ChapterPDF Available

Rassistische Praktiken bei der Schutz- und Kriminalpolizei – Die Bedeutung der polizeilichen Felder für die Konstruktion von Tatverdächtigen

Authors:
  • Berlin School of Ecomomics and Law

Abstract

Zusammenfassung Der Beitrag geht der Frage nach, welche Felder und Handlungslogiken der zwei wesentlichen Bereiche der Polizei – der Schutz- und Kriminalpolizei – mit rassistischen Handlungspraktiken assoziiert sein können. Es wird deutlich, dass die schutzpolizeiliche Handlungsgrundlage der Gefahrenabwehr mit stereotypen Konstruktionen von Tatverdächtigen zusammenhängen, die rassifizierende Zuschreibungen enthalten können. Insgesamt basieren Tatverdächtigenkonstruktionen im Rahmen der Gefahrenabwehr im Wesentlichen auf äußere Erscheinungen. Diese spielen in der kriminalpolizeilichen Praxis eine geringere Rolle, vielmehr besitzen hier Zuordnungsprozesse von Informationen zu konstruierten bzw. ermittelten Tatverdächtigengruppen eine Bedeutung, die ebenfalls rassifizierende Zuschreibungen widerspiegeln können.
Rassismus
in der Polizei
DanielaHunold
TobiasSingelnstein Hrsg.
Eine wissenschaftliche
Bestandsaufnahme
Rassismus in der Polizei
Daniela Hunold · Tobias Singelnstein
(Hrsg.)
Rassismus in der Polizei
Eine wissenschaftliche
Bestandsaufnahme
Hrsg.
Daniela Hunold
Hochschule für Wirtschaft und Recht
Fachbereich Polizei und Sicherheits-
management (FB 5), Campus Lichtenberg
Berlin, Deutschland
Tobias Singelnstein
Goethe-Universität, Fachbereich Rechts-
wissenschaft, Institut für Kriminal-
wissenschaften und Rechtsphilosophie
Frankfurt a.M., Deutschland
ISBN 978-3-658-37132-6 ISBN 978-3-658-37133-3 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37133-3
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-
grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en) 2022. Dieses Buch ist eine Open-Access-Publikation.
Open Access Dieses Buch wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International
Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung,
Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format
erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen,
einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen
wurden.
Die in diesem Buch enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der
genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes
ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz
steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für
die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen
Rechteinhabers einzuholen.
Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen
etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die
Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des
Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und
Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt
sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder
implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt
im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten
und Institutionsadressen neutral.
Planung/Lektorat: Cori A. Mackrodt
Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden
GmbH und ist ein Teil von Springer Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
V
Inhaltsverzeichnis
Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Daniela Hunold und Tobias Singelnstein
Grundlagen
Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte,
zentrale Befunde .............................................. 15
Juliane Karakayalı
Rassismuskritische Polizeiforschung – Eine Spurensuche ............ 33
Fatoş Atali-Timmer, Karim Fereidooni und Kathrin Schroth
Menschenrechtliche Grundlagen polizeilicher Praxis ................ 55
Cengiz Barskanmaz
Rechtlicher Schutz vor polizeilicher Diskriminierung aus
rassistischen Gründen ......................................... 83
Andreas Ruch
Formen und Entstehungszusammenhänge
Rassistische Einstellungen von Polizeibeamt:innen .................. 107
Maren Wegner und Karoline Ellrich
Rechtsextremismus in der Polizei – Skandale, Befunde und
Mutmaßungen ................................................ 127
Christoph Kopke
VI Inhaltsverzeichnis
Ursachen und Präventionsmöglichkeiten bei Vorurteilen
und Diskriminierungen in der Polizei ............................. 145
Eva Groß, Julia Clasen und Andreas Zick
Strukturell – Institutionell – Individuell – Dimensionen
des polizeilichen Rassismus: Versuch einer Begriffsklärung .......... 181
Alexander Bosch und Roman Thurn
Von Einstellungen zu polizeilichen Praxen ......................... 199
Daniela Gutschmidt und David Czudnochowski
„Polizeigewalt hat es nicht gegeben“ – Cop Culture als Disposition
für Dominanz, Überlegenheit und Grenzüberschreitung
im polizeilichen Alltagshandeln .................................. 217
Rafael Behr
Polizei und Rassismus .......................................... 239
Marschel Schöne
Rassistische Praktiken bei der Schutz- und Kriminalpolizei –
Die Bedeutung der polizeilichen Felder für die Konstruktion
von Tatverdächtigen ........................................... 269
Daniela Hunold
Polizeiliche Praxen
Gefahrenabwehr und Eigensicherung ............................ 295
Martin Herrnkind
Verräumlichte Wahrnehmung ................................... 323
Bernd Belina
Racial Profiling als polizeiliche Praxis ............................ 337
Johannes Niemz und Tobias Singelnstein
Rassistische Diskriminierung im Kontext polizeilicher
Gewaltanwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Hannah Espín Grau und Luise Klaus
Kriminell oder kriminalisiert? Die Rolle der Polizei bei Verdachts-
schöpfung und Konstruktion der „Ausländerkriminalität“ ........... 385
Christian Walburg
VIIInhaltsverzeichnis
Polizeilicher Umgang mit Opfern aus Familien mit
Zuwanderungsgeschichte ....................................... 405
Hannes Püschel
Folgen für Betroffene und Gesamtgesellschaft
Rassistisches Polizieren. Erfahrungen, Umgangsweisen
und Interventionen ............................................ 427
Vanessa E. Thompson
Zivilgesellschaftliche Organisation und Praxis im Themenfeld
Polizei und Rassismus/Diskriminierung ........................... 445
Thomas Görgen und Daniel Wagner
Vertrauens- und Legitimitätsbrüche: Was bedeutet Rassismus
durch die Polizei für die Gesellschaft? ............................ 471
Laila Abdul-Rahman
Ein weißes „wir“, seine Polizei und deren weißes „wir“ .............. 489
Anna Sabel und Özcan Karadeniz
Folgen für die gesellschaftliche Wahrnehmung von Kriminalität ...... 507
Daniela Klimke
Forschungsansätze und Methoden
„Black Box Polizei?“ – Wege der empirischen Forschung ............ 529
Stefanie Kemme und Anabel Taefi
Polizei als uneinsichtige Institution ............................... 561
Wilhelm Heitmeyer
Internationale Perspektiven: Was kann die deutsche Diskussion
von der internationalen Forschung lernen? ........................ 579
Maximilian Pichl
Polizei, Rassismus und Gesellschaft nach 1945 ..................... 599
Klaus Weinhauer
VIII Inhaltsverzeichnis
Möglichkeiten und Grenzen des Umgangs
Vorhersage von Formen kontraproduktiven Verhaltens und
Radikalisierungstendenzen in der polizeilichen Personalauswahl ...... 621
Wim Nettelnstroth und Henriette Binder
Die Vermittlung transkulturellen Wissens in der Aus- und
Fortbildung als wesentlicher Baustein gegen individuellen und
strukturellen Rassismus in der Polizei ............................ 647
André Schulz
Organisierte (In-)Differenz. Zur Bedeutung von Diversität und
Repräsentation für die Polizei ................................... 669
Sabrina Ellebrecht
Polizeikultur(en) .............................................. 693
Udo Behrendes
Unabhängige Kontrolle als Schutz vor Rassismus
und Diskriminierung? ......................................... 729
Hartmut Aden und Alexander Bosch
1
Einführung
Daniela Hunold und Tobias Singelnstein
Zusammenfassung
Obwohl das Thema Rassismus als Problem der Polizei die gesellschaft-
liche Debatte in den vergangenen Jahren äußerst intensiv beschäftigt hat,
sind Ausmaße und Formen des Rassismus in der deutschen Polizei bisher
nur in Ansätzen untersucht. Der vorliegende Band bietet eine Grundlage für
die Auseinandersetzung mit dem Thema, indem er den Forschungsstand aus
verschiedenen Disziplinen zusammenführt und systematisch aufarbeitet.
Das Buch ist in sechs Abschnitte gegliedert, welche jeweils einen inhalt-
lichen Schwerpunkt bilden. Angesprochen sind hier begriffliche, rechtliche
und historische Grundlagen, Formen und Entstehungszusammenhänge von
Rassismus, unterschiedliche polizeiliche Tätigkeitsbereiche, Folgen von
Rassismus, Möglichkeiten der wissenschaftlichen Untersuchung sowie
der mögliche Umgang mit dem Problem.
© Der/die Autor(en) 2022
D. Hunold und T. Singelnstein (Hrsg.), Rassismus in der Polizei,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37133-3_1
D. Hunold
Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement (FB 5), Campus Lichtenberg,
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: daniela.hunold@hwr-berlin.de
T. Singelnstein (*)
Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Kriminalwissenschaften und
Rechtsphilosophie, Goethe-Universität, Frankfurt a.M., Deutschland
E-Mail: singelnstein@jur.uni-frankfurt.de
2D. Hunold und T. Singelnstein
Rassismus als Problem der Polizei hat die gesellschaftliche Debatte in den ver-
gangenen Jahren äußerst intensiv beschäftigt. Ein Auslöser hierfür war der Tod
des Afroamerikaners George Floyd, der im Mai 2020 in Minneapolis (USA)
durch rechtswidrige Polizeigewalt bei einer Festnahme getötet wurde. Die
infolgedessen aufflammende weltweite Protestbewegung sensibilisierte auch
in Deutschland noch stärker als zuvor für die Frage nach Diskriminierung und
Rassismus in der und durch die Polizei. Begleitet wurde die Debatte, die auch
in Deutschland bereits seit Jahrzehnten geführt wird, durch das Bekanntwerden
zahlreicher Fälle rassistischer Chats in Polizeikreisen, die den strukturellen
Charakter des Problems dokumentieren. Im Zentrum der Diskussion stehen
neben problematischen polizeilichen Gewaltausübungen das so genannte Racial
Profiling und allgemein die Frage nach rassistischen Kontrollpraktiken; aber auch
vergangene Vorfälle wie der Tod Oury Jallohs durch den Brand in einer Dessauer
Gefängniszelle und die NSU-Ermittlungen finden noch einmal verstärkt Eingang
in die Debatte.
In welchem Maß und in welchen Formen Rassismus in der deutschen Polizei
ein Problem darstellt, ist bis dato nur in Ansätzen untersucht, da in Deutsch-
land – anders als in anderen von rassistischem Polizeihandeln betroffenen
Ländern wie den USA oder auch Großbritannien – nur wenige empirisch-
wissenschaftliche Studien zum Phänomen existieren. Der Grund hierfür wird
oftmals in der Abschottungspraxis der Polizei gegenüber unabhängig wissen-
schaftlich Forschenden gesehen, welche durch polizeikritische Forschung in
den 1970er Jahren begründet sei. Ob die auch heute noch vielfach beschriebene
eher ablehnende Haltung von Polizeiorganisationen gegenüber Wissenschaft
tatsächlich auf die damals veröffentlichten, die Polizei kritisch in den Blick
nehmenden polizeisoziologischen Studien zurückzuführen ist, darf jedoch
bezweifelt werden. Vielmehr findet sich in der Polizei eine grundlegende Skepsis
gegenüber unabhängiger Forschung, Kritik und Kontrolle, fehlt es weithin an
einer akademisch institutionalisierten Polizeiforschung und vielfach auch am
politischen Willen zur unabhängigen Beforschung der Polizei.
Bisherige Studien im Themenfeld polizeiliche Diskriminierung fokussieren
meist auf Einstellungen oder Praktiken, die mit der Ungleichbehandlung von
Personengruppen assoziiert sind. Dabei wird jedoch oft nicht spezifisch auf
Rassismus Bezug genommen. Die Ergebnisse dieser Arbeiten lassen sich grob
dahingehend zusammenfassen, dass sie negative Wahrnehmungen, abwertende
Einstellungen und diskriminierende Praktiken von Polizeibeamt:innen gegen-
über Menschen feststellen, denen bestimmte ethnische Zugehörigkeiten
zugeschrieben werden. Allerdings weisen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur
Diskriminierung durch die Polizei eben auch große Lücken auf: Die bisherigen
3Einführung
Studien thematisieren nur bestimmte Formen bzw. Aspekte von Rassismus und
Diskriminierung, betreffen nur regionale Ausschnitte und einzelne Arbeits-
bereiche des polizeilichen Alltags. Insbesondere mangelt es an Arbeiten, die die
Perspektiven von Betroffenen, polizeiliche Strukturen oder Handlungspraktiken
in weiteren, bislang unterbelichteten Arbeitsbereichen der Polizei in den Blick
nehmen.
Unabhängig davon ist nicht nur vor dem Hintergrund der Geschehnisse und
Diskussionen in den USA, sondern auch angesichts zahlreicher Schilderungen
von Betroffenen in Deutschland augenfällig, dass die Organisation Polizei in der
diversen Gesellschaft vor besonderen Problemen und Herausforderungen steht,
denen sie bislang nur wenig begegnet. Dabei zeigt die starke Polarisierung der
gegenwärtigen öffentlichen Debatte, dass eine Versachlichung und Fundierung
ebenso notwendig ist wie eine Übersetzung der Befunde der Rassismusforschung
in Richtung Polizei. An dieser Stelle soll der vorliegende Band einen grund-
legenden Beitrag leisten, indem er den bestehenden Forschungsstand zusammen-
führt und systematisch aufbereitet, um eine Basis für weitere Forschungen in
dem Themenfeld zu schaffen, aber auch eine Grundlage für die polizeiliche Aus-
bildung und Praxis zu legen. Die Beiträge des Bandes bearbeiten jeweils einen
zentralen Aspekt der Thematik grundlegend, sodass insgesamt eine ebenso
umfassende wie fundierte Bestandsaufnahme des Themenfeldes entsteht.
Das Buch gliedert sich in sechs Abschnitte, welche jeweils einen inhaltlichen
Schwerpunkt bilden. Die Beiträge im ersten Abschnitt sollen die inhaltliche Basis
für den Band schaffen, indem sie begriffliche und rechtliche Grundlagen aus
Perspektive der Rassismusforschung wie aus rechtswissenschaftlicher Perspektive
klären. Insgesamt verdeutlicht der Abschnitt, dass Rassismusforschung und
Polizeiforschung in Deutschland bislang wenig miteinander verknüpft sind.
