österreichs Handlungsspielräume ein (etwa in
der Wettbewerbs-, Handels- und Geldpolitik), was einen Bedeutungsverlust nationaler
Interessenspolitik nach sich zog.
Zwar erwies sich die Sozialpartnerschaft in jüngerer Vergangenheit als taugliche
wirtschaftspolitische Krisenfeuerwehr (Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/9, COVID-
19-Pandemie), etwa bei der Ausarbeitung von Kurzarbeitsmodellen. Zudem bleiben die
Dachverbände (konkret WKO und ÖGB) als Verhandler von Kollektivverträgen rele-
vante wirtschaftspolitische Akteure. Dennoch ist aus heutiger Sicht anzunehmen, dass
die österreichische Wirtschafts- und Sozialpolitik in Zukunft von einer stärker ausdiffe-
renzierten – sprich: pluralistischeren – Landschaft an Interessensorganisationen, Lobby-
gruppen, Denkfabriken und politischen Parteien geprägt werden wird, als dies in der
Hochphase der Sozialpartnerschaft im 20. Jahrhundert der Fall war (Karlhofer 2007).
2.1.3 Andere Akteur*innen
Neben Parteien und Sozialpartnern gibt es eine Vielzahl an Akteuren, die die Ausge-
staltung und Implementation der Sozialpolitik prägen. Zu den wichtigsten zählen die
Verwaltung (z.B. Bundesministerien, Landesbehörden, AMS), die Sozialversicherungs-
träger, Höchstgerichte auf nationaler und europäischer Ebene (siehe Abschnitt 2.2), die
gesetzlichen Interessensvertretungen von Gesundheitsberufen (z.B. Ärztekammer, Apo-
thekerkammer) sowie der Dritte Sektor als Erbringer von Leistungen in den Bereichen
Gesundheit, Pflege und Betreuung.
Als Beispiel für einen Prozess der sozialstaatlichen Politikgestaltung wird im Folgenden
die Einführung, Aus- und Umgestaltung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung be-
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478 Laurenz Ennser-Jedenastik
ziehungsweise Sozialhilfe ab 2010 dargestellt. Wiewohl es sich dabei nicht um einen
traditionellen Kernbereich des österreichischen Sozialsystems (wie etwa die Sozialver-
sicherung) handelt, werden in diesem Politikprozess vier wesentliche Einflussfaktoren
der österreichischen Sozialpolitik des 21. Jahrhunderts sichtbar:
Parteieneffekte: Wie schon in der gesamten Ersten und Zweiten Republik ist die
Sozialpolitik geprägt von parteipolitischen Machtverhältnissen. Sind Koalitionen linker
und rechter Parteien an der Regierung, sind als Politikergebnisse dementsprechende
Kompromisse wahrscheinlich (Tálos/Obinger 2020).
Koordinationsprobleme im Föderalismus: Sozialpolitik muss in bestimmten Fäl-
len nicht nur horizontal auf Bundesebene abgestimmt werden, sondern auch vertikal
zwischen Bund und Ländern. Je nachdem, ob und wie sehr diese Abstimmung gelingt,
variieren Politikergebnisse über die Zeit und – als Folge der zunehmend bunten Koali-
tionslandschaft auf regionaler Ebene – auch über die Länder.
Zuwanderung als neues ema der Sozialpolitik: Spätestens mit der sogenannten
Flüchtlingskrise 2015–16 schlägt sich das ema Migration im sozialpolitischen Dis-
kurs nieder (Rathgeb 2021). Wohlfahrtschauvinistische Argumente – die Diskriminie-
rung zwischen Staatsbürger*innen und Zuwanderer*innen in der Sozialpolitik – neh-
men zu und polarisieren den traditionell sozio-ökonomischen Konflikt entlang einer
sozio-kulturellen Konfliktlinie: Zusätzlich zur Größe des Sozialstaates geht es also ver-
mehrt darum, wer in den Genuss seiner Leistungen kommen soll.
Höchstgerichte als Vetospieler: Da besonders wohlfahrtschauvinistische Elemente
in der Sozialgesetzgebung schnell an verfassungs- und europarechtliche Grenzen stoßen,
werden Höchstgerichte (EuGH, VfGH) zu relevanten sozialpolitischen Akteuren, die
den rechtspolitischen Spielraum für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene be-
schränken (Blauberger et al. 2020).
Der Impetus für die Vereinheitlichung der (bis dahin länderspezifisch geregelten) So-
zialhilfe zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS) im Jahr 2010 kann in der
Oppositionsphase der SPÖ während der Regierungen Schüssel I und II (2000 bis 2007)
verortet werden. Da Angelegenheiten der Sozialhilfe geteilte Zuständigkeit zwischen
Bund und Ländern sind, einigten sich SPÖ und ÖVP in den Koalitionsverhandlungen
2006 auf eine Umsetzung per 15a-Vereinbarung.5 Doch erst mit einiger Verzögerung
(Neuwahlen 2008, Widerstand einzelner Länder, inhaltliche Konflikte zwischen SPÖ
und ÖVP) wurde diese im Jahr 2010 beschlossen (Fink/Leibetseder 2019). Befristet war
die 15a-Vereinbarung bis Ende 2016.
5 Vereinbarungen nach Artikel 15a des Bundes-Verfassungsgesetzes sind Verträge zwischen
Bund und einem oder mehreren (oft allen) Bundesländern. Auch Verträge nur unter Ländern
sind möglich. Sie können die Gesetzgebung in Bund und Ländern binden, müssen dazu aber
vom Parlament und den Landtagen beschlossen werden.
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479Sozialpolitik
Jahr Ereignis/Maßnahme
2005 „Kompetenzteam Soziales“ der SPÖ (damals in Opposition) präsentiert Forderung
nach Bedarfsorientierter Mindestsicherung (BMS)
2006 Einigung in Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP auf Umsetzung der
BMS mittels 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern
2008 Erster Ministerialentwurf (April); Neuwahlen (September), danach neuerliche
Fixierung des Vorhabens im Koalitionsabkommen zwischen SPÖ und ÖVP
2010 Abschluss der 15a-Vereinbarung zur Vereinheitlichung der Sozialhilfe zur „Be-
darfsorientierten Mindestsicherung“ (Zustimmung im Nationalrat: SPÖ, ÖVP,
GRÜNE); es folgen dementsprechende Anpassungen der Sozialhilfegesetzgebungen
der Länder
2012–17 Starker Anstieg der Zahl der Bezieher*innen und der Ausgaben für die BMS, unter
anderem aufgrund der Flüchtlingsbewegungen 2015–16
2016 Verhandlungen zur Verlängerung der 15a-Vereinbarung scheitern; bundeseinheit-
liche Vorgaben für die BMS laufen mit Jahresende 2016 aus
2016 Mehrere Länder (v.a. NÖ, OÖ, Burgenland) verabschieden Neuregelungen der
BMS in Landesgesetzen mit stark wohlfahrtschauvinistischen Elementen
2017 Bundesregierung Kurz I (ÖVP-FPÖ); Regierungsprogramm: Neues Sozialhilfe-
Grundsatzgesetz soll Anreiz zur Zuwanderung dämpfen und Arbeitsaufnahme
fördern
2018 VfGH hebt Teile der niederösterreichischen und burgenländischen Neuregelung
der BMS auf, die oberösterreichische Gesetzgebung bleibt nach Prüfung des VfGH
großteils intakt
2018 EuGH kippt Diskriminierung subsidiär Schutzberechtigter im OÖ Mindestsiche-
rungsgesetz
2019 Beschluss des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes im Nationalrat (Zustimmung: ÖVP,
FPÖ)
2019 Aufhebung von Teilen des Sozialhilfe-Gesetzes durch VfGH
2019 Bundesregierung Kurz II (ÖVP-GRÜNE) tritt Amt an; Keine Einigung auf Neu-
regelung, Status quo nach höchstgerichtlichen Entscheidungen bleibt in Kraft
Quelle: eigene Darstellung.
Die ÖVP blieb trotz ihrer Zustimmung stets kritisch gegenüber der BMS – zunächst,
weil sie mangelnde Arbeitsanreize und Missbrauch befürchtete (ÖVP 2013, 36). Die
Zahl der Bezieher*innen stieg in den ersten Jahren auch deutlich (um fast 40 % zwischen
2012 und 2016). Infolge der stark zunehmenden Asylanträge in den Jahren 2015–16
übernahm die ÖVP zu ihrer bisherigen Kritik auch die Argumentationslinie der FPÖ,
die die Mindestsicherung stets als Motor für Zuwanderung gesehen hatte (FPÖ 2013,
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480 Laurenz Ennser-Jedenastik
110).6 In die sozialpolitische Debatte mischten sich somit verstärkt ethnisch-kulturell
aufgeladene Argumente. Dieses Aufkommen wohlfahrtschauvinistischer7 Positionen im
politischen Diskurs charakterisiert auch andere emenfelder der österreichischen so-
zialpolitischen Debatte im 21. Jahrhundert, etwa den sozialen Wohnbau und Familien-
leistungen (Ennser-Jedenastik 2020).
Die wohlfahrtschauvinistische Wende in der BMS-Debatte verhärtete die Fronten
in den Verhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP über eine Verlängerung der 15a-Ver-
einbarung über 2016 hinaus. Dieser Konflikt wurde aber nicht nur horizontal auf der
Bundesebene ausgetragen, sondern auch zwischen Bund (v.a. dem SPÖ-Sozialminister)
und Ländern (v.a. ÖVP-geführten Landesregierungen). Noch vor dem Ablaufen der
15a-Vereinbarung Ende 2016 schafften zwei ÖVP-geführte Bundesländer (Niederöster-
reich und Oberösterreich) Tatsachen durch BMS-Reformen, die stark wohlfahrtschau-
vinistische Elemente enthielten (Kürzungen für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte,
Wartefristen, Integrationsvereinbarung, Pflicht zum Erwerb von Sprachkenntnissen).
Nach Ausbleiben einer Einigung folgte 2017 auch das rot-blau regierte Burgenland
mit einer ähnlichen Regelung. Die nach den vorgezogenen Neuwahlen 2017 gebildete
Bundesregierung Kurz I aus ÖVP und FPÖ strebte auch auf Bundesebene eine Reform
der Mindestsicherung nach Vorbild dieser Bundesländer-Regelungen an. Diese wurde
durch das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz 2019 (Sozialhilfe neu) realisiert (u.a. degressive
Höchstsätze für Kinder, Voraussetzung von Sprachkenntnissen, geringere Leistungen
für subsidiär Schutzberechtigte).8
Allerdings stießen viele der neuen wohlfahrtschauvinistischen Regelungen auf Bun-
des- und Landesebene bald an verfassungs- und europarechtliche Grenzen. So kippte
der Verfassungsgerichtshof (VfGH) 2018 die Deckelungen und Wartefristen in den
niederösterreichischen und burgenländischen Mindestsicherungsgesetzen. Im selben
Jahr erklärte der Europäische Gerichtshof die Schlechterstellung subsidiär Schutzbe-
rechtigter im oberösterreichischen Modell für unionsrechtswidrig. Ende 2019 – wäh-
rend laufender Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und GRÜNEN – erfolgte
dann die Aufhebung von Teilen des türkis-blauen Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes: Die
stark degressiven Höchstsätze für Kinder und der Nachweis von Sprachkenntnissen in
6 Zumindest für Migrationsentscheidungen innerhalb Österreichs gibt es Evidenz, die für diese
Sichtweise spricht (Dellinger/Huber 2021).
7 Als wohlfahrtschauvinistisch wird für gewöhnlich eine Sozialpolitik bezeichnet, die Leis-
tungsniveaus und Ansprüche zwischen der ethnisch-kulturellen Ingroup und Outgroup (z.B.
Staatsbürger*innen vs. Nicht-Staatsbürger*innen) differenzieren will.
8 Damit treten klare Parteieneffekte zutage – wenn auch nicht nach dem traditionellen Konflikt-
muster (SPÖ vs. ÖVP): Alle Regierungen mit FPÖ-Beteiligung (Bund, Oberösterreich, Burgen-
land) führten wohlfahrtschauvinistische Elemente in der Mindestsicherung ein, während keine
der Regierungen mit grüner Beteiligung das tat (Kärnten, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Wien).
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481Sozialpolitik
Deutsch oder Englisch wurden vom VfGH aufgehoben. Die detaillierte Regelung von
Sozialhilfebestimmungen durch den Bund wurde demgegenüber als verfassungskon-
form bewertet (Ennser-Jedenastik 2020).
In der Ausgestaltung der Mindestsicherung überlagern sich sozio-ökonomische
(mehr vs. weniger Sozialleistungen) mit sozio-kulturellen Konfliktlinien (gleiche vs.
geringere Leistungen für Zuwanderer*Zuwanderinnen). Komplexer wird die Politikge-
staltung außerdem durch die geteilte Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern, auch
weil – anders als noch über weite Strecken des 20. Jahrhunderts – sich mittlerweile eine
große Vielfalt an Koalitionsvarianten in den Landesregierungen findet. Besonders im
Hinblick auf die wohlfahrtschauvinistischen Elemente, die die Bundes- und Landes-
gesetzgeber ab 2016 eingeführt haben, haben sich aber VfGH und EuGH bislang als
starke Vetospieler erwiesen.
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Der österreichische Sozialstaat, wie wir ihn im 21. Jahrhundert vorfinden, ist das Pro-
dukt von fast 150 Jahren Politikgestaltung. Ihren Ausgangspunkt nimmt die staatliche
Regelung sozialer Fragen demnach schon in der Donaumonarchie in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts (Tálos 1981).
Bis zum Einsetzen der industriellen Revolution war staatliche Sozialpolitik ein mar-
ginales Phänomen. Erst in den 1880er-Jahren wird der Grundstein für moderne Sozial-
politik gelegt, in der die ökonomische und soziale Lage breiterer Schichten erstmals
zum Gegenstand staatlichen Handelns wird. Diese Entwicklung ist untrennbar mit der
industriellen Revolution und der mit ihr aufkommenden Arbeiterfrage verknüpft (Tá-
los 1981, 41–50).
Die katastrophalen Lebensverhältnisse der industriellen Lohnarbeiter in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts sind für sich aber noch keine hinreichende Erklärung für
die sozialpolitischen Meilensteine der 1880er. Vielmehr wird die Mobilisierung der Ar-
beiter*innen in der Arbeiterbewegung als Bedrohung nicht nur der politischen, sondern
auch der sozialen Ordnung gesehen. Die staatliche Sozialpolitik dient – gleichzeitig mit
staatlicher Repression gegenüber der organisierten Arbeiterschaft – der politischen Ent-
schärfung der sozialen Frage.
Wenige Jahre nachdem im Deutschen Reich die moderne Sozialgesetzgebung ein-
setzt, werden auch in der Donaumonarchie ähnliche Schritte gesetzt. Die ersten Unfall-
und Krankenversicherungsgesetze für Arbeiter werden 1887 und 1888 im Reichsrat
beschlossen. Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgt die Einführung der Pensionsversiche-
rung für Privatangestellte (Heitzmann/Österle 2008, 47 f.). Bemerkenswert ist, dass das
System der Sozialversicherung, das seine Wurzeln in den 1880er-Jahren hat, alle poli-
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482 Laurenz Ennser-Jedenastik
tischen Systembrüche (1918, 1933/34, 1938, 1945) übersteht (Tálos/Obinger 2020).
Nach einer Phase der Stagnation ab den 1890ern (Tálos 1981, 94–142) erfolgen die
nächsten größeren Schritte im Ausbau des Sozialstaates erst nach dem Fall der Habsbur-
germonarchie. In den ersten zwei Jahren nach Gründung der Ersten Republik (1918 bis
1920) ist zum ersten Mal die Sozialdemokratie in einer österreichischen Regierung ver-
treten. In der Sozialgesetzgebung schlägt sich das etwa in der Einführung des Achtstun-
dentages, der Arbeitslosenversicherung und der Errichtung der Arbeiterkammern nieder
(Pfoser/Weigl 2017, 174–188). In den Folgejahren allerdings stagniert die Sozialpolitik,
bedingt auch durch die wirtschaftlich und budgetär angespannte Lage. Erst Mitte der
1920er-Jahre werden wieder größere Vorhaben umgesetzt, etwa die Alterssicherung für
Angestellte und Arbeiter (wobei Letztere nie in Kraft tritt) (Tálos 1981, 182–184).
Nach den autoritären beziehungsweise faschistischen Phasen zwischen 1933 und 1945,
die in der Sozialpolitik teilweise zum Rückbau von Leistungen führen (Tálos 2012), wird
zu Beginn der Zweiten Republik – mit bestimmten Brüchen – an das versicherungs-
basierte System der Ersten Republik angeknüpft (Tálos 1981, 304–306). Im Jahr 1955
werden weite Teile des bestehenden Sozialversicherungsrechts im Allgemeinen Sozialver-
sicherungsgesetz (ASVG) zusammengefasst. Außerdem wird in den ersten Nachkriegs-
jahrzehnten der Kreis der Begünstigten in der Sozialversicherung sukzessive erweitert,
etwa um Landarbeiter, Bauern, und Selbstständige. Außerhalb der Sozialversicherung
entsteht nach 1945 eine stark auf Geldleistungen ausgerichtete Familienpolitik (Kinder-
beihilfengesetz, Familienlastenausgleichsgesetz, Karenzgeld geregelt über das Arbeitslo-
senversicherungsgesetz) und eine aktive Arbeitsmarktpolitik (Tálos 1981, 338–342).
Die Ausweitung sozialstaatlicher Leistungen nach 1945 erfolgt vor dem Hintergrund
eines robusten wirtschaftlichen Aufschwungs und anhaltender Vollbeschäftigung bis in
die 1980er-Jahre. Hinzu kommt, dass die Regierungsverantwortung zunächst praktisch
zur Gänze von zwei sozialstaatsbefürwortenden Parteien – ÖVP und SPÖ – getragen
wird, die in enger Verflechtung mit den Dachverbänden der Arbeitnehmer*innen und
Arbeitgeber*innen das interessenspolitische System der Sozialpartnerschaft dominieren.
4. Einordnung des österreichischen Falles
In der vergleichenden Sozialpolitikforschung gibt es viele Versuche, die Sozialsysteme ver-
schiedener Länder zu klassifizieren. Fast alle dieser Versuche greifen heute auf Esping-An-
dersens (1990) ree Worlds of Welfare Capitalism zurück und teilen Sozialsysteme in so-
zialdemokratische, konservative und liberale Regimetypen ein (wobei die Bezeichnungen
teils abweichen und manchmal auch zusätzliche Kategorien für den mediterranen Raum
sowie Mittel- und Osteuropa eingeführt werden). Österreich wird in den meisten die-
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483Sozialpolitik
ser Klassifikationen dem konservativen
9
Wohlfahrtsregimetyp zugeordnet (Arts/Gelissen
2010). Dieser Sozialstaatstyp zeichnet sich durch hohe Sozialausgaben und einen relativ
hohen Grad der Dekommodifizierung (d.h. der Entkoppelung des Lebensstandards vom
Erwerbseinkommen) aus. Gleichzeitig verfestigen konservative Sozialstaaten durch ihren
Fokus auf einkommensabhängige Versicherungsleistungen bestehende Ungleichheiten,
etwa zwischen Klassen oder Geschlechtern. Gemäß dem auf die katholische Soziallehre
zurückgehenden Prinzip der Subsidiarität (gesamtstaatliche Eingriffe sollen nur erfolgen,
wo kleinere Einheiten dazu nicht in der Lage sind) verfügen konservative Sozialstaaten,
die oft von starken christdemokratischen Parteien geprägt sind (Kalyvas/Van Kersber-
gen 2010), zudem über dezentralisierte Strukturen (Arts/Gelissen 2002). In Österreich
wird das besonders durch die in Selbstverwaltung geführte Sozialversicherung und die
bedeutende Rolle des Dritten Sektors (Hilfsorganisationen, NGOs) in der Bereitstellung
sozialer Leistungen sichtbar (Österle/Heitzmann 2019, 25).
Tabelle 4 reproduziert die Einteilung in die drei Wohlfahrtsstaatsregime gemäß
Esping-Andersen (1990, 52).
10
Österreich liegt dabei unter den großteils christdemokra-
tisch geprägten konservativen Regimen Mitteleuropas, hat aber innerhalb dieser Gruppe
einen der am weitesten ausgebauten Sozialstaaten, was Esping-Andersen unter anderem
auf die Stärke von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbewegung zurückführt.
Tab. 4 Esping-Andersens Three Worlds of Welfare Capitalism
Regimetyp Zugeordnete Länder Merkmale
Sozialdemo-
kratisch
Dänemark, Norwegen,
Schweden
Großzügige Sozialleistungen, hohes Maß an Um-
verteilung, Universalitätsprinzip, Rolle des Staates
zentral
Konservativ Belgien, Deutschland, Finn-
land, Frankreich, Italien,
Japan, Niederlande, Öster-
reich, Schweiz
Mittleres bis hohes Leistungsniveau, Proportio-
nalitätsprinzip, Statuserhalt als Ziel, Rolle der
Familie zentral
Liberal Australien, Irland, Kanada,
Neuseeland, Vereinigtes Kö-
nigreich, Vereinigte Staaten
Geringeres Leistungsniveau, Vorrang für bedarfs-
geprüfte Leistungen, Rolle des Marktes zentral
Quelle: Esping-Andersen (1990).
