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Jenseits von Medienvergleichen:
Komplexe Zusammenhänge des Lernens in Virtual Reality am Beispiel des
Anne Frank VR House
Dissertation
zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil.
vorgelegt von
Miriam Mulders
Lehrstuhl für Mediendidaktik und Wissensmanagement
Fakultät für Bildungswissenschaften
Universität Duisburg-Essen
Erstgutachter: Prof. Dr. Michael Kerres (Universität Duisburg-Essen)
Zweitgutachter: Prof. Dr. Raphael Zender (Humboldt-Universität Berlin)
Tag der Disputation: 20. September 2022
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Danksagung
Als ich im Dezember 2018 als frisch gebackene Masterabsolventin meine Stelle als
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Learning Lab der Universität Duisburg-Essen antrat, war
ich neugierig und offen für neue Inhalte, aber auch unsicher, was auf mich zukommen würde.
Umso dankbarer schaue ich von meinem jetzigen Blickpunkt auf die Chance zurück, im
Forschungsprojekt HandLeVR mitwirken zu dürfen. An diesem Projekt bin ich sowohl
beruflich als auch persönlich gewachsen. Vielmehr noch wurde mein Interesse für die
Bildungstechnologie Virtual Reality (VR) und dessen Möglichkeiten für die Gestaltung von
Lehr- und Lernumgebungen geweckt. Andere Projekte, wie eine wissenschaftliche Konferenz
oder eine Lehrveranstaltung in VR, bestärkten mich, auch meine Dissertation
dementsprechend auszurichten. So entstand nach und nach eine Idee, wie ich meine
Dissertation an der Fakultät für Bildungswissenschaften gestalten und gleichzeitig meinen
Wunsch als Psychologin, experimentelle Forschung zu betreiben, gerecht werden kann.
Einen wesentlichen Anteil an meiner Weiterentwicklung hat mein Doktorvater Prof. Dr.
Michael Kerres, der mich auf meinem Weg nicht nur stets begleitet, mir lehrreiche Ratschläge
gegeben und kritische Fragen gestellt, sondern mich auch zu den richtigen Zeitpunkten
gefordert und ermutigt hat, diesen Weg auch wirklich zu gehen. Vielen Dank!
Auch bei meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Raphael Zender möchte ich mich herzlich
bedanken. Ich bin dankbar, dass wir uns über HandLeVR kennenlernen durften und seitdem
zusammen viele spannende Projekte gemeistert haben. Ich hoffe, dass es in Zukunft einige
Möglichkeiten der Zusammenarbeit geben wird.
Bedanken möchte ich mich auch bei meinen geschätzten Kolleginnen und Kollegen am
Learning Lab, die mir in den verschiedensten Situationen mit Rat und Tat fachlich wie
persönlich zur Seite gestanden haben. Wertvolle Tipps und Zuspruch fand ich unter anderem
in Gesprächen mit Pia, Josef und Anna. Ein herzliches Dankeschön an euch alle!
Ein ganz besonderer Dank geht an meine Familie: meine Eltern Johannes und Susanne, meine
Schwestern Monika und Kristina und meinen Bruder Niklas. Ohne das Wissen, dass sie
immer mein fester Rückhalt sein würden, hätte ich diesen Weg nicht gehen können.
Meine Arbeit wäre nicht ohne die zahlreichen motivierten Schülerinnen und Schüler möglich
gewesen, die an meiner Studie teilgenommen haben. Vielen Dank an euch sowie eure
Lehrkräfte und Schulleitungen, die mir den Zugang zur Praxis oft erst ermöglichten. Auch bei
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der Anne Frank Stiftung möchte ich mich bedanken, deren VR-Anwendung Anne Frank VR
House ich für meine Studie nutzen durfte.
Hätte mich jemand im Dezember 2018 gefragt, ob ich knapp vier Jahre später tatsächlich mit
einem Doktortitel hier stehe, wäre ich wahrscheinlich skeptisch gewesen und hätte mir diese
Leistung wohl doch noch nicht zugetraut. Aber ich habe es dank der tatkräftigen
Unterstützung meiner Betreuer, meiner Kolleginnen und Kollegen und meiner Familie
geschafft und kann, zumindest für einen kurzen Moment, stolz innehalten. Bis mir wieder
bewusst wird, dass schon neue Herausforderungen auf mich warten.
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Zusammenfassung
Hintergrund: Lernen in virtuellen Realitäten (VR) gewinnt zunehmend an Bedeutung. Dabei
erscheint VR besonders für affektive Lehr- und Lernziele, wie die Perspektivenübernahme in
Akteure der VR, förderlich zu sein. Bisherige Forschung legte oftmals den Fokus auf die
Untersuchung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, welche die direkten Effekte von
unterschiedlichen VR-Visualisierungstechnologien auf Lernresultate behandeln. Wenig
Forschung erfolgte bislang zu komplexeren Konstellationen von lernrelevanten Variablen.
Daher hat die vorliegende Arbeit zum Ziel, ein Forschungsdesign herauszuarbeiten, mit dem
sowohl direkte Effekte von VR-Visualisierungstechnologien und didaktischen Methoden als
auch mediierende Effekte durch latente in VR stattfindende Lernprozessvariablen und
moderierende Effekte durch Kontextvariablen untersucht werden können. Dazu wird das
Forschungsdesign im Rahmen der vorliegenden Untersuchung experimentell erprobt, indem
hinsichtlich der intendierten Lehr- und Lernziele Head-Mounted-Display (HMD)-basierte VR
Laptop-basierter VR gegenübergestellt wird, gleichzeitig die didaktischen Methoden der
Exposition und der Exploration verglichen sowie die Einflüsse durch zugrundeliegende
Lernprozesse (z.B. Erleben von Präsenz und Flow, kognitive Belastung) und Kontextfaktoren
(z.B. fachliches Vorwissen) kontrolliert werden. Dabei soll auch die Förderlichkeit von VR
hinsichtlich kognitiver (z.B. deklaratives Wissen), affektiver (d.h. Perspektivenübernahme)
und evaluativer (z.B. Tendenz zur Weiterempfehlung) Indikatoren geprüft werden.