Der Beitrag von Karakayalı arbeitet heraus, dass es in Deutschland an einer
gesellschaftlichen und politischen Anerkennung des Begriffs Rassismus und
der damit in Zusammenhang stehenden Phänomene fehlt. Dies spiegelt sich
auch in der mangelnden Institutionalisierung der kritischen Rassismusforschung
wider. Rassismus kann nach dieser Forschungsrichtung, die gesellschaftliche,
historische und postkoloniale Aspekte berücksichtigt, im Gegensatz zu einer
individuellen Betrachtung als gesellschaftliche Ordnungsstruktur beschrieben
werden, welche Gruppen von Menschen über verschiedene Zuschreibungs-
kriterien homogenisiert. Hierin findet sich auch der Begriff des strukturellen
Rassismus wieder, der nicht von individuellen Einstellungen und Handlungen
ausgeht, sondern annimmt, dass sich Einzelpersonen in gesellschaftlichen
Strukturen bewegen, welche rassistisch sind bzw. wirken. Institutioneller Rassis-
mus stellt dabei eine Analyseperspektive dar, die den Beitrag von Institutionen
4D. Hunold und T. Singelnstein
zur Herstellung oder Aufrechterhaltung von rassistischen Ausschlusskriterien
in den Blick nimmt. Mit dem Beitrag von Atali-Timmer, Fereidooni & Schroth
wird deutlich, dass nur wenige polizeibezogene Forschungen sich in den Kontext
rassismuskritischer Forschung einordnen lassen. Als zentrale Ergebnisse dieser
wenigen Ansätze lässt sich konstatieren, dass Polizei an der Gestaltung von
Gesellschaft aktiv mitwirkt. Hierbei ist sie nicht nur eingebettet in rassistische
gesellschaftliche Strukturen, sondern reproduziert Rassismus auch selbst, indem
sie Menschen über ethnisierende Zuschreibungen mit bestimmten Maßnahmen
belegt.
Barskanmaz richtet den Blick auf die menschenrechtlichen Grundlagen und
zeigt, dass die von Deutschland ratifizierte Antirassismuskonvention rassistische
Diskriminierung legaldefiniert und staatliche Behörden dazu verpflichtet,
rassistische Strukturen und Handlungspraktiken zu beseitigen. Demnach ist eine
Polizeimaßnahme verboten, welche auf den Unterscheidungsmerkmalen Rasse,
Hautfarbe, Abstammung, nationale oder ethnische Herkunft basiert. Hieran
schließen die Empfehlungen der UN-Menschenrechtskonvention an. Ruch dis-
kutiert nationale rechtliche Bestimmungen, die im Themenfeld Rassismus eine
wesentliche Grundlage für die polizeiliche Praxis darstellen. So verbietet es
Art. 3 Abs. 3 des GG der Polizei grundsätzlich, an die Hautfarbe und ähnliche
Merkmale als Anlass für eine Maßnahme anzuknüpfen. Landesdiskriminierungs-
gesetze wie in Berlin greifen das allgemeine Diskriminierungsverbot der Ver-
fassung auf, erweitern es und regeln ggf. Beweiserleichterungen für Kläger:innen.
Der zweite Abschnitt des Bandes befasst sich sowohl mit unterschiedlichen
Formen von Rassismus in der Polizei wie auch mit möglichen Entstehungs-
zusammenhängen dieser verschiedenen Formen. Der Abschnitt verdeutlicht, dass
die bisherige Forschung nur selten Rassismus als Konzept zugrundgelegt hat, und
dass es einer klareren Herausarbeitung der zu erforschenden Dimensionen und
ihrer Wechselwirkungen bedarf (strukturell, institutionell, kulturell, individuell
etc.). Zudem müssen stärker Strukturen und organisationale Ebenen in den Blick
genommen werden.
Wegner & Ellrich werfen die Frage nach den Einstellungen von
Polizeibeamt:innen im Zusammenhang mit Rassismus auf. Hierbei greifen Sie auf
drei Jahrzehnte Polizeiforschung zurück. Ein Großteil der betrachteten Studien
untersucht nicht explizit rassistische Einstellungen, sondern bezieht sich auf die
Konzepte „Ausländerfeindlichkeit“ oder „Fremdenfeindlichkeit“. Des Weiteren
überwiegen qualitative Ansätze zur Untersuchung von Wahrnehmungen und
Einstellungen. Erklärungen für negative Haltungen gegenüber „Fremden“ und
Ausländern betonen häufig die besondere Belastung von Polizeibeamt:innen
sowie negative Kontakterfahrungen mit den betroffenen Personengruppen.
5Einführung
Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, dass der entsprechende Forschungs-
stand nicht nur große Lücken aufweist, sondern auch uneinheitliche Konzeptionen
und Operationalisierungen. Demnach lassen sich bisher keine validen Aussagen
zum Ausmaß rassistischer Einstellungen unter Polizeibeamt:innen treffen. Sie
sprechen sich letztendlich für einen ganzheitlichen Ansatz zur Untersuchung
verschiedener Dimensionen von Ungleichwertigkeitsvorstellungen aus. Kopke
betrachtet explizit Erscheinungsformen von Rechtsextremismus in deutschen
Polizeibehörden. Hierbei zieht er den schon vorhandenen Forschungsstand
heran und kommt dabei zu dem Schluss, dass die meist aus den 1990er Jahren
stammenden Studien vornehmlich innerbehördliche Einstellungen in den Blick
genommen haben. Er spricht sich angesichts der gesellschaftlichen Dimension
von Rassismus für einen genaueren Blick auf den institutionellen Rassismus
aus. Groß, Clasen & Zick ziehen Erkenntnisse aus Studien zum Syndrom der
Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit heran, um anhand dessen Analyse-
und Präventionsmöglichkeiten bezüglich Vorurteilen und Diskriminierungen
im polizeilichen Kontext zu entwickeln. Wesentliche Einflussfaktoren für
Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind danach der Wunsch nach Zugehörig-
keit, nach sozialer Anerkennung, nach Vertrauen, nach einem gemeinsamen
Verständnis von der Welt sowie nach Kontrolle und Einflussnahme (Dominanz-
und Machtbestreben). Eine Pretest-Studie unter Berufseinsteiger:innen sowie
-aufsteiger:innen zeigt in diesem Zusammenhang, dass die Praxis des Polizeivoll-
zugs offenbar autoritäre Haltungen, also das Bedürfnis nach Sicherheit, Macht
und Kontrolle, begünstigen kann. Die Autor:innen entwickeln aufbauend hierauf
fünf Thesen, die sich auf spezifische Elemente der Alltagsroutinen und Berufs-
kultur beziehen, die die Herausbildung autoritärer Haltungen begünstigen können.
Bosch & Thurn greifen die viel diskutierten Begriffe des strukturellen,
institutionellen und individuellen Rassismus mit Fokus auf die Polizei auf, die
in der Polizeiforschung erst in Ansätzen Eingang gefunden haben. Sie kommen
zu dem Schluss, dass institutioneller Rassismus in der Polizei existiert und dieser
von einem strukturellen Rassismus in der Gesellschaft geprägt wird. Zukünftige
Forschungen sollten demnach diese beiden Ebenen des Rassismus stärker in den
Fokus rücken. Auf die Ebenen des Individuums und der Organisation fokussieren
Gutschmidt & Czudnochowski und nehmen mögliche Auswirkungen der beiden
Dimensionen auf rassistische Handlungspraktiken in den Blick. Sie zeigen
u. a. auf, dass Strukturen durch soziale Praxen und weniger durch Regeln oder
Anweisungen begründet sind. Soziale Praxen rekurrieren dabei auch auf gelebte
Kultur und den gemeinsamen Erfahrungsraum unter Kolleg:innen. Die Dialektik
zwischen individuell begründetem Verhalten und dem Einfluss der Organisations-
ebene sollte demnach zukünftig stärker untersucht werden.
6D. Hunold und T. Singelnstein
Mit dem Analysekonzept der Cop Culture diskutiert Behr den Zusammen-
hang von Kultur und Dominanzanspruch. Er identifiziert Cop Culture als
Männlichkeitskultur, deren Praktiken u. a. der Sicherstellung der eigenen Über-
legenheit dienen. Weiter plädiert er für eine intersektionale Betrachtung von
Diskriminierung, da Kontrollpraktiken vor allem Personen betreffen, welche
nicht den Normalitätserwartungen entsprechen. Menschen mit zugeschriebener
Zuwanderungsgeschichte würden ebenso von normativen Vorstellungen
abweichen wie z. B. Wohnungslose, Süchtige und Angehörige bestimmter
Jugendmilieus. Dementsprechend seien Debatten um Rassismus zu eng geführt
und würden den Blick auf andere soziale Kriterien ausblenden, auf die sich dis-
kriminierende Praktiken auch beziehen. Insgesamt seien Diskriminierungs-
praktiken ein Mittel, um die unter Polizist:innen geteilten Ordnungsvorstellungen
sowie das als gefährdet wahrgenommene Überlegenheitsgefühl (wieder-)herzu-
stellen. Schöne analysiert in seinem Beitrag in Anlehnung an Bourdieu Mechanis-
men des Feldes Polizei bezüglich rassistischer Praktiken. Hierzu diskutiert
er verschiedene Feldmerkmale wie z. B. Konservatismus, Hierarchie, Risiko
und Argwohn, welche in anderen Quellen auch als Merkmale von Cop Culture
beschrieben werden. Hiernach können diese Feldmerkmale diskriminierende
Praktiken befördern wie z. B. der Konservatismus, der sich in tradierten Norm-
vorstellungen zeigt und dazu führen kann, dass Personen, die einer ethnischen
Minderheitengruppe zugeordnet werden, ein größeres Misstrauen (oder Argwohn)
entgegengebracht wird. Hunold greift ebenfalls Bourdieus Konzept des Feldes
auf und beschreibt die unterschiedlichen Felder der Schutz- und Kriminalpolizei
sowie die damit assoziierten Handlungslogiken. Sie zeigt, dass diese unterschied-
liche Habitusformen produzieren, die wiederum ungleiche Konstruktionen von
Tatverdächtigen und rassistische Handlungspraktiken hervorbringen. Relevante
Einflussfaktoren sind hier die Feldmerkmale Gefahrenabwehr und Strafver-
folgung. Die Autorin plädiert deshalb für eine stärkere Fokussierung auf die
Unterschiedlichkeit des Gesamtfeldes Polizei bei der Untersuchung von Rassis-
mus.
Der dritte Abschnitt richtet den Blick auf die unterschiedlichen polizeilichen
Tätigkeitsbereiche. Es wird untersucht, welche Rolle welche Formen von Rassis-
mus in den verschiedenen Praxisfeldern der Polizeiarbeit spielen. Der Abschnitt
zeigt, dass dort jeweils rassistische Praktiken nachvollzogen werden können und
dass die polizeiliche Konstruktion von ethnischen Minderheitengruppen eine
wesentliche Rolle zur Erklärung dessen spielt.
Der Beitrag von Herrnkind nimmt die polizeiliche Kernaufgabe der Gefahren-
abwehr umfassend in den Blick. Er geht davon aus, dass sich rassistische
Praktiken nicht nur durch relevante Handlungen materialisieren, sondern auch
7Einführung
durch Unterlassungspraktiken in Kontexten der Gefahrenabwehr. Er analysiert
dies u. a. entlang des Todes von Amadeu Antonio Kiowa und der pogromartigen
Ausschreitungen gegenüber Ausländer:innen in den 1990er Jahren, in welchen
die eingesetzten Polizeikräfte die eskalierende und tödliche Gewalt gegenüber
den Betroffenen nicht unterbunden haben. Im Zusammenhang mit den Pogromen
kann der Autor ein Verantwortungsgeflecht verschiedener Felder wie Politik,
Medien, Bürger:innen und Polizei etc. für die polizeiliche Handlungskonsequenz
des Unterlassens ausmachen, weshalb von einem systemischen Rassismus
ausgegangen werden muss. Belina fokussiert auf rassistische Handlungs-
praktiken, die über soziale Raumkonstruktionen der Polizei zustande kommen.
Danach werden vor allem Räume relevant, welche u. a. aufgrund politischer
oder öffentlicher Interessen in besonderer Weise poliziert werden (z. B. Gen-
trifizierungsgebiete). Dabei werden gesellschaftlich randständige Personen-
gruppen adressiert, deren unerwünschtes Verhalten durch Polizeikontrollen
verhindert werden soll (z. B. Betteln, Drogenkonsum etc.) oder Betroffene, die
sich vermehrt an entsprechenden Orten aufhalten und aufgrund (zugeschriebener)
sozialer Differenzierungskategorien (Ethnie, Klasse, Geschlecht) bestimmten
polizeilichen Vorstellungen von Täter:innen entsprechen. Der Beitrag plädiert für
eine stärker auf quantitative Daten gestützte Forschung in diesem Bereich, um
Kontrollpraktiken von Polizeibeamt:innen noch besser reflektieren zu können.
Niemz und Singelnstein befassen sich mit diskriminierenden Kontroll-
praktiken, wie sie unter dem Begriff des Racial Profiling zusammengefasst
werden. Sie untersuchen Erscheinungsformen und Entstehungszusammenhänge
und stellen den Forschungsstand zum Thema wie auch die vorliegenden Zahlen
zur Bedeutung des Phänomens in Deutschland dar. Ebenso werden Ansätze und
Strategien diskutiert, mit denen Polizei und Gesellschaft der problematischen
Praxis entgegenwirken können. Espín Grau & Klaus gehen der Frage nach,
ob Menschen mit Migrationshintergrund und PoC übermäßige Polizeigewalt
anders erfahren als andere Menschen. Hierbei greifen Sie auf eine Befragung
von Betroffenen sowie Interviews mit Vertreter:innen aus Polizei, Justiz und
Zivilgesellschaft zurück. Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem junge männ-
liche PoC und junge Männer mit Migrationshintergrund in besonderer Weise
von als übermäßig wahrgenommener polizeilicher Gewaltanwendung betroffen
sind. Auch lassen sich stärkere psychische Folgen für als nicht-weiß gelesene
Betroffene identifizieren. In den Interviews mit Polizist:innen finden sich Hin-
weise auf ein spezifisches Erfahrungswissen im Hinblick auf Personen mit
Migrationshintergrund und PoC.
Walburg untersucht in seinem Beitrag die Definitionspraktiken der Polizei im
Kontext Kriminalität und Strafverfolgung. Er betrachtet die möglichen Gründe
8D. Hunold und T. Singelnstein
der höheren Registrierungshäufigkeit von Ausländer:innen im Hellfeld. Diese
kann teilweise durch eine höhere selbstberichtete Delinquenz erklärt werden.