9 Der oben angesprochene Bismarck’sche Sozialstaat wird oft mit dem konservativen Regime-
typ gleichgesetzt.
10 Die Klassifikation Esping-Andersens ist wiederholt kritisiert worden – nicht zuletzt, weil die
empirische Abgrenzung der Regimetypen unscharf ist. Selbst eine Replikation von Esping-
Andersens Methode kommt zu diesem Schluss (Scruggs/Allan 2006). Dennoch haben sich
die „ree Worlds of Welfare Capitalism“ als nützliches Schema zum Vergleich von Sozial-
systemen etabliert.
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484 Laurenz Ennser-Jedenastik
Wie sich der österreichische Sozialstaat der Gegenwart im Vergleich der EU-27 dar-
stellt, wird im Folgenden anhand von Daten zu Sozialausgaben und Leistungsniveaus
beschrieben. Abbildung 2 etwa zeigt deutlich, dass Österreich innerhalb der Europäi-
schen Union (und damit weltweit) zu den Staaten mit den höchsten Sozialausgaben
gehört. 2018 wurden laut Eurostat mehr als 28 Prozent der Wirtschaftsleistung für So-
zialausgaben aufgewendet. Nur wenige EU-Staaten (Finnland, Dänemark, Frankreich)
lagen über diesem Ausgabenniveau. Gleichzeitig ist auch die Umverteilungswirkung des
Sozialstaates beträchtlich. Auf der Y-Achse wird dargestellt, um wie viel Prozent die Ein-
kommensungleichheit durch Steuern und Sozialleistungen abnimmt.11 Für Österreich
betrug diese Reduktion im Jahr 2018 nicht weniger als 43 Prozent. Knapp die Hälfte
der Ungleichheit in den Markteinkommen wurde also durch das Steuer- und Sozial-
system ausgeglichen (Christl et al. 2020). Auch bei diesem Wert liegt Österreich im
europäischen Spitzenfeld. Nur Belgien und Finnland weisen 2018 eine deutlich höhere
Umverteilungswirkung auf.
Die starke Umverteilungswirkung des Steuer- und Sozialsystems trägt auch dazu
bei, dass Österreich im europäischen Vergleich ein relativ niedriges Niveau an Einkom-
mensungleichheit aufweist (Keeley 2015). Ganz anders sieht es bei der Ungleichheit
von Vermögen aus – hier gehört Österreich zu den Ländern mit der höchsten Ungleich-
verteilung in Europa, was vor allem mit der niedrigen Rate an Wohnungseigentum
erklärbar ist (Causa et al. 2019, 16). Diese steht wiederum im Zusammenhang mit der
zentralen Rolle des sozialen Wohnbaus in Österreich und vor allem in Wien.
Während Österreich also im europäischen Vergleich über einen stark ausgebauten
Sozialstaat verfügt, gibt es interessante Unterschiede nach einzelnen Sektoren. Abbil-
dung 3 schlüsselt die Sozialausgaben 2018 in den fünf quantitativ wichtigsten Berei-
chen auf. Österreich liegt zwar meist über dem EU-27-Mittel, aber einige deutliche
Unterschiede treten dennoch zutage. Eine absolute Spitzenposition nimmt Österreich
bei den Pensionen ein. Rund 14 Prozent der Wirtschaftsleistung flossen 2018 in die-
sen Bereich. Nur Italien, Griechenland und Frankreich weisen höhere Werte auf. Auch
bei den Gesundheitsausgaben liegt Österreich im EU-Spitzenfeld, übertroffen nur von
Frankreich, den Niederlanden und Deutschland.
11 Gemessen als (GINIpre – GINIpost)/GINIpre, wobei „pre“ und „post“ sich auf den Gini-Ko-
effizienten vor und nach Steuern und Sozialleistungen bezieht.
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485Sozialpolitik
12
12 Der BIP-Wert Irlands ist aufgrund seiner Rolle als steuerlich vorteilhafter Standort für multi-
nationale Konzerne aufgebläht. Die Irische Zentralbank veröffentlicht daher das modifizierte
Bruttonationaleinkommen (genannt GNI*), das eine realistischere Einschätzung der tatsäch-
lichen Wirtschaftsleistung bietet. Der von Eurostat angegebene Wert der Sozialausgaben für
2018 wurde demgemäß um das Verhältnis von BIP zu GNI* (164 %) von 13,6 % auf 22,3 %
korrigiert. Diese Adaption wurde für alle Darstellungen in diesem Kapitel durchgeführt.
Abb. 2 Sozialausgaben und Umverteilungswirkung des Steuer- und Sozialsystems in den EU-27
Daten für 2018 außer Dänemark, Ungarn (2017) und Niederlande (2016). Datenpunkt für Irland korri-
giert.12
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486 Laurenz Ennser-Jedenastik
Abb. 3 Sozialausgaben (in % des BIP) nach Bereichen in den EU-27
Alters- („old age“) und Hinterbliebenenpensionen („survivors“).
Quelle: Eurostat (2021).
Die hohen Ausgaben für Pensionen und Gesundheit bewirken auch, dass das österrei-
chische Steuer- und Sozialsystem nicht nur von oben nach unten umverteilt, sondern
auch von Personen im Erwerbsalter hin zu jüngeren und – noch stärker – zu älteren
Menschen. Die Altersgruppen ab 60 Jahren sind vor allem aufgrund der Pensions- und
Gesundheitsleistungen (bei gleichzeitig sinkenden Steuer- und Beitragsleistungen) Net-
toempfänger im österreichischen Sozialstaat (Christl et al. 2020, 259).
In den Bereichen Familien und Arbeitslosigkeit liegen die österreichischen Sozial-
ausgaben ebenso überdurchschnittlich, im Bereich der Invalidität in etwa im Mittel der
EU-27. Diese Zahlen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwa die Leistun-
gen der Arbeitslosenversicherung im europäischen Vergleich relativ niedrig ausfallen.
Abbildung 4 zeigt die Nettoersatzrate13 des Arbeitslosengeldes in den EU-27. Österreich
liegt mit 55 Prozent im unteren Drittel. Allerdings ändert sich dieses Bild mit Fortdauer
der Arbeitslosigkeit drastisch. Während in fast allen Ländern die Arbeitslosenunterstüt-
zung zeitlich befristet ist, ist die österreichische Notstandshilfe unbegrenzt beziehbar.
Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit liegt die Nettoersatzrate für alleinstehende Durch-
schnittsverdiener in Österreich demnach noch immer bei 51 Prozent – ein Wert, der in
keinem anderen EU-Land erreicht wird.
13 Die Nettoersatzrate ist die Höhe des Arbeitslosengeldes ausgedrückt als Prozentsatz des letz-
ten Nettolohns vor Arbeitslosigkeit.
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487Sozialpolitik
Abb. 4 Nettoersatzraten bei Arbeitslosigkeit in den EU-27 (2020)
Gezeigt wird die Nettoersatzrate bei Arbeitslosigkeit für alleinstehende Durchschnittsverdiener ohne
des Erscheinens dieses Bandes stand eine Reform der Arbeitslosenversicherung in Diskussion, die die
In der Familienpolitik liegt – charakteristisch für den konservativen Sozialstaatstyp –
der Fokus auf Geldleistungen. Für diesen Bereich werden knapp zwei Prozent der Wirt-
schaftsleistung aufgewendet (siehe Abb. 5), der Löwenanteil fließt in die Finanzierung
von Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag und Kinderbetreuungsgeld (Schratzenstaller
2015) und seit 2019 Familienbonus Plus, ein Steuerabsetzbetrag, der vor allem Fami-
lien mit mittleren und hohen Einkommen zugutekommt.
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488 Laurenz Ennser-Jedenastik
Abb. 5 Geld- und Sachleistungen für Familien in den EU-27
Demgegenüber stehen im europäischen Vergleich niedrige Ausgaben für Sachleistun-
gen, worunter vor allem Kinderbetreuungseinrichtungen fallen. Die österreichische
Familienpolitik kann somit als ein typischer Fall von „explicit familialism“ (Leitner
2003) gelten: Familien werden bei der Erbringung von Betreuungsleistungen großzügig
finanziell unterstützt, aber die Angebote, um die Betreuungstätigkeit aus der Familie
auszulagern, sind – vor allem in ländlichen Regionen – nur schwach ausgebaut. Damit
einher gehen hohe Teilzeitquoten bei berufstätigen Müttern (Böheim et al. 2013) und
große Geschlechterunterschiede im Einkommen (Redmond/McGuinness 2019).
In der Gesamtschau zeigt sich, dass der österreichische Sozialstaat ein im europäi-
schen Vergleich hohes Leistungsniveau ausweist, finanziert durch eine dementsprechen-
de hohe Steuer- und Abgabenlast (Tálos/Obinger 2020). Besonders stark ausgebaut
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489Sozialpolitik
sind die Leistungen in den Bereichen Pensionen und Gesundheit, während etwa das
Leistungsniveau der Arbeitslosenversicherung relativ niedrig ist. Geldleistungen über-
wiegen, was vor allem in den Bereichen Familie und Pflege traditionelle Rollenbilder
im Sinne des „male breadwinner“-Modells verfestigt (Obinger 2015), allerdings wird
von diesem Modell in jüngerer Vergangenheit zumindest rhetorisch verstärkt Abstand
genommen.
5. Herausforderungen für die Zukunft
Der österreichische Sozialstaat steht in mehrerlei Hinsicht unter Veränderungsdruck.
Seinen Kern bildet das System der Sozialversicherung, das seine Wurzeln im industriel-
len Zeitalter hat und laufend an Veränderungen des post-industriellen Zeitalters ange-
passt werden muss (Tertiarisierung, Wandel von Erwerbsbiografien, Anstieg der Frau-
enerwerbstätigkeit, höhere Arbeitslosigkeit). Hinzu kommen demografische Trends
(steigende Lebenserwartung, sinkende Fertilität), die die Finanzierbarkeit des Sozial-
staates erschweren und somit zu Verteilungskonflikten führen können.
Auch die Globalisierung und die Europäische Integration finden ihren Niederschlag
durch verstärkten wirtschaftlichen Wettbewerb bei gleichzeitig sinkender ökonomi-
scher Steuerungsmöglichkeit für nationale Regierungen – teilweise durch die Verge-
meinschaftung von Politikbereichen, teilweise durch höchstgerichtliche Entscheidun-
gen. Die steigende ethnisch-kulturelle Diversität Österreichs führt außerdem dazu, dass
die Frage nach den Grenzen der Solidargemeinschaft neu politisiert wird (Wohlfahrts-
chauvinismus).
Neben all diesen externen Größen sind auch system-interne Faktoren von entschei-
dender Bedeutung für die weitere Entwicklung des österreichischen Sozialstaats: Die
Sozialpartnerschaft hat zwar an Bedeutung verloren, in den Krisenjahren 2008/9 und
2020/21 aber ihren Nutzen als Krisenfeuerwehr bewiesen. Ihre Einflussmöglichkeiten
unterliegen heute aber nicht nur der ökonomischen, sondern auch einer politischen
Konjunktur – hängen also davon ab, ob ihr wohlgesinnte Parteien und Politiker*innen
in relevanten Entscheidungspositionen sind.
Sowohl die Interessenspolitik als auch die Parteienlandschaft hat sich demnach in
den letzten Jahrzehnten pluralisiert. Dadurch ist zwar das Potenzial für radikalen Wan-
del in der Politikgestaltung gestiegen, dennoch herrschen in weiten Teilen der Sozial-
politik Kontinuität beziehungsweise gradueller Wandel vor. Ob es dabei bleibt, wird
nicht zuletzt davon abhängen, welche parlamentarischen Mehrheiten in dieser fluideren
Akteurskonstellation realisierbar sind.
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493Sozialpolitik
Tipps
Comparative Welfare Entitlements Project (CWEP, 2022). https://www.cwep.us/
(18.05.2022).
Übungsfragen
Welchen Anteil an der Wirtschaftsleistung machen die Sozialausgaben in Österreich
in etwa aus? Wie liegt Österreich damit im EU-Vergleich?
Welche drei Umverteilungsprinzipien gibt es und was bedeuten sie?
Nennen Sie für jedes Umverteilungsprinzip ein Beispiel einer Sozialleistung in Ös-
terreich!
Was sind drei zentrale Merkmale von Bismarck’schen Sozialsystemen? In welcher
Institution des österreichischen Sozialstaates sind diese Charakteristika verwirklicht?
Was besagt die Parteiendifferenzhypothese?
Was ist die Sozialpartnerschaft? Auf welche Politikbereiche erstreckt sie sich haupt-
sächlich?
Nennen Sie drei Voraussetzungen für die Herausbildung der Sozialpartnerschaft
nach 1945!
Auf welche Weise beeinflusst der Föderalismus die Ausgestaltung der Sozialhilfe/
Mindestsicherung seit 2010?
Wann beginnt die Ära der modernen Sozialgesetzgebung in Österreich? Welche Rol-
le spielt dabei die politische Mobilisierung der Arbeiterschaft?
Österreich wird in der vergleichenden Sozialpolitikforschung meist dem konserva-
tiven Wohlfahrtsregimetyp zugeordnet. Was sind die wichtigsten Merkmale dieses
Regimetyps?
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Klimapolitik1
Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
Zusammenfassung
9-
naler und nationaler Koordination bedarf. Diese Koordination wird durch die große zeit-
liche Kluft zwischen Ursachen und Folgen erschwert, weil Politik meist auf kurzfristige
Wahlzyklen fokussiert und sich bei der Lösung von langfristigen Problemen globaler Di-
mension sehr schwertut.
9Österreich war lange Zeit ein Vorreiter der Umweltpolitik, besonders dann, wenn mit
Umweltschutz auch ökonomische Vorteile verbunden waren. Da diese Voraussetzung
beim Klimaschutz bis vor kurzem nicht gegeben war, hat Österreich die meisten klima-
politischen Ziele verfehlt und schneidet auch im europäischen Vergleich sehr schlecht ab.
2- bezie-
hungsweise Treibhausgas-Emissionen seit 1990 zu senken.
9Die wichtigsten Ziele in der österreichischen Klimapolitik kommen von der EU und werden
dann in österreichisches Recht übertragen. Im Jahr 2012 hat Österreich das sogenannte
Kyoto-Ziel grob verfehlt und das Ziel für 2020 konnte nur knapp erfüllt werden, weil die
-
neutralität bis 2040 zu erreichen, ambitionierter ist als jenes der EU, gibt es in Österreich
bis dato keinen rechtlichen Rahmen, der die Erreichung dieses Ziels anpeilt.
9Die österreichische Klimapolitik ist stark von klimapolitisch blockierenden Interessen ge-
prägt. Sowohl die Landesregierungen als auch die Sozialpartner verhindern regelmäßig
dringend nötige, klimapolitische Fortschritte.
9Seit 2019 gibt es eine neue Phase der Klimapolitik in Österreich, losgetreten von dem zi-
vilgesellschaftlichen Engagement der Fridays for Future-Bewegung. Diese brachte unter
anderem den Wiedereinzug der GRÜNEN in den Nationalrat und deren erstmalige Regie-
Diskussion dieses Themas mit sich.
1 Teile dieses Kapitels basieren auf Steurer, Reinhard/Buzogány, Aron/Scherhaufer, Patrick/
Clar, Christoph/Nash, Sarah L. (im Escheinen). Governance und politische Beteiligung, in:
Christoph Görg et al. (Hrsg.): Strukturen für ein klimafreundliches Leben, APCC Special
Report 22.
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496 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
1. Einleitung
Am Beginn der Klimapolitik in den späten 1980er-Jahren war diese bloß ein Ausschnitt
der Umweltpolitik. Heute aber ist die Klimapolitik der dominante Teil der Umwelt-
politik und genießt als umfassendes Politikfeld insgesamt mehr Aufmerksamkeit. Diese
Verschiebung des politischen Diskurses rund um das Klima ist nicht nur in Österreich
zu beobachten. Auch auf EU-Ebene hat eine Wandlung der Umweltpolitik über Nach-
haltigkeit hin zur Klimapolitik stattgefunden (Steurer 2021). Dieser Bedeutungswandel
hängt vor allem mit der Größe der Herausforderungen zusammen, die das Klima für
die Politik mit sich bringt.
Der Klimaschutz ist ein sogenanntes „Wicked Problem“, das aus mehreren Gründen
für die Politik besonders herausfordernd ist. Erstens ist das Problem global und erfordert
daher weltweite Kooperationen und Lösungen über nationalstaatliche Grenzen hinweg.
Zweitens gibt es eine Kluft zwischen den Ursachen und den Folgen, die sowohl eine
räumliche als auch eine zeitliche Dimension hat. Räumlich gesehen treten die größten
Klimafolgen oft nicht dort auf, wo sie am stärksten verursacht worden sind. Vor allem
in der globalen Klimapolitik stellt diese räumliche Trennung von Ursachen und Folgen
eine Gerechtigkeitsfrage dar, wobei die Nationalstaaten im Globalen Norden, die von
jahrelangen hohen Treibhausgasemissionen profitiert haben, die Folgen davon weniger
zu spüren bekommen. Die zeitliche Trennung von Ursachen und Folgen führt dazu,
dass die Klimafolgen, die heute verursacht werden, erst in der Zukunft zu spüren sein
werden, während die Klimafolgen, die heute auftreten, schon in der Vergangenheit ver-
ursacht worden sind. Besonders herausfordernd für die Politik ist es daher, dass die Vor-
teile von etwaigen Klimamaßnahmen im Bereich der Eindämmung erst in der Zukunft
sichtbar werden. In der nationalstaatlichen Politik, wo Wahlzyklen in der Regel vier bis
fünf Jahre dauern, ist Klimapolitik für Politiker*innen und Regierungen daher meist we-
niger wichtig als andere Probleme, bei denen die Konsequenzen des politischen Handels
räumlich und zeitlich nahe auftreten.
In der globalen Klimapolitik spielen Nationalstaaten eine zentrale Rolle, beson-
ders seit der Vereinbarung des Pariser Abkommens der Klimarahmenkonvention
(UNFCCC). In dem 2015 abgeschlossenen Abkommen sind die Vertragsparteien dafür
verantwortlich, Selbstverpflichtungen in Form von nationalen Klimaschutzbeiträgen
(„Nationally Determined Contributions“, NDCs) zu melden und darzulegen, wie diese
zu den ebenfalls im Pariser Abkommen verankerten globalen Temperaturzielen beitra-
gen. Dabei steuern Nationalstaaten die Hauptmechanismen zur Reduktion von Treib-
hausgasemissionen des Abkommens. Es rücken dabei nicht nur große Nationalstaaten,
die prozentuell viel zu globalen Emissionen beitragen, in den Vordergrund, sondern
auch kleine Nationalstaaten (Carter et al. 2021) wie Österreich, die trotz eines geringen
Anteils an globalen Emissionen, hohe Pro-Kopf-Emissionen aufweisen. In der klima-
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497Klimapolitik
politischen Forschung werden nicht nur Nationalstaaten in Betracht gezogen. Vielmehr
werden sowohl die Aufteilung von Kompetenzen als auch die Interaktionen zwischen
unterschiedlichen Ebenen der Politik – von der globalen über die nationalstaatliche,
bis hin zur lokalen Politik – im Konzept der „Multi-level Governance“ erfasst, welches
zu einem zentralen Begriff der Klimapolitik geworden ist (Wagner et al. 2021; Wurzel
et al. 2019). Da nicht nur Regierungen über Klimaschutz entscheiden, gewann der
Begriff „Polycentric Governance“ an Bedeutung. Er weist darauf hin, dass staatliche,
wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteur*innen komplementäre Rollen bei der
Bekämpfung komplexer Probleme spielen (Jordan et al. 2018).
-
schen verursachten (anthropogenen) Veränderungen des Klimas und ihren Auswirkun-
gen auseinandersetzt. Dabei werden zwei Bereiche unterschieden: Eindämmung und
-
2 -
nahmen, die vor allem Nachteile, beziehungsweise katastrophale Folgen klimatischer
Veränderungen minimieren sollen.
Klimapolitik kann in die zwei Bereiche Eindämmung und Anpassung unterteilt werden.