Methode: 132 Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klasse wurden rekrutiert. Die
Probanden wurden den Experimentalbedingungen (HMD vs. Laptop und Exposition vs.
Exploration) zugeordnet. Der VR-Inhalt behandelt die Erkundung des Verstecks von Anne
Frank und sieben weiteren Untergetauchten zur Zeit des zweiten Weltkriegs in Amsterdam.
Vor der VR-Erfahrung wurden die Probanden gebeten, ihren Wissensschatz sowie das
Ausmaß an Perspektivenübernahme in Anne Frank einzuschätzen. Nach der VR-Erfahrung
wurden in einem zweiten Fragebogen weitere Maße des Lernens auf affektiver und kognitiver
Ebene, die subjektive Bewertung der VR, soziodemographische Daten, Lernprozessvariablen
sowie relevante Kontextfaktoren erhoben. Die gesammelten Daten sind anhand ausgewählter
inferenzstatistischer Verfahren (z.B. Mediationsanalysen) ausgewertet worden.
Ergebnisse: Ein signifikanter Haupteffekt für die Variable VR-Visualisierungstechnologie
konnte gemittelt über alle Lernindikatoren aufgedeckt werden. Eine Überlegenheit HMD-
basierter VR fand sich jedoch lediglich für zwei evaluative Indikatoren, einen kognitiven
Lernindikator und wenn auch nicht statistisch signifikant für einen affektiven Lernindikator.
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Auch der Haupteffekt für die Variable didaktische Methode war gemittelt über alle
Lernindikatoren signifikant. Hinsichtlich zwei kognitiver Lernindikatoren waren die
Leistungen in den Expositions-Bedingungen signifikant besser als in den Explorations-
Bedingungen. Die Wechselwirkung der Variablen didaktische Methode und VR-
Visualisierungstechnologie war nicht signifikant. Bedeutender als die unidirektionalen
Zusammenhänge sind die Mediations- und Moderationseffekte. Moderationseffekte (z.B.
durch fachliches Vorwissen) konnten nicht gefunden werden bzw. waren uneindeutig.
Mediationseffekte durch Lernprozessvariablen hingegen wurden vielfach entdeckt. So kann
das Erleben von Flow und Präsenz sowie kognitiver Belastung innerhalb der VR-Umgebung
bedeutsam die Wirkzusammenhänge zwischen VR-Visualisierungstechnologie und
Parametern des Lernens erklären, auch wenn auch hier größtenteils nur Effekte für evaluative
Indikatoren ermittelt werden konnten.
Schlussfolgerungen: Die vorliegende Arbeit konnte exemplarisch aufzeigen, dass die
Untersuchung komplexer Interaktionsgefüge von VR-Visualisierungstechnologien,
didaktischen Methoden, Lernprozessvariablen und Kontextfaktoren einen bedeutsamen
Beitrag zum Verständnis von Lernen in VR-Umgebungen leisten kann. Vorteile HMD-
basierter VR gegenüber Laptop-basierter VR hinsichtlich einiger Lernindikatoren wurden
aufgedeckt. Es konnten jedoch nicht wie erwartet eindeutige Vorteile HMD-basierter VR für
affektive Ziele ermittelt werden. Die signifikanten Befunde der Mediationsanalysen
verweisen darauf, dass direkte Effekte von VR-Visualisierungstechnologien auf Parameter
des Lernens bedeutsam durch diverse Lernprozessvariablen erklärt werden können und
systematisch überschätzt werden, wenn solche Lernprozesse nicht berücksichtigt werden.
Über die Ergebnisse der vorliegenden Einzelstudie hinaus, kann die Arbeit zur Erforschung
der Bildungstechnologie VR beitragen, indem methodische und statistische Herangehens-
weisen zur empirischen Untersuchung von Lernen in VR vorgeschlagen werden. Zukünftige
Studien können das erarbeitete Forschungsdesigns adaptieren, so weitere Technologien,
Didaktisierungen, Lernprozesse und Kontrollvariablen untersuchen und damit der Tradition
klassischer Medienvergleichsstudien entgegenwirken.
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Abstract
Theoretical background: Learning in virtual realities (VR) has become increasingly
important. In this context, VR appears to be particularly conducive to affective teaching and
learning goals, such as perspective-taking in VR actors. Previous research has often focused
on investigating cause-effect relationships that focus on the direct effects of different VR
visualization technologies on learning outcomes. Little research has been conducted on more
complex constellations of learning-related variables. Therefore, the present study aims at
elaborating a research design that can be used to investigate both the direct effects of VR
visualization technologies and didactic methods as well as the mediating effects of learning
process variables latent in VR and the moderating effects of contextual variables. For this
purpose, the research design will be experimentally tested in the present research project by
comparing head-mounted display (HMD)-based VR with laptop-based VR with respect to the
intended teaching and learning goals, simultaneously comparing the didactic methods of
exposure and exploration, and controlling for influences by underlying learning processes
(e.g., presence, cognitive load) and contextual factors (e.g., prior knowledge). Moreover, VR's
suitability to promote learning in terms of cognitive (e.g., declarative knowledge), affective
(i.e., perspective-taking), and evaluative (e.g., tendency to recommend) indicators will be
examined.
Methods:132 students of grades eight and nine were recruited. The subjects were assigned to
experimental conditions (HMD vs. laptop and exposure vs. exploration). The VR content
dealt with the exploration of the hiding place of Anne Frank and seven other people at the
time of World War II in Amsterdam. Before the VR experience, a questionnaire asked
subjects to assess their knowledge as well as the extent of perspective-taking in Anne Frank.
