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Doppelbesprechung
Normative Ordnungen und Paradoxien –
Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter
Schule
Rainer Forst / Klaus Günther (Hrsg.), Normative Ordnungen. Berlin: Suhrkamp,
2021, 683 S., kt., 25,00 €
Axel Honneth / Kai-Olaf Maiwald / Sarah Speck / Felix Trautmann (Hrsg.), Norma-
tive Paradoxien: Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts. Frankfurt am
Main: Campus, 2022. 405 S., br., 34,95 €
Besprochen von Prof. Dr. Thomas Voss: Universität Leipzig, Institut für Soziologie,
E
˗ Mail: voss@rz.uni-leipzig.de
https://doi.org/10.1515/srsr-2022-2015
Schlüsselwörter: Normen, Paradoxe Effekte, soziale Ordnung
Bereits zu Beginn des Soziologie-Studiums wird in der Regel vermittelt, dass Ge-
sellschaften „normativ konstruiert“sind (Popitz, 1980). In der klassischen Sozio-
logie hat Parsons (1937) das Problem der Erklärung sozialer Ordnung („Hobbes’
Problem“) zum Prüfstein für jede Sozialtheorie deklariert. Parsons’eigener Lö-
sungsvorschlag wird prägnant als „normative Lösung“bezeichnet. Die Entste-
hung und Stabilität sozialer Ordnung gründet sich nach Parsons auf eine Bindung
der Akteure an gemeinsam geteilte Werte und Normen, die in dem Sinn „katego-
risch“akzeptiert werden, dass eine gewisse Bereitschaft zur Kooperation (bzw.
Normbefolgung) auch dann besteht, wenn diese nicht mit den kurzfristigen mate-
riellen Eigeninteressen der Beteiligten kompatibel und auch nicht nur durch ex-
terne Sanktionsdrohungen erzeugt ist. Seither hat sich die Forschung über Nor-
men stark entwickelt und umfasst auch Beiträge aus verschiedenen Nachbarfä-
chern der Soziologie und der Sozialphilosophie. Gleichzeitig ist unverkennbar,
dass es eine große Bandbreite von theoretischen Ideen aber auch empirischen
Untersuchungen sowie von inhaltlichen Bereichen (bzw. gesellschaftlichen „Teil-
systemen“oder Sphären) gibt, die das Forschungsfeld „Normen“oder „Normati-
ve Ordnungen“unübersichtlich erscheinen lässt.
Die beiden hier vorzustellenden Sammelbände, die immerhin zusammen ein-
tausend Textseiten und fast fünfzig Aufsätze umfassen, sind aus einem spezi-
fischen intellektuellen und institutionellen Kontext hervorgegangen, weshalb es
Soziologische Revue 2022; 45(3): 360–369 OLDENBOURG
Open Access. © 2022 Thomas Voss, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert
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sich in der Tat anbietet, sie gemeinsam zu behandeln: Beide Bände sind erkenn-
bar beeinflusst durch Ideen der „Kritischen Theorie“der Frankfurter Schule. Der
erste zu besprechende Band soll eine „Zwischenbilanz“eines Frankfurter „Exzel-
lenzclusters“und eines interdisziplinären Forschungsverbunds „Normative Ord-
nungen“aus der Feder der beteiligten „Principal Investigators“dokumentieren
(Forst & Günther, S. 18). Auch der von Honneth et al. herausgegebene Band ist
durch Ideen und das institutionelle Umfeld der Kritischen Theorie geprägt oder
inspiriert –auch ersichtlich an der Aufnahme des Bandes in eine Schriftenreihe
des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“.
Aus diesem gemeinsamen Kontext ergeben sich einige Besonderheiten, die
den Inhalt der beiden Bücher von anderen Beiträgen zum Thema „Normen“abhe-
ben: Erstens gibt es, wie bereits in der älteren Frankfurter Schule, eine Tendenz
deskriptive und normative Analyse zu fusionieren, bzw. –gegen Max Webers Wert-
urteilsfreiheitspostulat –den Anspruch zu formulieren, eine „Synthese aus einer
empirischen und normativen Perspektive“(Forst in Forst & Günther, S. 90) an-
zustreben. Auch in dem Band über „Normative Paradoxien“wird in einigen Beiträ-
gen der Wunsch deutlich, politisch-ideologische Standards in die Darstellung de-
skriptiver Befunde einzubeziehen (z. B. Trautmann in Honneth et al., S. 179). Zwei-
tens wird in beiden Bänden ein recht weiter und diffuser Normbegriff verwendet.