Diese Unterteilung der Klimapolitik zieht sich durch fast alle politischen Ebenen und ist
sowohl in der Struktur der Klimarahmenkonvention als auch in den meisten Klimastrate-
gien der jeweiligen Nationalstaaten zu sehen, wo diese binäre Trennung der Arbeitsberei-
che häufig reproduziert wird. Im letzten Jahrzehnt hat aber auch der Bereich der klimabe-
dingten Schäden und Verluste zunehmend an Bedeutung gewonnen. Das Vorhandensein
dieses Arbeitsbereichs ist ein Zeichen dafür, dass Anstrengungen in sowohl der Eindäm-
mung als auch der Anpassung nicht genügen werden, um Menschen vor allen negativen
Klimafolgen zu schützen. Es werden daher Verluste und Schäden, sowohl ökonomischer
als nicht-ökonomischer Natur auftreten, die außerhalb der Bereiche der Vermeidung oder
Anpassung fallen. Obwohl dieser dritte Arbeitsbereich im stärker von den Klimafolgen be-
troffenen Globalen Süden schon zum Kernthema der globalen Klimapolitik geworden ist,
scheuen viele hochemittierende Staaten im Globalen Norden vor diesem ema zurück.
2. Gegenwärtige Situation
Die Klimapolitik in Österreich ist seit dem Aufkommen der Fridays for Future-Bewegung
(FFF) im Jahr 2019 im Umbruch und gewinnt dadurch nicht nur in der Öffentlichkeit
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498 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
an Aufmerksamkeit, sondern auch in der Politik und in der Politikwissenschaft. Dabei ist
die Frage noch offen, ob etablierte Strukturen durchbrochen und geändert werden kön-
nen, um mehr Klimaschutz hervorzurufen. Institutionelle Änderungen wären dringend
notwendig, wenn Österreich das im Regierungsübereinkommen der ÖVP-GRÜNE-Re-
gierung verankerte Ziel „eines klimaneutralen Österreichs bis spätestens 2040 erreichen
und in Europa zum Vorreiter im Klimaschutz werden“ (Bundeskanzleramt Österreich
2020, 17) will.
2.1 Akteur*innen und Politikgestaltung
Da Klimapolitik von Natur aus sektorübergreifend ist und somit keiner einzelnen poli-
tischen Ebene zugeordnet werden kann, sind außergewöhnlich viele Akteur*innen in
diesem Politikbereich beteiligt und die effektive Politikgestaltung erfordert ein hohes
Maß an Koordination. In einem föderal organisierten Staat wie Österreich ist diese
komplizierte Akteur*innenlandschaft besonders präsent. Sowohl diese strukturellen
Herausforderungen als auch wirtschaftlich geprägte Interessen haben zur Folge gehabt,
dass sich Österreich seit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 von einem umweltpolitischen
Vorreiter in einen klimapolitischen Opportunisten verwandelt hat (Clar/Scherhaufer
2021; Steurer/Clar 2015). Es war für Österreich möglich, auf Fortschritte in den Be-
reichen Wasserkraft und ökologische Landwirtschaft zu verweisen, während Treibhaus-
gasemissionen dessen ungeachtet gestiegen sind.
Bundesregierung und das Bundesministerium für Klimaschutz
Bis 2019 existierte das Bundesministerium mit Verantwortlichkeit für Klimaschutz
unter unterschiedlichen Namen und Konstellationen. Die letzten beiden Iterationen
Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus und Bundesministerium für
Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft besaßen zwar die Zustän-
digkeit für Klimaschutz, aber sie erwähnten diese Zuständigkeit nicht im Namen des
Ministeriums. Daher war die Umbenennung in Bundesministerium für Klimaschutz,
Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie im Jahr 2020 ein für die Kli-
mapolitik symbolisch wichtiger Schritt. Darüber hinaus wurden die für Eindämmung
sehr wichtigen Sektoren Verkehr und Energie im sogenannten Klimaministerium ge-
bündelt, was eine substanzielle Kompetenzverschiebung darstellt, die auch Wirkung
zeigt. Vor allem im Verkehrssektor werden jetzt Maßnahmen entwickelt, die Klima zur
Kernfrage der Mobilität machen, zum Beispiel mit dem Start des ‚Klimatickets‘ für die
öffentlichen Verkehrsmittel. Es bestehen aber nach wie vor viele Konfliktpunkte und
Koordinationsschwierigkeiten zwischen dem Klimaschutzministerium und anderen
Bundesministerien, vor allem dem Finanz- und dem Wirtschaftsministerium.
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499Klimapolitik
Die Landesregierungen
Durch die Verteilung von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern in der ös-
terreichischen Verfassung gibt es für den Klimaschutz wichtige Kompetenzen, die der
Länderebene zugeordnet sind. Kein Bundesministerium verfügt über die richtungswei-
senden Kompetenzen im Gebäudesektor oder in der Raumplanung. Daher kommt den
neun Landesregierungen hier automatisch eine wichtige Rolle zu. Im Sektor Raum-
wärme ist die Rolle der Landesregierungen am zentralsten, weil dieser überwiegend in
deren Verantwortung liegt. Auffällig ist, dass sich in diesem Bereich die Emissionen
tatsächlich besser entwickelt haben als in anderen Sektoren (Bundesministerium für
Klimaschutz Umwelt Energie Mobiltät Innovation und Technologie 2021). Allerdings
verschleppten die Landesregierungen jahrelang die Umsetzung von Baustandards zur
Energieeffizienz von Gebäuden. Jahrelang wurde eine entsprechende EU-Richtlinie
dazu nicht umgesetzt und ein Vertragsverletzungsverfahren der EU konnte letztend-
lich nur durch eine verspätet abgeschlossene Vereinbarung zwischen Bund und Län-
dern nach Artikel 15a der Bundesverfassung abgewendet werden (Steurer et al. 2020).
Ein zusätzlicher Bereich, in dem Landesregierungen gemeinsam mit Gemeinden über
wichtige klimapolitische Kompetenzen verfügen, betrifft Raumplanung und Flächen-
widmung. Diese behindert oft den Ausbau von Windenergie und steigert das Verkehrs-
aufkommen durch Zersiedelung.
Sozialpartner
Die Sozialpartnerschaft ist bekannt dafür, in der Klimapolitik Fortschritte wieder-
holt verhindert oder verwässert zu haben (Clar/Scherhaufer 2021).2 Alle Sozialpartner
sowie die nicht zu den Sozialpartnern zählende Industriellenvereinigung haben sich
bis vor wenigen Jahren regelmäßig gegen anspruchsvolle klimapolitische Zielsetzungen
und Maßnahmen geäußert, die nicht mit einem unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteil
verbunden waren. Damit konnten sie wiederholt die Politik verschiedener Regierungen
maßgeblich beeinflussen (Niedermoser 2017). Brand und Pawloff (2014) führen dies
auf interessensgeleitete Selektionsmechanismen zurück, die gerade in neo-korporatisti-
schen Systemen darüber entscheiden, was überhaupt auf die politische Agenda kommt.
Aufgrund ihrer traditionellen Nähe zur Langzeit-Regierungspartei ÖVP waren und
sind die Versuche der Wirtschaftskammer wiederholt sehr erfolgreich darin, eine am-
bitionierte Klimapolitik in Österreich zu verhindern (Pesendorfer 2007). Gleichzeitig
zeigt sich bei Arbeiterkammer und Gewerkschaften in den letzten Jahren ein langsamer
Prozess des Umdenkens (Brand/Niedermoser 2019; Niedermoser 2017).
2 Siehe dazu Ennser-Jedenastik in diesem Band.
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500 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
Politische Parteien
Auf der Bundesebene haben die politischen Parteien eine enorm wichtige Rolle
in der Klimapolitik. Obwohl der Nationalrat und der Bundesrat die gesetzgebenden
Organe sind, führt eine hohe Fraktionsdisziplin (Stichwort: Klubzwang) der im Par-
lament vertretenen Parteien meist zu garantierten parlamentarischen Mehrheiten für
die Regierung (Broukal 2009). Da die im Nationalrat vertretenen Parteien durchaus
unterschiedliche Ansichten in Sachen Klimaschutz haben, macht die parteipolitische
Zusammensetzung der Bundesregierung einen großen Unterschied für den Erfolg der
österreichischen Klimapolitik. Laut einer von Wissenschaftler*innen geführten Ana-
lyse im Vorfeld der Nationalratswahl 2019 von den aktuell im Nationalrat vertretenen
Parteien war das Wahlprogramm der GRÜNEN als einziges „weitgehend im Einklang“
mit den Zielen der Pariser Abkommen. Das Programm der NEOs war „teilweise im
Einklang“ und im Programm der SPÖ war der „Einklang nicht eindeutig/unklar“. Am
unteren Ende der Skala lag das Wahlprogramm der ÖVP als „wenig im Einklang“ be-
notet und das Programm der FPÖ wurde als „nicht im Einklang“ mit den Pariser Zie-
len befunden (Climate Change Center Austria 2019, 2). Der intensive klimapolitische
öffentliche Diskurs rund um die Nationalratswahl 2019 hat zum Wiedereinzug in den
Nationalrat der für eine Legislaturperiode nicht vertretenen GRÜNEN beigetragen.
Das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte war auch eine notwendige Voraussetzung da-
für, dass die GRÜNEN in der Folge zum ersten Mal als Koalitionspartner der ÖVP in
die Bundesregierung eingetreten sind (Daniel et al. 2020).
Städte und Gemeinden
Weitere für die Klimapolitik bedeutsame Bereiche liegen in der Zuständigkeit der
Städte und Gemeinden. Vor allem die Flächenwidmung, die beim Ausbau der Wind-
energie oder bei der stetig zunehmenden Bodenversiegelung wegweisend ist, liegt in
der Verantwortung dieser Akteure. Da Klimaschutz in der Raumplanung der Städte
und Gemeinden bislang kaum eine Rolle gespielt hat, laufen viele wichtige kommunal-
politische Entwicklungen den nationalen Klimazielen entgegen. Eine Raumplanung,
die nach wie vor den Bau großer Einkaufszentren an Stadträndern einerseits und eine
Zersiedelung andererseits fördert, wird auch in Zukunft mehr Verkehr generieren und
für einen weiter steigenden Ressourcenverbrauch in diesem wichtigen Sektor sorgen.
Zivilgesellschaft
Bis 2019 war die zivilgesellschaftliche Beteiligung zum ema auf ein paar große be-
kannte Umweltschutzorganisationen begrenzt. So waren es in den 1990er- und 2000er-
Jahren vor allem traditionelle zivilgesellschaftliche Organisationen wie Greenpeace,
Global 2000 oder WWF Österreich, die im Rahmen ihres umweltpolitischen Enga-
gements auch klimapolitisch relevante Lobbyarbeit leisteten (Dolezal/Hutter, 2007).
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501Klimapolitik
Dennoch zeigen Umfragedaten, dass das Interesse der österreichischen Bevölkerung für
das Klima allgemein sehr hoch war und ist. So erachten Österreicher*innen seit 2007
den Treibhauseffekt und die Klimaveränderung als das vordringlichste Umweltprob-
lem (Statistik Austria/Lebensministerium 2009 & 2013; Statistik Austria/Ministerium
für ein lebenswertes Österreich 2017; Statistik Austria/Ministerium für Klimaschutz
Umwelt Energie Mobilität Innovation und Technologie 2020). Trotz dieses Interesses
gelang es bis 2019 nicht, eine große politische Beachtung zu generieren. Wie in vielen
anderen Nationalstaaten Europas kam auch in Österreich 2019 mit der weltweiten Ver-
breitung der Fridays for Future-Bewegung neuer Schwung in die Klimapolitik. Der
erste österreichische Klimastreik fand im Dezember 2019 auf Initiative von Student*in-
nen statt, die Greta unberg bei der 24. Weltklimakonferenz (COP24) in Katowice
trafen (Bohl/Daniel 2020). Beim ersten Global Earth Strike im März 2019 protestier-
ten 20.000 Schüler*innen in Wien und auch die nachfolgenden Proteste zählen zu den
größeren Protestereignissen der letzten Jahrzehnte (Buzogány/Mikecz 2019). Gleichzei-
tig konnte Fridays for Future österreichweit auf lokale Strukturen bereits existierender
Netzwerke aufbauen und sich durch ihre mit den sozialen Medien aufgewachsene An-
hänger*innenschaft sehr effizient landesweit organisieren (Nardoslawsky 2020).
Aus diesen zivilgesellschaftlichen Strukturen ist auch das Klimavolksbegehren ent-
standen, das von Fridays for Future-Aktivist*innen ins Leben gerufen wurde. Das Volks-
begehren, das zwischen dem 22. und 29. Juni 2020 unterschrieben werden konnte,
sammelte 380.590 Unterschriften (Bundeswahlbehörde 2020) und überschritt damit
deutlich die Hürde von 100.000 Unterschriften, die für eine Behandlung im National-
rat notwendig waren. In dem Klimavolksbegehren, das von einem breiten Spektrum
an zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt worden ist, gibt es vier zentralen
Forderungen. Erstens fordern die Aktivist*innen ein Recht auf Klimaschutz, das in der
Verfassung rechtlich verankert werden soll. Zweitens wird ein verbindliches CO2-Bud-
get als Teil eines Klimaschutzgesetzes verlangt. Drittens ist eine Kernforderung eine
ökosoziale Steuerreform, die Hand in Hand mit dem Abbau von klimaschädlichen Sub-
ventionen gehen soll. Viertens fordert das Klimavolksbegehren im Bereich Mobilität
und Energie die flächendeckende Versorgung mit klimafreundlicher Mobilität und eine
Finanzierung der Energiewende (Klimavolksbegehren 2020). In der Folge wurden viel-
fältige Maßnahmen vom Nationalrat beschlossen (Parlamentsdirektion 2021), unter
anderem die Errichtung eines Klimakabinettes und eines Klimarats (siehe unten). Auch
die Beschließung des Ökosozialen Steuerreformgesetzes in Februar 2022 geht auf eine
Hauptforderung des Klimavolksbegehrens ein (Parlamentsdirektion 2022).
Klimarat
Im ersten Halbjahr 2022 fand in Österreich ein Klimarat statt, bei dem hundert zu-
fällig ausgewählten Bürger*innen, die ein repräsentatives Mini-Österreich bilden sollen,
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502 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
um die großen Fragen der Klimaschutzpolitik diskutierten. Der Klimarat tritt in die
Fußstapfen anderer Bürger*innenräte in Europa (Devaney et al. 2020; Stack/Griessler
2022), die sich schon in einem ähnlichen Format mit Klimafragen auseinandergesetzt
haben. Die Einrichtung des Klimarats war eine Forderung des Klimavolksbegehrens
und soll die Öffentlichkeit stärker in die Politikgestaltung einbinden. Die Ergebnisse
des Klimarats wurden Mitte 2022 an die Bundesregierung übergeben (Klimarat der
Bürgerinnen und Bürger 2022), es bleibt jedoch noch offen, ob und wie diese in die
Gestaltung der zukünftigen Klimapolitik in Österreich einfließen werden.
Wissenschaft
Die Klimapolitik beruft sich oft auf wissenschaftliche Expertise, die deutlich vor
klimapolitischen Problemen und deren Folgen warnt. International werden die Berich-
te des im Jahr 1988 gegründeten Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate
Change, IPCC) als Maßstab angesehen und bilden daher in vielen politischen Prozessen
die wissenschaftliche Grundlage. Die neuesten Berichte verdeutlichen die Dringlichkeit
von Klimaschutzmaßnahmen in den Jahren bis 2030, um den sich verschlechternden
Auswirkungen entgegenzusteuern (IPCC 2022a & 2022b & 2022c). In Österreich gibt
es seit dem Jahr 2014 an jene des IPCC angelehnte Berichte des Austrian Panel on
Climate Change (APCC). Zusätzlich zum Sachstandsbericht aus dem Jahr 2014 (Aus-
trian Panel on Climate Change 2014), wurden auch Sonderberichte zu Gesundheit,
Demographie und Klimawandel (Austrian Panel on Climate Change 2018) sowie zu
Tourismus und Klimawandel in Österreich (Austrian Panel on Climate Change 2020)
veröffentlicht. Im Jahr 2022 sollten Sonderberichte zu Landnutzung, Landmanagement
und Klimawandel und Strukturen für ein klimafreundliches Leben folgen. Für das Jahr
2025 ist ein zweiter Standbericht geplant. In der österreichischen Politik wurden diese
wissenschaftlichen Berichte bislang allerdings selten thematisiert.
Als Paradebeispiel der österreichischen Klimagesetzgebung wird das Klimaschutzgesetz
2011 näher erläutert. Mangels eines neuen Klimaschutzgesetzes bildet dieses im Jahr
2020 abgelaufene Gesetz die gültige Rechtslage in Österreich in Sachen Klimaschutz.
Im Jahr 2011 wurde das Klimaschutzgesetz vom Nationalrat verabschiedet. Damit
wurde Österreich, das als zweiter Mitgliedstaat der EU ein Klimaschutzgesetz verab-
schiedet hat (hinter dem damaligen Mitgliedstaat des Vereinigten Königreichs, wo das
Klimaschutzgesetz schon 2008 in Kraft trat), zumindest auf dem Papier zum klimapoli-
tischen Vorreiter in Europa. Im Gegensatz zum britischen Gesetz, das langfristige Ziele
für die Reduktion von Treibhausgasemissionen bis 2050 über die damaligen EU-Ziele
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503Klimapolitik
hinausgesetzt hat, könnte man das österreichische Gesetz aber eher als Übersetzung der
EU-Ziele bis 2020 für Sektoren, die nicht dem Emissionshandel unterliegen (siehe Ab-
schnitt 3.), ins österreichische Rechtssystem verstehen.
Das Gesetz in der verabschiedeten Form hat drei große inhaltliche Eckpfeiler:
− Das Gesetz legt das Ziel fest, Maßnahmen zur Einhaltung der „gemäß völkerrecht-
lichen oder unionsrechtlichen Verpflichtungen für die Republik Österreich gelten-
den Höchstmengen von Treibhausgasemissionen“ zu entwickeln (Klimaschutzgesetz
2011, § 3).
− Zwei unterschiedliche Gremien wurden mit dem Klimaschutzgesetz gegründet. Das
Nationale Klimaschutzkomitee setzte sich aus Vertreter*innen von Ministerien und
den Bundesländern zusammen und war für die strategische Planung im Bereich
Klimaschutz verantwortlich. Der Klimaschutzbeirat setzte sich aus Vertreter*innen
der im Nationalrat vertretenen politischen Parteien, des Klimaministeriums, der
Sozialpartner, des Städte- und Gemeindebundes, des Umweltbundesamtes, dreier
Bundesländer, der Wissenschaft und dreier österreichischer Umweltschutzorganisa-
tionen zusammen. Der Klimaschutzbeirat wurde im Jahr 2017 im Zuge einer Ver-
waltungsreform aufgelöst (Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich 2017).
Allerdings wurde die Zusammensetzung des Klimaschutzkomitees so geändert, dass
eine Mischform der beiden Gremien entstand, in der die Mitglieder des ehemali-
gen Klimaschutzbeirates mit Vertreter*innen aller Ministerien, aller neun Bundes-
länder, die Interessensvertretung Österreichs Energie und dem Verband Erneuerbare
Energie Österreich vertreten sind. Gemeinsam beraten sie „über Grundsatzfragen
zur österreichischen Klimapolitik im Lichte der Zielvorgaben des Übereinkommens
von Paris, insbesondere über die langfristige Reduktion der Treibhausgasemissionen
hin zu einer kohlenstoffarmen Gesellschaft, die Anpassung an unvermeidbare Kli-
mafolgen sowie über langfristige Szenarien zur Steigerung der Energieeffizienz und
des Anteils erneuerbarer Energieträger am Endenergieverbrauch“ (Klimaschutzgesetz
Fassung vom 19.04.2022, § 4(2)). Der Rechnungshof kritisierte das Klimaschutz-
komitee scharf: „Seine Funktion war unklar und nicht hinreichend definiert, ein ein-
deutiges Aufgabenprofil lag nicht vor, Beschlüsse wurden in diesem Gremium nicht
gefasst“ (Rechnungshof 2021, 15).
− Das Klimaministerium ist zudem verpflichtet, jährliche Fortschrittsberichte sowohl
dem Klimaschutzkomitee als auch dem Nationalrat vorzulegen (Klimaschutzgesetz
2011, § 6).
Als das Gesetz verabschiedet wurde, waren zwei weitere wichtige Punkte noch offen.
Diese wurden daher in Anlagen später zum Gesetz hinzugefügt beziehungsweise als ge-
sonderte Vereinbarungen festgehalten.
− Das Klimaschutzgesetz legt auch jährliche Höchstmengen für Treibhausgasemissio-
nen fest, die nach Sektoren heruntergebrochen sind. Allerdings gab es im 2011er-
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504 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
Gesetz nur bis 2012 ausgearbeitete Ziele und die genau festgelegten Höchstmengen
wurden in einer späteren Überarbeitung als Anlage hinzugefügt (Änderung des Kli-
maschutzgesetzes 2013).
− In einem sogenannten Klimaschutz-Verantwortlichkeitsmechanismus sollte auch
die Aufteilung der finanziellen Verantwortung für Strafzahlungen der EU zwischen
Bund und Ländern aufgeteilt werden. Ein Aufteilungsschlüssel von achtzig Prozent
Bund und zwanzig Prozent Länder konnte dann erst im Finanzausgleich 2017 ver-
einbart werden (Finanzausgleich 2017).