After the VR experience, a second questionnaire collected further measures of learning on
affective and cognitive levels, subjective evaluation of VR, sociodemographic data, learning
process variables, and relevant contextual factors. The collected data were analyzed using
selected inferential statistical methods (e.g., mediation analyses).
Results: A significant main effect for the variable VR visualization technology was uncovered
averaged across all learning indicators. However, a superiority of HMD-based VR was found
only for two evaluative indicators, one cognitive learning indicator, and also for one affective
learning indicator, even if not statistically significant. The main effect for the variable didactic
method was also significant averaged across all learning indicators. With respect to two
cognitive learning indicators, performance was significantly better in the exposure conditions
7
than in the exploration conditions. The interaction of the variables didactic method and VR
visualization technology was not significant. More relevant than unidirectional relationships
are the mediating and moderating effects. Moderating effects (e.g., prior knowledge) could
not be found or were ambiguous. Mediating effects through learning process variables were
discovered many times. Thus, the experience of flow and presence as well as cognitive load
within the VR environment can significantly explain the cause-effect relationships between
VR visualization technology and parameters of learning, even if again, for the most part, only
effects for evaluative indicators could be determined.
Conclusion: The present study was able to exemplify that the investigation of complex
interaction structures of VR visualization technologies, didactic methods, learning process
variables, and contextual factors can make a large contribution to the understanding of
learning in VR environments. Advantages of HMD-based VR over laptop-based VR with
respect to some learning indicators were uncovered. However, contrary to what had
been expected, clear advantages of HMD-based VR for affective goals were not identified.
The significant findings of the mediation analyses point to the fact that direct effects of VR
visualization technologies on parameters of learning can be significantly explained by diverse
learning process variables and are systematically overestimated if such learning processes are
not taken into account. Beyond the results of this single study, the work can contribute to the
exploration of VR as an educational technology by suggesting methodological and statistical
approaches to empirically investigate learning in VR. Future studies can use the research
design to investigate further technologies, didactic methods, learning processes, and
contextual variables, thus counteracting the tradition of common media comparison studies.
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung ................................................................................................................................ 2
Zusammenfassung ...................................................................................................................... 4
Abstract ..................................................................................................................................... 6
Inhaltsverzeichnis ....................................................................................................................... 8
Tabellenverzeichnis .................................................................................................................. 11
Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................. 13
1. Einleitung ............................................................................................................................ 17
2. Theoretische Hintergründe ............................................................................................... 19
2.1 Einordnung der Technologie ........................................................................................... 19
2.2 VR als Bildungstechnologie ........................................................................................... 24
2.2.1 Potenziale von VR als Bildungstechnologie ............................................................ 25
2.2.1.1 VR-Lernumgebungen ................................................................................. 25
2.2.1.2 Lehr- und Lernziele in VR .......................................................................... 26
2.2.1.3 Präsenzerleben in VR .................................................................................. 30
2.2.1.4 Erleben von Flow in VR ............................................................................. 33
2.2.2 Herausforderungen von VR als Bildungstechnologie .............................................. 34
2.2.2.1 Kognitive Belastung in VR ......................................................................... 35
2.2.2.2 Strukturierung des Lernprozesses ............................................................... 37
2.2.2.3 Unterschiede zwischen VR-Visualisierungstechnologien .......................... 39
2.2.2.4 Symptome des Unwohlseins in VR ............................................................ 44
2.2.2.5 Fachliches Vorwissen und technologische Vorkenntnisse in VR ............... 45
2.2.3 Effizienz von VR als Bildungstechnologie .............................................................. 46
2.2.4 Theorien und Modelle zum Lernen in VR ............................................................... 50
2.2.4.1 Cognitive Affective Model of Immersive Learning (CAMIL) ................... 51
2.2.4.2 Educational Framework for immersive Learning (EFiL) ........................... 54
2.2.4.3 Meaningful iVR Learning (M-iVR-L) Modell ........................................... 57
2.3 Ziele und Ableitung des Forschungsdesigns ................................................................... 60
9
2.4 Hypothesen ..................................................................................................................... 65
3. Methodik ............................................................................................................................. 68
3.1 Stichprobe ....................................................................................................................... 69
3.2 VR-Umgebung ................................................................................................................ 70
3.3 Prozedur .......................................................................................................................... 75
3.4 Messinstrumente ............................................................................................................. 78
3.5 Datenauswertung ............................................................................................................. 84
4. Ergebnisse ........................................................................................................................... 85
4.1 Deskriptive Kennwerte der Stichprobe ........................................................................... 85
4.2 Deskriptive Kennwerte der Skalen ................................................................................. 85
4.2.1 Exkurs: Qualitative Daten der Transferaufgaben ..................................................... 87
4.3 Testung der Hypothesen I bis III: Haupteffekte.............................................................. 88
4.3.1 Hypothese I: VR-Visualisierungstechnologie .......................................................... 90
4.3.2 Hypothese II: didaktische Methode ......................................................................... 93
4.3.3 Hypothese III: Diskriminierungserfahrungen .......................................................... 95
4.4 Testung der Hypothesen IV und V: Moderationseffekte ................................................ 96