Allerdings kommen hier auch Aspekte der Kriminalisierungsprozesse und
die Rolle der Strafverfolgungsorgane zum Tragen. Der bisherige Forschungs-
stand dazu zeigt, dass die Polizei vor allem Zugang zu Gruppen findet, die sich
in öffentlichen Räumen aufhalten, und dass hier vor allem sozioökonomisch
schlechter Gestellte und Angehörige ethnischer Minderheiten betroffen sind.
Die polizeiliche Verdachtsschöpfung basiert in diesem Zusammenhang mit-
unter auf einem institutionell geteilten Wissen über „Ausländer- und Migranten-
kriminalität“ und kann zu entsprechenden Diskriminierungspraktiken führen.
Püschel adressiert schließlich den polizeilichen Umgang mit Opfern aus Familien
mit Zuwanderungsgeschichte. Entsprechende Studien zeigen u. a., dass solche
Betroffene selbst erlebte Polizeikontakte zu einem nicht unerheblichen Teil als
diskriminierend empfanden. Dies betrifft insbesondere auch Opfer von rechter
Gewalt. Mangelnde Sensibilität und Geringschätzung der Opferwerdung sind
in diesem Zusammenhang häufig berichtete Wahrnehmungen. Gründe für
das entsprechende polizeiliche Handeln liegen vermutlich in der stereotypen
Zuschreibung der Betroffenen als fremd und als nicht der eigenen, schützens-
werten Gruppe zugehörig.
Der vierte Abschnitt richtet den Blick auf die Folgen von Rassismus in der
polizeilichen Praxis, sowohl für die individuell Betroffenen wie auch die ent-
sprechenden Communities und die Gesellschaft insgesamt. Es geht zum einen
darum, wie solche Erfahrungen wahrgenommen und erlebt werden und wie
damit umgegangen wird. Zum anderen werden aber auch langfristige Folgen
thematisiert.
Während sich die bisherigen Beiträge vor allem auf die Organisation selbst
bezogen, geht Thompson strukturellen Formen polizeilichen Rassismus aus
der Betroffenenperspektive nach. Sie arbeitet heraus, dass Racial Profiling
über die eigentliche Situation hinauswirkt, indem die Betroffenen nach-
haltig traumatisiert und stigmatisiert werden. Das Fehlen einer hinreichenden
unabhängigen Beschwerde- und Dokumentationsstruktur erhöht die Hürde für
eine Anzeige durch die Betroffenen und macht den erfolgreichen Ausgang solcher
Verfahren unwahrscheinlicher. Rassistisches Polizieren geht zudem über dis-
kriminierende Kontrollpraktiken hinaus und betrifft das ganze Spektrum polizei-
lichen Handelns bis hin zu letaler Gewalt gegenüber rassifizierten Menschen.
Dokumentationsinitiativen und Unterstützungsstrukturen für Betroffene sind vor
allem zivilgesellschaftlich verankert und tragen wesentlich zur Aufarbeitung und
Thematisierung rassistischer Polizeipraktiken bei. Görgen & Wagner beleuchten
eben diese zivilgesellschaftlichen Organisationen, indem sie deren Arbeitsweisen
9Einführung
darstellen und mit internationalen Ansätzen vergleichen. Nationale Initiativen
beschäftigen sich demnach vor allem mit der Praxis des Racial Profiling und
rassistischer Gewalt, im Gegensatz z. B. zu den USA, wo vor allem Tötungen
von Schwarzen Menschen thematisiert und aufgearbeitet werden. Das Spektrum
hiesiger zivilgesellschaftlicher Strukturen ist sehr groß und reicht von einer
Fokussierung auf polizeiliches Handeln bis hin zu einer breiten Befassung mit
Diskriminierung und Menschenrechtsverstößen sowie Opferberatung. Ins-
gesamt führen zivilgesellschaftliche Initiativen zu einer größeren Sichtbarkeit
diskriminierenden Polizeihandelns, können aber alleine nicht zu einer grund-
legenden Verbesserung beitragen.
Dass polizeilicher Rassismus Legitimität und Vertrauen in die Polizei ein-
schränken kann, zeichnet Abdul-Rahman nach. Auch in Deutschland gibt es
demnach inzwischen Anhaltspunkte für eine Ungleichverteilung von Schutz-
und Kontrollmaßnahmen z. B. in sozial benachteiligten Vierteln, welche sich –
so durch die internationale Forschung vielfach belegt – auf Legitimitätswahr-
nehmungen negativ auswirken kann. In der Konsequenz braucht es mehr
kommunikationsorientierte und transparente Strategien (z. B. Kontrollquittungen)
des Polizierens. Inwiefern Zugehörigkeitsordnungen durch polizeiliche Praxen
produziert werden diskutieren Sabel & Karadeniz. Hierbei gehen sie von einem
strukturellen Rassismus aus, der sich anhand natio-ethno-kultureller Grenz-
ziehung vollzieht. Entsprechende Handlungsrahmungen für die Polizei finden
sich nicht nur in Gesetzen, sondern auch in den die Polizei in Ermessens-
situationen befähigenden Erwartungen der Dominanzgesellschaft, in denen sich
auch Prozesse des otherings wiederfinden, die den vermeintlich natio-ethno-
kulturell „Anderen“ als gefährlich markieren. Die Polizei ist hierbei aber nicht
nur als Reproduzentin gesellschaftlicher Rassismen zu betrachten, sondern
auch als primary definer, indem polizeiliche Deutungen von Kriminalität in die
öffentliche Wahrnehmung getragen werden. Klimke beschreibt die Mechanismen
gesellschaftlicher Fremdheitskonstruktionen und die Rolle der Polizei hierbei
anhand des Konzepts der crimmigration. Damit sind vor allem die Verwoben-
heit von Migration und Kriminalisierung und die damit assoziierten Sicherheits-
probleme für die Gesellschaft angesprochen. Die Antwort hierauf ist in der Regel
eine Sicherheit versprechende Politik, welche die wahrgenommenen Probleme
unterkomplex aufgreift und mit empirisch wenig nachvollziehbaren kriminal-
politischen Maßnahmen oder Gesetzesänderungen bearbeitet. Für polizeiliches
Handeln lässt sich der Prozess der crimmigration anhand der Silvesterereignisse
2015/16 nachvollziehen, wo mittels diskriminierender Sprache Tatverdächtige
und nicht Taten in den Mittelpunkt gerückt wurden.
10 D. Hunold und T. Singelnstein
Im fünften Abschnitt geht es um die Möglichkeiten und Probleme der wissen-
schaftlichen Untersuchung des Themenbereichs Rassismus und Polizei. Dieser
Abschnitt des Buches verdeutlicht, dass Forschung zu Rassismus und Polizei
nicht nur ein eindeutiges Verständnis von Rassismus braucht, sondern auch einen
multiperspektivischen Ansatz, um das Phänomen erfassen zu können.
Kemme & Taefi stellen die methodischen Zugänge der bisherigen Forschung
dar und unterbreiten anschließend Ideen für zukünftige Forschungsansätze.
Sie arbeiten heraus, dass die meisten älteren Studien „fremdenfeindliche“ Ein-
stellungen und Belastungen im Arbeitsalltag mittels vor allem quantitativer
Methoden untersuchen, während strukturelle Ansätze eher außer Acht gelassen
wurden. Ein zweiter, jüngerer Forschungsstrang nimmt mittels qualitativer
Designs – hier vor allem Ethnografien – Alltagsroutinen und die Interaktions-
ebene zwischen Polizei und Menschen mit Zuwanderungsbiografie in den
Blick. Zur Abbildung der Handlungsebene wie z. B. rechtswidriger Gewalt-
anwendung gibt es hierzulande erst wenige Ansätze, die selten repräsentative
Ergebnisse liefern und quasi-experimentelle Designs, wie sie z. B. in den USA
bereits durchgeführt wurden, außen vor lassen. Zukünftige Forschung sollte
stärker hypothesengeleitete Einstellungserhebungen, indirekte Messverfahren
von rassistischen Einstellungen sowie Ethnografien durchführen, die multi-
dimensional auf Einstellungen, Kultur und Handlungspraktiken zielen. Heitmeyer
führt den Gedanken der hypothesengeleiteten und multiperspektivischen
Forschung fort und diskutiert die verschiedenen Abschottungs- und Abwehr-
mechanismen, welche dazu führen, dass das Forschungsfeld Polizei weitgehend
verschlossen bleibt. Im Sinne eines hypothesengeleiteten Vorgehens sollte
vier Hypothesen nachgegangen werden: der Selektivitätshypothese (Wer geht
zur Polizei?), der Sozialisationshypothese (Welche Mechanismen führen zu
problematischem Polizeihandeln?), die Institutionenhypothese (Welche Gelegen-
heitsstrukturen für rechte Strukturen gibt es?) und die Normalisierungshypothese
(Wie wirkt die gesellschaftliche Rechtsentwicklungen auf die Organisation?).
Hierfür sollte ein multi-methodisches und mehrdimensionales Forschungsdesign
gewählt werden.
Pichl geht der Frage nach, was die hiesige von der internationalen Forschung
lernen kann. Es zeigt sich, dass internationale Erkenntnisse viel stärker auf
einem Verständnis von institutionellem Rassismus basieren und herrschafts-
kritische Ansätze mit einbeziehen. Weiterhin ist die Polizei- und Rassismus-
forschung in anderen Ländern stärker miteinander verwoben. Auch werden
quantitative Daten zu Polizeikontrollen für Forschende zur Verfügung gestellt
und ist das Forschungsfeld Polizei weniger verschlossen, sodass qualitative
Ansätze weiter verbreitet sind. Insgesamt werden rassistische Strukturen und
11Einführung
Praktiken in anderen Ländern viel selbstverständlicher untersucht und benannt.
Eine historische Perspektive nimmt schließlich Weinhauer ein. Demnach
bietet die Kultur der Polizei eine gute Basis für interdisziplinäre, längerfristig
angelegte und transnationale Forschungsansätze, die an ein kritisches Konzept
des institutionellen Rassismus anknüpfen. Dabei ist davon auszugehen, dass
Strukturen im Sinne von Praxen historisch gewachsen sind und auch als solche
analysiert werden müssen.
Der abschließende sechste Abschnitt erörtert, welche Möglichkeiten des
Umgangs es mit dem Problem gibt. Dabei werden jeweils Formen, Potenzial
und Grenzen der verschiedenen Instrumente ausgelotet. Die Beiträge
konzentrieren sich auf die Auswahl sowie Aus- und Fortbildung des Personals
und die Entwicklung der Polizeikultur. Sie machen deutlich, dass es verschiedene
Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen der Organisation braucht. Es reicht
nicht aus, eine diversere Belegschaft zu rekrutieren.
Der Beitrag von Nettelnstroth & Binder thematisiert die Personalauswahl
als wichtiges Instrument zur Vermeidung unerwünschter Verhaltensweisen.
Ein kürzlich durchgeführtes empirisches Projekt, das u. a. der Frage nach-
geht, welche Auswahlverfahren den Erfolg im Studium und Polizeivollzug am
besten vorhersagen und wie unerwünschtes, u. a. rassistisches Verhalten bei
den Bewerber:innen identifiziert werden kann, kommt zu dem Schluss, dass
verschiedene personale Merkmale im Gegensatz zu situativen Merkmalen im
Polizeialltag relevante Einflussgrößen darstellen. Die Erkenntnisse entsprechen
insgesamt dem nationalen und internationalen Forschungsstand und zeigen,
dass bei der Auswahl zukünftiger Polizeibeamt:innen stärker auf prognostische
Instrumente unerwünschten Verhaltens zurückgegriffen werden muss. Schulz
nimmt die Vermittlung transkultureller Kompetenz im Rahmen der Aus- und Fort-
bildung in den Blick. Entsprechende Ansätze bieten vielversprechende Ausgangs-
punkte für die Bearbeitung von Rassismus in der Aus- und Fortbildung, führen
jedoch bis dato eher ein Nischendasein und haben kritikwürdige Konzepte der
interkulturellen Kompetenz noch nicht abgelöst.
Die Bedeutung des oftmals als grundlegende Lösung präsentierten Ansatzes
der Diversifizierung des Polizeipersonals wird von Ellebrecht kritisch betrachtet.
Danach führt die Diversifizierung nicht automatisch zu einer Verminderung
von Diskriminierungspraktiken, dagegen ruft mehr Diversität eher Irritationen
im Binnenverhältnis hervor. Behrendes wirft einen Blick auf die historische
Entwicklung von Polizeikultur und deren Relevanz für rassistische und dis-
kriminierende Polizeipraktiken. In der Gesamtschau zeigt sich, dass die deutsche
Polizei sich über Jahrzehnte zu einer bürger:innenorientierten Polizei entwickelt
hat. Allerdings fehlen institutionell verankerte Instrumente für eine frühzeitige
12 D. Hunold und T. Singelnstein
Identifizierung und Bearbeitung von rassistischen Einstellungen und Praktiken.
Aden & Bosch schließlich thematisieren externe Möglichkeiten polizeilicher
Kontrolle, um Rassismus und Diskriminierung durch die Polizei zu verhindern
bzw. zu bearbeiten. Es zeigt sich, dass z. B. unabhängige Beschwerdestellen
nur dann erfolgreich sein können, wenn diese mit umfassenden Ermittlungsbe-
fugnissen und qualifiziertem Personal ausgestattet sind sowie auch für wenig
beschwerdemächtige Personengruppen niedrigschwellig zugänglich sind. Dieser
Zustand ist hierzulande nicht erreicht.
Prof. Dr. Daniela Hunold ist Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Empirische
Polizeiforschung an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Sie forscht zu den
Themen Polizei in der Einwanderungsgesellschaft, Raumsoziologie und Konstruktion des
Raums durch Institutionen der sozialen Kontrolle sowie raumorientierte Kriminologie.
Prof. Dr. Tobias Singelnstein war Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Ruhr-
Universität Bochum. Seit April 2022 ist er Professor für Kriminologie und Strafrecht am
Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seine Arbeits-
schwerpunkte liegen in der Kriminologie (u. a. soziale Kontrolle und Gesellschaft, Polizei
und Justiz, Sicherheitsforschung) sowie im Strafrecht und Strafprozessrecht.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 Inter-
national Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche
die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem
Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle
ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben,
ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen eben-
falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
willigung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Grundlagen
Die Beiträge im ersten Abschnitt sollen die inhaltliche Basis für den Band
schaffen, indem sie grundlegende begriffliche und rechtliche Fragen klären und
das Thema aus Perspektive der Rassismusforschung beleuchten.