Im internationalen Vergleich fehlen aber Kernelemente eines Klimaschutzgesetzes
(Nash/Steurer 2019 & 2021a). Erstens fehlen langfriste Ziele für die Reduktion von
Treibhausgasemissionen für den Zeitraum nach 2020. Zweitens etabliert das 2011er-
Gesetz keine unabhängigen Beratungsgremien, die der Bundesregierung und dem
Nationalrat in Sachen Klimaschutz mit Analysen und Empfehlungen zur Seite stehen
kann. Diese Gremien haben sich in der Zwischenzeit in anderen nationalen Kontexten
bewahrt (Averchenkova et al. 2021). Drittens müssen von der Bundesregierung kei-
ne regelmäßigen Strategien vorgelegt werden. Auch im Falle einer Überschreitung der
Höchstmengen von Treibhausgasemissionen sind keine Strategien zum Ausgleich der
Überschreitung vorgesehen. Viertens sind im Gesetz keine Sanktionen vorgesehen, falls
sektorale Ziele nicht eingehalten werden. Ministerien und Bundesländer haben also mit
keinen Konsequenzen bei verfehlten Zielen zu rechnen.
Der Prozess der Entstehung des Klimaschutzgesetzes war von unzähligen Runden
an Diskussionen und Verhandlungen charakterisiert. Die Größe dieser Runden reichte
von internen Besprechungen im Ministerium bis hin zu Diskussionen mit allen im
Nationalrat vertretenen politischen Parteien, den neun Bundesländern und den Sozial-
partnern. Diese Runden waren auch manchmal thematisch organisiert. Das Besondere
am Klimaschutzgesetz ist, dass diese Runden auch nach der Verabschiedung des eigent-
lichen Gesetzestextes weitergegangen sind, vor allem, als es an die sektoralen Ziele und
die Finanzierungsschlüssel zwischen Bund und Ländern ging. Der neo-korporatistische
und stark von Interessen geprägte Charakter der österreichischen Klimapolitik zeich-
nete sich daher auch nach dem Jahr 2011 ab. Die Beteiligten waren damit auch lange
nach 2011 mit dem eigentlichen Gerüst des Klimaschutzgesetzes beschäftigt, statt sich
der Umsetzung zu widmen.
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505Klimapolitik
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
3.1 Nationale und internationale Rahmenbedingungen
In Summe wurden in Österreich bislang drei Klimastrategien (in den Jahren 2002,
2007 und 2018), ein Klimaschutzgesetz (2011) mit zwei Maßnahmenprogrammen für
die Jahre 2013/2014 (Lebensministerium 2013) und 2015 bis 2018 (Ministerium für
ein lebenswertes Österreich 2015) sowie zwei Novellen des Klimaschutzgesetzes in den
Jahren 2013 (Änderung des Klimaschutzgesetzes 2013) und 2015 verabschiedet (Än-
derung des Klimaschutzgesetzes und des Emissionszertifikategesetzes 2011 & 2015).
Die österreichische Klimapolitik ist zusätzlich in der europäischen und globalen Klima-
politik stark eingebettet.
Auf EU-Ebene hat die Union sich im Jahr 2007 im Klima- und Energiepaket mit
Einigungen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates drei Ziele ge-
setzt: 1) Reduktion von 20 Prozent an Treibhausgasemissionen gegenüber dem Jahr
1990; 2) 20 Prozent der Energie in der EU sollen aus erneuerbaren Quellen kommen;
3) die Energieeffizienz soll um 20 Prozent gesteigert werden (Council of the European
Union 2007). Diese Ziele sind dann im Jahr 2009 auch gesetzlich verabschiedet wor-
den (Official Journal of the European Union 2009a & 2009b). Schon im Jahr 2014,
im Zuge des 2030 Klima- und Energierahmens, hat sich der Europäischen Rat das Ziel
gesetzt, die Emissionen bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Zu-
dem sind die Ziele für erneuerbare Energie und Energieeffizienz auch erhöht worden,
auf 32 Prozent beziehungsweise 32,5 Prozent (European Council 2014). Obwohl die
Europäische Kommission schon im Jahr 2018 die Vision, die Emissionsneutralität bis
2050 zu erreichen, schriftlich äußerte (European Commission 2018), ist das Ziel für
Emissionsreduktionen bis 2030 erst im Zuge des European Green Deals im Jahr 2021
im europäischen Klimaschutzgesetz auf eine 55-Prozent-Emissionsreduktion erhöht
worden (Official Journal of the European Union 2021).
Eine für die österreichische Klimapolitik wichtige Unterteilung ist jene in die Sekto-
ren des Emissionshandels (ETS) und in die Sektoren, die dem Emissionshandel nicht
unterliegen (Nicht-ETS-Sektoren). Zu den ETS-Sektoren gehören der Energiesektor,
die Schwerindustrien und der Luftverkehr innerhalb der EU. Sie sind für circa 40 Pro-
zent der Emissionen in der EU verantwortlich (European Commission o.J.). Das ETS
ist ein im Jahr 2005 etabliertes sogenanntes „cap and trade“-System (Emissionshandel
mit fester Obergrenze), wobei die Obergrenze graduell reduziert wird, um Emissions-
reduktionen zu steuern (Official Journal of the European Union 2003). Für die Nicht-
ETS-Sektoren gibt es Entscheidungen zur Lastenteilung („Effort Sharing Decision“)
zwischen den Mitgliedsstaaten für den Zeitraum bis 2020 (Official Journal of the Euro-
pean Union, 2009a) und von 2021 bis 2030 (Official Journal of the European Union
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506 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
2018). Die festgelegten Ziele für Österreich sind minus 16 Prozent bis 2020 gegenüber
2005 (Official Journal of the European Union 2009a, Annex 2) und minus 36 Prozent
bis 2030 gegenüber 2005 (Official Journal of the European Union 2018, Annex 1). Die
EU-Ziele für 2030 wurden im Zuge des „Fit for 55“-Beschlusses nachgebessert, weshalb
Österreich seine Emissionen nun nicht mehr um 36 Prozent, sondern um 48 Prozent
im Vergleich zu 2005 reduzieren muss (Österreichische Regierung o.J.). Das Basisjahr
2005 ist für Österreich eine glückliche Wahl, weil die heimischen Emissionen damals
einen Höchststand erreicht hatten (Umweltbundesamt 2019). Aus diesem Grund hat
das österreichische Ziel, die Emissionen bis 2020 um 16 Prozent im Vergleich zu 2005
zu reduzieren, keine Reduktion, sondern nur eine Stabilisierung im Vergleich zu 1990
erfordert. Dessen ungeachtet bedeutet das nationale Ziel, bis 2040 Klimaneutralität
zu erreichen, dass die gegenwärtigen Emissionen bis 2030 mindestens halbiert werden
müssten. Gelingt dies nicht, ist das ambitionierte Ziel für 2040 mit hoher Sicherheit
nicht erreichbar.
Österreich ist auch in der globalen Klimapolitik eingebettet. Diese hat seit dem EU-
Beitritt im Jahr 1995 allerdings an Bedeutung verloren, weil sich Österreich seither
überwiegend an EU-Zielen orientiert. Der Beginn der internationalen Klimapolitik
wird meist mit der Zielsetzung von Toronto Ende der 1980er-Jahre angesetzt. Dies
war der erste konkrete Vorschlag, die Treibhausgasemissionen national zu reduzieren
(Steurer 1999). Auch Österreich beteiligte sich an diesem Vorhaben und setzte das Ziel,
die CO2-Emissionen um 20 Prozent bis 2005 gegenüber 1988 zu senken (Österreichi-
sche Bundesregierung 1990, 44). Institutionalisierter ist die internationale Klimapolitik
ab 1992 mit der Einigung um die Klimarahmenkonvention der Vereinigten Nationen
(UNFCCC), wo Österreich von Anfang an dabei war und im Jahr 1994 der 58. Staat
war, der die Konvention ratifizierte (Federal Ministry of Environment 1994). Im Jahr
1997 adoptierten die Vertragsparteien des UNFCCC das Kyoto-Protokoll, das Ziele
zur Emissionsreduktion für Industrieländer vorhersah (UNFCCC 1998).
Das Pariser Übereinkommen des UNFCCCs hat Österreich auch unterschrieben
und am 5. Oktober 2016 ratifiziert (United Nations Treaty Collection 2019). Das
Übereinkommen setzt das Ziel, die globale Temperaturerhöhung auf 2 Grad Celsius
oder sogar im besten Fall auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu be-
grenzen (UNFCCC 2015). Wie schon beim Kyoto-Protokoll agieren die EU und ihre
Mitgliedsstaaten hier gemeinsam und die EU hat im Dezember 2020 ein überarbeitetes
NDC beim UNFCCC eingereicht. Das neue EU-Ziel strebt eine Emissionsreduktion
von 55 Prozent bis 2030 gegenüber 1990 an (Germany and the European Commission
2020).
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507Klimapolitik
3.2 Geschichtlicher Hintergrund
Trotz der oben geschilderten Strategien, gesetzlichen Regelungen und internationalen
Verpflichtungen wurde die Klimapolitik in Österreich zu keinem Zeitpunkt zielorien-
tiert gestaltet und die Treibhausgasemissionen haben sich mit der durch die Pandemie
bedingten Ausnahme 2020 weit von politischen Zielsetzungen entfernt (Umweltbun-
desamt 2021).
2 blau) und klimapolitische Zielset-
zungen in Österreich
Quelle: Hochgerner et al. (2016), aktualisiert von Haas (2021).
Niedertscheider et al. (2018) teilen die Klimapolitik bis 2018 in vier unterschiedliche
Phasen ein. Wir orientieren uns an dieser Einteilung und fügen eine neue fünfte Phase
hinzu.
1990 bis 1995
Die erste Phase (1990 bis 1995) haben die Autor*innen als Aufmerksamkeit und
erste Institutionen der Klimawandelvermeidung betitelt (Niedertscheider et al. 2018,
11). Mit der Übernahme des Toronto-Ziels erklärte sich die österreichische Regie-
rung im Jahr 1990 bereit, die CO
2
-Emissionen bis 2005 um 20 Prozent gegenüber
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508 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
dem Jahr 1998 zu reduzieren (Österreichische Bundesregierung 1990, 44). Wie Ende
der 1990er-Jahre vermerkt: „Mit dieser Zielsetzung zählte Österreich zweifellos zu
den Pionieren der Klimapolitik“ (Steurer 1999, 200). In den darauffolgenden Jahren
waren dann auch die ersten Weichen für eine ernsthafte Klimapolitik gestellt. Vor
allem hervorzuheben sind zwei Institutionen, die Anfang der 1990er-Jahre gegründet
wurden. Erstens wurde im Jahr 1990 die CO
2
-Kommission ins Leben gerufen, die
für Forschungs-, Beratungs- und Informationstätigkeiten verantwortlich war. Schon
ein paar Jahre nach der Gründung hat die Kommission die Klimapolitik der Bundes-
regierung deutlich kritisiert und die Erreichung des Toronto-Ziels in Frage gestellt:
„Die Kommission betont erneut, dass die Inhalte des Toronto-Ziels nur erreicht wer-
den können, wenn die Politik dieses Ziel um vieles entschiedener verfolgt. […] Die
nur verbale Aufrechterhaltung des Toronto-Ziels bedeutet eine bewusste Fehlinfor-
mation der Öffentlichkeit und die Inkaufnahme von möglichen schwerwiegenden,
wirtschaftlichen und sozialen Risiken“ (Akademie für Umwelt und Energie/Öster-
reichische CO
2
-Kommission 1995, zitiert in Steurer 1999, 206). Zweitens wurde
im darauffolgenden Jahr 1991 das Interministerielle Komitee zur Koordination von
Maßnahmen zum Schutz des globalen Klimas (IMK) eingerichtet. Das IMK war als
Koordinationsgremium konzipiert. Es war beim für Umweltfragen verantwortlichen
Ministerium eingerichtet und setzte sich aus Vertreter*innen aller betroffenen Minis-
terien und Sozialpartner zusammen. In dem Gremium wurden auch Maßnahmenka-
taloge entwickelt. Kritisiert wurde das IMK dafür, dass das Finanzministerium trotz
seiner wichtigen Rolle bei der Umsetzung von Klimamaßnahmen nicht beteiligt war
(Niedertscheider et al. 2018).
1995 bis 2001
Die zweite Phase zwischen den Jahren 1995 und 2001 war eine Phase der „Stagna-
tion“ (Niedertscheider et al. 2018, 12). In dieser Phase ist die CO2-Kommission in eine
schwächere Institution, den Österreichischen Klimabeirat (ACCC), umgewandelt wor-
den, die kein Budget mehr hatte und nur aus Wissenschaftler*innen zusammengesetzt
war. Im Jahr 2001 hat der ACCC die Arbeit beendet und ist durch eine Arbeitsgrup-
pe als Teil der Österreichischen Akademie der Wissenschaft (ÖAW) ersetzt worden.
Mitte der 1990er-Jahre wurde zunehmend klar, dass das Toronto-Ziel für Österreich
unerreichbar sein würde. Ende der 1990er-Jahre konnte man die Klimapolitik in Ös-
terreich vor allem als eine „Diskussion um die Erreichbarkeit von Klimaschutzzielen
und als Festlegung einer klimapolitischen Strategie“ (Steurer 1999, 215) beschreiben.
Obwohl Österreich während dieser Phase der EU beitrat, hat das Land seinen Ruf als
Spitzenreiter in Sachen Umweltschutz nicht weiter ausgebaut und ist im EU-Vergleich
zum Klimanachzügler geworden. Während der späten 1990er-Jahre wurden das Kyoto-
Protokoll und die dazugehörige EU-Lastenverteilung verabschiedet. Das für Österreich
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509Klimapolitik
festgelegte Ziel von einer 13-Prozent-Emissionsreduktion (gegenüber 1990) war deut-
lich niedriger als das Toronto-Ziel und deswegen ist Hand in Hand mit der institutio-
nellen Stagnation der Ambitionsgrad gesunken.
2002 bis 2006
Die dritte Phase (2002 bis 2006) war von einem steigenden Einfluss der EU und
einer ersten Bundesklimastrategie gekennzeichnet (Lebensministerium 2002). Die Stra-
tegie wurde zwischen der Bundesregierung und den neun Bundesländern vereinbart
und war ein Durchbruch für die Klimapolitik, da sie alle Ebenen der Politikgestaltung
angesprochen hat. Die Strategie definierte Ziele und Maßnahmen zur Emissionsreduk-
tion für sieben Sektoren. Allerdings stellte sie sich wegen ihres freiwilligen Charakters
als sehr schwach heraus (Casado-Asensio/Steurer 2014; Steurer/Clar 2015). Obwohl
sie für mehrere Jahre der einzige Versuch blieb, dem Klimaschutz in Ländern und Ge-
meinden einen bundesweiten Rahmen zu geben (Wunder 2004, 27), verlor sie bald
an politischer Relevanz. Dies auch deshalb, weil die damalige Koalitionsregierung aus
ÖVP und FPÖ auf Bundesebene andere Prioritäten setzte (Steurer/Clar 2015).
2007 bis 2018
Die am Anfang dieser Periode stattgefundenen Überarbeitungen der Klimaschutz-
strategie fanden vor dem Hintergrund einer kritischen Evaluation der vorherigen
Klimastrategie im Jahr 2005 statt (Energieagentur/Umweltbundesamt 2005). Wegen
Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bundesregierung und den Ländern, die die
Zielsetzungen im Gebäudesektor nicht mittragen wollten, erlangten allerdings diese
Überarbeitungen nicht die Zustimmung der Bundesländer (Lebensministerium, 2007).
Die fehlende Zustimmung der Bundesländer bedeutete weniger politisches Gewicht als
bei der ersten Strategie aus dem Jahr 2002 (Steurer/Clar 2015). Institutionell wechselte
der Fokus in dieser Phase aber von Strategien zu Gesetzen. Die verbindlichen Ziele der
EU für die Emissionsreduktionen haben diese Entwicklungen sicher beschleunigt und
führten unter anderem zum Klimaschutzgesetz (2011), aber auch zur ersten Energie-
strategie (2009) und zu einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zwecks Wär-
mestandards im Gebäudesektor (2009).
Während dieses Zeitraums ist die erste Kyoto-Periode des UNFCCs zu Ende ge-
gangen. Da Österreich die Ziele für Emissionsreduktionen verfehlt hat, musste die
Bundesregierung die Lücke zwischen dem aus dem Kyoto-Protokoll auf der EU-Ebe-
ne vereinbarten nationalen Ziel und den tatsächlichen Emissionen mit dem Kauf von
Emissionszertifikaten im Ausland schließen. Dieser 700 Millionen Euro teure Zertifi-
katskauf wurde als die bedeutendste „klimapolitische Maßnahme“ Österreichs während
der ersten Kyoto-Periode beschrieben (Steurer/Clar 2015).
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Seit 2019
Wir fügen eine neue fünfte Phase zu dieser geschichtlichen Einordnung hinzu, die
den Zeitraum ab 2019 dank der hohen gesellschaftlichen Beteiligung in Klimafragen als
neue Phase der Klimapolitik auszeichnet. Eckpunkte in dieser Phase sind die Proteste
der Fridays for Future-Bewegung, der Wiedereinzug der GRÜNEN in den Nationalrat,
die Bildung einer Bundesregierung von ÖVP und GRÜNEN, das Klimavolksbegehren,
der Klimarat und der Beschluss einiger neuer Maßnahmen, zum Beispiel das Klima-
ticket, die Ökosteuerreform und das Gesetz zum Ausbau erneuerbarer Energien. Al-
lerdings lassen weitere wichtige Gesetze sehr lange auf sich warten, vor allem ein neues
Klimaschutzgesetz. Da das Klimaschutzgesetz aus dem Jahr 2012 nur ein Ziel für 2020
enthielt, gibt es in Österreich seither keine koordinierende politische Maßnahme, die
eine Erreichung der Ziele für 2030 und 2040 sicherstellen könnte. Mit Stand Mai 2022
ist nicht absehbar, wann ein neues Klimaschutzgesetz beschlossen werden wird und wie
ambitioniert dieses sein wird. Dabei steht ein „Klimaschutzgesetz mit verbindlichen
Reduktionspfaden bis 2040 und verbindlichen Zwischenzielen bis 2030“ seit 2020 im
Regierungsprogramm (Bundeskanzleramt Österreich 2020, 73).
Kurzum: Die Klimaschutz-Bilanz Österreichs kommt einem klimapolitischen Total-
versagen gleich. Anstatt Treibhausgasemissionen zwischen 1990 und 2012 um 13 Pro-
zent zu reduzieren, sind sie in diesem Zeitraum mangels wirksamer Klimapolitik weiter
gestiegen und Österreich konnte das sogenannte Kyoto-Ziel einzig durch Zertifikats-
käufe im Ausland am Papier einhalten. Im Jahr 2020 wäre ein wenig ambitioniertes
Ziel erneut verfehlt worden, hätte nicht die Pandemie für stark sinkende Emissionen
gesorgt. Dieses politische Versagen wird im EU-Vergleich noch deutlicher.
4. Einordnung des österreichischen Falls
Österreich liegt beim Klimaschutz je nach Kennzahl EU-weit mehr oder weniger
abgeschlagen im hinteren Feld (siehe Abb. 2). So waren in Österreich zum Beispiel
die CO2-Emissionen pro Kopf im Jahr 2019 beinahe doppelt so hoch wie im bestplat-
zierten EU-Land Schweden und deutlich über dem Schnitt der EU-27. Ein Vergleich
zur Entwicklung der Treibhausgas-Emissionen in der EU zeigt, dass Österreich diese
zwischen 1990 und 2017 nicht senken konnte, sondern um gut vier Prozent gesteigert
hat. Noch schlechter haben nur Irland sowie die deutlich ärmeren Länder Spanien,
Portugal und Zypern abgeschnitten. Im EU-Durchschnitt sanken die Emissionen in
diesem Zeitraum um 23,5 Prozent.
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511Klimapolitik
Abb. 2 Entwicklung der Treibhausgas-Emissionen in der EU, 1990–2017
Die Daten stammen von Eurostat und der Europäischen Umweltagentur.
Quelle: Rechnungshof (2021, 23).
Die schlechte Performanz Österreichs im EU-Vergleich ist vor allem auf das oben skiz-
zierte klimapolitische Versagen sämtlicher Akteur*innen zurückzuführen. Die Klima-
politik in Österreich ist geprägt von einer Bundesregierung, die Emissionsreduktionen
im Inland nicht zielorientiert verfolgt, von einer Sozialpartnerschaft, die vorwiegend
ökonomische sowie soziale Interessen vertritt und damit ökologische Fortschritte oft
blockiert, von einer für Klimapolitik oft hinderlichen föderalen Kompetenzstruktur
und von einer Zivilgesellschaft, die diesen strukturellen Hemmnissen lange Zeit nichts
entgegenzusetzen hatte. Hinzu kam eine opportunistische klimapolitische Ausrichtung,
bei der es in erster Linie um Kostenminimierung statt um Emissionsreduktionen gegan-
gen ist. Diese Ausrichtung hatte zur Folge, dass fehlende Emissionsreduktionen durch
den Kauf von Emissionszertifikaten im Ausland kompensiert wurden.