Die inhaltliche Bandbreite der behandelten Gegenstände ist umfassend. Auf der
Ebene der Explananda gibt es nur wenige Überschneidungen. Auch werden die
unterschiedlichsten Typen von Regeln, Normen, Institutionen untersucht. „Nor-
mative Ordnungen“werden im Sinn von Rechtsnormen (zum Teil auf globaler
Ebene des Völkerrechts) ebenso behandelt wie informelle Normen oder Konventio-
nen wissenschaftlichen Arbeitens in unterschiedlichen Einzelfächern (Mathema-
tikgeschichte, Philosophie, Geschichtswissenschaft). Neben theoriegeschichtliche
Essays (in Honneth et al.) treten umfangreiche philosophische Ausführungen zu
zentralen Begriffen oder Problemstellungen der normativen Ethik und Meta-Ethik
und ihrem Verhältnis zur empirischen Sozialtheorie (in Forst & Günther). Daneben
enthalten beide Bände jeweils Fallstudien spezieller Normen bzw. normativer Ord-
nungen. Drittens sind diejenigen Beiträge, die überhaupt konkrete soziologische
Erklärungsprobleme berühren oder sogar empirisch untersuchen wollen, quali-
tativ ausgerichtet und orientieren sich dabei etwa an Kriterien einer „objektiven
Hermeneutik“(Maiwald & Speck in Honneth et al., S. 303ff.). Der Theoriebegriff
bleibt in den Beiträgen zu beiden Bänden recht unbestimmt.
Der von Forst und Günther herausgegebene Band kann allein wegen seines
großen Umfangs nur stichprobenartig beschrieben und gewürdigt werden. Etwas
ausführlicher sollen zunächst lediglich die programmatischen Beiträge behandelt
werden. In einer knappen Einleitung der Herausgeber werden einige Ziele und
Randbedingungen des „Frankfurter Forschungsprogramms“skizziert. Die Aus-
Normative Ordnungen und Paradoxien 361
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führungen zur Programmatik werden im ersten Hauptteil des Bandes („Was
gilt?“; Forst & Günther, S. 25–187) hinsichtlich ihrer philosophischen Hintergrün-
de dargestellt und diskutiert. Es kommen nacheinander verschiedene Generatio-
nen von Autoritäten zu Wort (sozusagen Vertreter der zweiten, dritten und vierten
Generation der Frankfurter Schule). Den Anfang bildet ein Aufsatz von Jürgen Ha-
bermas, in dem das Verhältnis von „Moralität“und „Sittlichkeit“von Kant über
Hegel und Marx bis heute (d. h. bis Habermas) erläutert wird. Habermas hebt her-
vor (in Forst & Günther, S. 29 und passim), dass es in Hegels praktischer Philoso-
phie im Unterschied zu Kant nicht allein um abstrakte Moralität, sondern auch
um Bedingungen des sozialen Zusammenhalts in existierenden Gemeinwesen ge-
he. „Sittlichkeit“im Sinn der Vorstellungswelt von Hegels Rechtsphilosophie wer-
de also „detranszendentalisiert“und in gewisser Hinsicht relativiert auf die Be-
dingungen der sozialen Integration einer „bürgerlichen Gesellschaft“mit ihrem
Wohlstand aber auch Ungleichheit generierenden „System der Bedürfnisse“(He-
gel). Hegel habe sozusagen entscheidend die Idee vorbereitet, dass Universalisie-
rung von Normen durch eine „diskursive Verständigung“aller Betroffenen, die
als freie Subjekte zu reziproker Perspektivenübernahme bereit und fähig sind,
erfolgen müsse (vgl. Habermas in Forst & Günther, S. 32 und passim).