15
Kritische Rassismusforschung:
Theorien, Konzepte, zentrale Befunde
Juliane Karakayalı
Zusammenfassung
Rassismus ist in Deutschland noch immer ein umkämpfter Begriff. Während
antirassistische Initiativen, migrantische Verbände und Wissenschaftler:innen
seit Jahrzehnten seine Existenz und Effekte nachweisen, beginnt gerade
erst eine breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus. Der
Beitrag reagiert auf dieses Unpassungsverhältnis mit einer Einführung in
grundlegende Theorien der kritischen Rassismusforschung und bietet einen
Überblick über zentrale Konzepte und Befunde mit Relevanz für den Kontext
Polizei. Dazu gehört, Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis vorzustellen,
Rassismen voneinander zu unterscheiden sowie institutionellen Rassismus zu
erläutern.
Schlüsselwörter
Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis · Rassismen · Institutioneller
Rassismus
© Der/die Autor(en) 2022
D. Hunold und T. Singelnstein (Hrsg.), Rassismus in der Polizei,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37133-3_2
J. Karakayalı (*)
Evangelische Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: karakayali@eh-berlin.de
16 J. Karakayalı
1 Einleitung oder: Der erfolgreiche Kampf um die
Anerkennung der Tatsache des Rassismus
Als Bundesinnenminister Horst Seehofer im Juli 2020 erklärte, er werde keine
Studie zu institutionellem Rassismus in der Polizei in Auftrag geben, war die
Empörung migrantischer und antirassistischer Initiativen und Vereine sowie
kritischer Wissenschaftler:innen groß. Denn diese Absage wirkte wie eine
unmissverständliche Machtdemonstration, das Offensichtliche einfach nicht
zur Kenntnis nehmen zu können. Und doch muss diese Absage als Erfolg der
unermüdlichen Arbeit eben dieser Initiativen und Akteur:innen gewertet werden,
denn dass ein Bundesinnenminister den Begriff des institutionellen Rassis-
mus verwendet und sich öffentlich rechtfertigen muss, warum er diesen nicht
untersuchen lassen möchte, wäre vor Kurzem noch undenkbar gewesen. Jahr-
zehntelang standen nur die Begriffe Ausländer- oder Fremdenfeindlichkeit zur
Verfügung, mit denen sich zwar Einstellungen, nicht aber Strukturen benennen
ließen und die schlichtweg falsch sind, suggerieren sie doch, Rassismus würde
nur Menschen betreffen, die keinen deutschen Pass besitzen. Mit der Nicht-Ver-
wendung des Begriffs war auch eine gesamtgesellschaftliche Nicht-Anerkennung
rassistischer Ausschlüsse verbunden.
Dass es nun möglich ist, über Rassismus zu sprechen, hat auch mit der
zunehmenden Diversifizierung der Gesellschaft zu tun. 2019 hatten bereits 37 %
der unter 18-Jährigen, die in Deutschland leben, einen sogenannten Migrations-
hintergrund. Mehrsprachigkeit, Mehrfachzugehörigkeit, internationale Bezüge,
religiöse und kulturelle Diversität werden immer mehr zur Alltagsrealität Aller –
auch derer, die diese Bezüge selbst nicht haben. In dieser „postmigrantischen
Gesellschaft“1 finden diejenigen, die rassistische Ausschlüsse erleben, immer
mehr Möglichkeiten, diese zu thematisieren, zu kritisieren und dagegen vorzu-
gehen. Der folgende Beitrag gibt einen – notwendigerweise unvollständigen –
Einblick in die Entwicklungen der Rassismusforschung, die Theorie des Rassis-
mus als gesellschaftlichem Verhältnis sowie insbesondere den institutionellen
Rassismus.
1 Foroutan et al. (2017).
17Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
2 Rassismusforschung in Deutschland
Die jahrzehntelange Verweigerung, Rassismus anzuerkennen, spiegelt sich
auch in der Forschung wider und wirkt sich nach wie vor in einem Mangel an
empirisch gesättigter, kritischer Rassismusforschung aus. Nach wie vor handelt
es sich um ein umstrittenes Forschungsfeld, dem angemessene öffentliche
Förderung ebenso fehlt wie entsprechende Denominationen von Professuren,
auch hat sich in keiner Fachgesellschaft bisher eine Sektion Rassismusforschung
etablieren können.2 Trotz dieses Mangels an Institutionalisierung lässt sich ab
Mitte der 1980er Jahre eine Zunahme an rassismuskritischer Forschung fest-
stellen.3 Diese Forschungen sind u. a. maßgeblich Migrant:innen und Schwarzen
Deutschen zu verdanken, die als Wissenschaftler:innen Rassismus zum
Forschungsgegenstand machten. Seit diesen Anfängen hat sich die Rassismus-
forschung deutlich verbreitert, wenn auch aufgrund des Mangels an öffentlicher
Förderung die meisten Untersuchungen eher klein angelegt sind.4
Das hat auch etwas mit einem Defizit in der Datenerhebung zu tun. Anhand
allgemeiner statistischer Daten wie z. B. dem Mikrozensus, der Schul-
statistik oder der Arbeitsmarktstatistik lassen sich nur bedingt Aussagen zu
rassistischer Diskriminierung treffen.5 Denn hier werden zwar die Staats-
angehörigkeit und/oder der Migrationshintergrund abgebildet. Diese Kate-
gorien lassen aber nur bedingt Rückschlüsse auf rassistische Ausgrenzungen
zu. Der Rassismus gegenüber Schwarzen Deutschen, Muslim:innen, Sinti:zze
und Rom:nja oder auch Antisemitismus bleiben dabei weitgehend unsicht-
bar.6 Einige Wissenschaftler:innen plädieren darum dafür, sogenannte equality
data zu erheben. Diese ermöglichen Befragten anzugeben, aufgrund welcher
Zuschreibungen sie rassistische Diskriminierung erfahren – unabhängig davon,
ob diese auf sie zutreffen.7 Damit stehen die rassistischen Zuschreibungen und
deren Effekte im Zentrum der Analyse.
2 Vgl. Karakayalı et al. (2017).
3 Zu den frühen Arbeiten zählen Jäger und Jäger (1991); Kalpaka und Räthzel (1986);
Mecheril (1995); Oguntoye et al. (1986); Rommelspacher (1995); Terkessidis (1998).
4 Für einen Überblick vgl. Fereidooni und El (2017).
5 Kemper und Supik (2020).
6 Tatsächlich sind auch hier Statistiken oft kaum vergleichbar, weil Definitionen des
Migrationshintergrunds variieren oder Statistiken unterschiedliche Merkmale abfragen. Für
das Beispiel der Schulstatistik vgl. Kemper und Supik (2020).
7 Vgl. Aikens und Supik (2018).
18 J. Karakayalı
3 Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis
Die kritische Rassismusforschung, die in diesem Beitrag rezipiert wird, konzipiert
Rassismus als eine Analyseperspektive. Rassismus wird als ein gesellschaftliches
Verhältnis verstanden, das sich auf allen Ebenen wiederfinden lässt: in Symbolen,
in behördlichen Verfahrensweisen, in der Sprache, in Interaktionen etc.8 Rassis-
mus lässt sich also nicht auf eine individuelle negative Einstellung beschränken,
sondern stellt eine Ordnungsstruktur dar und ist somit in die Gesellschaft als
Ganzes eingeschrieben. Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das
Menschen anhand verschiedener möglicher Merkmale als Gruppen konstruiert9,
denen in homogenisierender und essenzialisierender Weise (zumeist negativ
konnotierte) Verhaltensweisen, Werte oder Eigenschaften zugeschrieben werden
und denen aufgrund dieser Zuschreibungen der Zugang zu materiellen, sozialen
und symbolischen Ressourcen behindert, limitiert oder vorenthalten wird).10
Merkmale, an denen sich der Rassismus festmacht, sind dabei höchst variabel:
Es kann sich um die Hautfarbe handeln, ein Merkmal, das als Hinweis auf eine
nicht-deutsche Herkunft interpretiert wird, wie ein Name, oder auch ein religiöses
Symbol wie das Kopftuch. Rassismus macht sich also nicht zwingend an körper-
lichen Merkmalen fest, sondern schließt von einem fast beliebigen Merkmal auf
eine unveränderliche Andersartigkeit des Gegenübers. Insofern kann auch ein
Kopftuch, das auf- und abgesetzt werden kann (und im Laufe des Tages ja auch
wird) rassistische Ausschlüsse nach sich ziehen.11
Der Begriff der „natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ reflektiert den
empirischen Befund, dass Vorstellungen über Nationalität, Hautfarbe, Religions-
zugehörigkeit oder die vermutete „Kultur“ zumeist verschmelzen und bei
8 Vgl. Hall (1990).
9 Die Konstituierung als Gruppe über ein Merkmal erfolgt unter Ausblendung aller
sonstigen sozialen Merkmale wie soziale Lage, Alter, Geschlecht, Wohnort, politische Ein-
stellung, religiöse Praxis etc.
10 Vgl. z. B. Bojadžijev (2009); Hall (1990); Kalpaka und Räthzel (2017). Häufig besteht
Unsicherheit über den Unterschied zwischen Rassismus und Diskriminierung: Rassismus
ist als ein Ungleichheitsverhältnis immer diskriminierend. Diskriminierung muss aber
nicht immer rassistisch sein, sondern kann sich auch auf andere Merkmale beziehen. Das
Antidiskriminierungsrecht erkennt Geschlecht, sexuelle Identität, sexuelle Orientierung,
ethnische Herkunft oder rassistische Gründe, Geschlecht, Religion und Weltanschauung,
Behinderung, Alter und sexuelle Identität als diskriminierungsrelevant an (vgl. AGG).
11 Vgl. zum Begriff des kulturellen Rassismus Balibar (1990).
19Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
der Konstruktion von Gruppen nicht voneinander zu unterscheiden sind.12
Dies zeigen auch Studien, denen zufolge angehende Lehrkräfte die Klassen-
arbeiten von Schüler:innen mit türkischen Namen schlechter bewerten als die
von Schüler:innen mit deutsch klingenden Namen.13 In der Bundesverwaltung
sind Menschen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert und für ihre
Beschäftigungspositionen überqualifiziert.14 Lehrerinnen, die ihre Religions-
zugehörigkeit über ein muslimisches Kopftuch ausdrücken, sind in einigen
Bundesländern vom Schuldienst ausgeschlossen, während das Tragen christ-
licher Symbole erlaubt ist.15 Schwarze Menschen werden überdurchschnittlich
häufig Opfer von racial profiling16 und polizeilicher Gewalt17. Diese Ausschlüsse
erfolgen, weil die sehr unterschiedlichen Merkmale jeweils mit unveränderlichen,
abgewerteten Eigenschaften in Verbindung gebracht werden: weniger klug oder
kompetent zu sein, aufgrund der muslimischen Religionszugehörigkeit staatliche
Neutralität nicht vertreten zu können oder kriminell zu sein.
Diese Zuschreibungen werden nicht individuell von Lehrer:innen,
Arbeitgeber:innen, Schulleiter:innen oder Polizist:innen „erfunden“, sondern
sie haben zumeist eine im Kolonialismus gründende Geschichte18, wobei für
Deutschland festzuhalten ist, dass sich diese koloniale Geschichte auch auf
Osteuropa bezieht.19 Denn Rassismus entsteht nicht aufgrund von Fremdheit
oder Differenz, sondern die Geschichte des Rassismus ist die Geschichte der
Legitimation der Abwertung von Menschen, um sie systematisch und in großem
Stil ausbeuten, enteignen und vertreiben zu können.20 Der Aspekt der Aus-
beutung ist auch im Rassismus der Gegenwart relevant: Indem Menschen in ihren
Rechten eingeschränkt oder von gesellschaftlichen Bereichen ausgeschlossen
12 Vgl. Mecheril (2003).
13 Vgl. Bonefeld und Dickhäuser (2018).
14 Ette et al. (2020).
15 Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (o. J.)
16 Vgl. Hunold und Wegener (2020); Niemz und Singelnstein in diesem Band; Thompson in
diesem Band.
17 Vgl. Derin und Singelnstein (2020), S. 129; Abdul-Rahman et al. (2020); Espín Grau und
Klaus in diesem Band.
18 Antisemitismus und Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja gründen nicht im
Kolonialismus, siehe unten.
19 Vgl. Terkessidis (2019).
20 Vgl. Allen (1998).
20 J. Karakayalı
werden, sind sie auf gefährliche, schwere, schlecht bezahlte und informelle
Bereiche des Arbeitsmarktes angewiesen.21 Rassismus schließt Menschen
also in der Regel nicht völlig aus der Gesellschaft aus, sondern führt zu einer
Form der differenzierten Inklusion.22 Rassistische Ausschlüsse sind häufig mit
anderen Machtverhältnissen wie Geschlecht oder Klasse verbunden, sie sind
intersektional.23
Und die Zuschreibungen sind immer relational. Das in der postkolonialen
Theorie entstandene Konzept des Othering24 beschreibt Prozesse, in denen
Gruppen diskursiv, symbolisch sowie durch soziale Praxen als komplementär
unterschiedliche „Andere“ erzeugt und festgeschrieben und einem „Wir“ gegen-
übergestellt werden.25 In diese Konstruktionen des Anderen ist dabei zum Teil
auch ein Begehren eingeschrieben, das sich in scheinbar positiv konnotierten
essenzialisierenden Zuschreibungen (wie Naturverbundenheit oder Familien-
sinn) ausdrückt, die aber in der Gegenüberstellung zumeist als defizitär oder
vormodern abgewertet werden.26 Aus dieser Perspektive leitet die kritische
Weißseinsforschung ab, nicht nur die rassistischen Konstruktionen oder die
rassistisch Ausgeschlossenen zum Gegenstand der Analyse zu machen, sondern
besonders die durch den Rassismus Privilegierten in den Blick zu nehmen und die
Konstruktion von „weiß“-sein zum Gegenstand der Analyse zu machen.27
3.1 Rassismus als individuelle Einstellung?
Rassismus ist somit nicht in erster Linie eine Frage der individuellen Einstellung,
sondern eine gesellschaftliche Struktur, die sich auf allen gesellschaftlichen
Ebenen wiederfindet. Dies spiegelt auch der Begriff des strukturellen Rassis-
mus wider. Auch Menschen, die für sich selbst reklamieren, nicht rassistisch ein-
gestellt zu sein, bewegen sich in einer rassistischen Gesellschaft. Darum geht die