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Das klimapolitische Versagen Österreichs wurde mit der Wahl 2019 und der Regie-
rungsbeteiligung der GRÜNEN zwar abgeschwächt, allerdings konnte es nicht gänz-
lich überwunden werden. Das wird vor allem durch einen Vergleich mit Dänemark
deutlich. Beide Länder haben vor einigen Jahren ein vergleichsweise schwaches Klima-
schutzgesetz verabschiedet. In beiden Ländern wurde 2019 ein Bundes-Wahlkampf im
Zeichen des Klimaschutzes geführt und die Bundesregierungen neu gewählt. Obwohl
in Österreich die grüne Partei bei dieser Wahl erfolgreich abgeschnitten hat und Ko-
alitionspartner wurde, gelang es der Bundesregierung in Österreich in mehr als einem
Jahr nicht, ein ambitioniertes Klimaschutzgesetz zu beschließen. In Dänemark war so
ein Gesetz hingegen bereits zentrales ema im Wahlkampf. Schließlich beschloss die
dänische Regierung innerhalb von wenigen Monaten eines der ambitioniertesten Kli-
maschutzgesetze Europas (Nash/Steurer 2021b).
5. Herausforderungen für die Zukunft
Österreich wird in den kommenden Jahren mit enorm großen klimapolitischen Heraus-
forderungen konfrontiert werden. Laut dem Regierungsprogramm aus dem Jahr 2020
sollte Österreich bereits im Jahr 2040 die Klimaneutralität erreichen. Um dieses Ziel errei-
chen zu können, bedarf es sofortiger Maßnahmen, die Emissionen rasch und wirksam zu
senken vermögen. Laut Berechnungen des Wegener Center für Klima und Globalen Wan-
del der Universität Graz müssen die Emissionen dafür nämlich bis 2030 um 57 Prozent
gegenüber 1990 reduziert werden. Diese Anforderung liegt auch deutlich höher als das für
Österreich auf der EU-Ebene geltende Ziel von 48 Prozent Reduktion bis 2030 im Ver-
gleich zu 2005. Da solche Emissionssenkungen in Österreich noch nie realisiert werden
konnten, wäre dafür eine 180-Grad-Wendung in der Klimapolitik notwendig. Ohne diese
Kehrtwende wird Klimaneutralität bis 2040 ein rein symbolisches Ziel bleiben, das noch
einige Zeit über den Mangel an klimapolitischer Entschlossenheit hinwegtäuschen wird.
Vier große politische Herausforderungen stehen zwischen Österreich und einer Kli-
mapolitik, die den Anforderungen der Zeit gerecht werden kann.
Erstens muss es gelingen, dass das Klima auf der tagesaktuellen politischen Agenda
zentral bleibt und in der Öffentlichkeit weiterhin als relevant und wichtig wahrgenom-
men wird. Im Jahr 2019 haben es verschiedene soziale Bewegungen geschafft, den Kli-
madiskurs sowohl politisch als gesellschaftlich mehrere Monate zu prägen und mit dem
Klimavolksbegehren politische Prozesse in Gang zu setzen. Damit in der Klimapolitik
in den kommenden Jahren konsequent gehandelt wird, ist ein weiterhin stark ausge-
prägtes zivilgesellschaftliches Engagement unverzichtbar (Scherhaufer et al. 2021).
Zweitens darf innerhalb der alltäglichen Regierungsarbeit das ema Klima auch
nicht von anderen emen überschattet werden. Im Jahr 2020 ist ein wesentlicher
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Schritt schon gemacht worden. Es wurde ein breit aufgestelltes Ministerium für Kli-
maschutz geschaffen, das wichtige Lösungsbereiche und relevante Kompetenzen unter
einem Dach vereint. Ein durch zusätzliche Kompetenzen gestärktes Klimaschutzminis-
terium, das sich gegen andere Ministerien besser durchsetzen kann, ist eine wesentliche
Voraussetzung für wirksame Klimapolitik.
Drittens muss der rechtliche Rahmen passend zu der enormen Herausforderung ge-
staltet werden. Mit Stand Mitte 2022 ist noch kein Ersatz für das bereits 2020 aus-
gelaufene Klimaschutzgesetz vereinbart worden. Der verspätete Beschluss eines neu-
en Gesetzes ist problematisch, da einige Studien zeigen, dass Klimaschutzgesetze zu
sinkenden Emissionen beitragen können (Dubash 2020). Diese Wirkung ist unter
anderem darauf zurückführen, dass Klimaschutzgesetze die politischen Prioritäten in
Richtung Klimaschutz verschieben und zu einer sektorübergreifenden Integration von
Klimaschutz beitragen können (Matti et al. 2021). Zudem finden die Verhandlungen
zu einem neuen Gesetz in Österreich hinter verschlossenen Türen statt. Dabei zeigte
eine vergleichende Studie zu den Entstehungsprozessen von Klimaschutzgesetzen in
Schottland, Österreich, Dänemark und Schweden, dass sowohl der öffentliche Diskurs
als auch parlamentarische Deliberation zu deutlich ambitionierteren Klimaschutzgeset-
zen beigetragen haben (Nash/Steurer 2021a).
Viertens gab es in der Vergangenheit in Österreich immer wieder einflussreiche Ak-
teur*innen, die eine ambitionierte Klimapolitik gebremst haben. Zwei Gruppen von
Akteur*innen sind hier besonders hervorzuheben. Zum einen haben die Landesregie-
rungen klimapolitische Fortschritte im Gebäudesektor, für den sie verantwortlich sind,
immer wieder verhindert. Die Emissionen haben sich in diesem Sektor zwar besser ent-
wickelt als in anderen Sektoren, aber Verbesserungen der Energieeffizienz von Gebäu-
den durch Baustandards sind wiederholt behindert oder verzögert worden (Steurer et al.
2020). Zum anderen haben auch die Sozialpartner, allen voran die Wirtschaftskammer,
klimapolitische Fortschritte wiederholt bis zuletzt verhindert (Clar/Scherhaufer 2021).
Wenn die Klimapolitik in Österreich ihre Ziele in Zukunft erreichen soll, ist eine ziel-
gerichtete Kooperation aller genannten Akteur*innen, besonders zwischen Bund, Län-
dern und Sozialpartnern, dringend nötig. Eine Fortsetzung bisheriger Konfliktmuster
würde das Versagen der Klimapolitik in Österreich fortschreiben.
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520 Sarah Louise Nash / Reinhard Steurer
Tipps
Clar, Christoph/Scherhaufer, Patrick (2021). Klimapolitik auf Österreichisch: „Ja, aber …“,
in: Armutskonferenz et al. (Hrsg.): Klimasoziale Politik. Eine gerechte und emissionsfreie
Gesellschaft gestalten, Wien, S. 31–40
Nardoslawsky, Benedikt (2020). Inside Fridays for Future. Die faszinierende Geschichte der
Klimabewegung in Österreich, Wien.
Pesendorfer, Dieter (2007). Paradigmenwechsel in der Umweltpolitik. Von den Anfängen
der Umwelt zu einer Nachhaltigkeitspolitik: Modellfall Österreich?, Wiesbaden.
Steurer, Reinhard/Buzogány, Aron/Scherhaufer, Patrick/Clar, Christoph/Nash, Sarah L. (im
Erscheinen). Governance und politische Beteiligung, in: Christoph Görg et al. (Hrsg.):
Strukturen für ein klimafreundliches Leben, APCC Special Report 22.
Steurer, Reinhard/Clar, Christoph (2015). Is decentralisation always good for climate
change mitigation? How federalism has complicated the greening of building policies in
Austria, Policy Sciences 48(1), 85–107.
Übungsfragen
Wann begann Klimapolitik global und in Österreich?
Welches war die bedeutendste klimapolitische Maßnahme in Österreich bis 2012,
dem Ende der Kyoto-Periode?
Welchen Stellenwert hatten Strategien, Pläne und das Klimaschutzgesetz in der Kli-
mapolitik bis 2022?
Welche klimapolitische Bedeutung hat der hohe Anteil der Wasserkraft in Öster-
reich?
In welchen Bereichen haben Bundesländer starke klimapolitische Kompetenzen und
wie wirkte sich der Föderalismus auf Klimaschutz aus?
Was sind die wesentlichen Schwächen des Klimaschutzgesetzes aus dem Jahr 2011?
Welche Rolle spielte die Sozialpartnerschaft in der österreichischen Klimapolitik?
Was hat sich seit 2020 klimapolitisch in Österreich geändert?
Was behindert die Klimapolitik in Österreich nach wie vor?
Was müsste sich ändern, um Österreich bis 2040 klimaneutral machen zu können?
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Migrations- und Integrationspolitik
Sieglinde Rosenberger
Zusammenfassung
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9 -
-
9 -
Kategorisierung gehen unterschiedliche, soziale, politische und aufenthaltsrechtliche Be-
stimmungen einher.
9-
-
siert auf dem EU-Recht der Personenfreizügigkeit.
9Eingeschränkte Handlungsspielräume: Die mitgliedsstaatlichen Haupt-Handlungsspielräu-
me liegen bei der Gestaltung der Arbeitsmigration, der Integrations- und Staatsbürger-
schaftspolitik.
9
die Grenz-, Aufenthalts-, Asyl- und Staatsbürgerschaftspolitik in Österreich.
9-
-
ma der Gestaltung von politischen Rahmenbedingungen, sie ist primär auch Gegenstand
parteistrategischen Handelns.
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522 Sieglinde Rosenberger
1. Einleitung
Grenzüberschreitender Wohnsitzwechsel, Migration also, hängt eng mit Globalisie-
rung und Europäisierung zusammen und ist nicht selten Ergebnis von internationalen
und nationalen Konflikten und neuerdings auch von Klimakrisen. Österreich ist seit
Jahrzehnten ein Zuwanderungsland und immer wieder auch ein Transitland gewesen.
Dennoch versteht es sich politisch nicht als Einwanderungsland, das die Zuwanderung
aktiv regeln und gestalten würde. Kulturelle, ethnische und religiöse Diversität ebenso
wie wachsende Ungleichheit zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund
kennzeichnen die österreichische Gesellschaft (Perchinig/Valchars 2019; Rosenberger/
Gruber 2020; Statistisches Jahrbuch Migration & Integration 2021).
Migration stellt für liberal-demokratische Staaten eine große Herausforderung dar.
Denn charakteristisch für Nationalstaaten ist, dass sie das Recht beanspruchen, an der
Grenze und im Grenzraum zu sortieren und festzulegen, unter welchen Bedingungen,
Ausländer*innen sich niederlassen, temporär oder dauerhaft bleiben und an der poli-
tischen Gemeinschaft teilhaben können (Mau 2021). Gleichzeitig sind liberal-demo-
kratische Staaten einem internationalen Regelwerk verpflichtet, allen Menschen, un-
abhängig von Staatsbürgerschaft, bestimmte soziale Rechte und vor allem Schutz bei
Verfolgung zu gewähren. Die staatliche Souveränität zu entscheiden, wer kommt und
bleibt, ist demnach zu Gunsten der internationalen Grund- und Menschenrechte ein-
geschränkt (Castles et al. 2014; Fritsche 2016).
Diese Gleichzeitigkeit von staatlicher Souveränität einerseits und der Vergemein-
schaftung bzw. der Internationalisierung der Migrationspolitik andererseits ist An-
lass für gesellschaftliche Konflikte und strategische Positionierungen von politischen
Parteien (Hunger/Roth 2021, 22). Die Migrationsforscher*innen Hollifield et al.
(2008) sprechen von einem liberalen Paradoxon und bringen damit die Spannung
zum Ausdruck, dass nationalstaatliche Politik Migrant*innen Rechte zu gewähren
hat, ohne dass über diese die Wähler*innen regelmäßig abstimmen könnten. Von Ak-
teur*innen in Parlamenten und Regierungen wird zwar Responsivität erwartet und sie
werden über Wahlen legitimiert, gleichzeitig ist ihnen die Entscheidungskompetenz
über bestimmte Zuwanderungsformen entzogen. Das liberale Paradoxon birgt also
das potenzielle Dilemma zwischen der nationalstaatlichen Legitimation von politi-
schen Akteur*innen und universellen Grundrechten beziehungsweise der EU-Grund-
freiheit zur Niederlassung in einem Mitgliedsland. In diesem Spannungsverhältnis
unterschiedlicher Legitimationslogiken und Interessen liegt der Gegenstandsbereich
der Migrationspolitik.
Migrationspolitik umfasst die emen Zuwanderung und Aufenthalt sowie Integra-
tion und Staatsangehörigenschaft. Bei Ersteren steht das Grenzmanagement im Zent-
rum, bei Letzteren geht es um die Bedingungen des Bleibens und der Teilhabe an gesell-
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schaftlichen und politischen Institutionen (Bauböck/Perchinig 2006; Hunger/Rother
2021; Perchinig/Valchars 2019; Schammann/Gluns 2021).
Hannes Schammann (2018, 68) definiert Migrationspolitik über die analytischen
Werkzeuge der Politikfeldanalyse. In diesem Zugang umfasst Migrationspolitik jene
politischen Prozesse, „die auf die Etablierung und Umsetzung allgemeinverbindlicher
Regelungen und Steuerungsmechanismen im Umgang mit Migration und migrations-
bedingter Vielfalt abzielen“. Die Definition fokussiert auf die Debatten und Entschei-
dungen, auf Rechte, Maßnahmen und Instrumente, auf Akteur*innen und politische
Ebenen, Konflikte und Politikstile sowohl bezogen auf Zuwanderung und Neuzuge-
wanderte als auch die sich verändernde, diverse Aufnahmegesellschaft.
-
zesse, deren Ergebnis policies sein können, also Gesetze, Richtlinien, normative Set-
bezeichnet, in dem sich politische Prozesse abspielen, also beispielsweise völker- und
verfassungsrechtlich verankerte Rahmenbedingungen, die den migrationspolitischen
Prozess und seine Ergebnisse innerhalb gesellschaftlich konsentierter Grenzen halten“
(Schammann/Gluns 2021, 33).
Die politikwissenschaftliche Migrationsforschung ist durch die „policy“- und die „po-
litics“-Perspektive strukturiert. Die policy-Perspektive betrifft die regulative Steuerung
der Wanderungsbewegungen, die Rahmenbedingungen für Aufenthalt und Teilhabe
sowie die Maßnahmen zur Unterstützung einer heterogenen und diversen Gesellschaft.
Die politics-Perspektive hingegen widmet sich der Migration primär als Gegenstand
strategischer, parteipolitischer Überlegungen und Interessen (Hampshire 2013). Denn
tatsächlich politisieren in vielen europäischen Ländern politische Parteien und zivil-
gesellschaftliche Initiativen das ema Migration – es spielt in der elektoralen Aus-
einandersetzung eine höchst relevante Rolle (Gruber/Rosenberger 2022; Hadj-Abdou/
Ruedin 2022, Plasser/Sommer 2018).
Der folgende Beitrag differenziert zwischen „polity“-, „policy“- und „politics“-Di-
mensionen und beleuchtet Maßnahmen, Akteur*innen und Prozesse der österreichi-
schen Migrationspolitik. Ausgehend vom politischen Mehrebenenansatz werden Ein-
blicke in die politischen Handlungsebenen und Regelwerke („polity“) vermittelt und
Akteur*innen und Koordinationsstile beleuchtet. Neben den politischen Maßnahmen
(„policies“) zur Lösung von Herausforderungen und Problemen gilt auch den politi-
schen Prozessen und Strategien („politics“) das Erkenntnisinteresse.
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524 Sieglinde Rosenberger
2. Gegenwärtige Situation
Der Ansatz der Mehrebenenpolitik richtet den analytischen Blick auf Regelwerke und
Kompetenzen der politischen Ebenen – der subnationalen, nationalen, europäischen
und internationalen Ebene (Schammann/Gluns 2021). Die folgenden Ausführungen
widmen sich diesen Regelwerken mit der Perspektive, inwiefern diese die Handlungs-
möglichkeiten auf der österreichischen Ebene beeinflussen, ja einschränken. Die sub-
nationale Ebene muss allerdings aus Platzgründen hier unberücksichtigt bleiben.
2.1 Regelwerk und Kompetenzen
Die rechtlichen Kompetenzen zur Steuerung der Migration teilt sich die österreichische
Politik mit der internationalen und mit der europäischen Ebene. Die österreichischen
Akteur*innen gestalten die internationale Migrationspolitik, das Unionsrecht ebenso wie
die Völkerrechtsbestimmungen zum Flüchtlingsschutz mit. Sie sind jedoch aktuell nur in
einzelnen Bereichen Alleinentscheider*innen über Zuwanderung und Grenzkontrollen.
2.1.1 Internationale Migrationspolitik
Das humanitär begründete internationale Regelwerk enthält Rechte und Standards für
Menschen, die internationalen Schutz bedürfen. Nach 1945 entstanden auf interna-
tionaler (UNO) und regionaler Ebene (Europarat) Normen und Institutionen. Zu den
institutionellen Säulen der fluchtbezogenen Migrationspolitik zählen folgende Doku-
mente:
− Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR, 1948) der UNO: Sie hat recht-
lich den Charakter einer nicht bindenden Resolution.
− Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, 1950) des Europarats: Mit der
Ratifizierung verpflichten sich die Vertragsstaaten, allen Bürger*innen wesentliche
Rechte (wie das Recht auf Leben, auf Freiheit und Sicherheit, auf faire Gerichtsver-
fahren, auf Privat- und Familienleben sowie Versammlungs- und Religionsfreiheit)
zu gewährleisten.
− Genfer Flüchtlingskonvention (GFK, 1951) der UNO: Sie bildet als rechtsverbind-
liches Instrument den Grundstein des internationalen Flüchtlingsschutzes.
Österreich hat nach der wiederhergestellten Unabhängigkeit (1955) die Resolutionen
und Konventionen des Menschenrechtsschutzes von UNO und Europarat unterzeich-
net. Mit der Ratifizierung der Flüchtlingskonvention 1955 und der EMRK 1958 sind
deren Bestimmungen direkt anwendbares Verfassungsrecht geworden (Rosenberger
2022).
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2.1.2 Migrationspolitik der EU
Der Vertiefungsprozess der EU hat einen europäischen Migrationsraum geschaffen.
Personenfreizügigkeit, Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit, Dienstleistungs- und Nieder-
lassungsfreiheit von EU-Bürger*innen sind Pfeiler der europäischen Integration. Der
1999 in Kraft getretene Vertrag von Amsterdam regelt die Personenfreizügigkeit und
beinhaltet den Abbau der Binnengrenzen, den Schutz der Außengrenzen sowie den
verstärkten Aufbau einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik. Als Konsequenz
der Vertiefung nach Innen entstanden zwei rechtlich unterschiedliche Kategorien: Die
Mobilität von EU-Angehörigen im Inneren sowie die Migration von Außen durch
Drittstaatsangehörige. Diese Zweiteilung wirkt sich auf das Recht auf Migration und
auf Wanderungsbewegungen gegenläufig aus: Innerhalb des Schengenraumes wurden
Mobilitätshürden abgebaut und EU-Bürger*innen können sich in den Mitgliedsstaaten
niederlassen; gleichzeitig errichteten die (meisten) Mitgliedsstaaten neue Barrieren für
die Niederlassung von Drittstaatsangehörigen (Ataç/Reinprecht 2015).
Zuständig für beziehungsweise involviert in die Migrationspolitik sind alle relevan-
ten EU-Institutionen (EU-Kommission, EU-Parlament, EU-Rat; siehe dazu Meyer
in diesem Band). Die expliziten Gestalter*innen des Raums der Freiheit, der Sicher-
heit und des Rechts sind die Innen- und Justizminister*innen der Mitgliedsstaaten.
In diesem Feld erfolgt die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit inklusive des
Managements der Asyl- und Grenzpolitik der EU. Dabei erweist sich die Asylpolitik
insbesondere seit 2015 als besonders konfliktreiche Materie zwischen den Mitglieds-
staaten (Bendel/Ripoll Servent 2018).
Der Beginn des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) liegt in den späten
1990er-Jahren. Inhaltlich konzentriert sich das GEAS auf vereinheitlichte Visabestim-
mungen, auf minimale Standards bei Asylverfahren sowie auf die operative Durchfüh-
rung von Asylansuchen auf der Grundlage der Dublin-Bestimmungen. Das GEAS wird
in den letzten Jahren weitgehend als gescheitert beurteilt bzw. es ist seinen Funktionen
nicht nachgekommen. Im Zuge der Asylzuwanderung von 2015/2016 wurde die Auf-
nahme zu einer Angelegenheit der Solidarität beziehungsweise zu einem Deutungs-
kampf um Solidarität stilisiert (Trauner 2016). So beschloss im Jahre 2015 der Euro-
päische Rat die Umsiedelung von Flüchtlingen innerhalb der EU.1 Österreich nahm
am ersten Umsiedelungsprogramm teil – aus Italien wurden 50 Geflüchtete aufgenom-
men. Das zweite Umsiedelungsprogramm scheiterte und lediglich eine sogenannte Ko-
alition der Willigen nahm nach Griechenland Geflüchtete auf. Die österreichischen
Bundesregierungen lehnen seit 2018 jegliche Aufnahme über dieses Instrument der
1 https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-11131-2015-INIT/de/pdf
(31.03.2022).
