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Einleitung
M E, T J. K, J K, J S,
J K. S C S
Die Praxis der Berufsbildung in Deutschland ist maßgeblich durch die nationale
Berufsbildungspolitik geprägt. Letztere setzt den institutionellen Rahmen für die Be-
rufsbildungspraxis, findet in besonderen prozeduralen Verfahren statt und wird
durch die Mitwirkung verschiedenster Akteure auf unterschiedlichen Ebenen inhalt-
lich ausgestaltet (vgl. Kutscha , S. –). Trotz ihrer unmittelbaren Relevanz
für die Berufsbildung sind dezidierte Auseinandersetzungen mit Berufsbildungspoli-
tik innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in den letzten Jahren rar gewor-
den. Insbesondere angesichts der COVID--Pandemie stellt sich jedoch die Frage,
welche Position Berufsbildungspolitik in Deutschland einnimmt und wie sie sich
aktuell verändert.
Der vorliegende Sammelband fokussiert insbesondere die Berufsbildungspolitik
im Kontext der beruflichen Erstausbildung innerhalb des dualen Systems und des
Schulberufssystems, nimmt jedoch ausgehend von diesem Kernbereich der Berufs-
bildung in Deutschland auch angrenzende Themenfelder wie das berufliche Über-
gangssystem in den Blick. Die berufliche Erstausbildung richtet sich vor allem an
nicht-studienberechtigte Schulabgänger:innen, aber auch Schulabgänger:innen mit
(Fach-)Hochschulzugangsberechtigung machen etwa ein Viertel der Anfänger:innen
im dualen System oder Schulberufssystem aus. Im letzten Jahrzehnt begannen bis zu
einer Million junge Menschen jährlich eine Berufsausbildung oder mündeten in eine
Maßnahme des Übergangsbereichs ein (vgl. BIBB , S. ). Ihre persönliche Zu-
kunft wird damit entscheidend durch die (berufs-)bildungspolitische Ausgestaltung
der Berufsausbildung und der Berufsausbildungsvorbereitung beeinflusst.
Die COVID--Pandemie stellte einen Schock für nahezu alle gesellschaftlichen
Bereiche dar. Die berufliche Erstausbildung war besonders schwer betroen, was sich
durch bedeutende Verwerfungen auf dem dualen Ausbildungsmarkt im ersten Kri-
senjahr zeigte. Während der Pandemie kam es insbesondere im dualen System zu
einem historischen Einbruch der Zahl neu abgeschlossener Ausbildungsverträge, die
gegenüber dem Vorjahr um rund . Abschlüsse, also elf Prozent, sank und
in etwa auf diesem Niveau blieb (vgl. BIBB , S. ).
Da das Berufsbildungssystem in Deutschland eine zentrale Schnittstelle zwi-
schen allgemeinbildendem Schulwesen und Arbeitsmarkt darstellt, bedroht diese
Entwicklung die Ausbildungschancen von Schulabgängern und Schulabgängerinnen,
die nicht auf andere vollqualifizierende Bildungsangebote jenseits des dualen Sys-
tems ausweichen können. Auf dem Weg von der Schule in den Arbeitsmarkt sind im
deutschen Bildungswesen zwei kritische Übergangsschwellen zu überwinden: eine
erste Schwelle von der Schule in eine Berufsausbildung sowie eine zweite Schwelle von
der Berufsausbildung in eine Erwerbstätigkeit (vgl. Mertens ). Dass nicht alle jun-
gen Menschen diese beiden Schwellen erfolgreich meistern, zeigt einerseits die soge-
nannte Ungelerntenquote, d.h. die Quote der - bis -Jährigen ohne abgeschlossene
Berufsausbildung, andererseits die Arbeitslosigkeitsquote dieser Personengruppe.
Die Ungelerntenquote liegt derzeit bei rund % (vgl. BIBB , S. ), was mehr
als zwei Millionen Menschen entspricht. Zudem sind diese mit , % weit stärker von
Arbeitslosigkeit betroen als Personen, die einen Berufs- (, %) oder Hochschulab-
schluss (, %) erworben haben (vgl. Röttger, Weber & Weber , S.).