21 Vgl. für die Anwerbung von Arbeitsmigrant:innen in Deutschland Karakayalı (2008).
22 Vgl. Bodemann und Yurdakul (2010).
23 Vgl. Crenshaw (1991); Lutz et al. (2010).
24 Vgl. Said (1978).
25 Hall (1989).
26 Hall (1990), S. 15; vgl. auch den „Romantischen Rassismus“ bei Hund (2014).
27 Vgl. Arndt und Ofuatey-Alazard (2011).
21Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
Behauptung, selbst „farbenblind“ zu sein, also individuell keine Unterschiede
zwischen Hautfarben, Herkunft oder Religion zu machen, am Problem vorbei.28
Gleichwohl sind auch individuelle rassistische Einstellungen Gegenstand der
Forschung, und zwar insbesondere in den regelmäßigen und breit rezipierten
Einstellungsforschungen. Allerdings liegt diesen ein anderes Verständnis von
Rassismus zugrunde als diesem Beitrag. So misst die Leipziger Autoritarismus-
Studie29 nur „Fremdenfeindlichkeit“ und die Mitte-Studie30 unterscheidet bei den
Einstellungen zwischen Rassismus (7,2 %), Fremdenfeindlichkeit (18,8 %) und
klassischem Antisemitismus (5,8 %) – die im Vergleich zur Studie von 2016 leicht
gesunken sind – und Zustimmung zu Israelbezogenem Antisemitismus (24,2 %),
antimuslimischem Rassismus (18,7 %) und der Abwertung von Sinti:zze und
Rom:nja (25,8 %) – die im Vergleich zu 2016 leicht gestiegen sind – sowie der
Abwertung asylsuchender Menschen, die mit 54,1 % gegenüber 2016 stark
gestiegen ist.31
Zur Frage, wie rassistische Einstellungen entstehen32, sind viele gesellschaft-
lich verbreitete Annahmen bereits empirisch widerlegt, so z. B. die weit ver-
breitete These, dass Rassismus durch einen Mangel an Bildung oder „Aufklärung“
entstehe oder automatisch mit Armut einhergehe.33 Sozialpsychologische Ansätze
verstehen Rassismus als eine Möglichkeit, sich durch die Benennung eines
Sündenbocks in einer gesellschaftlichen Situation, auf die man selbst wenig
Einfluss hat, handlungsfähig zu fühlen.34 Kulturwissenschaftliche Ansätze
in marxistischer Tradition heben hervor, dass rassistische Einstellungen die
28 Vgl. Lentin und Titley (2011).
29 Vgl. z. B. Decker und Brähler (2020).
30 Zick et al. (2018).
31 Alle Zahlen vgl. ebd. S. 3 f. Beide Studien messen indes Unterschiedliches: Die
Autoritarismusstudie fragt nur die etwas antiquiert anmutende Kategorie der „Fremden-
feindlichkeit“ ab, die Mitte-Studie unterscheidet zwischen Rassismus (z. B. „die Weißen
sind zurecht führend in der Welt.“), Fremdenfeindlichkeit (z. B. „es leben zu viele Aus-
länder in Deutschland.“), Muslimfeindlichkeit (z. B. „Muslimen sollte die Zuwanderung
nach Deutschland untersagt werden.“), Abwertung von Sinti:zze und Rom:nja (z. B. „Sinti
und Roma neigen zur Kriminalität.“), und Abwertung von asylsuchenden Menschen (z. B.
„Die meisten Asylbewerber werden in ihrem Heimatland gar nicht verfolgt.“), vgl. Zick
et al. (2016), S. 44; siehe auch Clasen, Groß und Zick in diesem Band.
32 Vgl. dazu Teil B in diesem Band.
33 Vgl. Zick et al. (2018).
34 Z.B. Kalpacka und Räthzel (2017).
22 J. Karakayalı
hegemoniale Position einer Gruppe gegenüber einer anderen legitimiert. Rassis-
mus verschafft Einigen privilegierten Zugang zu im Kapitalismus verknappten
Ressourcen, sei es auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt oder im Bildungs-
bereich. Insofern ist Rassismus vielfältig funktional.35
Zu einer Beschäftigung mit Rassismus in seiner individuellen Dimension
gehört auch die Thematisierung der physischen und psychischen Folgen der
Erfahrung von Rassismus.36 Internationale Studien zeigen, dass der mit Rassis-
mus verbundene Stress, der durch Mikroaggressionen, aber auch durch sozial-
ökonomische Benachteiligungen entsteht, die Wahrscheinlichkeit erhöht,
stressassoziierte Belastungsreaktionen wie z. B. Depressionen auszubilden oder
an schweren Störungen wie Schizophrenie oder Psychosen zu erkranken und auch
Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt.37 Der sogenannte stereotype threat trägt
dazu bei, dass rassistisch Diskriminierte aus Angst vor einer Diskriminierung
schlechtere Leistungen erbringen.38
3.2 Rassismus oder Rassismen?
Seit längerem besteht in der Forschung die Tendenz, von Rassismen statt von
Rassismus zu sprechen, um die Unterschiedlichkeit der Ausschlüsse und ihre
historische Gewordenheit angemessen zu reflektieren. In der deutschen Debatte
finden sich insbesondere Untersuchungen, die spezifisch anti-Schwarzen Rassis-
mus39, antimuslimischen Rassismus40, Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja41,
antiasiatischen Rassismus42 sowie Antisemitismus43 fokussieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich diese Rassismen in ihrer Struktur
ähneln. Allerdings unterscheiden sich die konkreten Ausgestaltungen der Wir-Sie-
Konstruktionen, da sie auf unterschiedliche (Kolonial-)Geschichten zurückgehen.
35 Siehe oben und z. B. Hall (1990); für die Polizei vgl. Teil C in diesem Band.
36 Vgl. Fanon (1980).
37 Vgl. Kluge et al. (2020); Yeboah (2017). Gleichzeitig werden gerade rassistisch Dis-
kriminierte besonders wenig in der Gesundheitsversorgung berücksichtigt.
38 Vgl. Tatum (2017).
39 Auma et al. (2018).
40 Shoomann (2014).
41 Jonuz (2009).
42 Suda et al. (2020).
43 Vgl. Benz (2004).
23Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
Dementsprechend unterschiedlich können auch die gesellschaftlichen Aus-
schlüsse gestaltet sein, die Menschen aufgrund dieser Konstruktionen erfahren.
Kolonial tradierte Zuschreibungen, Diskurse und Ausgrenzungspraxen ver-
binden und aktualisieren sich dabei im Kontext gegenwärtiger Politik. So haben
die Terroranschläge des 11. September 2001 in vielen „westlichen“44 Ländern
der Welt zu einem Aufschwung des antimuslimischen Rassismus geführt, indem
koloniale Stereotype aufgerufen wurden, nach denen der Islam an sich archaisch,
gewaltvoll, antidemokratisch und irrational sei.45 Mit dieser Interpretation wurden
auch militärische Interventionen wie der „War on Terror“ gerechtfertigt. In
Deutschland fielen die Anschläge des 11. September und die anschließende Welle
des antimuslimischen Rassismus zeitlich mit der Liberalisierung des Staats-
angehörigkeitsrechts zusammen, die Migrant:innen die Einbürgerung erlaubte.
In der Folge wurde die größte Einwanderer:innengruppe – Migrant:innen aus der
Türkei – nicht mehr als Ausländer:innen, sondern durch einen antimuslimischen
Rassismus gesellschaftlich ausgeschlossen, der ihnen pauschal und ebenfalls auf-
grund kolonialer Stereotype patriarchale Familienstrukturen und Demokratie-
feindlichkeit unterstellte.46
Die Unterscheidung von verschiedenen Rassismen ist wichtig, weil ansonsten
Ausschlüsse (von Ungleichbehandlungen bis zu Gewalttaten) unter Umständen
gar nicht als rassistisch und damit durch eine gesellschaftliche Struktur
bedingt analysiert werden können. So wurden beispielsweise die Morde, die
ein Attentäter im Februar 2021 in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia an
Beschäftigten in drei Massagesalons verübte, zunächst als individueller Amoklauf
eingeordnet und erst im Nachhinein als Ausdruck eines gesellschaftlichen anti-
asiatischen Rassismus.47
Antisemitismus und Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja können in mehr-
facher Hinsicht von anderen Formen des Rassismus unterschieden werden, denn
beide lassen sich nicht auf den Kolonialismus zurückführen. In aller Kürze sei
hier darauf verwiesen, dass der Antisemitismus älter ist als der Kolonialismus
und mit der Abspaltung des Christentums entstand. Der moderne Antisemitis-
mus projiziert Probleme und Widersprüche der Moderne auf Jüd:innen, indem
44 Hall (1990).
45 Vgl. Ahmed (2012).
46 Vgl. Karakayalı (2019); Tsianos (2015).
47 Vgl. Nguyen (2021).
24 J. Karakayalı
sie als übermächtig imaginiert werden.48 Das Ziel des Antisemitismus ist die
Vernichtung jüdischen Lebens. Zudem werden Jüd:innen im Antisemitismus als
nicht-sesshaft imaginiert und als das „Andere“ innerhalb der Nation. Hier findet
sich eine Ähnlichkeit zum Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja, dessen
Kern ebenfalls das Ressentiment gegen Nicht-Sesshaftigkeit und der damit ver-
bundenen Verdächtigung einer transnationalen Orientierung statt einer nationalen
Verbundenheit bildet.49 Auch imaginiert der Antisemitismus genauso wie der
Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja die vermeintlich Anderen als von den
Zurichtungen des Zwangs zur Arbeit befreit:
„Juden und Jüdinnen wird so unterstellt, nicht zu ‚schaffen‘, sondern zu ‚raffen‘,
und machtvoll hinter den Zumutungen des Kapitalismus zu stecken bzw. von
ihnen zu profitieren. Sinti*zze und Rom*nja wiederum wird unterstellt, sich durch
Kriminalität ein gutes Leben in Faulheit zu erschleichen.“50
3.3 Institutioneller Rassismus
Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis zu verstehen bedeutet auch,
den Beitrag von Institutionen zu diesem Verhältnis in den Blick zu nehmen.51
Der vielzitierte MacPhershon Report definiert institutionellen Rassismus wie
folgt: „The collective failure of an organisation to provide an appropriate
and professional service to people because of their colour, culture, or ethnic
origin.“52 Institutioneller Rassismus ist ein Begriff, der im Kontext der Black
Power Bewegung in den 1960er Jahren von den Theoretikern und Aktivisten
Stokely Carmichael und Charles Hamilton in den USA entwickelt wurde.53 Sie
beschreiben damit eine Form des Rassismus, die nicht direkt von Individuen
ausgeht, sondern die subtiler wirkt und weniger sichtbar ist, die aber sicht-
49 End (2011).
50 Goldenbogen und Kleinmann (2021), S. 33.
51 Vgl. Bosch und Thurn in diesem Band.
52 MacPhershon (1999).
53 Vgl. Carmichael und Hamilton (1969).
48 Vgl. Horkheiner und Adorno (2006); Postone (2005). Man denke nur an die
Demonstrationen von Coronaleugner:innen während der Pandemie, auf denen vielfältige
antisemitische Äußerungen getätigt und Symbole gezeigt wurden, vgl. Virchow und
Häusler (2020).
25Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
bare Ungleichheiten hervorbringt: beispielsweise eine höhere Sterblichkeit von
Schwarzen Menschen in den USA oder einen geringeren Bildungserfolg von
Schüler:innen mit Migrationshintergrund in Deutschland.
Institutioneller Rassismus ist eine Analyseperspektive, die versucht, den Bei-
trag von Institutionen (z. B. Schule, Gesundheitsamt, Polizei) zur Herstellung
rassistischer Verhältnisse zu klären. Da der Rassismus tief in die Gesellschaft
eingelassen ist, ist auch davon auszugehen, dass er sich überall in Institutionen
findet – solange nichts aktiv dagegen unternommen wird.54 Unter direkter
institutioneller Diskriminierung wird die formal abgesicherte Ungleichbe-
handlung von Menschen, die rassistisch markiert sind, verstanden. Dazu gehört
z. B., dass Ärzt:innen, die dem muslimischen Glauben angehören, nicht in
katholischen Krankenhäusern beschäftigt werden. Daneben bestehen indirekte
Formen der institutionellen Diskriminierung, die häufig schwieriger nachzuvoll-
ziehen sind, weil sie das Produkt des Zusammenwirkens von Regeln, Gesetzen,
Normen, Vorgaben, professionellem und Alltagswissen sowie Routinen und Ent-
scheidungen, die im Sinne von Organisationsinteressen ausgelegt und umgesetzt
werden, sind.
Bei der Betrachtung von institutionellem Rassismus steht nicht individuelles
rassistisches Verhalten der in einer Organisation handelnden Akteur:innen im
Vordergrund der Betrachtung (obgleich ein solches nicht ausgeschlossen ist),
sondern Regeln und Routinen, mit denen die Organisationen den an sie gestellten
Aufgaben nachkommen. Das Bundeskriminalamt beispielsweise unterscheidet
„Clankriminalität“ – ein Begriff, der nur auf muslimische Täter:innen (verschiedener
Herkunft) angewandt wird – von anderen Formen der organisierten Kriminali-
tät und beschreibt die Täter:innen als „ethnisch-abgeschottete Subkulturen“ mit
einer „eigenen Werteordnung“, nämlich „patriarchalisch-hierarchischer Familien-
struktur“ und „mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen
Konzentration“.55 Diese Ansammlung von rassistischen Stereotypen – die Verbindung
von Kriminalität und Abstammung, das „Ghetto“ und die Parallelgesellschaft – kann
als eine polizeiliche Institutionalisierung von antimuslimischem Rassismus ver-
standen werden. Dieser ist für die Behörde insofern funktional, als mit dem Aufrufen
54 Vgl. Hormel (2009).
55 Vgl. Bundeskriminalamt (2019), S. 30. Diese Definition ist empirisch nicht halt-
bar, wie kriminologische Untersuchungen aufzeigen, weil in den meisten Fällen von
„Clankriminalität“ Menschen ohne Verwandtschaftsbeziehungen und unterschiedlicher
Nationalitäten zusammenarbeiten (vgl. Reinhardt 2021). „Clankriminalität“ stellt einen ver-
gleichsweise kleinen Bereich der Organisierten Kriminalität dar (Feltes und Rauls 2020).
26 J. Karakayalı
von gesellschaftlich weit verbreiteten rassistischen Zuschreibungen die Dringlichkeit
des polizeilichen Handelns und die Intensität polizeilicher Operationen (Razzien,
Telefonüberwachung, Hausdurchsuchungen) legitimiert werden kann.