Im nächsten Beitrag äußert sich Habermas‘Schüler Axel Honneth zum Ver-
hältnis von „Recht“und „Sittlichkeit“. Die Erläuterung dieser in Hegels Rechts-
philosophie zentralen Unterscheidung wird eingebettet in eine Diskussion von
Thesen aus der gegenwärtigen amerikanischen Rechtstheorie (Mark Osiel) zu sol-
chen (informellen) Normen, die den Missbrauch rechtlicher Regelungen ein-
schränken sollen (z. B. ist Redefreiheit konstitutive Rechtsnorm einer liberalen
Gesellschaft, dieses Recht könne aber für hate speech und fake news missbraucht
werden). Honneth schreibt Hegel die Auffassung zu, dass informelle soziale Nor-
men („Sittlichkeit“) zu einer Stabilisierung der sozialen Ordnung beitragen. Die
Institutionen des Rechts allein seien dazu ohne ein sittliches Fundament nicht
in der Lage. Somit befördere Sittlichkeit sowohl die privaten Interessen der
Einzelnen als auch das „Gemeinwohl“. Demgegenüber betone die marxistische
Tradition (Lukács, Gramsci) gegen Hegel die nicht-affirmativen Funktionen von
„Sittlichkeit“, die bei dem schwäbisch-preußischen Staatsphilosophen noch herr-
schaftsstabilisierend konzipiert sei. Honneth garniert seine Diskussion mit anek-
dotischen Beispielen aus der Gegenwart und kommt am Ende zu dem nicht be-
sonders überraschenden Schluss, dass Recht und informelle Normen in einem
dynamischen Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung stünden (Honneth in Forst
& Günther, S. 72–73).
Ein Aufsatz von Rainer Forst enthält Ausführungen zu den Grundlagen einer
„kritisch-realistischen Theorie der Politik“, die als Vertiefungen zu den von Forst
und Günther in der Einleitung angedeuteten programmatischen Leitideen gedeu-
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tet werden können. Forst holt weit aus, nämlich zu Platons Höhlengleichnis, das
zu einem „Höhlenparadox“führe und will in seinem Beitrag die philosophischen
Grundlagen einer kritischen politischen Theorie erläutern. Das Höhlenparadox
handle im Kern „von der politischen Nichtkommunizierbarkeit der Wahrheit über
die Politik“(Forst in Forst & Günther, S. 75) und berühre das schwierige Verhält-
nis von empirischer und normativer Analyse des Politischen. Forst verortet die
Inspirationsquellen für seine Auffassungen in der Kritischen Theorie und in Ha-
bermas‘Diskurstheorie. Wie auch bereits in der „Positivismuskritik“von Adorno
und Habermas in den 1960er Jahren artikuliert, geht es Forst darum, „die Kluft
zwischen empirischer und normativer Forschung (zu) überbrücken“(Forst in
Forst & Günther, S. 89). Diese könne mittels einer „Kritik der Rechtfertigungsver-
hältnisse“gelingen (Forst in Forst & Günther, S. 90), welche konstitutiv für das
„Programm der Kritischen Theorie“sei. Wesentliche Komponente dieses Pro-
gramms ist die diskurstheoretische Rekonstruktion der „Rechtfertigungsnarrative“
normativer Ordnungen, die „den sozialen Raum der Gründe beherrschen“(Forst
in Forst & Günther, S. 91). Rechtfertigungsnarrative seien die Existenzbedingun-
gen normativer Ordnungen. Dies sei so, weil Menschen „von Grund auf rechtfer-
tigende Wesen“seien. Interessen hingen von solchen Narrativen (seien sie reli-
giöser, politischer oder sonstiger ideologischer Art) ab. In politischen Strukturen
und Konflikten fungieren Rechtfertigungsnarrative, so Forst, als „noumenales Ka-
pital“und bilden eine Machtressource (Forst in Forst & Günther, S. 83 und pas-
sim). Aufgabe einer kritischen Theorie sei es, nicht nur empirisch wirksame Nar-
rative zu rekonstruieren, sondern auch normativ zu bewerten und gegebenenfalls
emanzipatorische „Gegennarrative“auszuloten.