4.5 Testung der Hypothesen VI und VII: Mediationseffekte.............................................. 101
4.5.1 Zweite Annahme von Baron und Kenny (1986): Zusammenhänge zwischen
Visualisierungstechnologie, didaktischer Methode und Lernprozessvariablen .............. 103
4.5.2 Dritte Annahme von Baron und Kenny (1986): Zusammenhänge zwischen
Lernprozessvariablen und Lernindikatoren .................................................................... 106
4.5.3 Vierte Annahme von Baron und Kenny (1986): Überprüfung des indirekten Effekts
......................................................................................................................................... 107
5. Diskussion ......................................................................................................................... 119
5.1 Zusammenfassung und Beurteilung der Befunde ........................................................ 119
5.1.1 Deskriptive Statistiken der Stichprobe ................................................................... 119
5.1.2 Deskriptive Statistiken der Skalen ......................................................................... 119
5.1.3 Hypothese I: VR-Visualisierungstechnologie ........................................................ 122
10
5.1.4 Hypothese II: didaktische Methode ....................................................................... 124
5.1.5 Hypothese III: Diskriminierungserfahrungen ........................................................ 125
5.1.6 Hypothesen IV und V: Moderationseffekte ........................................................... 126
5.1.7 Hypothesen VI und VII: Mediationseffekte........................................................... 127
5.2 Theoretische und methodische Implikationen .............................................................. 131
5.3 Didaktische Implikationen ........................................................................................... 134
5.4 Limitationen der vorliegenden Arbeit .......................................................................... 139
5.5 Zusammenfassung und Fazit ........................................................................................ 142
Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 145
Anhang ................................................................................................................................... 172
Eidesstaatliche Erklärung ....................................................................................................... 200
11
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1. Zusammenfassung gesichteter Studien zum Vergleich unterschiedlicher
Visualisierungstechnologien (HMD vs. Laptop) in VR-Lernumgebungen ............................. 40
Tabelle 2. Effekte von Bildungsmaßnahmen unter Verwendung von VR-Visualisierungs-
technologien (basierend auf Kerres (2018) sowie Windham und Chapman (1990)) .............. 47
Tabelle 3. Übersicht der Konstrukte, deren Indikatoren, Messzeitpunkte, Variablenart und der
zugehörigen Hypothesen .......................................................................................................... 68
Tabelle 4. Lehr- und Lernziele für das Anne Frank VR House ............................................... 74
Tabelle 5. Deskriptive Kennwerte aller verwendeten Skalen .................................................. 86
Tabelle 6. Verteilungen der Experimentalbedingungen .......................................................... 87
Tabelle 7. Ergebnisse der ANOVAs für die unabhängige Variable VR-Visualisierungs-
technologie ............................................................................................................................... 90
Tabelle 8. Ergebnisse der ANOVAs für die unabhängige Variable didaktische Methode ..... 93
Tabelle 9. Ergebnisse der ANOVAs für die unabhängige Variable Diskriminierungs-
erfahrungen ............................................................................................................................... 94
Tabelle 10. Ergebnisse der Moderationsanalysen ................................................................... 98
Tabelle 11. Ergebnisse der multiplen t-Tests für unabhängige Stichproben für die Lern-
prozessvariablen auf den Stufen der Visualisierungstechnologie .......................................... 104
Tabelle 12. Ergebnisse der multiplen t-Tests für unabhängige Stichproben für die Lern-
prozessvariablen auf den Stufen der didaktischen Methode .................................................. 105
Tabelle 13. Spearman-Rangkorrelationen zwischen den Lernprozessvariablen und den Lern-
indikatoren .............................................................................................................................. 107
Tabelle 14. Standardisierungsmaßnahmen für Versuchsleitung ........................................... 172
Tabelle 15. Instruktionen in Expositionsbedingungen unter dem HMD ............................... 174
Tabelle 16. Wissenstest (inklusive Erwartungshorizont) ...................................................... 179
Tabelle 17. Historische Perspektivenübernahme (adaptiert nach Hartmann, 2008) ............. 181
Tabelle 18. Arbeitsbelastung (eigene deutsche Übersetzung der MCLSVE von Andersen &
Makransky, 2021) ................................................................................................................... 183
Tabelle 19. Symptome des Unwohlseins ............................................................................... 186
12
Tabelle 20. Flowerleben (FKS; Rheinberg et al., 2003) ........................................................ 186
Tabelle 21. Präsenzerleben (MPS; Makransky et al., 2017; deutsche Übersetzung von
Volkmann et al., 2018) ........................................................................................................... 187
Tabelle 22. Zufriedenheit und Tendenz zur Weiterempfehlung ............................................ 188
Tabelle 23. Korrelationen zwischen den abhängigen Variablen der MANOVA .................. 189
Tabelle 24. Überprüfung der Normalverteilung mit dem Kolgomorov-Smirnov-Test ......... 190
13
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1. Eigene Darstellung des Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums nach Milgram und
Kishino (1994) .......................................................................................................................... 23
Abbildung 2. Cognitive Affective Model of Immersive Learning (CAMIL; Makransky &
Petersen, 2021; eigene Übersetzung) ....................................................................................... 54
Abbildung 3. Educational Framework for immersive Learning (EFiL; eigene Darstellung und
Übersetzung basierend auf dem Original (Dengel & Mägdefrau, 2018) und der überarbeiteten
Fassung (Dengel & Mägdefrau, 2020)) .................................................................................... 56
Abbildung 4. Meaningful iVR Learning (M-iVR-L) Modell (Mulders et al., 2020; eigene
Übersetzung) ............................................................................................................................ 60
Abbildung 5. Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit basierend auf den Modellen von
Makransky und Petersen (2021), Dengel und Mägdefrau (2020) sowie Mulders et al. (2020)
.................................................................................................................................................. 63
Abbildung 6. Integration der einzelnen Hypothesen ............................................................... 67
Abbildung 7. Das Bücherregal, welches den Eingang zum Hinterhaus tarnte ....................... 71
Abbildung 8. Das Zimmer von Anne Frank und Fritz Pfeffer ................................................ 71
Abbildung 9. Das Hinterhaus .................................................................................................. 72
Abbildung 10. Untersuchungsszenario in einer Experimentalbedingung unter einem HMD..