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526 Sieglinde Rosenberger
EU-Umsiedelungsprogramme ab.2 Seit 2020 sind verpflichtete Verteilungsquoten zwi-
schen den EU-Mitgliedsstaaten einem vagen, flexiblen Solidaritätsbegriff gewichen.
Der von der Europäischen Kommission präsentierte Neue Pakt zu Migration und Asyl
soll die Handlungsfähigkeit in Angelegenheiten von Flucht und Asyl wieder zurück-
gewinnen. Die wesentlichen Inhalte, die von Österreich besonders unterstützt werden,
sind: Außengrenzschutz und Zusammenarbeit mit Drittstaaten bei Rückübernahme-
abkommen und eine freiwillige Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten.3 Die Um-
setzung dieses Pakts steht noch aus.
2.1.3 Österreichische Kompetenzen
Ein EU-Mitgliedsstaat besitzt bei der Zuwanderung von EU-Bürger*innen rechtlich
keine alleinigen Steuerungsrechte. Die Kompetenzen liegen vielmehr in der Mitent-
scheidung über allfällige weiterführende Regelungen der Personenfreizügigkeit von EU-
Angehörigen, bei der Standardsetzung zur Aufnahme von Drittstaatsangehörigen und
bei Maßnahmen des EU-Außengrenzschutzes (Trauner/Ripoll Servent 2015). In allen
EU-Institutionen mit Kompetenz für Asyl und Migration sind mitgliedsstaatliche Re-
präsentant*innen, in erster Linie die Innen- und Justizminister*innen, vertreten.
Die österreichische Politik hat alleinige Kompetenzen bei einzelnen Regulationen
betreffend Drittstaatsangehörige. Aber auch hier gilt es unionsrechtliche Bestimmun-
gen über die Rechtsstellung langansässiger Migrant*innen zu berücksichtigen (siehe
Tab. 1). Die nationalstaatlichen Kompetenzen liegen vielmehr bei emen wie der Inte-
gration (Rosenberger/Gruber 2020), der Staatsbürgerschaft und den an diese gekoppel-
ten Wahlrechten (Valchars/Bauböck 2021). Mitgliedsstaatliche Kompetenzen umfassen
ferner die Durchführung von Asylverfahren, die Rückkehrpolitik sowie Regelungen der
temporären Arbeitsmigration (Humer/Spiegelfeld 2020).
2.2 Umfang der faktischen Gestaltung
Aber erst der Blick auf die Zuwanderung von Menschen aus bestimmten Herkunfts-
ländern verdeutlicht die realen mitgliedsstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Die ent-
2 „Wir lehnen Quoten und Umverteilung ab. Aus Sicht der Bundesregierung und des Innenmi-
nisteriums besteht eine zukunftsfähige Asylpolitik aus zwei wesentlichen Elementen: Erstens
Hilfe vor Ort in den Krisenregionen, zweitens konsequenter Schutz der EU-Außengrenzen“,
https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=62394F722F7A43305033383D (10.05.2021).
3 https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2076985-Bleiberecht-darf-nicht-
erzwungen-werden.html (11.12.2021).
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scheidende Frage ist, in welchem Ausmaß EU-Staatsangehörige oder Drittstaatsange-
hörige zuwandern.
Nach dem Statistischen Jahrbuch für Migration und Integration hatten im Jänner
2021 24,4 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung eine Migrationsgeschichte,
das heißt sie selbst oder beide Elternteile sind nicht in Österreich geboren. Etwa 17 Pro-
zent der Gesamtbevölkerung besaßen keine österreichische Staatsbürgerschaft – was
sowohl ein Indikator für hohe Zuwanderung als auch für eine restriktive Staatsbürger-
schaftspolitik sein kann.
EU/EFTA-Bürger*innen bildeten den größten Anteil der Zugewanderten (etwa zwei
Drittel), während Drittstaatsangehörige, also Staatsbürger*innen aus Nicht-EU-Staa-
ten, knapp ein Drittel ausmachten. Nach Staatsangehörigkeit ist die größte Gruppe der
Zugewanderten jene mit deutscher Staatsbürgerschaft.
Die Berücksichtigung dieser herkunftsbezogenen Informationen macht deutlich,
dass die ohnehin eingeschränkten alleinigen rechtlichen Kompetenzen durch die realen
Zuwanderungsbewegungen noch limitiert werden. Dass die österreichische Politik die
Zuwanderung faktisch kaum gestalten kann, liegt also nicht zuletzt in der Zusammen-
setzung der Zuwanderungsbevölkerung – die Mehrheit sind EU-Bürger*innen, die auf
der Grundlage der EU-Personenfreizügigkeit sich niederlassen.
Wie steht es um die Drittstaatsangehörigen? Der größte Teil der Drittstaatsangehöri-
gen wandert über internationale Schutzbestimmungen sowie über das Recht auf Fami-
lienleben, d.h. über das Institut der Familienzusammenführung zu. Nur wenige Dritt-
staatsangehörige kommen über den kontingentierten Weg als Schlüsselkraft mit einer
Rot-Weiß-Rot-Karte (Arbeitszuwanderung auf der Grundlage eines Punktesystems)
oder als Saisonarbeiter*innen (Statistisches Jahrbuch Migration & Integration 2021).
Das politische Österreich verstand sich, trotz Anwerbung von Gastarbeiter*innen
und Fluchtbewegungen, bis in die 2000er-Jahre nicht als Zuwanderungsland. Und es
versteht sich nach wie vor nicht als Einwanderungsland, das die Zuwanderung recht-
lich und politisch gestalten würde (Rosenberger/Gruber 2021). So fehlt nach wie vor
ein Einwanderungsgesetz, das ausgehend vom Bedarf an Arbeitsmigration – Stichwort
Fachkräftemangel in der Pflege – die Zuwanderung aktiv gestalten würde. Ein Instru-
ment der planvollen Gestaltung der Fluchtzuwanderung sind humanitäre Aufnahme-
programme. Diese lehnen die österreichischen Bundesregierungen seit 2018 aber strikt
ab, sodass auch in diesem Bereich eine regulierte Zuwanderung verhindert wird.4
4 https://www.humanitaere-aufnahme.at (11.12.2021).
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528 Sieglinde Rosenberger
Politische Ebene/
Rechtliche Zuwan-
derungsform
International EU National
EU-Freizügigkeit Schengenkodex
Vertrag von Amsterdam
Flucht/Asyl AEMR
EMRK
Genfer Flüchtlings-
konvention
GEAS: Dublin-Regula-
tion
Aufnahme-L
Rückführungs-RL
Massenzuwanderungs-RL
Asylverfahren
Rückkehr
Familienzusam-
menführung
EMRK
Arbeitsmigration
Drittstaatsange-
hörige
Blaue Karte;
Langansässigkeits-RL
Saisonier-RL
Rot-Weiß-Rot-Karte
Saisonier-Modell
Integration Förder- und Forderinst-
rumente
Staatsbürgerschaft Kriterien
RL (Richtlinie).
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
2.3 Akteur*innen und Politikgestaltung
Die policy-Forschung unterscheidet zwischen vertikaler und horizontaler Politikgestal-
tung. Die vertikale Politikgestaltung bezieht sich auf die Verteilung der (rechtlichen)
Kompetenzen und der Interaktionen zwischen den politischen Ebenen. Die horizontale
fokussiert auf die Organisation innerhalb einer politischen Ebene und richtet sich ent-
weder auf ein organisatorisch-institutionelles Feld oder auf eine Querschnittsmaterie,
an der verschiedene Ressorts und Akteur*innengruppen beteiligt sind (Knill/Tosun
2015; Gruber 2016).
Die Migrationspolitik findet, wie eben demonstriert, auf mehreren politischen
Ebenen statt. Diese Ebenen handeln nicht separiert voneinander, sondern sind über
Akteur*innen miteinander verbunden. Es bestehen sowohl Interaktionen und Interde-
pendenzen zwischen den Akteur*innen der politischen Ebenen als auch zwischen staat-
lichen und nichtstaatlichen Akteur*innen einer Ebene. Das Resultat ist ein hohes Maß
an Aushandlungsprozessen, insbesondere bei der Implementierung von Maßnahmen
vor Ort (Kraler 2012; Czaika et al. 2021). Welche Akteur*innen sind verantwortlich
für die Migrationspolitik?
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2.3.1 Akteur*innen
Die zentralen Akteur*innen auf der österreichischen politischen Ebene sind staat-
licherseits das Innenministerium, das Integrationsministerium (inklusive Österreichi-
scher Integrationsfonds/ÖIF), das Sozial- und Bildungsministerium sowie die Zivilge-
sellschaft, die Sozialpartner und die Wohlfahrtsverbände auf der nicht-staatlichen Seite
(siehe Tab. 2). Ein Ressort nimmt die Hauptzuständigkeit wahr – das Innenministe-
rium.
Bundesministerium für Inneres
Hauptakteur für Angelegenheiten der Grenzpolitik, von Asyl inklusive Rückkehr und
der Aufenthaltstitel ist das Innenministerium. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs er-
hielt der Grenzschutz an den östlichen Grenzen eine hohe politische Priorität. Wurde
1989 die Durchtrennung des Grenzzaunes durch den österreichischen und ungarischen
Außenminister noch symbolträchtig kommuniziert, begann Österreich rasch, die Gren-
ze und den Grenzraum von der eigenen Seite her zu kontrollieren. Von September
1990 bis 2011 unterstützte das Bundesheer mit sogenannten Assistenzeinsätzen die
Zollwache und Gendarmerie bei der Überwachung der Schengen-Außengrenze und
des Grenzraums, „um illegale Grenzübertritte zu verhindern“ (Rechnungshof 2010, 13;
Jandl 2008). Im Zuge der Asylzuwanderung 2015 wurde das Bundesheer abermals an-
gefordert und leistete bis 2018 Assistenzeinsatz an den östlichen Grenzen und teils auch
an der Grenze zu Italien.
Im Verlaufe der hohen Asylzuwanderung (2015) und der Maßnahmen im Umgang
mit der COVID-19-Pandemie erweist sich das Prinzip der EU-Personenfreizügigkeit
als fragil und wenig europäisch. Denn die Praxis zeigt nun, dass es den Mitgliedsstaaten
obliegt, temporäre Unterbrechungen des Schengenkodex vorzunehmen und Kontrollen
an den Binnengrenzen durchzuführen. Österreich hat seit 2015 von der Möglichkeit
der temporären Unterbrechung ununterbrochen Gebrauch gemacht.
Neben der Grenzpolitik ist das Innenministerium für die Aufenthaltsbestimmun-
gen zuständig. Mit dem Instrument der Aufenthaltskategorien versucht die nationale
Politik, die Niederlassung von Drittstaatsangehörigen zu steuern. An die Gewährung
eines spezifischen Aufenthaltstitels sind Kriterien wie Herkunftsland, Dauer und Er-
werbsarbeit geknüpft. So unterscheidet das Aufenthaltsgesetz (in Kraft 1993) zwi-
schen Zugewanderten nach Staatsangehörigkeit als EU- und EWR-Bürger*innen und
Drittstaatsangehörigen und kategorisiert darüber hinaus Drittstaatsangehörige nach
Migrationsgründen. Dies bedingt eine Kaskade fragmentierter Aufenthaltstitel. Im Jah-
re 2021 existierten in Österreich über 20 verschiedene Aufenthaltstitel, wobei für Asyl
und subsidiären Schutz weitere Regelwerke in Kraft sind. Ein Ziel der gestaffelten Auf-
enthaltstitel sind abgestufte, fragmentierte soziale Rechte.
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Sozial-/Arbeitsministerium
Ursprünglich steuerten die Arbeitsmigration die Sozialpartner (siehe dazu Ennser-Je-
denastik in diesem Band). In den 1990er-Jahren haben diese Funktion das Sozial- und
Wirtschaftsministerium sowie das Arbeitsmarktservice übernommen. Die Saisonarbeit
in Tourismus und Landwirtschaft wird über Verordnungen geregelt und das AMS stellt
im Rahmen der verordneten Kontingente Arbeitsvisa für ausländische Saisonarbei-
ter*innen aus.
Integrationsministerium
Auf Bundesregierungsebene sind die Zuständigkeiten für Migration und Integration
seit 2011 geteilt. Das BMI ist für die Zuwanderungskontrolle und für Aufenthaltstitel
zuständig, für die Integrationspolitik wurde 2011 das Staatssekretariat für Integration
eingerichtet (angesiedelt im BMI bis 2013). In der Folge wanderte die Integrations-
agenda in unterschiedliche Institutionen, sie war aber überwiegend dort angesiedelt, wo
Sebastian Kurz ressortmäßig verankert war. Seinerzeitiges Ziel der Institutionalisierung
der Integrationsmaterie war es, Integration von den restriktiven Zuwanderungsdebat-
ten zu entkoppeln (Rosenberger/Gruber 2020).
Oberste Gerichte
Den obersten Gerichtshöfen kommt bei der rechtlichen Zuerkennung von politi-
schen und sozialen Rechten für Zugewanderte eine wesentliche Rolle zu. So war es der
Verfassungsgerichtshof, der Mitte der 1980er beim Aufenthaltsrecht die Berücksich-
tigung integrationspolitischer Erwägungen verlangte. Damals hob der Verfassungsge-
richtshof Bestimmungen zum Aufenthaltsverbot im Fremdenpolizeigesetz mit der Be-
gründung auf, dass diese nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zum
Schutz des Privat- und Familienlebens in Einklang stehen würden.
In den vergangenen Jahren kippten Höchstgerichte einige Maßnahmen der ÖVP-
FPÖ-Regierung. Mit der Begründung der Verletzung der Gleichbehandlung hob der
Verfassungsgerichtshof das Kopftuchverbot für Schülerinnen ebenso als verfassungs-
widrig auf wie die Reform der Mindestsicherung (die Mindestsicherung sollte an die
Sprachkompetenz gebündelt werden). Und der Verwaltungsgerichtshof sah die Schlie-
ßung von einzelnen Moscheen als rechtswidrig an (Rosenberger/Gruber 2020).
Die obersten Gerichte wurden also zu Akteuren der Migrationspolitik indem sie
einerseits Erkenntnisse zur Ausweitung von sozialen Rechten erließen, sich andererseits
als institutionelle Beschränkungen rechtsnationalistischer Politik erwiesen.
Wirtschaftsverbände, Migrant*innen-Organisationen, Zivilgesellschaft
Die Wirtschaftsverbände bringen Forderungen nach Öffnung der Arbeitsmärkte
sowohl für hoch- als auch für niedrig-qualifizierte Drittstaatsangehörige ein. So inter-
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venierten Wirtschafts- und Landwirtschaftskammer für das Saisonier-Modell im Tou-
rismus und in der Landwirtschaft. Der Gewerkschaftsbund hingegen kritisierte die
(schlechten) Arbeitsbedingungen, die erst zum Bedarf an ausländischen Arbeitskräften
führen würden. An diesem Beispiel zeigen sich die unterschiedlichen ökonomischen
Interessenslagen zwischen Öffnung und Schließung der Arbeitsmärkte (Humer/Spie-
gelfeld 2020).
Migrant*innenorganisationen konzentrieren sich in erster Linie auf kulturelle Aktivi-
täten oder sind im religiösen Feld angesiedelt. Ihre Einbeziehung in politische Entschei-
dungsprozesse erfolgt lediglich in religionspolitischen Angelegenheiten, jedoch nicht
in der Migrations- und Integrationspolitik. Allerdings haben Asylwerber*innen einige
medial stark wahrgenommene Protestaktivitäten, wenn auch substanziell wenig erfolg-
reich, für Aufenthalt und bessere Lebensbedingungen unternommen (Mokre 2015).
Seit den 1990er-Jahren übernehmen zivilgesellschaftliche, karitative Organisationen
wesentliche Aufgaben im Asylregime (Langthaler/Trauner 2009). Nicht-staatliche Or-
ganisationen und Vereine engagieren sich darüber hinaus für das Gelingen der Integra-
tion. Sie leisten praktische Unterstützung, Kirchen und Wohlfahrtsverbände unterstüt-
zen den Staat bei der Organisation der Unterbringung, Betreuung und Beratung von
Geflüchteten (Simsa 2016).
Tab. 2 Übersicht über Akteur*innen/politische Ebene
International Europäisch National Subnational
UN EK, EP, ER BMI/BH Kommunen
Europarat Ministerräte BMA, BMS Wohlfahrtsverbände
Gerichte Initiativen
Zivilgesellschaft
Wirtschaftsverbände
Quelle: Eigene Zusammenstellung.
2.3.2 Horizontale und vertikale Politikkoordination
Die vertikale Politikkoordination, die seit dem EU-Beitritt von einer Verlagerung der
Kompetenzen in Richtung der EU gekennzeichnet ist, sieht sich seit der ÖVP-FPÖ-Re-
gierung (2017–2019) von einem Prozess der Re-Nationalisierung herausgefordert. Die
Regierungen versuchen seither, das internationale/unionsrechtliche Regelwerk in Frage
zu stellen und so verstärkt nationalstaatliche Kompetenz zu signalisieren (Heinisch et
al. 2020).
Diese Entwicklung trifft insbesondere auf die Asyldebatte zu, bei der universelle
Menschenrechte und staatliche Kontrollinteressen grundsätzlich miteinander kollidie-
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ren (ym 2019). Derartige Spannungen werden zunehmend zugunsten der staatli-
chen Handlungsmacht interpretiert. So wurde vom ehemaligen Innenminister Kickl
eine Anpassung der EMRK mit folgendem Satz gefordert: „Das Recht hat der Politik zu
folgen und nicht die Politik dem Recht“.5 Ein weiteres Beispiel ist der Globale Pakt für
eine sichere, geordnete und reguläre Migration (UN-Migrationspakt) der 2018 in Ma-
rokko verabschiedet wurde. Die ÖVP-FPÖ-Regierung trat dem von österreichischen
Beamt*innen mitverhandelten Instrument nicht bei und begründete die Haltungsän-
derung damit, dass der Pakt die nationale Souveränität gefährde und zur Anerkennung
von Migration als Menschenrecht führen könne (Badell 2021).
Seit einigen Jahren schlagen die österreichischen Regierungsvertreter*innen auch in
den EU-Gremien einen Weg der Re-Nationalisierung bzw. der bilateralen Gespräche und
Vereinbarungen in der Asyl- und Migrationspolitik ein (Hilpold 2017). Es werden Appelle
an die EU gerichtet, asylpolitisch zu handeln, gleichzeitig werden EU-Kommissionsvor-
schläge kaum unterstützt, außer sie betreffen den Stopp der Aufnahme von Geflüchteten.
Auf der horizontalen Politikebene war in den 1960er- und 1970er-Jahren die Migra-
tionssteuerung eine Sozialpartnerangelegenheit und betraf primär die Arbeitsmigration.
Gastarbeit war das forcierte Modell der nachfrageorientierten Anwerbung. Mit dem
Raab-Olah-Abkommen, 1961, regelten die Präsidenten der Bundeswirtschaftskammer
und des Gewerkschaftsbundes die Nachfrage nach Arbeitskräften temporär mit auslän-
dischen Arbeitskräften. Im Jahre 1962 wurde ein Abkommen mit Spanien geschlossen;
1964 mit der Türkei und 1966 mit Jugoslawien. Im Zuge der Wirtschaftskrise 1973/74
verloren etwa ein Viertel der ausländischen Arbeitskräfte ihre Aufenthalts- und Arbeits-
bewilligungen, die anderen machten aus der Gastarbeit einen Daueraufenthalt und hol-
ten Familienangehörigen nach (Fassmann/Münz 1995).
Anfang der 1990er-Jahre übernahmen, als Antwort auf hohe Zuwanderungsbewegun-
gen, die politischen Parteien den Diskurs zur Migration. Seither ist eine stetig restrikti-
vere Zuwanderungspolitik insbesondere gegenüber der Fluchtmigration zu beobachten.
Seit 2011 wird auf der Regierungsebene die Integrationspolitik von der Migrations-
politik im BMI getrennt – für Integrationsprojekte war das Staatssekretariat für Inte-
gration und später das Integrationsministerium zuständig, für die Integration in das
Bildungssystem das Bildungsministerium und für sozialstaatliche Leistungen und den
Arbeitsmarkt das Sozial- und Arbeitsministerium. Integration bleibt, trotz Institutio-
nalisierung, eine Querschnittsmaterie, die je nach Integrationsdimension von unter-
schiedlichen Ministerien bearbeitet wird; Migration im Sinne von Zuwanderung ist
hingegen als eine Fachmaterie im Innenministerium organisiert.