Rassistische Unterscheidungen sind zudem bereits historisch in viele
Institutionen eingeschrieben. Goldberg zeigt in seiner Arbeit über den „racial
state“, wie die Herausbildung von Nationalstaaten im Kontext des Kolonialis-
mus zu einer in vielfältiger Weise rassistisch strukturierten Nationalstaatsbildung
führte, indem z. B. nur weiße Menschen Staatsbürger:innen werden konnten.56
Für die Schule zeigen Steinbach et al. analog auf, wie auch die Schule in eine
rassistische Nationalstaatsbildung eingebunden ist, indem sie ein Staatsvolk
u. a. über die Standardisierung einer Sprache, damit verbundener spezifischer
kultureller Setzungen und der Vermittlung eines kolonialen rassistischen Wissens
erzieht.57 Das macht es auch schwierig, Rassismus im Kontext von Schule zu
bearbeiten, weil rassistische Trennungen die Ziele und Strukturen der Schule
konstituieren.
In einer ähnlichen Perspektive konstatiert Thompson in Bezug auf die Polizei,
dass diese historisch zum Schutz vergeschlechtlichter und rassifizierter Besitz-
verhältnisse etabliert wurde. Aber auch das Kontrollieren, Erfassen und nicht
zuletzt das Unterbinden der Mobilität von Menschen gehört historisch zu den
Kernaufgaben der Polizei, die dabei Prozesse der Rassifizierung unterstützt,
aber auch selbst hervorbringt.58 Sehr deutlich lässt sich das an der jahrhunderte-
währenden polizeilichen Erfassung von Sinti:zze und Rom:nja nachzeichnen59,
die trotz eines Verbots immer wieder erfolgt und durch antirassistische Initiativen
problematisiert wird (zuletzt z. B. in der Berliner Kriminalstatistik von 2017).
Mit diesen Befunden wird deutlich, dass in Institutionen nicht nur die sogenannte
Pfadabhängigkeit zum Problem wird – dass also einmal etablierte rassistische
Erklärungsmuster und Handlungsroutinen immer weiter verfolgt werden. Viel-
mehr wurden einige Institutionen eigens dafür gegründet, rassistische Unter-
scheidungen hervorzubringen, zu etablieren und abzusichern. Die Befunde
zeigen, dass diese historische Dimension des Rassismus in Institutionen berück-
sichtigt werden muss, wenn dieser abgebaut werden soll.
56 Goldberg (2001).
57 Steinbach et al. (2020).
58 Thompson (2018) und Thompson in diesem Band.
59 Vgl. El-Tayeb (2016).
27Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
4 Schluss
Rassismus ist ein komplexes gesellschaftliches Verhältnis, das sich auf allen
Ebenen des Gesellschaftlichen (Diskurse, Institutionen, Praktiken etc.) ana-
lysieren lässt. Obgleich rassistische Gruppenkonstruktionen oft Jahrhunderte alt
sind, wandelt sich Rassismus dennoch beständig. Wie der Begriff des „Rassis-
mus als gesellschaftlichem Verhältnis“ bereits andeutet, wandelt er sich nicht
zuletzt durch die Kämpfe gegen ihn.60 So haben z. B. erfolgreiche Kämpfe um
eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Einbürgerung ermöglicht, ins-
besondere Migrant:innen politische Partizipationsmöglichkeiten eröffnet.
Gleichzeitig wurde damit in gewisser Weise ein doppelter Boden in die Staats-
angehörigkeit eingezogen: Für Menschen, die sie nicht von Geburt an besitzen,
ist sie in vielen Fällen reversibel geworden.61 Jahrzehnte andauernde Kämpfe
um eine nicht-diskriminierende Sprache haben dazu geführt, dass Straßennamen
und auch das wording in Medien nachhaltig verändert wurden.62 Gleichzeitig
haben Kämpfe gegen Rassismus dazu geführt, dass sich rassistische Ausschlüsse
verändert haben: So ist ein Kopftuchverbot für Lehrer:innen 2003 eingeführt
worden, zwei Jahre nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und damit in
dem Moment, als eine nennenswerte Zahl muslimischer junger Frauen ein Lehr-
amtsstudium absolvierte, statt wie ihre Eltern noch in der Fabrik zu arbeiten.63
Zum Teil hat sich der Kampf gegen Rassismus selbst institutionalisiert, indem
Ombuds- und Beratungsstellen für Diskriminierung eingerichtet werden. Viele
dieser Kämpfe werden von einzelnen Personen allein und ohne Erfolg in ihrem
Alltag ausgefochten, andere Kämpfe sind außerordentlich erfolgreich. Die
Beschäftigung mit Rassismus sollte die Kämpfe gegen Rassismus immer im
Blick behalten. Denn nur so gelingt es, Rassismus als ein gesellschaftliches Ver-
hältnis zu verstehen, dass veränderbar ist.
60 Vgl. Bojadžijev (2009); für die Polizei Görgen und Wagner in diesem Band.
61 Vgl. Pieper et al. (2011).
62 Z.B. Arndt und Ofuatey-Alazard (2011); Berlin Postkolonial (o. J.); Neue Deutsche
Medienmacher (o. J.)
63 Vgl. Yurdakul und Korteweg (2014).
28 J. Karakayalı
Literatur
Abdul-Rahman, L., Espín Grau, H., Klaus, L., & Singelnstein, T. (2020). Rassismus und
Diskriminierungserfahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltausübung. Ruhr Uni-
versität Bochum. https://kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zweiter_Zwischenbericht.
pdf. Zugegriffen: 18. Juli 2022.
Ahmed, S. (2012). On being included. Racism and Diversity in Institutional Life. Durham:
Duke University Press.
Aikens, J. K., & Supik, L. (2018). Gleichstellungsdaten: Differenzierte Erfassung als
Grundlage für menschenrechtsbasierte Antidiskriminierungsolitik. In N. Foroutan, J.
Karakayalı & R. Spielhaus (Hrsg.), Postmigrantische Perspektiven (S. 97–113). Wies-
baden: transcript.
Allen, T. W. (1998). Die Erfindung der weissen Rasse. Hamburg: ID Verlag.
Antidiskriminierungsstelle des Bundes (o.J.). Religion/Weltanschauung. https://www.anti-
diskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Religion_Weltanschauung/FAQ_
Kopftuch_am_Arbeitsplatz/FAQ_Kopftuch_am_Arbeitsplatz_node.html. Zugegriffen:
18. Juli 2022.
Arndt, S., & Ofuatey-Alazard, N. (2011). Wie Rassismus aus Wörtern spricht. Hamburg:
Unrast.
Auma, M.M. & Kinder, K. & Piesche, P. (2018). Abschlussbericht Berliner Konsultations-
prozess „Sichtbarmachung der Diskriminierung und sozialen Resilienz von Menschen
afrikanischer Herkunft“. Berlin: Landesstelle für Glechbehandlung - gegen Dis-
kriminierung.
Balibar, E. (1990). Der „Klassen-Rassismus“. In E. Balibar & I. Wallerstein (Hrsg.), Rasse,
Klasse, Nation: Ambivalente Identitäten (S. 247–272). Hamburg: Argument.
Benz, W. (2004). Was ist Antisemitismus. München: Beck.
Berlin Postkolonial (o.J.). Strassennamen. http://justlisten.berlin-postkolonial.de/strassen-
umbenennung. Zugegriffen: 18. Juli 2022.
Bodemann, M., & Yurdakul, G. (2010). Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten.
Wiesbaden: VS.
Bojadžijev, M. (2009). Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration.
Münster: Westfälisches Dampfboot.
Bonefeld, M. & Dickhäuser, O. (2018). (Biased) Grading of Student`s Performance:
Student`s Names, Performance level, and implicit Attitudes. Frontiers in Psychology.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5954233/.
Bundeskriminalamt (2019): Organisierte Kriminalität. Bundeslagebild 2019. Bundes-
kriminalamt: Wiesbaden.
Bojadžijev, M., & Demirović, A. (2002). Konjunkturen des Rassismus. Münster: West-
fälisches Dampfboot.
Carmichael, S. & Hamilton, C. V. (1969). Black Power. The Politics of Liberation in
America. Middlesex: Penguin.
Castro Varela, M. d. M., & Dhawan, N. (2005). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Ein-
führung. Bielefeld: Transcript.
Crenshaw, K. (1991). Mapping the Margins. Stanford Law Review, 43(6), S. 1241.
Decker, O., & Brähler, E. (2020). Autoritäre Dynamiken: Alte Ressentiments, neue
Radikalität. Gießen: Psychosozial Verlag.
29Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
Derin, B., & Singelnstein, T. (2020). Polizei und Gewalt. In D. Hunold & A. Ruch (Hrsg.),
Polizeiarbeit zwischen Praxishandeln und Rechtsordnung (S. 121–142). Wiesbaden:
Springer VS.
El-Tayeb, F. (2016). Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen
Gesellschaft. Münster: transcript.
End, M. (2011). Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus. Aus Politik und Zeit-
geschichte, 59(22–23), S. 15.
Ette, A., Schneider, N., Straub, S., & Weinmann, M. (2020). Kulturelle Diversi-
tät und Chancengleichheit in der Bundesverwaltung. https://www.bib.bund.de/
Publikation/2020/pdf/Kulturelle-Diversitaet-und-Chancengleichheit-in-der-Bundesver-
waltung.pdf?__blob=publicationFile&v=5. Zugegriffen: 18. Juli 2022.
Fanon, F. (1980). Schwarze Haut, weiße Masken. Übersetzt von Eva Moldenhauer.
Frankfurt am Main: Syndikat (Original: Peau noire, masques blancs).
Feltes, T. & Rauls, F. (2020). „Clankriminalität“ und die „German Angst“. Sozial Extra, 44,
S. 372.
Fereidooni, K., & El, M. (2017). Rassismuskritik und Widerstandsformen. Bielefeld:
transcript.
Foroutan, N., Karakayalı, J., & Spielhaus, R. (2017). Postmigrantische Perspektiven.
Frankfurt am Main: Campus.
Goldberg, D. T. (2001). The racial state. London: Blackwell Publishing.
Goldenbogen, A., & Kleinschmidt, S. (2021). Aktueller Antisemitismus. Berlin: Rosa
Luxemburg Stiftung.
Gomolla, M. (2012). Leistungsbeurteilung in der Schule: Zwischen Selektion und
Förderung, Gerechtigkeitsanspruch und Diskriminierung. In S. Fürstenau & M.
Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung (S. 25–50).
Wiesbaden: Springer VS.
Gomolla, M. (2017). Institutionelle Diskriminierung. Eine wenig beachtete Dimension
von Rassismus. In J. Karakayalı, C. Kahveci, D. Liebscher & C. Melchers (Hrsg.), Den
NSU-Komplex analysieren (S. 123–145). Wiesbaden: Verlag.
Hall, S. (1989). Rassismus als ideologischer Diskurs. Das Argument 178, Hamburg: Argu-
ment Verlag. S. 913–921.
Hall, S. (1990). Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument.
Horkheimer, M., & Adorno, T. W. (2006). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-
mente. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hormel, U. (2009). Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-
grund im Bildungssystem. In U. Hormel & A. Scherr (Hrsg.), Diskriminierung. Grund-
lagen und Forschungsergebnisse (S. 173–197). Wiesbaden: Springer VS.
Hund, W. D. (2014). Romantischer Rassismus. Zur Funktion des Zigeunerstereotyps. In
ders. (Hrsg.), Fremd, Faul und Frei. Dimensionen des Zigeunerstereotyps (S. 146–156).
Münster: Unrast.
Hunold, D., & Wegener, M. (2020). Rassismus und Polizei: zum Stand der Forschung. Aus
Politik und Zeitgeschichte, 68(42–44), S. 27.
Jäger, S., & Jäger, M. (1991). Alltäglicher Rassismus. 22 Interviews mit Bürgerinnen und
Bürgern in Deutschland. Duisburg: Diss.
Jonuz, E. (2009). Stigma Ethnizität. Wie zugewanderte Romafamilien der Ethnisierungsfalle
begegnen. Opladen: Budrich.
30 J. Karakayalı
Kalpaka, A., & Räthzel, N. (1986/2017). Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein.
Berlin: Express Edition/Argument.
Karakayalı, J. (2019). Warum wurden die Morde des NSU nicht als rassistische erkannt?
Migrationsregimeanalytische Überlegungen. In N. Burzan (Hrsg.), Komplexe
Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. https://publikationen.sozio-
logie.de/index.php/kongressband_2018/article/view/1077. Zugegriffen: 18. Juli 2022.
Karakayalı, J., Kahveci, Ç., Liebscher, D., & Melchers, C. (2017). Der NSU und die
Wissenschaft. In dies. (Hrsg.), Den NSU Komplex analysieren (S. 15–35). Bielefeld:
transcript.
Karakayalı, S. (2008). Gespenster der Migration. Münster: transcript.
Kemper, T., & Supik, L. (2020). Klassifikationen von Migration und Sprache. Eine Analyse
von Datensätzen und Publikationen der Bildungsforschung und der amtlichen Statistik.
In J. Karakayalı (Hrsg.), Unterscheiden und Trennen (S. 46–68.). Weinheim: Beltz.
Kluge, U., Aichberger, M. C., & Heinz, E. (2020). Rassismus und psychische Gesundheit.
Nervenarzt, 91(11), S. 1017.
Lentin, A., & Titley, G. (2011). The Crisis of Multiculturalism. New York: Zed Books.
Lutz, H., Herrera Vivar, M. T., & Supik, L. (2010). Intersektionalität im Fokus. Wiesbaden:
Springer.
Macpherson, S. W. (1999). The Steven Lawrence Inquiry, Report presented to the
Parliament by the Secretary of State for the Home Department by Command of Her
Majesty. https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/
file/277111/4262.pdf. Zugegriffen: 18. Juli 2022.
March, J. G. (1990). Entscheidung und Organisation. Kritische und konstruktive Beiträge,
Entwicklungen und Perspektiven. Wiesbaden: Dr. Th. Gabler.
Mecheril, P. (Hrsg.) (1995). Interkulturalität und Rassismus. Journal für Psychologie, 3(3).
Mecheril, P. (2003). Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-) Zuge-
hörigkeit. Münster: Waxmann.
Mecheril, P., & Heinemann, A. (2016). Institutioneller Rassismus als Analyseperspektive.
Zwei Argumente. In Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.), Ideologien der Ungleichwertigkeit
(S. 45–57). Berlin: Heinrich Böll.
Neue Deutsche Medienmacher (o. J.). Glossar. https://neuemedienmacher.de/wording.
Zugegriffen: 18. Juli 2022.