.................................................................................................................................................. 76
Abbildung 11. Untersuchungsszenario in einer Experimentalbedingung an einem Laptop ... 77
Abbildung 12. Studienablauf (Darstellung in Anlehnung an Spangenberger, Geiger &
Freytag (2022)) ........................................................................................................................ 78
Abbildung 13. Darstellung der Hypothesen I bis III ............................................................... 89
Abbildung 14. Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der
abhängigen Variable Weiterempfehlung .................................................................................. 91
Abbildung 15. Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der
abhängigen Variable Zufriedenheit .......................................................................................... 91
Abbildung 16. Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der
abhängigen Variable Wissenstest ............................................................................................. 92
14
Abbildung 17. Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der
abhängigen Variable Transferaufgabe Verhaltensregeln ......................................................... 92
Abbildung 18. Signifikante Unterschiede bezüglich der didaktischen Methode auf der
abhängigen Variable Wissen Prä-Post-Vergleich .................................................................... 94
Abbildung 19. Signifikante Unterschiede bezüglich der didaktischen Methode auf der
abhängigen Variable Wissenstest ............................................................................................. 94
Abbildung 20. Signifikante Unterschiede bezüglich der Diskriminierungserfahrungen auf der
abhängigen Variable Zufriedenheit .......................................................................................... 96
Abbildung 21. Signifikante Unterschiede bezüglich der Diskriminierungserfahrungen auf der
abhängigen Variable Weiterempfehlung .................................................................................. 96
Abbildung 22. Signifikante Moderation der Variablen didaktische Methode und Vorwissen
auf den Zuwachs an Fachwissen ............................................................................................ 100
Abbildung 23. Signifikante Moderation der Variablen didaktische Methode und Vorwissen
auf die Leistung bei der Transferaufgabe Verhaltensregeln .................................................. 100
Abbildung 24. Darstellung der Hypothese IV ....................................................................... 101
Abbildung 25. Darstellung einer Mediationstestung (eigene Darstellung in Anlehnung an
Baron & Kenny (1986)) ........................................................................................................ 102
Abbildung 26. Überarbeitete Darstellung der Hypothese VI ................................................ 108
Abbildung 27. Darstellung einer signifikanten vollständigen Mediation Flowerlebentotal
Zufriedenheit .......................................................................................................................... 110
Abbildung 28. Darstellung einer signifikanten vollständigen Mediation FlowerlebenVerlauf
Zufriedenheit .......................................................................................................................... 111
Abbildung 29. Darstellung einer signifikanten vollständigen Mediation Physikalische
Präsenz Zufriedenheit .......................................................................................................... 111
Abbildung 30. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische
Arbeitsbelastung durch Instruktionen Zufriedenheit ........................................................... 112
Abbildung 31. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische
Arbeitsbelastung durch Interaktionen Zufriedenheit ........................................................... 113
Abbildung 32. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische
Arbeitsbelastung durch die Umgebung Zufriedenheit ........................................................ 113
15
Abbildung 33. Darstellung einer signifikanten vollständigen Mediation FlowerlebenVerlauf
Weiterempfehlung .................................................................................................................. 114
Abbildung 34. Darstellung einer signifikanten vollständigen Mediation Physikalische
Präsenz Weiterempfehlung ................................................................................................. 114
Abbildung 35. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische Belastung
durch Interaktionen Weiterempfehlung............................................................................... 115
Abbildung 36. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische Belastung
durch die Umgebung Weiterempfehlung ............................................................................ 115
Abbildung 37. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische Belastung
durch Instruktionen Wissenstest .......................................................................................... 116
Abbildung 38. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische Belastung
durch Interaktionen Wissenstest .......................................................................................... 116
Abbildung 39. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische Belastung
durch Interaktionen Transferaufgabe Verhaltensregeln ...................................................... 117
Abbildung 40. Darstellung einer signifikanten partiellen Mediation Extrinsische Belastung
durch die Umgebung Transferaufgabe Verhaltensregeln .................................................... 117
Abbildung 41. Forschungsdesign basierend auf Abbildung 5 mit empirischen Befunden der
vorliegenden Arbeit ................................................................................................................ 131
Abbildung 42. Arbeitsblatt mit Instruktionen für Schülerinnen und Schüler am Laptop
(Exposition) ............................................................................................................................ 176
Abbildung 43. Box-Plot für die unabhängige Variable Visualisierungstechnologie ............ 193
Abbildung 44. Box-Plot für die unabhängige Variable didaktische Methode ...................... 193
Abbildung 45. Box-Plot für die unabhängige Variable Diskriminierungserfahrungen ........ 194
Abbildung 46. Diagramme zur Überprüfung der Linearität für die Moderationsanalysen