Mehrere weitere Beiträge, die hier nicht ausführlicher beschrieben werden
können, runden die Diskussion über „soziale Geltung und normative Richtigkeit“
(Willaschek in Forst & Günther) ab. Dabei fallen einige Kontraste zwischen den
formulierten Positionen aber auch hinsichtlich des verwendeten Jargons auf. Der
Beitrag von Marcus Willaschek argumentiert unter Verzicht auf eine hegelianisie-
rende Diktion und zielt auf die Begründung eines ethnozentrischen Begriffs norma-
tiver Richtigkeit ab. Ein Aufsatz von Matthias Lutz-Bachmann (in Forst & Günther,
S. 249–277) widmet sich der Frage nach der Abgrenzung von „Werten“und „Nor-
men“und gibt zum Schluss eine einführende Übersicht zu verschiedenen konkur-
rierenden Moralbegründungen (Utilitarismus, Vertragskonzeptionen, Kant, Dis-
kursethik). Dieser Beitrag eignet sich als Lektüre auch bei geringeren Vorkenntnis-
sen und hilft, die Programmatik des Frankfurter Vorhabens besser einzuordnen.
Auf der anderen Seite gibt es einen Aufsatz von Christoph Menke (in Forst & Gün-
ther, S. 117–138), in dem die Verdinglichungskonzeption des frühen Lukács und die
Frankfurter Positivismuskritik der 1960er Jahre wiederbelebt werden –als sei in der
Zwischenzeit nichts Neues an Ideen, gerade auch im „positivistischen“Lager in die
Normative Ordnungen und Paradoxien 363
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Welt gekommen. Der Positivismus bilde (unkritisch) die verdinglichten Oberflä-
chenstrukturen kapitalistischer Gesellschaften ab. Man müsse aber sehen, das wird
immerhin konzediert, „dass die positivistische Ontologie des Sozialen gerade da-
rin, worin sie falsch ist, wahr ist“(Menke in Forst & Günther, S. 119). Man fragt sich,
ob die drastische Kritik eines Schopenhauer, Popper, Julius Kraft oder Topitsch an
„orakelnden“Philosophen deutscher Provenienz nicht doch einen wahren Kern
hatte.
Der Band enthält eine Reihe von Aufsätzen, die sich inhaltlichen und nicht
nur begrifflichen Problemen der Beschreibung normativer Ordnungen zuwenden.
In einem Beitrag von Christopher Daase und Nicole Deitelhoff (in Forst & Günther,
S. 162–187), der angesichts der internationalen Konflikte und kriegerischen Inter-
ventionen der Gegenwart in besonderem Maße aktuell ist, gehen die Autoren auf
Erklärungen der Stabilität globaler Kooperationsbeziehungen zwischen Staaten
ein. Angesichts der von Daase und Deitelhoff diagnostizierten Krise der liberalen
Weltordnung werden drei in der Theorie internationaler Beziehungen dominan-
ten Konzeptionen („Realismus“versus „Liberalismus“versus „kritische Theorie“
aka Dependenztheorie) auf ihre Erklärungskraft hin eingeschätzt. Sie plädieren
für einen Ansatz, der die „Herrschaftsproblematik“in internationalen Beziehun-
gen in den Blick nimmt. Herrschaft als Institutionalisierung von Machtbeziehun-
gen wird dabei ähnlich wie bei Max Weber als deskriptiver, „wertneutraler“Be-
griff verstanden. Die Erläuterung der Mechanismen der Herrschaftsausübung in
internationalen Beziehungen und der Implikationen für die Erklärung der inter-
nationalen Ordnungen der Gegenwart hätten durchaus etwas genauer ausfallen
können. Es wird leider nicht wirklich klar, welche neuen testbaren Hypothesen
sich aus dieser Konzeption ergeben.