Die berufsbiografische Integrationsfunktion der beruflichen Erstausbildung in
Deutschland erklärt sich aus der Berufs- und Zertifikatszentrierung des Erwerbssys-
tems. In einer Berufsausbildung erwerben junge Menschen jedoch nicht nur beruf-
liche Kompetenzen und die entsprechende Zertifizierung, um ihren Beruf später
fachgerecht ausführen zu können. Die Berufsausbildung stellt auch einen Prozess der
persönlichen Entwicklung sowie der beruflichen Sozialisation dar, in dem (berufliche)
Identitätsbildung erfolgt (vgl. Lempert ). Die Bedeutsamkeit der beruflichen Erst-
ausbildung manifestiert sich damit auf der Mikroebene für die Bildungs-, Erwerbs-
und Lebenschancen junger Menschen. Auf der Mesoebene ermöglichen ausgebildete
Fachkräfte das Funktionieren von Unternehmen, öffentlicher Verwaltung usw. Auf der
Makroebene schließlich trägt das System der beruflichen Erstausbildung zur Repro-
duktion der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen bei (vgl. Kell ).
Die besondere Relevanz berufsbildungspolitischer Entscheidungen ergibt sich da-
raus, dass sie sich auf alle drei Ebenen auswirken.
Auch historisch hat Berufsbildungspolitik die aktuelle Praxis der Berufsbildung
maßgeblich geprägt. Das Lernen und Lehren in der beruflichen Erstausbildung findet
in Deutschland in beruflichen Schulen, Betrieben und öentlichen Einrichtungen,
überbetrieblichen Ausbildungsstätten und Bildungsträgern statt. Diese institutionelle
Struktur des beruflichen Bildungswesens hat sich im Laufe des . und . Jahrhun-
derts entwickelt, wobei die heutigen Strukturen im Wesentlichen durch die Bildungs-
reformen der /er Jahre begründet wurden. Seitdem hat sich die institutionelle
Struktur der Berufsbildung in Deutschland kaum noch verändert (vgl. Busemeyer
; Greinert ).
Entsprechend des strukturellen Aufbaus des Berufsbildungswesens hat sich eine
berufsbildungspolitische Struktur entwickelt. Auf Bundes-, Länder-, regionaler und
kommunaler Ebene sind zahlreiche unterschiedliche Institutionen und Akteure ein-
gebunden, die die Rahmenbedingungen der Berufsbildung miteinander diskutieren,
gemeinsam verabschieden und weiterentwickeln. Aufgrund der mehrfach unterteilten
Zuständigkeit in der Berufsbildungspolitik und eines ausgeprägten Korporatismus
haben neben staatlichen Akteuren, wie gewählten Parlamentarier:innen und Behör-
denvertreter:innen, insbesondere Vertreter:innen von Arbeitgeberverbänden und Ge-
werkschaften einen starken und gesetzlich abgesicherten Einfluss auf berufsbil-
dungspolitische Entscheidungen (vgl. Hilbert, Südmersen & Weber ). Trotz der
Vielzahl an Akteuren, Normen und Verfahren, die im Feld wirken, wird Berufsbil-
dung in Deutschland seit Jahrzehnten weitestgehend ohne öentlich ausgetragene
12 Einleitung
politische Antagonismen gesteuert. Besonders in der dualen Berufsausbildung – die
häufig pars pro toto mit der Berufsbildung gleichgesetzt wird – basiert dieser auällig
geräuscharme politische Modus auf der etablierten Sozialpartnerschaft zwischen dem
Staat sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden (vgl. Eckelt ).