Teil 1 ...................................................................................................................................... 196
Abbildung 47. Diagramme zur Überprüfung der Linearität für die Moderationsanalysen
Teil 2 ...................................................................................................................................... 196
Abbildung 48. Diagramme zur Überprüfung der Linearität für die Mediationsanalysen Teil
1 .............................................................................................................................................. 199
16
Abbildung 49. Diagramme zur Überprüfung der Linearität für die Mediationsanalysen Teil
2 .............................................................................................................................................. 199
17
1. Einleitung
Anwendungen aus dem Bereich der virtuellen Realität (VR) finden in unserer modernen
westlichen Gesellschaft aktuell immer mehr Zuspruch. Auch VR-Anwendungen, die zu Lehr-
und Lernzwecken genutzt werden, gewinnen zunehmend an Bedeutung. VR wird dabei
nachgesagt, im Besonderen den Erwerb prozeduraler Fertigkeiten, beispielsweise in
Handwerksberufen, aber auch affektiver Fähigkeiten, wie Perspektivenübernahme oder
prosoziales Verhalten, zu fördern. Insgesamt ist VR als ein Sammelbegriff zu verstehen, der
sich im stetigen Wandel befindet. Eine Reihe unterschiedlichster Visualisierungs-
technologien und Inhalte werden unter diesem Konzept zusammengefasst. Gemeint sein
können 360°-Fotos, die auf Tablets betrachtet werden, oder auch 360°-Filme, die über Brillen
aus Pappkarton, in die Smartphones geschoben werden, angesehen werden. Darüber hinaus
umschließt der Begriff Umgebungen, bei denen sogenannte Head-Mounted-Displays
(HMDs), die Ohren und Augen umschließen, gepaart mit Datenanzügen und Controllern das
Interagieren in gänzlich computergenerierten Räumen ermöglichen. Durch rasant fort-
schreitende technologische Entwicklungen entstehen fortlaufend neue VR-Visualisierungs-
technologien. Die Grenzen verschwimmen. Eine trennscharfe Unterteilung der VR-
Visualisierungstechnologien ist oftmals herausfordernd. Viele Studien rund um die Bildungs-
technologie VR fokussieren daher den Vergleich solcher Visualisierungstechnologien im
Hinblick auf die intendierten Lernergebnisse. Ihr Ziel ist es meist, herauszufinden, mit
welcher Technologie besser oder schlechter gelernt wird. Dabei wird der Technologie die
Fähigkeit zugeschrieben, sie könne das Lernen direkt beeinflussen. In solchen in der
Wissenschaft oft kritisch betrachteten Medienvergleichsstudien wird jedoch das didaktische
Konzept, das hinter der Bildungstechnologie steht, übersehen. Es ist nicht die Technologie,
die dazu führt, dass besser oder schlechter gelernt wird, vielmehr ist es das Zusammenspiel
aus vielen Faktoren, von denen die VR-Visualisierungstechnologie einer ist. In der medien-
didaktischen Forschung wird in diesem Zusammenhang vielfach dazu aufgefordert, von
reinen Medienvergleichsstudien abzusehen und vielmehr Wechselwirkungen zwischen
didaktischen Herangehensweisen und Bildungstechnologien zu untersuchen. Neben der
Technologieform scheint es auch von den intendierten Lehr- und Lernzielen abhängig zu sein,
ob der Einsatz einer bestimmten Bildungstechnologie indiziert ist oder nicht. Während VR-
Technologien sich für den deklarativen Wissenserwerb vielfach als gleichwertig oder sogar
unterlegen zu anderen Lehr- und Lernmethoden erwiesen haben, scheinen sie den Erwerb von
prozeduralen Fertigkeiten sowie affektiven Fähigkeiten eher zu unterstützen.
18
Darüber hinaus wurden in bisherigen Studien zu Lernen in VR-Umgebungen besonders
Lernresultate in den Blick genommen. Latente innerhalb der VR-Erfahrung ablaufende Ver-
arbeitungsprozesse wurden dagegen bislang selten betrachtet. Dazu zählen, um nur einige
Beispiele zu nennen, das Erleben von Präsenz oder von kognitiver Belastung innerhalb der
VR-Umgebung. Es ist davon auszugehen, dass solche Lernprozessvariablen bedeutsam die
Effekte von didaktischen Methoden und Visualisierungstechnologien auf Maße des Lernens
erklären können. Auch Kontextfaktoren, wie beispielsweise die individuellen Vorkenntnisse
im praktischen Umgang mit einer Bildungstechnologie, wurden selten berücksichtigt. Um die
komplexen Kausalzusammenhänge untersuchen zu können, wird im Rahmen der
vorliegenden Arbeit ein angemessenes Forschungsdesign ausgearbeitet. Aus dem Design wird
ein experimenteller Versuchsaufbau abgeleitet. So können die direkten Effekte auf das Lernen
durch einerseits Didaktisierungen und andererseits VR-Visualisierungstechnologien sowie
deren Wechselwirkungen untersucht werden. Zudem berücksichtigt das Forschungsdesign
latente Lernprozessvariablen und weitere Kontextfaktoren sowie deren Beitrag zum
Verständnis der direkten Effekte. Das Forschungsdesign beinhaltet des Weiteren, wie die
komplexen Wirkzusammenhänge statistisch ausgewertet werden können. Im Rahmen der
vorliegenden Arbeit wird das Forschungsdesign anhand einer ausgewählten VR-Umgebung,
welche über zwei verschiedene VR-Visualisierungstechnologien zugänglich ist, erprobt,
indem diese beiden Visualisierungstechnologien und zwei didaktische Methoden
experimentell untersucht sowie gleichzeitig latente Lernprozessvariablen und relevante
Kontextfaktoren kontrolliert werden. Bei der VR-Umgebung handelt es sich um eine virtuelle
Nachbildung des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam, welche aufgrund ihrer Inhalte darauf
abzielt, das individuelle emotionale Erleben zu tangieren.
Die vorliegende Arbeit ist gegliedert in die Kapitel theoretische Hintergründe,
Methodik, Ergebnisse und Diskussion. Im ersten Kapitel wird VR als Technologie be-
schrieben, Potenziale wie Herausforderungen der Technologie für Bildungszwecke thema-
tisiert, relevante Theorien und Modelle zum Lernen in VR vorgestellt sowie Forschungsziele
und Hypothesen der Arbeit erörtert. Im zweiten Kapitel wird die methodische Herangehens-
weise der Arbeit inklusive Beschreibung der Stichprobe, Prozedur, Messinstrumente und
Datenauswertung erläutert. Im dritten Kapitel werden sämtliche Ergebnisse der Arbeit entlang
der aufgestellten Hypothesen präsentiert. Kapitel vier dient der Interpretation und Beurteilung
der Ergebnisse im Forschungskontext. Abschließend werden Implikationen der Arbeit
erörtert, Limitationen diskutiert und ein Fazit gezogen.
19
2. Theoretische Hintergründe
Im Folgenden wird VR als Technologie und als Bildungstechnologie im Speziellen
näher beschrieben. Ferner wird auf eine Reihe von für das Lernen in VR relevante Kontext-
faktoren und innerpsychische Verarbeitungsprozesse eingegangen. Anschließend sollen die
für diese Arbeit relevanten Ziele und Hypothesen im Forschungskontext eingehend erläutert
werden.