Der Band enthält –dem interdisziplinären Forschungsverbund entspre-
chend –nicht nur sozialwissenschaftliche oder philosophische Beiträge, sondern
auch rechtstheoretische Aufsätze. Klaus Günther widmet seinen materialreichen
Beitrag sogenannten „smarten Ordnungen“, die durch die Gestaltung technischer
Restriktionen die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen einschränken. Neben
den allgemein bekannten technischen Vorgaben im IT-Bereich, die die Wahlmög-
lichkeiten bei der Nutzung des Internets einschränken, sind in die Fahrbahn in-
tegrierte Schwellen, die beim Autofahren praktisch dazu zwingen, die Geschwin-
digkeit zu drosseln, ein anschauliches Beispiel. Hier werde, so Günther (in Forst &
Günther, S. 543ff.), die Normdurchsetzung tendenziell von einem „normativen“
auf einen „kognitiven“Modus umgestellt. Normbefolgung erfolge in diesen Fäl-
len auch ohne eine Einbettung in kommunikative Prozesse der Rechtfertigung
von Sollensvorgaben und ohne „kritisch-reflektierende“Einstellung im Sinn ei-
nes „internal point of view“(H.L.A. Hart). Allerdings lässt sich gegen Günther ein-
wenden, dass diese Unterscheidung zwischen kognitiver und normativer Verhal-
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tenssteuerung sich nicht vollständig mit dem Kontrast zwischen smarten und
„nicht-smarten“Ordnungen deckt. Es gibt durchaus kognitive Verhaltenssteue-
rung ohne eine smarte, „künstliche“Gestaltung der physischen oder sozialen
Umgebung. Ein bekanntes Beispiel sind Konventionen (Lewis, 1969; Young,
1996). Wenn ich ohne Kenntnis der lokalen Verkehrsregeln im Ausland (Linksver-
kehr) mit dem Mietwagen die falsche Fahrbahnseite benutze, werde ich im Eigen-
interesse gezwungen sein, mein Verhalten schnellstens an die allgemein akzep-
tierte Regel (Linksfahren) anzupassen, um Unfälle zu vermeiden. Hier fehlt –un-
ter normalen Umständen –jeder individuelle Anreiz zur Abweichung von der
Regel. Wer abweicht, macht einen Fehler und sanktioniert sich selbst. Anders
liegt der Fall dann, wenn es um Kollektivgüter geht, die Trittbrettfahren lohnend
machen. Der Appell mit Energie sparsam umzugehen wird (ohne smarte Technik)
nicht automatisch eine Verhaltensänderung erzeugen, auch wenn die Beteiligten
wissen, dass es in Zeiten eines Erdgasmangels im Interesse des „Gemeinwohls“
hilfreich ist, bei der Verwendung von Wärme auch dann zurückhaltend zu sein,
wenn die Kosten der Erwärmung nicht unmittelbar auf die Nutzer umgelegt wer-
den (wie etwa beim Duschen im Fitnessstudio). Die Analyse, übrigens nicht nur
im Beitrag von Günther, hätte an Schärfe gewinnen können, wenn etwas deutli-
cher auf die unterschiedlichen Situationstypen eingegangen worden wäre, die
durch smarte oder andere Verhaltenssteuerung beeinflussbar sind. Soweit ich
sehe, werden in sämtlichen Beiträgen die unterschiedlichsten Normen generie-
renden Situationen eingeebnet. Die Voraussetzungen für die Entstehung und
Durchsetzung von Regeln sind jedoch verschieden in Koordinations-, Verhand-
lungs- und anderen Situationen sozialer Dilemmata, unter anderem weil unter-
schiedlich starke Anreize für eine einseitige Abweichung von der Regel überwun-
den werden müssen. Ein Hinweis auf die Idee des „Nudging“(Thaler & Sunstein,
2008), die für eine empirisch fundierte Erklärung der Funktionsweise smarter
Ordnungen hilfreich sein könnte, und seine kognitiv-psychologischen Grund-
lagen, hätte der Darstellung ebenfalls gutgetan.
Aus Raumgründen kann nicht auf sämtliche der weiteren Beiträge aus Ethno-
logie, Geschichte, Kommunikationswissenschaft, Sozialpolitik oder Politikwis-
senschaft eingegangen werden. Ein deskriptiv informativer Beitrag von Susanne
Schröter behandelt den Dschihadismus und seine ideologischen Quellen und die
Kontextbedingungen seiner Ausbreitung. Ein Aufsatz des Soziologen Sighard Ne-
ckel befasst sich auf knappstem Raum mit einem großen Thema –dem „Zerfall
von Ordnungen“auf globaler Ebene.