5 Innenminister Kickl ORF ZIB 23.01.2019 über die EMRK: „Das Recht hat der Politik zu
folgen und nicht die Politik dem Recht“. ÖVP-Klubobmann Wöginger stellte im ORF-Re-
port vom 13.07.2021 die Bindung der EMRK in Frage (11.12.2021).
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Die parteipolitische Hauptzuständigkeit für die Migrationspolitik lag in den 1990er-
Jahren, während der SPÖ-ÖVP-Koalitionsregierungen, überwiegend bei der SPÖ (In-
nenministerium sowie Sozialministerium). In den letzten 20 Jahren allerdings ist die
ÖVP ressortmäßig für Migration und Integration fast ununterbrochen verantwortlich.
Zwischen 2000 und 2017 hatte die ÖVP sowohl in der Koalitionsregierung mit der
SPÖ als auch mit der FPÖ das Innenministerium inne und war sowohl für die Zu-
wanderungs- als auch die Integrationspolitik zuständig. Lediglich zwischen Ende 2017
bis Mitte 2019 – in der ÖVP-FPÖ-Regierungskoalition – leitete die FPÖ die mig-
rations- und integrationsrelevanten Ressorts (Ausnahme war das Bildungsressort). Ab
2020 übernahm in der ÖVP-GRÜNE-Regierungskoalition wieder die ÖVP die gesam-
te ministerielle Zuständigkeit für Migration und Integration. Die GRÜNEN besitzen
in dieser Regierungskonstellation keine migrationspolitische Zuständigkeit, die ÖVP
gibt in dieser Materie allein den Ton an.
In den SPÖ-ÖVP-Regierungen verlangte die Integrationspolitik als Querschnittsma-
terie Aushandlungsprozesse und somit Kompromisse zwischen den Interessen der beiden
Parteien. Die Suche nach Kompromissen zwischen unterschiedlichen Positionen wurde
aber ab 2017 aufgegeben. Von Ende 2017 bis Mitte 2019 hatte die FPÖ nahezu alle
Migrations- und Integrationsrelevanten Ministerien inne (Ausnahme war Bildung) und
die ÖVP unterstützte nahezu alle FPÖ-Anliegen. Die Migrations- und Integrationspoli-
tik der ÖVP nach 2017 unterstreicht die Befunde der Populismusforscherin Akkermann
(2012), wonach Mitte-rechts-Parteien, die mit radikalen Rechtsparteien koalieren, die
rechtspopulistische Politik selbst umsetzen würden. Analysen der Migrations- und Inte-
grationsmaßnahmen ab 2017 zeigen, dass die ÖVP nicht nur eine Umarmungsstrategie
verfolgte, sie also nicht nur den Maßnahmenvorschlägen der FPÖ zustimmte, sondern
dass die ÖVP sich diese selbst zu eigen machte. Sie verfolgte eine Normalisierungsstra-
tegie, in der rechtspopulistische Forderungen und Positionen vom politischen Rand in
die Mitte geholt werden (Rosenberger/Gruber 2020; Wodak 2018). Seit 2019 setzt sich
in der ÖVP-GRÜNE-Regierung die inhaltliche FPÖ-Politik ebenso fort wie der Politik-
modus der gegenseitigen Nicht-Einmischung eines Ressorts in ein anderes.
Neben der Zuteilung aller migrationsrelevanten Ressorts an die ÖVP und somit
der Ausschaltung des Koalitionspartners GRÜNE ist eine weitere Veränderung im ver-
tikalen Politikstil zu beobachten: Weniger Kooperation mit privaten Organisationen
in der Unterbringung und Beratung von Asylsuchenden. Die ÖVP-FPÖ-Regierung
(2017–2019) drängte die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Initiativen im Bereich
von Asyl und Flucht zurück und forcierte die Zentralisierung und Verstaatlichung die-
ser Materie. Sie kritisierten die Caritas als „Asylindustrie“6 und vereinbarten im Regie-
6 https://www.derstandard.at/story/2000095227256/fpoe-legt-bei-caritas-kritik-nach-und-
spricht-von-asylindustrie (11.12.2021).
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rungsprogramm, eine Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleisten ein-
zurichten. Das Gesetz wurde im Mai 2019 beschlossen und die Agentur nahm im Juni
2021 die Tätigkeit auf.
Neben der Zurückdrängung von Zivilgesellschaft aus der Asylbetreuung zeigt der Zi-
vilgesellschaftsindex von 2019 insgesamt eine abnehmende Einbindung von NGOs, ein-
schließlich kirchlicher Wohlfahrtsorganisationen, in Prozesse der Flüchtlingsbegleitung.
7
Drei Einflussfaktoren haben die migrations- und integrationspolitischen Maßnahmen
wesentlich beeinflusst:
− Auf steigende Zuwanderungszahlen wurde meist restriktiv, das heißt schließend ge-
antwortet worden;
− die EU-Mitgliedschaft Österreichs führte zu zwei Typen von Migrant*innen – EU-
Angehörige und Drittstaatsangehörige – die mit unterschiedlichen Aufenthalts- und
sozialen Rechten ausgestattet sind;
− die rechtsnationalistische Regierungskonstellation von ÖVP-FPÖ legte einen Maß-
nahmenschwerpunkt auf die Asylzuwanderung.
Im Folgenden werden die Grundlinien der Maßnahmen in den Politikbereichen Zu-
wanderung, Staatsbürgerschaft und Integration skizziert.
2.4.1 Zuwanderungsregelungen: Arbeit und Flucht
Die Regelungen für Drittstaatsangehörige sind überwiegend restriktiv, lediglich bei der
Arbeitsmigration sind vereinzelt öffnende, liberale Tendenzen zu beobachten (z.B. Aus-
weitung der Mangelberufsliste). Nach dem Gastarbeitsprogramm war in den 1990er-
Jahren Österreich eines der ersten europäischen Länder mit einem Quotensystem für
die Arbeitszuwanderung. Allerdings machten die Quoten stets nur einen kleinen Teil
der Zuwanderung aus (Jandl 2008). Das Quotensystem wurde 2011 von der Rot-Weiß-
Rot-Karte abgelöst. Die Karte ist ein auf zwölf Monate befristetes Visum für besonders
gut ausgebildete oder in sogenannten Mangelberufen arbeitende Drittstaatsangehörige.
Für temporäre Saisonarbeit (Tourismus) und Erntehelfer*innen legt der*die Minister*in
für Arbeit per Verordnung jährlich Kontingente fest. Für Drittstaatsangehörige wird die
arbeitsmarktpolitische Öffnung kritisch als eine „Teilrückkehr des Gastarbeitermodells“
(Perchinig/Valchars 2019, 414) interpretiert.
7 https://gemeinnuetzig.at/2019/04/civil-society-index-update-2019-ist-der-politische-klima-
wandel-noch-zu-stoppen-2/ (10.12. 2021).
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Hinsichtlich Flucht und Asyl verlief die Situation ähnlich. Die ersten Fluchtwan-
derungen nach Österreich waren Fluchtwanderungen durch Österreich. So war Ös-
terreich ein Transitland für die Geflüchteten aus Ungarn (1956) und aus der Tsche-
choslowakischen Republik (1968). In den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren
verschiebt sich die Bedeutung des Begriffs Flüchtling. Der sichere Hafen für politische
Dissident*innen verschwindet Ende der 1980er-Jahre zugunsten eines Diskurses, der
Flüchtlinge in einen Zusammenhang mit wirtschaftlichen Kosten und grenzüberschrei-
tender Kriminalität stellt. Die Rahmenbedingungen für Zuwanderung änderten sich
durch eine geänderte Grenzpolitik. Innenpolitisch kommt es zur negativen Politisie-
rung der sogenannten Ausländer*innenfrage, zur irregulären Migrationsrhetorik und
zu einer Reihe von asyl- und grenzpolitischen Entscheidungen. In politischen Debatten
und Entscheidungsprozessen steht oft nicht die Gestaltung der Migrationsbedingungen
im Vordergrund, sondern die Abwehr von Migrant*innen (Bauböck/Perchinig 2006).
Im Sog der hohen Asylantragszahlen von 2014 und 2015 sind die asylpolitischen
Maßnahmen durch Restriktion und Verhinderung charakterisiert. Die österreichische
Politik setzt sich dafür ein, Fluchtmigration zu erschweren und Asylanträge zukünf-
tig an den Außengrenzen abzuwickeln. Im Jahre 2016 wurde ein Gesetz erlassen, das
auf dem Verordnungsweg die Möglichkeit einer Obergrenze von Asylantragszahlen
vorsieht. Mit anderen Worten: Auch bei Asyl sollte ein Quotierungsmodus etabliert
werden. Die Verordnung zu einer Obergrenze von maximal zulässigen Asylanträgen
(37.500 Anträge pro Jahr), die Jurist*innen als internationalen und europäischen Be-
stimmungen zuwiderlaufend einschätzen (Hilpold 2017), kam bislang deshalb nicht
zur Anwendung, weil die Antragszahlen stets unter dieser Obergrenze lagen.
Seit 2015 ist die Rückführung beziehungsweise Abschiebung von Personen mit ne-
gativer Entscheidung über einen Asylantrag ein dominantes (diskursives) ema. So-
wohl die EU als auch Österreich haben die Erhöhung der Effizienz bei Abschiebungen
zu einer Priorität gemacht. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass Geflüchtete
Befragungsdaten zufolge zu eher wenig beliebten Gruppen gehören (Diehl 2021; Hof-
mann 2019). Dennoch haben einzelne Abschiebungen zu hoher medialer Aufmerksam-
keit geführt und zivilgesellschaftlichen Widerstand hervorgerufen (Ruedin et al. 2018).
2.4.2 Staatsbürgerschaft
Die Staatsbürgerschaftspolitik folgt in Österreich dem Grundsatz der Abstammung
(„ius sanguini“), das heißt die Staatsangehörigenschaft wird von den Eltern vererbt oder
über Beantragung und Erfüllung von Kriterien erworben. Die Staatsbürgerschaftspo-
litik gilt als vergleichsweise restriktiv, nicht zuletzt wurden die Bedingungen für den
Erwerb eher verschärft als liberalisiert. Da an die Staatsbürgerschaft das Wahlrecht ge-
koppelt ist, bedeutet dies, dass der Demos, also der mit politischen Rechten ausgestatte
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Bevölkerungsanteil, kleiner und der Anteil von Nicht-Wahlberechtigten größer wird,
folglich ein massives demokratiepolitisches Problem entsteht (Valchars/Bauböck 2021).
2.4.3 Integration
Zu Beginn der 2000er-Jahre forcierte die ÖVP-FPÖ-Regierung kulturell ausgerichte-
te Integrationspolitiken. In einer Zeit, als die globalisierte Wirtschaft vor Ort Gewin-
ner*innen und Verlierer*innen erzeugte, als Unternehmen immer internationaler agier-
ten, fokussierte die Politik auf die kulturelle Dimension der Integration. Der politische
Umgang mit Teilhabe hingegen blieb höchstens der lokalen Ebene, den Städten und
Gemeinden vorbehalten (Mourão-Permoser/Rosenberger 2021).
In Österreich haben die zuwanderungspolitischen Handlungsdefizite zu einer inten-
siven rechtlichen Gestaltungsaktivität im Feld der Integration und zu restriktiven Ent-
scheidungen gegenüber Islam und Muslimen geführt (Mattes 2018). Integrationspolitik
wurde in den letzten Jahren verstärkt als eine Manifestation des religiösen Populismus
betrieben. Verbote des Tragens des muslimischen Kopftuches in Kindergarten (2018)
und Volksschule (2019) erfolgten in kurzen Zeitabständen, eine Dokumentationsstelle
Politischer Islam wurde 2020 eingerichtet.
Insgesamt zielen die integrationspolitischen Maßnahmen zunehmend weniger dar-
auf ab, die Teilhabe an den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu unterstützen,
sondern das Verhalten zu kontrollieren und zu sanktionieren. Die ÖVP-FPÖ-Regie-
rungskonstellation hat das Politikfeld Integration schwerpunktmäßig mit Ge- und Ver-
boten und weniger mit Unterstützungs- und Förderungsleistungen ausgestattet (Rosen-
berger/Gruber 2020).
3. Rahmenbedingungen und geschichtlicher Hintergrund
Migration wird im Parteienwettbewerb als Konflikt politisiert und mit Migration wer-
den Stimmungen und Meinungen mobilisiert. Österreich gehört in Europa zu jenen
Ländern, in denen Politisierung von und Mobilisierung mit Migration besonders deut-
lich ausgeprägt sind. Die Veränderungen im Parteiensystem sind mit Migration eng
verbunden (Gruber 2014).
Im Zuge der Politisierung der sogenannten Ausländer*innenfrage in den 1990er-Jahren
gewann die FPÖ an Stimmen, teils auch die GRÜNEN. Als Meilenstein der Mobili-
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sierung gilt das von der FPÖ eingeleitete „Österreich zuerst“-Volksbegehren im Jahre
1992. Die zivilgesellschaftliche Großdemonstration Lichtermeer (1993) setzte der Ab-
und Ausgrenzung eine Opposition entgegen. Dennoch ist die Migrations- und Integra-
tionsdebatte seither vom rechtspopulistischen Wir-versus-Andere-Schema durchzogen.
Nach 2011 wird das Migrations- und das Integrationsthema eine beeinflussende Grö-
ße in der Karriere des späteren Bundeskanzlers Kurz (Integrationsstaatssekretär 2011 bis
2013, Minister für Integration 2013 bis 2017) und der ÖVP-Erfolge bei den National-
ratswahlen 2017 und 2019. Im Wahlkampf 2017 verdrängten Migrations- und Integra-
tionsfragen alle anderen emen (Plasser/Sommer 2018). Referenzen auf das Jahr 2015
werden seither von der ÖVP und der FPÖ genutzt, vor der Bedrohung der nationalen
Identität zu warnen, Migration und Fluchtzuwanderung über Aufnahmeprogramme
aus Überlastung8 und aus Sicherheitsgründen abzulehnen und die temporäre Aufhe-
bung der Schengenbestimmungen zu begründen (Hadj-Abdou/Ruedin 2022).
Für Österreich gilt der Befund vergleichender Langzeitstudien, wonach Migration
von niedrig ausgebildeten Menschen aus nicht-westlichen Ländern die Zustimmung zu
rechten/rechtsextremen Parteien und Kandidat*innen unterstützen (Edo et al. 2019).
Insbesondere seit 2017 profitieren die Mitte-rechtspopulistischen Parteien ÖVP und
FPÖ von der Mobilisierung und negativen Politisierung mit Migration, Mitte-links-
Parteien versuchen zunehmend, die ematik zu meiden.
3.2 Symbolpolitik
Die Migrationsforschung weist auf die Diskrepanz zwischen restriktiven Forderun-
gen und Diskursen einerseits und politischen Maßnahmen, die sich an internationa-
len, europäischen und nationalen, menschenrechtlich begründeten Regelwerken zu
orientieren haben, andererseits hin (Boswell/Geddes 2011). Denn tatsächlich ist, wie
oben gezeigt, ein Großteil der Zuwanderung der nationalstaatlichen Politikgestaltung
entzogen. Diese Situation der beschränkten Kompetenzen bei der Gestaltung der Zu-
wanderung kann, insbesondere bei gleichzeitig fortgesetzter hoher Politisierung und
Mobilisierung durch rechtspopulistische Parteien, zu policy-Verlagerungen führen. Ein
Beispiel sind verstärkte Aktivitäten im Bereich der Integration (Lutz 2019), eine andere
Strategie ist die Hinwendung zu Symbolpolitik.
Der Begriff Symbolpolitik im Kontext von Migration und Integration bringt zum
Ausdruck, dass politische Akteur*innen, insbesondere rechtspopulistische, Härte ge-
genüber Migrant*innen demonstrieren wollen, um ihrer zuwanderungsskeptischen
8 https://sosmitmensch.at/oesterreich-soll-humanitaere-aufnahme-wiederbeleben
(16.12.2021).
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Wählerschaft zu entsprechen. Symbolpolitik verweist darauf, dass im tagespolitischen
Geschäft kommunikative Ankündigungen und Maßnahmen mit kaum substanziellen
Entscheidungen gesetzt werden, die in erster Linie Emotionen und migrationsspezi-
fische Interessen der Aufnahmegesellschaft bedienen würden (Slaven/Boswell 2018). So
fassen Perchinig/Valchars (2019, 414) die Migrations- und Integrationspolitik Anfang
der 2000er-Jahre als Symbolpolitik zusammen und nennen das Instrument der Integ-
rationsvereinbarung, das in der Praxis keine Rolle spielte, als Beispiel dafür (Mourão
Permoser 2012).
Symbolpolitik bleibt aber nicht bei Artfakten, sie führt auch zu ernsthaften Kon-
sequenzen. Die Trennlinie zwischen Symbolpolitik und Effektivität ist oft dünn. So
dürfen die wiederholten Novellierungen der aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen in
Österreich als symbolpolitische Aktivität interpretiert werden, gleichzeitig haben sie
aber sowohl für die Betroffenen als auch für die Administration, die die Bestimmungen
anzuwenden hat, reale Konsequenzen.
Seit 2018 zeigt sich, dass eine Reihe von, vormals als rechtspopulistisch bezeichne-
ten, Forderungen tatsächlich realisiert wurden – wie die Verweigerung der humanitären
Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland, die Asyl-Obergrenze und die Einrich-
tung einer Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen. Symbolpoli-
tischen Charakter haben auch die unter Protesten durchgeführten Abschiebungen von
Familien und Kindern, gleichzeitig bedeuten sie handfeste Effekte für die betreffenden
Personen. Allerdings gilt, dass die bisherigen migrationsskeptischen ÖVP-FPÖ-Regie-
rungen nie das Ende der jeweiligen Legislaturperiode erreichten und deshalb manche
Verschärfungen, die in Regierungsprogramme Eingang gefunden hatten, nicht um-
gesetzt wurden (z.B. Reduktion der vorzeitigen Staatsbürgerschaftsverleihung in der
Bundesregierung Schüssel I; Staatsbürgerschaftsverleihung für Alt-Österreicher*innen
in Südtirol in der Bundesregierung Kurz I).
4. Einordnung des österreichischen Falls
Ländervergleichende Studien zu nationalen Migrationsregimen und deren Maßnah-
men sowohl zur Aufnahme als auch zur Teilhabe untersuchen und bewerten diese auf
einer Skala von Offenheit bis Geschlossenheit des Migrationsregimes beziehungsweise
auf einer Skala von liberalen bis restriktiven oder inkludierenden bis exkludierenden
Maßnahmen. In diesem Forschungsdesign zeigt die DEMIG POLICY Database über
45 Länder, dass die migrationspolitischen Maßnahmen der letzten Jahrzehnte eine ab-
nehmend restriktive Tendenz aufweisen.9 Dieser Befund trifft auf Österreich nur be-
9 https://www.migrationinstitute.org/data/demig-data/demig-policy-1 (10.12.2021).
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dingt zu – eine Öffnung findet zwar hinsichtlich der Niederlassung von EU-Angehöri-
gen statt, für die meisten Drittstaatsangehörigen (mit Ausnahme der Pflegekräfte) wird
die Zuwanderung aber erschwert.
Der seit dem Jahre 2004 erstellte Migrant Integration Policy Index (MIPEX) kon-
zentriert sich auf Integrationsdimensionen von Zugewanderten. MIPEX vergleicht in
mehreren Wellen (2004, 2007, 2010 und 2014) nationale integrationspolitische Rah-
menbedingungen und Regelwerke hinsichtlich der rechtlichen und politischen Teil-
habechancen für Migrant*innen (Huddleston 2015). Im Zeitverlauf zeigt MIPEX eine
Zunahme integrationspolitischer Maßnahmen. In einigen Teilbereichen wurde die
Gestaltung als Ergebnis der Umsetzung von EU-Richtlinien inklusiver (z.B. Arbeits-
marktzugang und Antidiskriminierung). In anderen Teilbereichen, wie den Bedingun-
gen des Staatsbürgerschaftserwerbs, fand wenig Veränderung statt. In der bislang letz-
ten Erhebungsrunde (2014) schloss Österreich in der Gesamtbewertung erstmals zum
Durchschnitt der EU-28 auf. Die inklusiv bewerteten Länder liegen in Übersee (USA,
Kanada, Neuseeland) sowie in Nord- und Westeuropa (Schweden, Finnland, Belgien).
Der Aufholprozess ist auf die Aufnahme der Integrationsdimension Gesundheit in den
Index zurückzuführen, denn Österreich weist hier inklusivere Regelungen als der EU-
Durchschnitt auf (Biffl/Faustmann 2013).
Bei vergleichenden Befunden ist zu beachten, dass in den meisten Ländern in den
letzten Jahrzehnten die Migrations- und Aufenthaltspolitik komplexer, differenzierter
und fragmentierter geworden ist. Insbesondere variieren die Rechte und Möglichkei-
ten für Neuzugewanderte beträchtlich zwischen den unterschiedlichen Zuwanderungs-
und Aufenthaltstiteln. Die verfügbaren vergleichenden Datensätze über eine große Zahl
von Ländern geben aber meist keine separaten Informationen zu den einzelnen Kate-
gorien, sodass diesen Vergleichen oft nur eine limitierte Aussagekraft zukommt (Czaika
et al. 2021).