2.1 Einordnung der Technologie
Die Begrifflichkeit VR wird im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals als Sammelbegriff
für heterogene Visualisierungstechnologien und nicht trennscharf benutzt. Allen gemein ist
das Verständnis einer computergenerierten und realitätsnahen Echtzeitdarstellung, in die
Individuen virtuell eintreten, die sie multisensorisch erfahren und in der sie über künstliche
und natürliche Nutzerschnittstellen interagieren (Radianti et al., 2020; Zinn, 2019). Häufig
wird außerdem die blickpunktabhängige Bildgenerierung bzw. Egozentrismus als notwenige
Voraussetzung für VR erachtet. Wird durch den Nutzenden eine Bewegung verursacht, so
wird die dreidimensionale Umgebung automatisch und sofort aus der neuen Perspektive
dargestellt (Dörner et al., 2013). Der nachfolgende Abschnitt beginnt mit Definitions-
versuchen und Abgrenzungen von verwandten Technologieformen.
Es ist kaum verwunderlich, dass in frühen Entwicklungsstadien der VR zunächst tech-
nische Merkmale im wissenschaftlichen Fokus standen und die Technologie anhand dieser
eher oberflächlichen Charakteristika definiert wurde. So schreibt Greenbaum (1992) Virtual
Reality is an alternate world filled with computer-generated images that respond to human
movements. These simulated environments are usually visited with the aid of an expensive
data suit which features stereophonic video goggles and fiber-optic data gloves.(S. 58).
Ebenso beginnt für Alsdorf und Bannwart (1995)
die unmittelbare Reaktionszeit des Rechners auf die Manipulation des Benutzers hin interaktiv
(S. 438). Während auch heutzutage, abhängig von der Fachdisziplin,
Bildungstechnologien vielfach anhand ihrer Hardwarebedingungen (d.h. anhand der Ein- und
Ausgabegeräte) charakterisiert und beurteilt werden, versucht wahrnehmungs- und
lernpsychologische Forschung die Technologie eher auf Grundlage zugrundeliegender
kognitiver Verarbeitungsprozesse zu definieren (Bente, Krämer & Petersen, 2002). In einer
Definition von Biocca und Delaney (1995) wird auf beides eingegangen. VR is the sum of the
hardware and software systems that seek to perfect an all-inclusive, sensory illusion of being
present in another (S.63).
20
Mit einer enormen Geschwindigkeit werden die Visualisierungstechnologien, die unter
dem Begriff VR zusammengenommen werden, weiterentwickelt. Global Player wie Meta
1
treiben die Entwicklungen in einem rasanten Tempo voran. Möglicherweise ist die folgende
Einteilung in wenigen Jahren bereits überholt. Nichtsdestotrotz ist die Charakterisierung von
VR anhand ihrer technischen Eigenschaften verbreitet und auch für die vorliegende Arbeit
von Relevanz. Derzeit existieren dreidimensionale Umgebungen, die über zweidimensionale
Bildschirme präsentiert werden und auf Gerätschaften wie Monitoren, Mäusen, Joysticks,
Tastaturen, Mikrofonen und Lautsprechern basieren (Burdea & Coiffet, 2003). Solche VR-
Umgebungen werden häufig als nicht immersiv klassifiziert (Cummings & Bailenson, 2016;
Dörner & Steinicke, 2013; Schroeder, 2010). Stereoskopische Darstellungen übermitteln
visuell Tiefeninformationen, sodass ein räumlicher Eindruck entsteht. Es werden jedoch
weiterhin viele Reize aus der realen Umgebung, wie andere Personen im Raum oder die
Tastatur wahrgenommen. Auditive Inhalte der VR werden über Kopfhörer oder Lautsprecher
dargeboten. Navigation und auch Interaktion mit virtuellen Artefakten erfolgen über Maus,
Joystick oder Tastatur (Lee, Wong & Fung, 2010). Wenn im nachfolgenden Teil dieser Arbeit
von Laptop-Visualisierungstechnologie gesprochen wird, ist stets letztere Beschreibung
gemeint. Immersive VR-Umgebungen dagegen werden oftmals mit der Verwendung so
genannter HMDs assoziiert. Daher wird diese Visualisierungstechnologie im Folgenden mit
dem Kürzel HMD verknüpft. HMDs umschließen Augen und Ohren. Sie erfüllen das gesamte
Sichtfeld und blenden Umweltreize aus der Realität weitgehend aus. Auditive Inhalte der VR
werden über integrierte Kopfhörer vermittelt. Die Displays präsentieren jedem Auge ein Bild
aus einem leicht unterschiedlichen Blickwinkel. Dies ahmt die natürliche menschliche
visuelle Wahrnehmung nach, sodass der stereoskopische Eindruck einer computergenerierten
virtuellen Welt entsteht. Die Sensoren der HMDs berücksichtigen Kopfbewegungen und
ermöglichen Perspektivwechsel und Bewegungen im Raum. Kombiniert wird dies oft mit
Datenhandschuhen, Körperanzügen und Controllern, über deren Funktionalitäten navigiert,
selektiert und interagiert wird (Allmendinger, 2010; Andreas et al., 2010; Dörner et al., 2013).
Schlussendlich gibt es noch so genannte Cave Automatic Virtual Environments (CAVEs). Ein
CAVE ist ein physikalischer Raum, dessen sämtliche Flächen, also Wände, Böden und
Decken, aus Projektionsleinwänden bestehen können. In einem CAVE können sich mehrere
Nutzende simultan bewegen. HMDs, Controller, Körperanzüge und Datenhandschuhe
ermöglichen Interaktion und Bewegung im Raum (Buttussi & Chittaro, 2017).