Der sorgfältig edierte Band bietet mit Blick auf verschiedene Disziplinen
sicherlich einige Anregungen. Weniger überzeugen kann die besonders von Forst
vorgetragene Idee, wonach „Rechtfertigungsnarrative“entscheidendes „noume-
nales Kapital“im politischen und sozialen Raum bildeten. Es entsteht der Ein-
Normative Ordnungen und Paradoxien 365
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druck, dass solche Narrative und Diskurse in dieser Konzeption sozusagen als ein
synthetisches Apriori und als anthropologisches Universale fungieren. Zweifel
hinsichtlich der empirischen und kausalen Wirksamkeit solcher Narrative könn-
ten ausgeräumt werden, wenn auf entsprechende empirische Evidenz verwiesen
würde –sofern vorhanden.
Wir kommen nun zum zweiten zu besprechenden Band, an dem als bekann-
ter Vertreter der Frankfurter Schule Axel Honneth beteiligt ist. Der Band lässt sich
vermutlich durch zwei Leitideen, die im Hintergrund stehen, charakterisieren.
Erstens die kulturkritische und kulturpessimistische Vorstellung einer „Dialektik
der Aufklärung“(Horkheimer & Adorno), wonach bestimmte Ideen und Institu-
tionen, die ihre Entstehung der Aufklärung verdanken, unbeabsichtigte oder un-
erwünschte soziale Folgen hatten, so dass aufklärerische Werte nicht verwirk-
licht, sondern korrumpiert wurden. Zweitens ist die Analyse unbeabsichtigter,
„paradoxer“Wirkungen geradezu ein Grund für die Existenzberechtigung der So-
zialwissenschaften und in jedem Fall eine entscheidende Aufgabe der Soziologie
(Popper, 1962, [These 23]). In klassischer Weise haben nicht nur Autoren der
Schottischen Moralphilosophie wie Adam Smith oder David Hume, sondern auch
Marx, Tocqueville, Max Weber und nicht zuletzt Merton unterschiedliche Aspekte
paradoxer Effekte beschrieben (Boudon, 1977, Kap. VII). Die Herausgeber des
Sammelbandes „Normative Paradoxien“berufen sich in ihrer Einleitung tat-
sächlich und zu Recht wiederholt auf Merton (Honneth et al., S. 17) und erläutern
ihren Begriff einer „normative Paradoxie“wie folgt: Es gibt institutionalisierte,
sphärenspezifische Normen, die von den relevanten Akteuren in absichtsvolle
Handlungen und soziale Interventionen umgesetzt werden, um einen gesell-
schaftlichen Fortschritt zu erreichen, die jedoch Wirkungen auslösen, die den
normativ begründeten Zielvorgaben zuwiderlaufen.
Beispiele für solche Paradoxien kennen wir alle: Boudon (1977, Kap. II, III,
IV) analysiert einige paradoxe Wirkungen von Bildungsreformen. Bei weitgehend
stabiler Struktur des Arbeitsmarktes führt eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung
(„Bildungsexpansion“) nicht zu verringerter ökonomischer Ungleichheit (Bou-
don, 1977, S. 37–38).
Im vorliegenden Band werden einige weitere Kriterien skizziert, die „norma-
tive Paradoxien“erfüllen (Honneth et al., S. 21–22): Bestimmte normative Absich-
ten (Beispiel: Verringerung sozialer Ungleichheit durch mehr Bildung für Alle)
werden in gesellschaftlich breit geteilte Interventionen (Bildungsexpansion,
„kompensatorische Erziehung“usw.) übersetzt. Deren Umsetzung erzeugt jedoch
Effekte, die eine Verfehlung normativer Erwartungen nahelegen (Verlängerung
der individuellen Bildungslaufbahnen bei gleichbleibenden oder sogar schlechte-
ren Mobilitätschancen). Die verfehlten Wirkungen bedeuten nicht, dass die ur-
sprünglich angestrebten Ziele aufgegeben würden.