5. Herausforderungen für die Zukunft
Es gibt keine Hinweise darauf, dass Länder wie Österreich wirtschaftlich gesehen zu-
künftig nicht auf Migration angewiesen sein werden. Genauso wenig gibt es Hinweise
darauf, dass die treibenden Faktoren der Migration – Klimawandel, Krieg und Armut
– an Bedeutung verlieren werden. Migrationspolitik wird weiterhin sowohl auf der
europäischen als auch auf der nationalen Ebene ein relevantes Politikfeld bleiben und
mit einer Reihe von policy-Herausforderungen und politischen Konflikten konfrontiert
sein.
Eine der großen Herausforderungen ist der Umgang mit Migration in einem poli-
tischen Umfeld, in dem die nationalstaatliche Souveränität verstärkt beansprucht wird
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und einzelne Parteien die Schließungen gegenüber Migrant*innen fordern (Hollifield
et al. 2008). Wie werden liberale Regierungen die Spannungen zwischen rechtsnatio-
nalistischen Einstellungen und Parteien einerseits und humanitären Werten auf der
Grundlage von internationalen Verpflichtungen andererseits austarieren? Wie kann es
gelingen, universelle Menschenrechte zu wahren, wenn die Re-Nationalisierung voran-
schreitet und rechtsnationalistische Parteien und Regierungskoalitionen das politische
Feld dominieren?
Eine mit dieser politischen Konfiguration verknüpfte Herausforderung ist die Schaf-
fung von legalen Zuwanderungswegen. Nationale wie europäische migrationspolitische
Akteur*innen haben sich dem Kampf gegen die irreguläre Migration verschrieben. Die-
ser Diskurs ist in Österreich seit den Grenzöffnungen 1989 nach Osteuropa präsent.
Die Abwehr von irregulärer Migration wird auch auf der EU-Ebene geführt und mit
Maßnahmen einer effizienten Rückkehrpolitik verbunden. Faktisch kann es aber nicht
nur um eine effiziente Rückkehrpolitik gehen, vielmehr müssen unter dem Gesichts-
punkt der Schutzgewährung für Verfolgte, der Solidarität zwischen Staaten ebenso wie
der Hilfe für Menschen in Regionen mit schlechten wirtschaftlichen Lebensbedingun-
gen auch legale Zuwanderungswege geschaffen werden.
Schließlich stellt die ungleiche Verteilung der politischen Rechte in Migrationsgesell-
schaften eine beträchtliche demokratiepolitische Schieflage dar. Der Ausschluss von der
politischen Beteiligung einer zunehmenden Zahl von Menschen, die dauerhaft in einer
Stadt oder in einem Land leben, führt zu einem größer werdenden Demokratiedefizit
(Valchars/Bauböck 2021). Die numerische Kluft zwischen Wohnbevölkerung mit und
ohne politischen Rechten, insbesondere Wahlrechten, gewinnt insbesondere in Städten
an Dramatik. Dieses Demokratiedefizit braucht Gegensteuerung, ansonsten werden
Grundwerte, aber auch die soziale Kohäsion in Frage gestellt.
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Tipps
Die Forschungsgruppe INEX am Institut für Politikwissenschaft/Universität Wien
untersucht Migrations- und Integrationspolitik im österreichischen/europäischen Kon-
text. Empirische Forschungsprojekte haben die Politikfelder Migration und Asyl, Par-
tizipation und Proteste im Feld der Asylpolitik sowie den Konnex von Asyl- und So-
zialpolitik untersucht. Forschungen finden weiters zu Fragen der Grenzpolitik, Gewalt
gegen Geflüchtete und zu Anti-Diskriminierung statt. Mehr dazu siehe: https://inex.
univie.ac.at (26.06.2022).
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544 Sieglinde Rosenberger
Die Kommission für Migrations- und Integrationsforschung (KMI) der Österrei-
chischen Akademie der Wissenschaften unterstützt die Migrationsforschung als quer-
schnittsorientierte Disziplin. Sie organisiert Jahrestagungen, gibt dazu Sammelbände
heraus und betreibt u.a. eine Mailingliste, über die die relevanten Informationen (Pro-
jekte, Tagungen etc.) zur Migrationsforschung verbreitet werden. Mehr dazu siehe:
https://www.oeaw.ac.at/kmi/home (26.06.2022).
Die Genfer Flüchtlingskonvention (Abkommen über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 28. Juli 1951) definiert den Begriff ‚Flüchtling‘ und formuliert soziale
und aufenthaltsrechtliche Mindeststandards. Kernstück des Abkommens ist das Ge-
bot des „non-Refoulement“ (nicht-Zurückweisung): individueller Schutzanspruch vor
Abschiebung in einen Staat, in dem der Person Verfolgung droht. Zum Text der Gen-
fer Flüchtlingskonvention siehe: https://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/
sites/27/2017/03/GFK_Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf (26.06.2022).
Zu den zentralen Rechtsdokumenten der Migrationspolitik zählt die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats. In der Asylpolitik spielt der Ar-
tikel 8 eine wichtige Rolle insofern als dieser bei negativen Asylentscheidungen häufig
gegen die Durchführung einer zwangsweisen Außerlandesbringung (Abschiebung) ins
Treffen geführt wird. Artikel 8 – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung des eigenen Privat- und Familienlebens, der
Wohnung und des Briefverkehrs.
Übungsfragen
Geben Sie eine Definition des Begriffes der Migrationspolitik! Welche drei Dimen-
sionen können hierbei beleuchtet werden und was beinhalten diese jeweils?
Welche zwei Aspekte liegen bei Migrationspolitik gleichzeitig vor, das heißt sind an-
hand von politischen Maßnahmen angeregt und umgesetzt?
Welches Ministerium erfüllt in Österreich den Großteil der Tätigkeiten hinsichtlich
der politischen Handhabung von Migration und welche Aufgaben umfasst dies?
Welche drei Dokumente sind für die Regelung der internationalen fluchtbezogenen
Migrationspolitik von Relevanz und welche Arten von Migration umfasst der Euro-
päische Migrationsraum?
Welches EU-Recht spielt eine besonders relevante Rolle im Zuge von Migrations-
prozessen und weshalb?
Führen Sie die politische Kompetenzverteilung zwischen Nationalstaaten und der
EU-Ebene im Hinblick auf Migration aus! Welche Spielräume haben die EU-Mit-
gliedsstaaten auf nationaler Ebene?
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Erläutern Sie die Art und Weise, wie das Konzept der Staatsbürgerschaft in Öster-
reich geregelt ist und welche wahlbezogenen Auswirkungen dies hat!
Beschreiben Sie die Bedeutung des Begriffes der Symbolpolitik im Kontext von Mi-
gration und Integration! Welche gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen kann diese
erzeugen?
Wozu dient der sogenannte „Migrant Integration Policy Index“ (MIPEX) und wie
erfolgt dessen Ermittlung? Welcher Trend zeigte sich hierbei über die vergangenen
Jahre?
Geben Sie einen Ausblick hinsichtlich der künftigen Entwicklung von Migration,
unter anderem in Österreich! Welche Faktoren zeigen sich hierbei als besondere
Treibkräfte?
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Autor*innen des Lehrbuchs
Peter Bußjäger lehrt am Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre
an der Universität Innsbruck, ist Direktor des Instituts für Föderalismus in Innsbruck
und Mitglied des Staatsgerichtshofes des Fürstentums Liechtenstein. Er forscht zu
Föderalismus im europäischen Mehrebenensystem, nationaler Kompetenzverteilung,
Grundfragen der Staatsorganisation sowie Verfassungsrecht im internationalen Kontext
und ist Autor zahlreicher Monografien sowie wissenschaftlicher Beiträge.
Martin Dolezal ist Senior Scientist am Fachbereich Politikwissenschaft der Universität
Salzburg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht und Politik-
wissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz sowie Fellow am Institut für Höhere
Studien in Wien. Er forscht vor allem zu un-/konventionellen Formen der politischen
Partizipation sowie zu Parteienwettbewerb und hat im European Journal of Political
Research, in West European Politics und bei Oxford University Press publiziert.
Mathias Eller ist Institutsassistent am Institut für Föderalismus. Er beschäftigt sich mit
dem ema Föderalismus in all seinen Facetten, wobei primär die Auseinandersetzung
mit kompetenzrechtlichen und staatsorganisatorischen Fragestellungen sowie mit dem
österreichischen Gemeinderecht im Vordergrund der wissenschaftlichen Forschung
steht. Im Rahmen seiner Tätigkeit ist er regelmäßig mit der Organisation föderalistisch
einschlägiger Veranstaltungen im Inland betraut.
Laurenz Ennser-Jedenastik ist Assistenzprofessor für Sozialpolitikforschung am In-
stitut für Staatswissenschaft der Universität Wien. Er forscht und lehrt zu Wohlfahrts-
staaten, politischen Parteien, politischen Eliten und ist Empfänger eines Starting Grants
des Europäischen Forschungsrates (ERC). Seine Arbeiten sind unter anderem in den
Zeitschriften American Journal of Political Science, European Journal of Political Re-
search und Comparative Political Studies erschienen.
Franz Fallend ist als Senior Scientist am Fachbereich Politikwissenschaft der Univer-
sität Salzburg tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen vor allem die emen
österreichische Politik, Demokratie, Populismus sowie Föderalismus. Seine Arbeiten
sind unter anderem in den Zeitschriften West European Politics, European Journal of
Political Research und Democratization veröffentlicht worden.
Peter Filzmaier ist Professor für Demokratiestudien und Politikforschung an der Uni-
versität für Weiterbildung Krems und für Politische Kommunikation an der Karl-Fran-
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548 Autor*innen des Lehrbuchs
zens-Universität Graz sowie geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Strate-
gieanalysen (ISA) in Wien. Er befasst sich vor allem mit Politik- und Wahlanalysen,
Politische Bildung, Partizipationsforschung, Politik und Medien, „public goods“ und
öffentlicher Kommunikation sowie dem Vergleich politischer Systeme.
Ludger Helms ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Zahl-
reiche Gastaffiliationen, u.a. an den Universitäten Harvard, Berkeley und der London
School of Economics. Rund 100 Beiträge in wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu
emen der Vergleichenden Politischen Systemforschung; 15 Buchpublikationen,
zuletzt: e Oxford Handbook of Political Executives (Co-editor, Oxford University
Press, 2020).
Lena Maria Huber arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Staatswissenschaft
der Universität Wien. Sie ist Teil des Projektteams der Österreichischen Nationalen
Wahlstudie (AUTNES) und forscht insbesondere zu politischer Kommunikation und
Parteienwettbewerb. Ihre Arbeiten sind bereits in Fachzeitschriften, wie dem European
Journal of Political Research, Political Communication, Electoral Studies und Party
Politics, erschienen.
Michael Imre ist Doktorand an der Graduate School of Economic and Social Sciences
der Universität Mannheim sowie akademischer Mitarbeiter an der Universität Mann-
heim und der Universität Heidelberg. Er forscht vor allem zu den emen Regierungen
beziehungsweise Koalitionsregierungen, Parteien sowie Parteienwettbewerb. Seine For-
schung wurde bereits im British Journal of Political Science veröffentlicht.
Daniela Ingruber arbeitet als Demokratie- und Kriegsforscherin am Research Lab
Democracy and Society in Transition der Universität für Weiterbildung Krems. For-
schungsschwerpunkte sind Demokratieverständnis, Politische Bildung, Dystopie und
Medien. Sie lehrt an verschiedenen Universitäten u. a. Konflikttransformation sowie
ethischen Journalismus. Zudem bereitet sie NGO-Mitarbeiter*innen auf die Arbeit in
Konfliktregionen vor und ist für Filmfestivals und Filmproduktionen tätig.
Marcelo Jenny ist Professor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität
Innsbruck, war Postdoc Researcher am Institut für Staatswissenschaft der Universität
Wien und Mitarbeiter der Nationalen Wahlstudie. In seiner Forschung arbeitet er vor
allem zu politischen Parteien inklusive Wettbewerb und Wahlkampf, Wahlverhalten
sowie Parlamentarismus. Dabei hat er bereits in Zeitschriften wie Electoral Studies und
in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft publiziert.
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549Autor*innen des Lehrbuchs
Svenja Krauss ist Postdoc an der Universität Wien. Sie forscht insbesondere zu Ko-
alitionsregierungen im europäischen Vergleich, politischen Parteien, dem politischen
Wettbewerb in Mehrebenensystemen sowie zu politischer Repräsentation. Ihre Arbei-
ten wurden unter anderem in den Fachzeitschriften West European Politics, dem Jour-
nal of European Public Policy sowie Parliamentary Affairs veröffentlicht.
Sylvia Kritzinger ist Professorin für Methoden der Sozialwissenschaft am Institut für
Staatswissenschaft der Universität Wien. Sie ist eine der Projektleiter*innen der Austri-
an National Election Studies, der Europäischen Wertestudie und des Austrian Coro-
na Panel Projects. Sie forscht zu politischem Verhalten, Wahlen, Repräsentation sowie
quantitativen Methoden und hat unter anderem in Comparative Political Studies, Bri-
tish Journal of Political Studies und West European Politics publiziert.
Sarah Meyer ist Senior-Postdoc an der Universität für Weiterbildung Krems, wo sie
das internationale Forschungsprojekt REGIOPARL zur Rolle regionaler Parlamente in
der EU leitet. Ihre Lehrtätigkeit ebenso wie ihre Forschungstätigkeit fokussiert auf das
europäische Mehrebenensystem und seine institutionelle Weiterentwicklung, die Rolle
regionaler Parlamente in der Europäischen Union sowie die EU-Positionen der öster-
reichischen politischen Parteien.
Thomas M. Meyer ist Professor am Institut für Staatswissenschaft der Universität
Wien. In seiner Forschung ebenso wie in seiner Lehre beschäftigt er sich vor allem mit
emen der politischen Institutionen wie Regierungen, Ministerien und Parlamenten,
sowie mit deren Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Aspekten und Akteur*innen,
das heißt vor allem Bürger*innen, Medien und Parteien.
Sarah Louise Nash ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität für Weiter-
bildung Krems. Sie arbeitet zur Klimapolitik, das heißt zu internationalen Klimaver-
handlungen, (sub)nationalen Klimaschutzgesetzen und Verbindungen zur Migrations-
politik. Sie hat in Global Policy, Environmental Politics und Climate Policy publiziert.
Ihr erstes Buch Negotiating Migration in the Context of Climate Change wurde mit
dem Anerkennungspreis des Landes Niederösterreichs dotiert.
Patricia Oberluggauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität für Wei-
terbildung Krems. Ihre Forschungsschwerpunkte sind vor allem soziale Klassen, Ein-
stellungen zu Immigration und Wohlfahrtsstaat. Weitere Schwerpunkte sind politische
Partizipation und Wahlverhalten. Nebst ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit unterrichtete
sie an den Universitäten Wien und Krems.
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550 Autor*innen des Lehrbuchs
Julia Partheymüller arbeitet als Senior Scientist am Institut für Staatswissenschaft der
Universität Wien und ist Team-Mitglied der Austrian National Election Study sowie
des Austrian Corona Panel Projects. Sie forscht zu Demokratie und öffentlicher Mei-
nung in Europa. Ihre bisherigen Arbeiten sind in Fachzeitschriften wie dem British
Journal of Political Science, dem Journal of Common Market Studies, Electoral Studies
und dem Journal of Elections, Public Opinion and Parties erschienen.
Flooh Perlot ist Politikwissenschaftler und arbeitet im Bereich der Datenanalyse in
Wien. Er studierte an der Universität Innsbruck Politikwissenschaft, Zeitgeschichte
und Medienkunde und war danach an den Universitäten Klagenfurt und Krems tätig
sowie seit 2008 am Institut für Strategieanalysen in Wien. Seine Schwerpunkte umfas-
sen Wahlforschung, Politik und Medien sowie Datenvisualisierung.
Klaus Poier ist Universitätsprofessor am Institut für Öffentliches Recht und Politikwis-
senschaft sowie Leiter des Zentrums für österreichisches und europäisches Hochschul-
recht sowie Hochschulgovernance an der Karl-Franzens-Universität Graz. Er forscht an
der Schnittstelle von Öffentlichem Recht und Politikwissenschaft, mit einem Schwer-
punkt auf Fragen der Demokratie(-entwicklung) sowie des Wahlrechts. Er hat bereits
an einer Vielzahl von Publikationen als Autor sowie Herausgeber mitgewirkt.
Dimitri Prandner ist Senior Scientist an der Johannes Kepler Universität Linz und
forscht vor allem zu Informationsverhalten, gesellschaftlichen Zukunftserwartungen
und Teilhabechancen sowie Fragen der quantitativen Methodologie in den Sozialwis-
senschaften. Seine Arbeiten erschienen unter anderem in den österreichischen Zeit-
schriften für Soziologie und Politikwissenschaft, Journalism Studies, Higher Education
und Survey Methods: Insights from the Field erschienen.
Katrin Praprotnik ist Senior-Postdoc an der Universität Graz und Projektleiterin des
Austrian Democracy Labs. Sie ist zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Strategieanalysen. Sie forscht zu den emen politisches System Österreich, politischer
Wettbewerb und Koalitionen sowie Parteien im Mehrebenensystem. Ihre Arbeiten sind
unter anderem publiziert in der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft, in
Party Politics und dem American Journal of Political Science.
Sieglinde Rosenberger ist Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Uni-
versität Wien. Sie befasst sich in ihrer Forschung und Lehre vor allem mit den emen
Migrations-, Integrations- und Asylpolitik, politischer Partizipation sowie dem politi-
schen System Österreichs. Ihre Arbeiten wurden bereits in Policy Studies, Parliamentary
Affairs, JEMS und Comparative Migrations Studies publiziert.
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551Autor*innen des Lehrbuchs
Kathrin Stainer-Hämmerle ist Professorin für Politikwissenschaft an der Fachhoch-
schule Kärnten in Villach. Sie hatte bereits Lehr- und Forschungstätigkeiten an den
Universitäten Innsbruck, Graz, Krems und Klagenfurt, wobei ihre Schwerpunkte vor
allem Wahl- und Verfassungsrecht, Parteien, Partizipation und Politische Bildung um-
fassen. Sie hat an mehreren Publikationen mitgewirkt und war Mitglied des Heraus-
gebergremiums der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft.
Reinhard Steurer ist assoz. Professor an der Universität für Bodenkultur Wien, be-
schäftigt sich mit der politischen Dimension der Klimakrisa und hat bereits mehr als
70 Artikel, Buchkapitel und Bücher verfasst sowie über 100 Präsentationen und Lehr-
veranstaltungen an vier Universitäten gehalten. Er studierte Politikwissenschaft an der
Universität Salzburg, absolvierte Public Policy in Maryland/USA und habilitierte sich
an der BOKU Wien in Vergleichender Politikwissenschaft.
Josef Trappel ist Professor für Kommunikationspolitik und Medienökonomie und
leitet den Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg sowie das
Erasmus+ Joint Master Programmes Digital Communication Leadership. Er forscht
insbesondere zu nationaler und internationaler Medienpolitik, Digitalisierung, Medi-
enökonomie und Kommunikationstechnologien. Seine Buchpublikationen sind unter
anderem bei Routledge, Intellect, Nordicom, Springer VS und UVK erschienen.
Philipp Umek ist Politikwissenschaftler an der Universität Innsbruck und forscht zu Ge-
meinderats- und Bürgermeister*innenwahlen in Österreich, mit besonderem Fokus auf Fra-
gen zu Wahlbeteiligung, Repräsentation sowie zu Europäischer Politik. Er leitet ein Projekt
zum Aufbau einer einheitlichen Datenbank für lokale Wahlen, ist Mitglied des Innsbruck
Center for European Research und des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts Econo-
my, Politics & Society und lehrte Statistische Datenanalyse an der Universität Innsbruck.
Hedwig Unger lehrt am Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft der
Karl-Franzens-Universität Graz und ist Scientist am Zentrum für österreichisches und
europäisches Hochschulrecht sowie Hochschulgovernance ebendort. Ihre Forschungs-
schwerpunkte umfassen unter anderem die Bereiche Verfassungsrecht, Hochschul- und
Wissenschaftsrecht im europäischen Kontext, Fragen an der Schnittstelle von Recht
und Politik, Populismus und Hochschulgovernance.
Markus Wagner ist Universitätsprofessor am Institut für Staatswissenschaft der Uni-
versität Wien. Er forscht zu Wahlverhalten und Parteienwettbewerb in Österreich und
Europa und wirkt an der österreichischen Wahlstudie (Austrian National Election
Study, AUTNES) mit. Seine umfassende Forschung zu Wähler*innen und Parteien ist
bereits in verschiedenen internationalen Fachzeitschriften erschienen.
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