Nguyen, T. M. H. (2021). Anti-asiatischer Rassismus: Was hat das Attentat in Atlanta mit
Deutschland zu tun. Heinrich Böll Stiftung: Heimatkunde. https://heimatkunde.boell.de/
de/2021/04/01/anti-asiatischer-rassismus-atlanta-attentat-deutschland. Zugegriffen: 18.
Juli 2022.
Opitz, M., Oguntoye, K., & Schultz, D. (Hrsg.) (1986). Farbe Bekennen. Afro-deutsche
Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin: Orlanda.
Pieper, M., Tsianos, V., & Panagiotidis, E. (2011). Konjunkturen der egalitären Exklusion:
Postliberaler Rassismus und verkörperte Erfahrungen der Egalität. In M. Pieper, T.
Atzert, S. Karakayalı & V. Tsianos (Hrsg.), Biopolitik in der Debatte (S. 193–226).
Wiesbaden: VS.
Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin (2017). Herausgegeben durch den Polizeipräsident
Berlin, Berlin.
31Kritische Rassismusforschung: Theorien, Konzepte …
Postone, M. (2005). Antisemitismus und Nationalsozialismus. In dies. (Hrsg.), Deutschland,
die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen (S. 165–194). Freiburg: ça ira.
Reinhardt, K. (2021). Zum Begriff der „Clankriminalität“ – eine kritische Einschätzung.
Working Paper Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Rommelspacher, B. (1995). Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin:
Orlanda.
Said, E. (1979). Orientalism. New York City: Vintage.
Shooman, Y. (2014). „Weil ihre Kultur so ist…“Narrative des antimuslimischen Rassis-
mus. Münster: transcript.
Steinbach, A., Shure, S., & Mecheril, P. (2020). The racial school. Die nationale Schule
und ihre Rassekonstruktionen. In J. Karakayalı (Hrsg.), Unterscheiden und Trennen
(S. 24–46). Weinheim: Beltz Juventa.
Suda, K., Mayer, S. J., & Nguyen, C. (2020). Antiasiatischer Rassismus in Deutschland.
Aus Politik und Zeitgeschichte, 68(42–44), S. 39.
Tatum, B. D. (2017). Why are all the Black Kids sitting together in the Cafeteria? New
York: Basic Books.
Terkessidis, M. (1998). Psychologie des Rassismus. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Terkessidis, M. (2019). Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus
heute. Frankfurt am Main: Hoffmann und Campe.
Thompson, V. E. (2018). „There is no justice, there is just us!“. Ansätze zu einer post-
kolonial-feministischen Kritik der Polizei am Beispiel von Racial Profiling. In D. Loick
(Hrsg.), Kritik der Polizei (S. 189–219). Frankfurt am Main: Campus.
Tsianos, V. S. (2015). Antimuslimischer Urbanismus. Zur Stadtsoziologie des anti-
muslimischen Rassismus. In F. Hafez (Hrsg.), Jahrbuch für Islamophobieforschung
2015 (S. 55–82). Wien: new academic press.
Virchow, F., & Häusler, A. (2020). Pandemie-Leugnung und Extreme Rechte in Nordrhein-
Westfalen. Bonn: Ministerium für Kultur und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen.
Yeboah, A. (2017). Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland. In K. Fereidooni
& M. El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 143–161). Wiesbaden:
Springer VS.
Yurdakul, G., & Korteweg, A. (2014). The Headscarf-Debates: Conflicts of national
Belonging. Stanford: Stanford University Press.
Zick, A., Küpper, B. & Krause, D. (2016). Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände:
Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2016. Bonn: Dietz.
Zick, A., Küpper, B., & Krause, D. (2018). Verlorene Mitte, Feindselige Zustände. Rechts-
extreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Berlin: Dietz.
Prof. Dr. Juliane Karakayalı ist Professorin für Soziologie an der Evangelischen Hoch-
schule Berlin. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Migrations-,
Rassismus- und Geschlechterforschung.
32 J. Karakayalı
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 Inter-
national Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche
die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem
Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle
ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben,
ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen eben-
falls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende
nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative
Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften
erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Ein-
willigung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
33
Rassismuskritische Polizeiforschung –
Eine Spurensuche
Fatoş Atali-Timmer, Karim Fereidooni und Kathrin Schroth
Zusammenfassung
Die Intention dieses Aufsatzes ist die Darstellung der Analyseperspektive der
Rassismuskritik, sowie die Diskussion von rassismuskritischen und rassismus-
kritisch relevanten Studienergebnissen, die sich mit der Polizeiarbeit befassen.
Schlüsselwörter
Rassismus · Rassismuskritik · Diversität · Polizeiarbeit · Ungleichheit
© Der/die Autor(en) 2022
D. Hunold und T. Singelnstein (Hrsg.), Rassismus in der Polizei,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-37133-3_3
F. Atali-Timmer
Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC),
Institut für Pädagogik, Fachgruppe Migration und Bildung,
Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg, Deutschland
E-Mail: fatos.atali-timmer@uni-oldenburg.de
K. Fereidooni (*)
Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung, Fakultät für Sozialwissenschaft,
Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
E-Mail: karim.fereidooni@ruhr-uni-bochum.de
K. Schroth
Fakultät für Sozialwissenschaft, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland
34 F. Atali-Timmer et al.
1 Einleitung
Dieser Beitrag fokussiert zunächst die Genese, Ausprägungsformen und Aus-
wirkungen der Ungleichheitsstruktur Rassismus hinsichtlich struktureller und
individueller Dimensionen, bevor die Analyseperspektive der Rassismuskritik
vorgestellt wird, die dazu dient, rassismusrelevante strukturelle sowie individuelle
Denk-, Sprech- und Handlungsweisen transparent zu machen. Zudem werden die
Begriffe rassismusrelevant und rassismuskritisch relevant als theoretische Ana-
lysekategorien eingeführt. Ferner werden Forschungsergebnisse diskutiert, die
den Anspruch besitzen, rassismusrelevante Aspekte der Institution Polizei zu ana-
lysieren, bevor die Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen stattfindet, die
sich aus einer rassismuskritisch relevanten Perspektive mit der Institution Polizei
beschäftigen. Die in diesem Aufsatz vertretene Hypothese lautet: Nicht jede
Forschung, die sich mit Rassismus und der Institution Polizei beschäftigt, ist eine
rassismuskritische Polizeiforschung.
2 Theoretischer Hintergrund: Rassismus(kritik)
Der biologistische Rassismus hat unterschiedliche menschliche Rassen (weiß,
gelb, rot und schwarz) erfunden, um u. a. die Kolonialisierung Schwarzer
Menschen zu rechtfertigen, während der Neo- oder Kulturrassismus mit der
Unvereinbarkeit bzw. der Höher- und Minderwertigkeit von Kulturen, Sprachen
und Religionszugehörigkeiten argumentiert.
Rassismuskritik bedeutet, „zum Thema [zu] machen, in welcher Weise, unter
welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und
Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, Institutionen und Strukturen durch
Rassismen vermittelt sind und Rassismus verstärken“, und ferner zielt Rassis-
muskritik darauf ab, „auf Rassekonstruktionen beruhende beeinträchtigende,
disziplinierende und gewaltvolle Unterscheidungen zu untersuchen, zu
schwächen und alternative Unterscheidungen deutlich zu machen“.1
Die Relevanz rassismuskritischer Kompetenzentwicklung impliziert eine
doppelte Entwicklung:
1 Mecheril und Melter (2010), S. 172.
35Rassismuskritische Polizeiforschung – Eine Spurensuche
Menschen sollen kognitive Kompetenzen erwerben, um rassismusrelevante
Sachverhalte zu erkennen und ggf. intervenieren zu können.
Menschen sollen eine rassismuskritische Handlungskompetenz erwerben, um
Rassismus nicht zu (re)produzieren.
Die Zielsetzung der rassismuskritischen Bildung ist das Folgende: Menschen
sollen verstehen, wie Differenzkonstruktionen in Vergangenheit und Gegenwart
funktionalisiert worden sind bzw. werden, indem sie den folgenden Fragen nach-
gehen:
Wann, wie und zu welchem Zweck wurden bzw. werden Menschen zu anders-
und fremdartigen, sowie minderwertigen und gefährlichen Wesen gemacht
und welche Auswirkung hatte bzw. hat das für diese Menschen bzw. welche
Funktion hat das für die gesamte Gesellschaft?
Aus dieser Zielsetzung, resultiert eine komplexe Anforderung an Menschen,
die sich mit Rassismuskritik auseinandersetzen möchten: Die Erweiterung ihrer
Handlungskompetenz in Bezug auf rassismuskritisches Wissen.
Letztlich trägt die Analysekategorie der Rassismuskritik dazu bei, Antworten
auf die folgenden Fragen zu finden:
Was hat mir Rassismus gebracht, obwohl ich nicht rassistisch sein möchte?
Was passiert in meinem Berufs- und Privatleben rassismusrelevantes?
Inwiefern befördern Medienprodukte (Zeitungen, Bücher, Filme, Musik,
Reiseliteratur, Kinderbücher, Schulbücher, Gesetzestexte, Podcasts etc.), die
ich konsumiere, rassismusrelevante Wissensbestände?
Wie kann ich mich gegen Rassismus einsetzen bzw. wie kann ich Rassismus
verlernen?
3 Forschungsstand Polizei und Rassismus
Die Forschungslandschaft zu Rassismus bei der Polizei teilt sich heute grob
in zwei Schwerpunkte: Einerseits in Bezug auf die individuelle Ebene der
Polizist:innen, sowie deren Einstellungen, Arbeitsalltag und die daraus folgenden
Herausforderungen. Rassistische Äußerungen und Handlungen werden dabei
euphemistisch umgedeutet, vielfach Gründe bei Menschen of Color und
Schwarzen Menschen gesucht und Vorfälle als Einzelfälle gewertet. Der zweite
Forschungsschwerpunkt liegt auf der strukturellen Ebene von Rassismus in
36 F. Atali-Timmer et al.
der Polizei und den davon ausgehenden rassistischen Diskriminierungen von
Menschen.
Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele Polizist:innen in der BRD rassistische
Einstellungen teilen oder teilten.2 Lediglich zivilgesellschaftliche Akteur:innen wie
die Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt oder die Antidiskriminierungs-
büros bzw. -stellen in Bund, Ländern und Kommunen erfassen Zahlen und
erstellen Statistiken zu vermutlich rassistisch motivierten Handlungen, allerdings
ausschließlich aufgrund ihrer eigenen Arbeit.3 Die aktuellsten Daten zu Ein-
stellungen bei Polizist:innen wurden im Zusammenhang mit dem sogenannten NSU
2.0 durch das hessische Innenministeriums im Jahr 2020 im Rahmen einer Studie
erhoben: Hierfür wurden 4277 der rund 17.000 Beschäftigten der hessischen Polizei
in einer quantitativen Untersuchung zur politischen Selbstverortung befragt. Die
Antworten zur politischen Selbstverortung widersprachen dabei teilweise konkreten
politischen Selbstverortungen: So verorteten sich zwar 64,6 % der Befragten in der
politischen Mitte; aber dennoch stimmten 27,6 % der Aussage zu oder eher zu, dass
die Gefahr bestehe, dass Deutschland ein islamisches Land werde. 18,8 % gaben als
politische Selbstverortung „mäßig rechts“, 1,6 % „rechts“ und 0,1 % „ausgeprägt
rechts“ an. 29 % stimmten der Aussage, dass Einwanderer Deutschland bunter und
vielfältiger machen, eher nicht zu.4 16,7 % belastete das häufige diskriminierende,
ausgrenzende Verhalten oder Mobbing unter Kolleg:innen, 12,5 % verwiesen auf
häufige rassistische Äußerungen der Kolleg:innen.5
2 Eine gesamtdeutsche Studie, die erste umfassende Statistiken hätte erheben können, war
kurzzeitig Mitte des Jahres 2020 im Gespräch. Das Bundesinnenministerium vergab dann
jedoch eine Studie an die Deutsche Hochschule der Polizei Münster, die den Arbeitsalltag
von Polizist:innen in den Fokus rückt. In Großbritannien werden Statistiken erhoben. Dort
gibt es demnach für Schwarze Menschen eine drei Mal höhere Wahrscheinlichkeit, von der
Polizei kontrolliert zu werdenAntidiskriminierungsbür, vgl. Ministry of Justice, Race and
Criminal Justice System Statistics (2012). Für die USA zeigen sich ähnliche Ergebnisse,
vgl. Statista (2021).
3 Vgl. Antidiskriminierungsbüro Köln (2017); Antidiskriminierungsstelle des Bundes
(2017); Quent et al. (2014); Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2016).
4 Vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport (2020), S. 6.
5 Vgl. Hessisches Ministerium des Innern und für Sport (2020), S. 12 f. Auch bei Studien
aus den Jahren 1995 und 1996 durch Marita Lindner vermuteten Studierende bei einem
Viertel ihrer bereits im Dienst stehende Kolleg:innen „fremdenfeindliches“ und rechts-
extremes Einstellungspotenzial. Der Widerspruch zwischen Selbstwahrnehmung und
Äußerungen wurde auch 1996 in einer weiteren Studie deutlich, da dort einerseits
„Fremdenfeindlichkeit“ verneint wurde, andererseits aber 15 % der Befragten „fremden-
feindliche“ Vorurteilsneigungen aufwiesen, vgl. Lindner (2001).
37Rassismuskritische Polizeiforschung – Eine Spurensuche
Inwiefern sich rassistische Einstellungen verändern können, wurde in Nord-
rhein-Westfalen erforscht: Zwischen 2013 und 2017 wurde im Rahmen des
Projektes UMFELDER eine Langzeitstudie mit Kommissaranwärter:innen der
Hochschule für Polizei durchgeführt und per Zufall ausgewählte Anwärter:innen
bzw. Studierende kontinuierlich über mehrere Jahre hinweg befragt. Das
Forschungsinteresse beschäftigte sich mit der Frage, inwiefern sich – so der Titel
der Studie – fremdenfeindliche oder fremdenfreundliche Einstellungen im Verlauf
des Studiums und bei ersten Praxiserfahrungen verändern. Ein zentraler Befund
lautet folgendermaßen: Sogenannte „Fremdenfeindliche Einstellungen“ ver-
ringerten sich während des Studiums, stiegen im ersten Praxisjahr leicht an und
sanken dann im restlichen Verlauf des Studiums wieder.6 Die Studie soll nun um
eine erneute Befragung nach 18 Monaten Berufserfahrung erweitert werden.7
Die ersten Forschungen zu rassismusrelevanten Handlungen bei deutschen
Polizei(en) und Polizist:innen wurden bereits in den 1990er Jahren durchgeführt.