366 Thomas Voss OLDENBOURG
Der Band ist in die beiden Teile „Theoriegeschichtliche Perspektiven“und
„Materiale Studien“gegliedert. Die Aufsätze zur Theoriegeschichte richten sich
jeweils auf einzelne Autoren, nämlich Tocqueville, Nietzsche, Max Weber, Sim-
mel, Siegfried Kracauer und Albert O. Hirschman. Man kann fragen, warum Nietz-
sches Moralkonzeption hier aufgenommen wurde. Eine Antwort wäre, dass auch
kulturpessimistische Vorstellungen zur „Dialektik der Aufklärung“durch Nietz-
sche inspiriert worden sind (Horkheimer & Adorno, 1944, S. 59 und passim). Axel
Honneth erläutert im Kapitel über Weber, der ebenfalls ein Bewunderer Nietz-
sches gewesen sei (Honneth et al., S. 84), vor allem die bekannten unbeabsichtig-
ten Wirkungen der protestantischen Ethik und anderer Aspekte gesellschaftlicher
„Rationalisierung“.Honneth interessiert sich für die in der geisteswissenschaftli-
chen Weber-Rezeption besonders betonten kulturkritischen Aspekte in Webers
Arbeiten und versucht die interpretatorische These zu prüfen, dass Weber, seiner
kritischen Haltung gegenüber einer Geschichtsmetaphysik zum Trotz, eine Art
historisches Entwicklungsgesetz annehme, wonach gute Absichten stets das mo-
ralisch Fragwürdige erzeugen (Honneth in Honneth et al., S. 106). Zur soziolo-
gisch wichtigen Frage nach den empirisch zurechenbaren kausalen Wirkungen
kultureller Normen, etwa auch der religiösen Ideen des Protestantismus, gibt es
keine Hinweise. Honneths Beitrag versucht offenkundig, im Sinn einer Direkt-
interpretation, die Frage zu klären: Was hat Weber wirklich gemeint? Aus syste-
matischer Sicht einer analytischen Sozialtheorie wäre eine alternative Frage je-
doch die nach den Komponenten von Webers Ideen, die sich mit Mitteln gegen-
wärtiger Theoriebildung rational rekonstruieren und empirisch begründen
lassen.
Der zweite Teil enthält eine Reihe von Fallstudien. Stephan Voswinkel be-
schreibt einige Charakteristika moderner Arbeitsformen (über deren empirische
Verteilung und Verbreitung keine Information geliefert wird), zum Beispiel Ar-
beitszeitsouveränität. Arbeitszeitsouveränität bediene nicht nur die Interessen
der Beschäftigten, sondern könne paradoxerweise zu einer Falle werden, weil Ar-
beitszeit „kolonisiert“werde, indem die Grenzziehung zwischen Arbeit und Frei-
zeit aufgeweicht wird (Voswinkel in Honneth et al., S. 222).
Beate Rössler untersucht in ihrem Beitrag das sogenannte „Privatheitspara-
dox“im Internet, das darin bestehe, dass mächtige Konzerne ein Geschäftsmodell
verfolgen, das auf der systematischen Sammlung und Verwertung privater Daten
beruht. Bei der Nutzung des Internets sei man grundsätzlich am Schutz ihrer Pri-
vatsphäre interessiert, gebe aber dennoch private Informationen preis, weil nur
so ein bequemer Zugang zu den von den Firmen angebotenen Inhalten möglich
ist. Rössler erläutert und diskutiert einige Erklärungsansätze aus der Literatur für
die durchweg apathische Haltung der Individuen angesichts der Diskrepanzen
zwischen individueller Einstellung und Verhalten. Sie deutet an, dass sie Erklä-
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rungen über einen „rationalen“Kosten-Nutzen-Kalkül oder über kognitive Pro-
zesse (Framing usw.) nicht überzeugen, und plädiert dafür, Machtasymmetrien
zwischen den Konzernen und individuellen Personen in den Blick zu nehmen.