Die Disziplin der Berufs- und Wirtschaftspädagogik beschäftigt sich wissen-
schaftlich mit den vielfältigen Aspekten des disziplinären Bezugsgegenstands Berufs-
bildung. Wie Berufsbildungspolitik funktioniert und welche Verbindungen zwischen
Berufsbildungspolitik und Berufsbildungspraxis bestehen, ist damit ein eigenständi-
ger Forschungsgegenstand (vgl. bspw. den gegenwärtig aktuellsten Handbuchbeitrag
zu Berufsbildungspolitik von Müller, Münch, Reuter u. a. ). Analytisch lässt sich
Berufsbildungspolitik in einem weiten Sinne als Zusammenspiel der inhaltlichen,
prozeduralen und institutionellen Dimensionen von Politik (policy, politics und polity)
verstehen (vgl. Kutscha , S.–). Der Begri der Politik und damit auch der
Berufsbildungspolitik zeichnet sich jedoch durch eine gewisse begriiche Unschärfe
aus, die sich daraus ergibt, dass im Prinzip jedes soziale Feld in einer modernen De-
mokratie der Politisierung ausgesetzt ist – und die Auseinandersetzung darüber, was
Gegenstand der jeweils aktuellen politischen Debatte wird und was nicht, wiederum
selbst zur politischen Streitfrage werden kann (vgl. FES , S.). Politik lässt sich in
einem solchen Verständnis nicht oder nur sehr ungenügend abstrakt analysieren. Sie
ist immer an konkrete gesellschaftliche Fragestellungen gebunden. Im vorliegenden
Sammelband werden daher die Entstehung und Auswirkung von Strukturen der be-
ruflichen Erstausbildung, die krisenhafte Entwicklung des Zugangs zu Ausbildung
und gegenwärtig diskutierte Perspektiven der Weiterentwicklung der Berufsbildung
als gesellschaftliche Fragestellungen und damit Berufsbildungspolitik betrachtet.
Berufsbildungspolitik ist jedoch für Berufsbildungsforscher:innen nicht nur als
Forschungsobjekt relevant. Akteure der Berufsbildungspolitik sind auch Adressatin-
nen und Adressaten wissenschaftlicher Erkenntnisse, beauftragen und finanzieren
Forschung und binden Wissenschaftler:innen zuweilen unmittelbar in Gremien ein.
Ein aktuelles Beispiel für die direkte berufsbildungspolitische Mitwirkung von Vertre-
ter:innen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik stellt das im April veröentliche
Positionspapier 9+1 Thesen für eine bessere Berufsbildung dar, in dem explizit die (Be-
rufs-)Bildungspolitik adressiert wird und Impulse für die Neugestaltung der Berufs-
bildung gesetzt werden sollen (vgl. Arbeitsgruppe + ).
Vor diesem Hintergrund der schwierigen begriichen und gegenstandsbezo-
genen Eingrenzung des Forschungsgegenstands Berufsbildungspolitik kann der vor-
liegende Sammelband notwendigerweise nur schlaglichtartig relevante Aspekte be-
trachten. Das Anliegen des Buchs ist es, einerseits die vielfältigen Facetten der Berufs-
bildungspolitik und der darauf bezogenen berufs- und wirtschaftspädagogischen
Forschung kritisch zu thematisieren und dadurch andererseits Impulse für die wei-
tere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit berufsbildungspolitischen Themen in
der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu setzen.
Die Beiträge des Sammelbands entfalten sich entlang der drei Dimensionen
Strukturen, Krise und Perspektiven der Berufsbildungspolitik im Kontext der beruf-
Marcus Eckelt et al. 13
lichen Erstausbildung. Zu jeder der drei Dimensionen gibt es einen Abschnitt mit vier
bis fünf Beiträgen. Abschließend werden die Einzelbeiträge hinsichtlich ihrer Gegen-
stände und Zugänge in einem finalen Beitrag diskutiert.
Strukturen
Im ersten Teil des Bandes liegt der Fokus darauf, wie die heute bestehenden Struktu-
ren des Berufsbildungswesens in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und welche
berufsbildungspolitischen Entscheidungen und Prozesse diesen Strukturen zu-
grunde liegen. Außerdem wird betrachtet, wie die verschiedenen Teilbereiche der Be-
rufsbildung politisch gesteuert werden und welche Interessen dabei zur Geltung
kommen oder wirkungslos bleiben.
Im ersten Beitrag skizziert Marcus Eckelt, wie die Forderung nach Chancenge-
rechtigkeit als Treiber demokratischer Berufsbildungspolitik in der Bundesrepublik
fungierte. Die Forderung nach Chancengerechtigkeit bildete die normative Grundlage
der Bildungsreform der /er Jahre und wurde auch nach deren Ende bzw. Schei-
tern in den folgenden Jahrzehnten nicht aufgegeben. Allerdings lässt sich eine Ver-
änderung der Bedeutung nachvollziehen, die Eckelt in Bezug zu gesellschaftlichen
Veränderungsprozessen und damit einhergehenden veränderten gesellschaftstheore-
tischen Selbstbeschreibungen setzt.