Sie sind vor allem im Zusammenhang mit den rechtsextremistischen Brand-
anschlägen und Übergriffen in Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen
zu bewerten. Rassismusrelevante Äußerungen und Einstellungen wurde dabei
als Fremdenfeindlichkeit8 bezeichnet, auch wenn sich die Forschungen sowohl
auf Menschen mit Fluchterfahrung als auch Menschen of Color bzw. Schwarze
Menschen bezogen.9 „Fremdenfeindlichkeit“ und als rassistisch diskriminierend
wahrgenommene Handlungen und Äußerungen wurden auf fehlende inter-
kulturelle Kompetenz der Beamt:innen zurückgeführt.10
6 Vgl. Krott et al. (2019).
7 Vgl. Hunold und Wegner (2020), S. 29.
8 Die Bezeichnung „Fremdenfeindlichkeit“ ist somit fachlich falsch und wird daher nur mit
einfachen Anführungszeichen gekennzeichnet.
9 Vgl. u. a. Asmus und Enke (2016), S. 10.
10 Eine Einordnung, die bis heute dominant ist, beispielsweise in Bezug auf den NSU. Vgl.
für NRW auch Leenen et al. (2005). Franzke (2017) untersuchte für Nordrhein-Westfalen
im Jahr 2016, ob und wenn ja inwiefern diese interkulturelle Kompetenz bei Polizist:innen
vorhanden sei. Die Ergebnisse zeigten unter anderem, dass die Befragten sich selbst als
interkulturell kompetent einstuften. Diese Selbsteinschätzungen wurden jedoch nicht
weitergehend untersucht. Frank (2016) zeigte für Hessen, dass interkulturelle Kompetenz
von Lehrpersonen als relevant eingestuft werde und in der Lehrpraxis darauf Bezug
genommen werde. Gleichzeitig bleibe der Bezug auf eigene individuelle Kenntnisse ein-
geschränkt.
38 F. Atali-Timmer et al.
Im Verbund der Polizei Duisburg wurde durch Schweer und Strasser eine teil-
nehmende Beobachtung durchgeführt, um den polizeilichen Alltag und stereo-
typisierte Wahrnehmungen von Polizist:innen zu erforschen.11 Der vorrangige
Fokus der Studie liegt nicht auf diskriminierender polizeilicher Praxis, sondern
auf strukturellen Problematiken der Polizei: So werden Vorurteile und Stereo-
typisierungen innerhalb der Polizei als „Normalität“12 gewertet. Außerdem
würden „interkulturelle Situationen“ von den Beamt:innen eventuell missinter-
pretiert werden.13 Die befragten Polizist:innen differenzierten in Bezug auf ihre
Klient:innen, dass diese nicht den „ausländische[n] Normalbürger“14 darstellen.
Jedoch wurde auch festgestellt, dass als soziale Randgruppen wahrgenommene
Menschen, vor allem junge, Schwarze Männer, häufiger kontrolliert wurden.
Neben der Darstellung von rassistischer Diskriminierung beziehen sich die
Forscher:innen auch auf Ursachen und argumentieren, dass die bloße Anwesen-
heit von Menschen of Color und Schwarze Menschen zu Problemen führen
könne.15 Vorurteile der Beamt:innen werden von den Autor:innen auf die polizei-
liche Sozialisation und Alltagserfahrungen zurückgeführt.
Die Sichtweise von durch Rassismus betroffene Personen auf rassistische
Handlungen und Äußerungen wird durch unabhängige Beratungsstellen und
zivilgesellschaftliche Akteur:innen verdeutlicht, deren Ergebnisse sich deutsch-
landweit ähneln: Die Autor:innen der Kampagne für Opfer rassistischer Polizei-
gewalt argumentieren, dass rassistische Begegnungen und Diskriminierungen
bestimmten Mustern folgen: Bei der Opfer-Täter-Umkehr wird beispielsweise
Menschen of Color und Schwarzen Menschen die Viktimisierungserfahrung
abgesprochen oder es wird ihnen eine Mitschuld am Tathergang unterstellt und/
oder sie erhalten eine Gegenanzeige von Beamt:innen16. Zudem kommt es vor,
dass Anzeigen von Menschen of Color und Schwarzen Menschen nicht auf-
genommen und Zeug:innen bei Aussagen eingeschüchtert und aufgefordert
16 Vgl. Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2016).
11 Vgl. Schweer et al. (2008), S. 22, die die Polizist:innen bzgl. ihres „alltäglichen
Umgang[s] mit türkischen Eckstehern, Aussiedlern, Obdachlosen, Drogensüchtigen, Asyl-
bewerbern und Prostituierten“ untersuchten.
12 Hunold und Wegner (2020), S. 20.
13 Vgl. Hunold und Wegner (2020), S. 31.
14 Hunold und Wegner (2020), S. 22.
15 Vgl. Hunold und Wegner (2020), S. 13.
39Rassismuskritische Polizeiforschung – Eine Spurensuche
werden keine Anzeige zu stellen.17 Anzeigen gegen Polizist:innen wegen Körper-
verletzung im Amt würden meistens eingestellt werden.18 Auch bei Gegen-
anzeigen durch Polizist:innen würden Gerichte und Staatsanwaltschaften
Widersprüche nicht ausführlich genug hinterfragen19 und somit die Täter-Opfer-
Umkehr auch vor Gericht noch reproduzieren20. Opfer würden – obwohl dies
für den Tathergang unerheblich war – nach ihrem Aufenthaltsstatus und ihrer
Positionierung auf dem Arbeitsmarkt gefragt werden.21 Prominentes Beispiel für
die Täter-Opfer-Umkehr sind die Ermittlungen zum NSU-Komplex, bei dem die
Opfer aufgrund von stereotypen Denkmustern kriminalisiert wurden.22 Neben
dem Duzen und unerlaubtem Betreten von Wohnsitzen durch Polizist:innen, wird
auch von konkreten rassistischen und/oder stereotypen Aussagen berichtet: „Die
Zi. sind ja alle kriminell. […] Personen wie ‚DU‘ neigen zu Straftaten.“23
Der Umgang von sachsen-anhaltischen Polizist:innen mit migrantischen
Opfern wurde aus polizeiwissenschaftlicher Perspektive von Asmus und Enke
interviewbasiert untersucht.24 Sie konstatieren, dass bei der Polizei keine
generelle „Fremdenfeindlichkeit“, sondern eine mangelnde Sensibilität der
Beamt:innen in Form von fehlender sozial-kommunikativer und interkultureller
Kompetenz vorliege. Wurden Menschen of Color und Schwarze Menschen Opfer
rassistischer Gewalt, werde diese besondere Schwere durch Polizist:innen teil-
weise nicht erkannt. Rassismus wird demnach von den Interviewten nicht als
gesondertes Tatmotiv erkannt.25 Die Autor:innen empfehlen daher eine kritische
Prüfung der derzeitigen Praxis der interkulturellen Qualifikation.
17 Vgl. Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (2016); Antidiskriminierungsbüro
Köln (2017); Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017).
18 Vgl. Louw et al. (2016), S. 29.
19 Vgl. Friedrich et al. (2016), S. 18.
20 Vgl. Quent et al. (2014), S. 33.
21 Vgl. Quent et al. (2014), S. 26.
22 Vgl. Hunold und Wegner (2020), S. 27; Fereidooni et al. (2021); Emiroglu et al. (2019);
Fereidooni (2016b; 2016c). Nicht nur durch Polizist:innen sondern auch Ermittler:innen
des BKA und der LKAs.
23 Antidiskriminierungsbüro Köln (2017), S. 8.
24 Vgl. Asmus und Enke (2016), S. 63.
25 Diese Einschätzung deckt sich mit Befunden von Quent et al. (2014), die für Thüringen
erforschten, dass jedes zweite migrantische Opfer der 44 Befragten bezweifelte, dass die
Beamt:innen an einer Aufklärung von politischen Tathintergründen interessiert wären.
Rechte gemäß des Opferschutzes würde den Opfern nur selten und unvollständig vermittelt
werden.
40 F. Atali-Timmer et al.
Kemme et al. veröffentlichten eine Studie zur Einstellung von Hamburger
Kommissariatsanwärter:innen gegenüber muslimisch gelesenen Menschen.26 Vor
allem über muslimisch wahrgenommene Männer wurden Stereotype geäußert; die
Befragten äußerten außerdem Dehumanisierungstendenzen gegenüber faktischen
oder vermuteten männlichen Muslimen.27
Für Rheinland-Pfalz untersuchen Beek et al. in einem laufenden Projekt Mehr-
sprachigkeit und die Konstruktion kultureller Differenz im polizeilichen Alltag.28
Abdul-Rahman et al. befragten Polizist:innen, Menschen of Colour, Schwarze
Menschen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen bzw. Beratungsstellen und
veröffentlichten 2020 einen zweiten Zwischenbericht.29 Sie setzten den Fokus
auf sechs Bereiche um der Forschungsfrage nachzugehen, inwiefern sich Dis-
kriminierungserfahrungen von Menschen of Color und Schwarzen Menschen von
als weiß gelesenen Personen durch Polizist:innen unterschieden: 1) Situation des
Gewalteinsatzes, 2) Diskriminierungserfahrungen der Betroffenen, 3) Erklärungs-
ansätze für unterschiedliche Erfahrungen, 4) Folgen für die Betroffenen, 5)
Anzeigeverhalten sowie 6) Handlungsmöglichkeiten und Reformbedarf aus Sicht
der Beratungsstellen. Menschen of Color und Schwarze Menschen „gaben im
Vergleich zu als weiß gelesenen Personen deutlich häufiger an, dass Merkmale
der (zugeschriebenen) Herkunft wie ihre zugeschriebene oder faktische kulturelle
Zugehörigkeit, Hautfarbe, Nationalität, Name/Sprache oder ihr Aufenthalts-
status einen Einfluss darauf gehabt hätten, wie sie von der Polizei behandelt
wurden“. Als weiß gelesene Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund –
so die Bezeichnung der Studie – fühlten sich nicht im gleichen Maße von Dis-
kriminierung betroffen wie Menschen of Color und Schwarze Menschen.30
Polizist:innen sei zwar bewusst, dass subjektive Erfahrungen und Stereotypen
sich als Grundlagen ihrer Arbeit manifestieren können, problematisieren diese
dann jedoch nicht mehr bei der Entscheidung für oder gegen polizeilichen
Zwang.31 Menschen of Color und Schwarze Menschen berichteten in Frei-
textfeldern der Studie von Beleidigungen und Einschüchterungen, sowie von
26 Vgl. Kemme et al. (2020).
27 Befragte, die auch in ihrem Privatleben mit muslimisch gelesenen Menschen Kontakte
haben, seien diesen auch in ihrem Berufsleben positiver gegenüber eingestellt.
28 Vgl. Beek et al. (2020).
29 Vgl. Abdul-Rahman et al. (2020), S. 26.
30 Vgl. Abdul-Rahman et al. (2020), S. 30.
31 Vgl. Abdul-Rahman et al. (2020), S. 35.
41Rassismuskritische Polizeiforschung – Eine Spurensuche
antimuslimischen, antisemitischen Aussagen.32 Die Forscher:innen bewerten
strukturellen Rassismus als Ursache für diese Erfahrungen. Diese Einschätzung
wurde von verschiedenen Seiten, etwa von der Deutschen Polizeigewerkschaft in
NRW und der Gewerkschaft der Polizei, stark kritisiert und abgelehnt.33
Forschung zu Rassismus beschäftigt sich des Weiteren mit der Frage, wann
Kontrollen zu Racial Profiling werden.34 Polizeiforschung und unabhängige
Forschung unterscheidet dabei vor allem die Frage, ob Fahndungsaufträge
an sich, und die damit im Zusammenhang stehenden Gesetze, bereits dis-
kriminierend sind oder ausschließlich eine falsche Umsetzung diskriminierend
wirkt.35 So werden vor allem legale Rahmenbedingungen von Personenkontrollen
analysiert und in Verbindung mit Ethnic oder Racial Profiling gesetzt.36 Auch
hierzu werden in Deutschland keine umfassenden Statistiken erhoben.
Wenn über den Umgang von Polizist:innen mit Menschen of Color und
Schwarzen Menschen gesprochen wird, wird oft argumentiert, dass eine mög-
liche Ungleichbehandlung gerechtfertigt sei. Ein Hauptargument ist dabei das
der vermeintlich „kriminellen Ausländer:innen“, vor denen die deutsche Gesell-
schaft geschützt werden müsse; dabei wird auf die Polizeiliche Kriminalstatistik
(PKS) Bezug genommen.37 Im Auftrag des Mediendienstes Integration erstellte
37 In der PKS wird nur die Hellfeldkriminalität erfasst, und hierbei nur Tatverdächtige. Als
„nichtdeutsche Tatverdächtige“ werden ausschließlich Personen ohne deutsche Staats-
bürgerschaft bezeichnet. Seit dem Jahr 2017 wurde zusätzlich die Kategorie „Zuwanderer“
gesondert aufgeführt, womit alle Staatsbürger:innen eines Nicht-EU-Staates bezeichnet
werden, die sich entweder unerlaubt in Deutschland aufhalten oder einen Aufenthaltsstatus
als Asylbewerber, international/national Schutzberechtigte und Asylberechtigte, Menschen
mit Duldungen und Kontingentflüchtlinge haben, vgl. Walburg (2016), S. 4. Die PKS
wird somit fälschlicherweise immer wieder herangezogen, um über einen sogenannten
„Integrationswillen“ zu diskutieren. Außerdem verdeutlicht sich somit eine Vermutung über
einen Zusammenhang von Migration und Kriminalität bei Geflüchteten noch weiter.
32 Vgl. Abdul-Rahman et al. (2020), S. 37.
33 Den Wissenschaftler:innen wurden Mängel in der methodologischen Herangehensweise
vorgeworfen. Außerdem würden die Befunde auf subjektiven Beurteilungen beruhen und
die Studie sei eine Diskreditierung des Berufsstands, vgl. Kunz (2021).
34 „Neben Polizeikontrollen werden unter anderem Überwachungen, Befragungen, Fest-
nahmen, Razzien, Rasterfahndungen und die Anwendung polizeilichen Zwangs als
‚Ethnic Profiling‘ oder ‚Racial Profiling‘ bezeichnet, sofern diese Maßnahmen aufgrund
rassifizierender oder ethnisierender Merkmale erfolgen“, Hunold und Wegner (2020), S. 30.
35 Vgl. u. a. Kreissl (2017); Smolenski (2020); Wesche (2020).
36 Vgl. u. a. Schiffer-Nasserie (2014), S. 13.