Die Beiträge von Ferdinand Sutterlüty, von Kai-Olaf Maiwald &Sarah Speck
und von Sarah Speck behandeln Themen aus der Familiensoziologie. Sutterlüty
gibt eine gründliche und sorgfältig beschriebene Darstellung paradoxer Folgen,
die Rechtsnormen im Bereich des Familienrechts auslösen oder ermöglichen kön-
nen, wenn Konflikte über das Sorgerecht und das Kindeswohl auftreten. Es wer-
den verschiedene Typen paradoxer Folgen aufgezeigt (in Honneth et al., S. 272–
288). In den Beiträgen von Maiwald & Speck und von Speck geht es um paradoxe
Folgen aufgrund von Geschlechternormen und um Konflikte und Verhandlungen
in Paarbeziehungen. Die beiden Aufsätze basieren auf qualitativen Interviews
und sollen deutlich machen, dass die Norm der Gleichheit der Geschlechter para-
doxerweise zu einer verzerrten Wahrnehmung beiträgt, dass man dem falschen
Syllogismus unterliegt: Wenn die Norm gilt, dann kann es keine Ungleichheit ge-
ben. Die Norm verhindere sozusagen, dass die Probanden sensitiv auf Ungleich-
heiten reagierten (Maiwald & Speck in Honneth et al., S. 331). Analoges vollziehe
sich im Bereich der innerfamilialen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern
(Speck in Honneth et al., S. 357).
Der sorgfältig edierte Band über Normative Paradoxien folgt einer frucht-
baren Leitidee, die keineswegs neu ist, sondern seit längerer Zeit zentraler Gegen-
stand auch der analytisch ausgerichteten Sozialtheorie. Die Leitidee wurde, wie
die Beteiligten betonen, in der Soziologie insbesondere von Merton beschrieben
und an Beispielen illustriert. Merton verlangt allerdings, dass soziologische Theo-
rien empirisch prüfbare Aussagen implizieren, die am Ende auch strengen Tests
unterworfen werden müssen (Merton, 1968, S. 39 und passim). Leider lassen die
materialen Beiträge zu diesem Band hinsichtlich der vorgeschlagenen Erklärun-
gen wie auch hinsichtlich der aus den (zumeist unscharf artikulierten) Theorien
folgenden empirischen Hypothesen noch einige Wünsche offen.
Welches Fazit lässt sich aus soziologischer Sicht hinsichtlich beider Bände
ziehen? Wer im Sinn der Ziele einer analytischen, erklärenden Sozialtheorie an
der Entstehung und den Wirkungen von Normen und normativen Ordnungen in-
teressiert ist, wird in beiden Bänden anregendes Material finden. Die angebote-
nen „Theorien“sind allerdings in der Regel unterkomplex und zu undeutlich ar-
tikuliert. Es ist meist nicht erkennbar, welche neuen und überraschenden empiri-
schen Hypothesen sich aus ihnen ergeben könnten. Die starke Betonung von
Diskursen und „Rechtfertigungsnarrativen“wäre überzeugender, wenn die ent-
sprechenden Vorstellungen nicht nur aus der philosophischen Tradition des
Deutschen Idealismus hergeleitet, sondern durch empirische Befunde untermau-
ert würden. Auch die wenigen empirisch orientierten Beiträge (vor allem im Band
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über „Normative Paradoxien“) liefern aufgrund ihres qualitativen Charakters le-
diglich heuristische Ideen, können aber keine Begründungen für eine kausale Zu-
rechnung von Effekten erzeugen.
Literatur
Boudon, R. (1977). Effets pervers et ordre social. Presses Universitaires de France.
Horkheimer, M., Adorno, T.W. [1944] (1968). Dialektik der Aufklärung. De Munter.
Lewis, D. K. (1969). Convention. Harvard University Press.
Merton, R. K. (1968). Social Theory and Social Structure, enlarged edition. Free Press.
Parsons, T. [1937] (Nachdruck in zwei Bänden 1968). The Structure of Social Action. Free Press.
Popitz, H. (1980). Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Mohr.
Popper, K. R. (1962). Die Logik der Sozialwissenschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, 14, 233–248.
Thaler, R., Sunstein, C. R. (2008). Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happi-
ness. Yale University Press.
Young, H. P. (1996). The Economics of Convention, Journal of Economic Perspectives, 10(2),
105–122.
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OLDENBOURG
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