Im anschließenden Beitrag widmet sich Günter Kutscha einer berufsbildungspoli-
tischen Betrachtung des dualen Ausbildungssystems. Er rekonstruiert den kontinuier-
lichen Entwicklungspfad im . Jahrhundert, der unter extrem unterschiedlichen
staatlichen Rahmenbedingungen verlief und Ende der er Jahre zum Berufsbil-
dungsgesetz führte. Diese „Magna Charta“ und das damit verbundene Konsensprin-
zip der staatlich-korporativen Regulierung prägen die Politik des dualen Systems bis
heute. Kutscha argumentiert, dass diese politischen Rahmenbedingungen dazu ge-
führt haben, dass strukturelle Reformen wie die Ausbildungsgarantie und die Gleich-
wertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung nicht umgesetzt werden konn-
ten.
Im Beitrag von Karin Reiber und Marianne Friese wird dann das vom dualen Aus-
bildungssystem rechtlich-formal abgegrenzte sogenannte Schulberufssystem einge-
ordnet. Dabei werden die besonderen Merkmale der Ausbildungen im Schulberufs-
system am Beispiel der Care-Berufe herausgearbeitet. Deutlich wird, dass auch diese
Ausbildungen in der Berufsbildungspraxis dual organisiert sind und an den Lern-
orten Schule und Betrieb stattfinden. Es gibt allerdings andere rechtliche Regelungen
und Ordnungsmittel als in der dualen Ausbildung. Reiber und Friese zeigen, welche
Probleme und Limitierungen sich daraus ergeben und diskutieren mögliche Entwick-
lungsperspektiven.
Darauf folgt der Beitrag von Kirsten Vollmer, die sich mit den Ausbildungsangebo-
ten für Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Sie betrachtet dazu die duale Be-
rufsausbildung mit Nachteilsausgleich und die Fachpraktiker-Ausbildung sowie die
unterstützte Beschäftigung und berufliche Bildung in Werkstätten für behinderte
Menschen. Vollmer zeigt anhand von Diskursen, welche Bedeutung gesellschaftspoli-
14 Einleitung
tischen Paradigmen wie Inklusion, Teilhabe und Selbstbestimmung auf die berufsbil-
dungspolitische Steuerung und Weiterentwicklung der Ausbildungsangebote für
Menschen, die behindert werden, haben.
Im abschließenden Beitrag des ersten Teils erläutert Christian Steib, wie das
Übergangssystem aus dem Umstand entstanden ist, dass der berufsbildungspoliti-
sche Gesetzgeber auf Schwierigkeiten junger Menschen am Übergang in die beruf-
liche Ausbildung vorrangig mit der Verabschiedung neuer Programme, Maßnahmen
und Bildungsgänge reagiert. Dadurch wird maßgeblich das bestehende berufsbil-
dungspolitische Machtgleichgewicht am Übergang stabilisiert, es führt jedoch auch
dazu, dass nur die Symptome und nicht die Ursachen dieser Schwierigkeiten be-
kämpft werden, weshalb sich diese verfestigen (können).
Krise
Der zweite Teil beschäftigt sich mit krisenhaften Entwicklungen der beruflichen Erst-
ausbildung aus einer berufsbildungspolitischen Perspektive. In diesem Teil des Sam-
melbandes wird untersucht, wie aktuelle Krisen aus dem Zusammentreffen der Struk-
turen des Berufsbildungswesens mit Veränderungen der exogenen Bedingungen
entstehen und berufsbildungspolitisch adressiert werden. Mit dem Begri der Krise
ist hier keine – im ursprünglichen Wortsinn angelegte – existenzielle Bedrohung des
Systems der beruflichen Erstausbildung gemeint. Krisen, wie die gegenwärtige
COVID--Pandemie, werden vielmehr als Veränderung der Umwelt verstanden, die
einen Anpassungsdruck ausübt, da die vom System erwarteten Ergebnisse nicht
mehr erreicht werden können. Damit ist jeder Krise das Potenzial immanent, Verän-
derungen der bestehenden Strukturen auszulösen.
Die Beiträge konzentrieren sich auf krisenhafte Verwerfungen auf dem dualen
Ausbildungsmarkt, da sich dort ökonomische Krisen in den letzten Jahren am stärks-
ten auswirkten. Das ist auch bei der gegenwärtigen Coronakrise so, die in vier Beiträ-
gen dieses Teils thematisiert wird.
Im Beitrag von Marcus Eckelt und Jennifer Schauer werden die Auswirkungen der
Coronakrise auf den dualen Ausbildungsmarkt in den beiden Krisenjahren und
beschrieben. Dabei wird herausgearbeitet, dass es auch in der Krise ausgeprägte
regionale Dierenzen gibt. Folglich, so die Argumentation der Autorin und des Au-
tors, müssen berufsbildungspolitische Maßnahmen regional angepasst und gestaltet
werden, wenn Ausbildungslosigkeit, Fachkräftemangel und Passungsprobleme – auch
nach der Krise – reduziert werden sollen.
Im darauolgenden Beitrag analysieren Christoph Krause und Jane Porath die
Stellung von Auszubildenden in der Coronakrise unter ausbildungsstatistischen und
verordnungsrechtlichen Gesichtspunkten und skizzieren die durch die Berufsbil-
dungspolitik implementierten Maßnahmen zur Unterstützung der Ausbildungsbe-
triebe während der Krise.
Der Beitrag von Susanne Schemmer widmet sich der Benachteiligtenförderung in
der beruflichen Bildung und den Auswirkungen der Coronakrise auf die Handlungs-
felder der Vermittlung und Förderung benachteiligter Jugendlicher in Ausbildung.
Marcus Eckelt et al. 15
Im abschließenden Beitrag dieses Teils untersuchen Johannes Klassen und Johan-
nes K. Schmees, welche Auswirkungen die Coronakrise auf die Repräsentation des dua-
len Systems im berufsbildungspolitischen Diskurs hat. Mittels einer Diskursanalyse
von Plenardebatten des Deutschen Bundestages während des ersten Krisenjahres zei-
gen sie, dass in diesen ein grundlegender Wandel des dualen Systems im Großen und
Ganzen nicht gefordert wird. Stattdessen wird die duale Ausbildung diskursiv gestärkt
durch Verweise auf ihre internationale Attraktivität und Leistungsfähigkeit sowie auf
ihre Notwendigkeit für das Wohl von Auszubildenden und der deutschen Wirtschaft.
Perspektiven
Der dritte Teil des Sammelbandes widmet sich Perspektiven von Berufsbildungspolitik.
In den vier Beiträgen werden Überlegungen und bereits in Erprobung befindliche
Ansätze zur künftigen Gestaltung der Berufsbildung in Deutschland vorgestellt.
Die Praxis der Berufsbildung entwickelt sich ständig weiter. Berufsbildungspoli-
tik stellt sich daher auch als eine Abfolge der Bearbeitung von Projekten dar, um auf
Veränderungen der Umwelt – sei es durch Krisen oder durch langfristige Verände-
rungen wie Digitalisierung und demografischen Wandel – zu reagieren. Berufsbil-
dungswissenschaftlich spiegelt sich das in der wissenschaftlichen Problemanalyse
und der Entwicklung von entsprechenden Vorschlägen.
In ihrem Beitrag diskutieren Christian Steib und Thilo J. Ketschau die Einführung
einer von allen Unternehmen zu entrichtenden Ausbildungsplatzabgabe. Ein entspre-
chendes Gesetz wurde in Deutschland bereits zweimal konzipiert und diskutiert, ver-
blieb jedoch beide Male unvollendet. Die Autoren postulieren in diesem Zusammen-
hang, dass, wenn in Deutschland die berufliche Ausbildung für die jungen Menschen
der nachwachsenden Generationen einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Wahr-
nehmung ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe darstellt, letztlich der
Staat aktiv die Verantwortung dafür übernehmen muss, dass alle ausbildungsinteres-
sierten jungen Menschen eine solche absolvieren können.
Thematisch eng verbunden diskutiert Clemens Wieland anschließend, wie eine
Ausbildungsgarantie in Deutschland aussehen könnte, die durch die Bundesregie-
rung im Koalitionsvertrag angekündigt wurde. Welche individuellen, gesell-
schaftlichen und volkswirtschaftlichen Kosten und Nutzen mit einer Ausbildungs-
garantie verbunden wären, wird anhand einer Simulationsstudie nach österreichi-
schem Vorbild der Ausbildungsgarantie analysiert. Wieland endet mit der Ableitung
von zehn Gestaltungselementen für eine wirkungsvolle Ausbildungsgarantie.
Julia Pargmann und Florian Berding beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit einem
emotional aufgeladenen Thema, das in der beruflichen Bildung bislang jedoch nur
selten beachtet wurde: künstliche Intelligenz. Die Autorin und der Autor untersu-
chen, welche Chancen und Risiken künstliche Intelligenz als Bildungstechnologie in
der beruflichen Bildung bietet. Während sie beispielsweise zur Personalisierung und
Individualisierung von Lernprozessen beitragen kann, sollten auch datenschutzrecht-
liche Herausforderungen berücksichtigt werden. Der Beitrag endet mit einem Aus-
16 Einleitung
blick auf die berufsbildungspolitischen Implikationen, die bei der Integration von
künstlicher Intelligenz in der beruflichen Bildung relevant werden.
Im darauolgenden Beitrag fokussieren Sandra Bohlinger und Ina Krause den
Übergang von der beruflichen Ausbildung in die berufliche Weiterbildung unter den
Gesichtspunkten der Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit. So stellen die Bildungs-
gänge der Anpassungs- und Aufstiegsfortbildung ein wichtiges Element dar, um die
Unternehmen mit den erforderlichen Fachkräften für die mittlere Führungsebene zu
versorgen. Dennoch, so halten die Autorinnen fest, ist die berufliche Weiterbildung,
im Gegensatz zur beruflichen Ausbildung, nur selten Gegenstand berufsbildungs-
politischer Entscheidungen sowie berufs- und wirtschaftspädagogischer Untersu-
chungen.
Ausblick
Abschließend diskutieren Johannes Klassen, Johannes K. Schmees und Christian Steib
im letzten Kapitel das Forschungsfeld zur Berufsbildungspolitik und werfen einen
Ausblick auf weiterführende Fragestellungen, die sich aus den Beiträgen dieses Sam-
melbands und darüber hinaus im Hinblick auf ebenjenes Forschungsfeld ergeben.
Literatur
Arbeitsgruppe + (). Zukunftsfähig bleiben! 9+1 Thesen für eine bessere Berufsbildung.
Bonn: BIBB.
BIBB (Bundesinstitut für Berufsbildung) (Hg.) (). Datenreport zum Berufsbildungsbe-
richt 2022. Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn:
BIBB.
Busemeyer, M.R. (). Wandel trotz Reformstau: Die Politik der beruflichen Bildung seit
1970. Frankfurt a.M.: Campus.
Eckelt, M. (). Zur sozialen Praxis der Berufsbildungspolitik. Theoretische Schlüsse aus der
Rekonstruktion der Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens. Bielefeld: wbv
Media.
FES (Friedrich-Ebert-Stiftung) (Hg.) (). Auf dem Weg in die Postdemokratie? Berlin: FES.
Greinert, W.-D. (). Erwerbsqualifizierung jenseits des Industrialismus: Zu Geschichte und
Reform des deutschen Systems der Berufsbildung. Frankfurt a.M.: G.A. F. B.
Hilbert, J., Südmersen, H. & Weber, H. (). Berufsbildungspolitik: Geschichte – Organisa-
tion – Neuordnung. Opladen: Leske + Budrich.
Kell, A. (). Organisation, Recht und Finanzierung der Berufsbildung. In R. Arnold &
A. Lipsmeier (Hg.), Handbuch der Berufsbildung (. Aufl.), –. Wiesbaden: Sprin-
ger VS.
Kutscha, G. (). Berufsbildungssystem und Berufsbildungspolitik. In R. Nickolaus,
G. Pätzold, H. Reinisch & T. Tramm (Hg.), Handbuch Berufs- und Wirtschaftspädagogik,
–. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Marcus Eckelt et al. 17
Lempert, W. (). Berufliche Sozialisation. Persönlichkeitsentwicklung in der betrieblichen
Ausbildung und Arbeit. Hohengehren: Schneider.
Mertens, D. (). Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Müller, H.-J., Münch, J., Reuter, C. & Ulmer, P. (). Berufsbildungspolitik. In R. Arnold,
A. Lipsmeier & M. Rohs (Hg.), Handbuch Berufsbildung (. Aufl.), –. Wiesba-
den: Springer VS.
Röttger, C., Weber, B. & Weber, E. (). Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten. Nürn-
berg: IAB.
1 Einleitung
Berufsbildungspolitik:
Strukturen – Krise – Perspektiven
Marcus Eckelt, Thilo J. Ketschau, Johannes Klassen,
Jennifer Schauer, Johannes K. Schmees, Christian Steib (Hg.)
Beru fsbil dung, Ar beit u nd Innov ation –
Haupt reihe, Band 67
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Hochschulbibliothek Luzern (ZHB) | Zürcher Hochschule für Angewandte Wissen-
schaften (ZHAW) (Winterthur)
Inhalt
Vorwort ............................................................
Marcus Eckelt, Thilo J. Ketschau, Johannes Klassen, Jennifer Schauer, Johannes K. Schmees
und Christian Steib
Einleitung .......................................................... 11
Strukturen
Marcus Eckelt
Forderung nach Chancengerechtigkeit als Treiber demokratischer Berufsbil-
dungspolitik ........................................................ 21
Günter Kutscha
Politik des dualen Systems in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Karin Reiber und Marianne Friese
Das Schulberufssystem im Kontext des Berufsbildungssystems – Entwick-
lungslinien und -perspektiven der Care-Berufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Kirsten Vollmer
Berufliche Bildung behinderter Menschen: gesellschaftspolitische Paradigmen
– wissenschaftliche Diskurse – Anforderungen in der Praxis. Ein pointierter
Problemaufriss ......................................................
Christian Steib
Das berufliche Übergangssystem im Spiegel der Schwierigkeiten junger
Menschen am bildungs- und berufsbiografisch zentralen Übergang von der
Schule in die Berufsausbildung ......................................... 5
Krise
Marcus Eckelt und Jennifer Schauer
Regionale Unterschiede auf dem Ausbildungsmarkt während der COVID-19-
Pandemie. Entwicklung der Neuverträge in der dualen Ausbildung . . . . . . . . . . . . 15
Christoph Krause und Jane Porath
Ausbildungsmarkt und Stellung von Auszubildenden in Zeiten von Corona –
eine statistische und verordnungsrechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Susanne Schemmer
Transformation der beruflichen Benachteiligtenförderung durch die Corona-
krise – erste Ergebnisse einer qualitativen Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Johannes Klassen und Johannes K. Schmees
Wandel in der Krise? Eine Analyse der Plenardebatten zum dualen System der
Berufsausbildung in der COVID-19-Pandemie ............................. 15
Perspektiven
Christian Steib und Thilo J. Ketschau
Die Ausbildungsplatzabgabe als Instrument der staatlichen Verantwortung . . . . . 11
Clemens Wieland
Ansätze für eine Ausbildungsgarantie in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Julia Pargmann und Florian Berding
Künstliche Intelligenz in der beruflichen Bildung – Utopie oder Dystopie?
Chancen und Herausforderungen von KI als Bildungstechnologie . . . . . . . . . . . . 215
Sandra Bohlinger und Ina Krause
Ausbildung und dann …? Durchlässigkeit an der Schwelle zur beruflichen
Weiterbildung ....................................................... 2
Ausblick
Johannes Klassen, Johannes K. Schmees und Christian Steib
Berufsbildungspolitik als Forschungsfeld: Gegenstände und Zugänge . . . . . . . . . 251
Die Autorinnen und Autoren ........................................... 21
Inhalt