1
https://about.facebook.com/meta/ (abgerufen am 21.04.2022)
21
Da bereits mehrfach der Begriff der Immersion genannt wurde, soll dieser nachfolgend
erklärt werden. Immersion wird oftmals als technische und objektiv messbare Eigenschaft
eines Mediums verstanden. Nach Cummings und Bailenson (2016) ist Immersion die
Lebendigkeit, die ein System bietet, und das Ausmaß, in dem das System in der Lage ist, die
Außenwelt auszuschließen. Laut Slater und Wilbur (1997) gründet Immersion auf vier
technischen Merkmalen von Ausgabegeräten. Erstens, Sinneseindrücke werden möglichst
ausschließlich durch die Technologie generiert. Zweitens, mehrere Sinne werden an-
gesprochen. Drittens, Ausgabegeräte sollten den Nutzenden komplett umgeben. Viertens, die
Darstellung sollte möglichst lebendig und hochauflösend sein. Gemäß diesen Definitionen
wären VR-Inhalte, die in einem CAVE präsentiert werden, immersiver als dieselben VR-
Inhalte unter einem HMD, die wiederum immersiver als dieselben VR-Inhalte an einem
zweidimensionalen Bildschirm wären. Manche Autorinnen und Autoren (z.B. Dörner et al.,
2013; Makransky & Petersen, 2021) bezeichnen Erfahrungen in VR, welche unter HMDs
oder in CAVEs erlebt werden, per se als immersiv und VR-Erfahrungen, welche an
zweidimensionalen Bildschirmen erlebt werden, per se als nicht immersiv. In der
Wissenschaft gibt es noch weitere Definitionen von Immersion, die davon ausgehen,
Immersion sei ein psychologisches Konstrukt (Regenbrecht & Schubert, 2002; Slater, 2018).
Davon wird in dieser Arbeit Abstand genommen und auf das wahrnehmungspsychologische
Konzept des Präsenzerlebens verwiesen, das in Abschnitt 2.2.1.3 noch ausführlich
beschrieben wird.
Eine weitere ebenfalls eher technisch verstandene Eigenschaft, die VR oftmals
zugeschrieben wird, ist die der Interaktivität. Interaktivität wird assoziiert mit der Handlungs-
freiheit in VR-Umgebungen und dem Ausmaß an Kontrolle, das Nutzende selbst in VR
besitzen (Steuer, 1992). Häufig wird daher auch von Handlungskontrolle oder Kontroll-
faktoren gesprochen (Johnson-Glenberg, 2019; Makransky & Petersen, 2021). Interaktivität
impliziert, dass das zugrundeliegende System eine Eingabe (z.B. eine Geste) über multiple
sensorische Kanäle (z.B. taktil) erfassen und in Echtzeit reagieren kann, was wiederum für die
Nutzenden erkennbar wird (Dörner et al., 2013). Versagt das System, wenn also eine
Handlung in VR (z.B. das Greifen nach einem Gegenstand) nicht die antizipierte Konsequenz
nach sich zieht, kann dies seitens der Nutzenden zur Wahrnehmung eingeschränkter
Handlungskontrolle (Kilteni, Groten & Slater, 2012; Makransky & Petersen, 2021) und
Symptomen des Unwohlseins (Chattha et al., 2020) führen. Neben Interaktionen mit Objekten
kann Interaktion in VR auch mit anderen realen und virtuellen Akteuren stattfinden (Huang,
Rauch & Liaw, 2010). Gemäß Steuer (1992) wird die Interaktivität bestimmt von der Anzahl
22
der Interaktionsmöglichkeiten, von der Geschwindigkeit, mit der das Computersystem auf
Eingaben von Nutzenden reagiert, sowie von der Natürlichkeit der Interaktionen, also der
Übereinstimmung zwischen in der Realität natürlich stattfindenden Handlungsmustern und in
VR getätigten Interaktionen. Demnach variiert, ebenso wie der Immersionsgrad, auch das
Ausmaß an Interaktivität zwischen den verschiedenen VR-Visualisierungstechnologien.
Tastatur, Joystick und Maus, die meist im Zuge von VR-Anwendungen, die über zwei-
dimensionale Bildschirme dargestellt werden, zum Einsatz kommen, bieten oftmals wenig
und simple Interaktionsmöglichkeiten, wie die Selektion von Objekten oder die Veränderung
des Sichtfelds. Die Kontrollmöglichkeiten sind eingeschränkt. Controller, welche meist in
Verbindung mit HMDs eingesetzt werden, versuchen Greif-, Rotations- und weitere
spezifische Handbewegungen realistisch zu simulieren und erlauben so eine Bandbreite an
Interaktionen. Verkabelte Datenhandschuhe und Datenanzüge gehen noch einen Schritt weiter
und ermöglichen vielfältige Interaktionen, die natürlichen Interaktionsformen nahekommen.
Das Greifen oder Verschieben von virtuellen Gegenständen bedarf derjenigen motorischen
Prozesse, die auch in der Realität nötig wären. Neben der Hardware, bestimmen auch die
Inhalte einer VR das Ausmaß an Interaktivität. 360° Bilder oder Filme, die einem festen
Narrativ folgen, lassen den Nutzenden zum passiven Beobachtenden werden. Komplexere
VR-Anwendungen sind weitaus interaktiver und erlauben ein selbstbestimmtes Vorgehen mit
mehr Freiheitsgraden und Kontrolle (Dörner et al., 2013; Makransky & Petersen, 2021).
Mit diesen Eigenschaften unterscheidet sich VR von anderen die Realität erweiternden
Technologien wie etwa Augmented Reality (AR) (Loomis, Blascovich & Beall, 1999;
Milgram & Kishino, 1994). Eine Einordnung der verschiedenen Technologien bietet
Abbildung 1. Die Darstellung wurde in Anlehnung an das Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum
von Milgram und Kishino (1994) erstellt. Die Realität, abgebildet auf der linken Seite des
Kontinuums, besteht ausschließlich aus realen Komponenten. Die Wahrnehmung dieser kann
erfolgen durch die tatsächliche physische Anwesenheit eines Beobachtenden in der realen
Umgebung, ist aber auch über einen Bildschirm (z.B. beim Ansehen eines Films) möglich.
Auf der rechten Seite des Kontinuums befinden sich Umgebungen, die vollständig virtuell
sind. Eine solche Umgebung besteht nur aus virtuellen Komponenten. Ihre Wahrnehmung
durch den Beobachtenden erfolgt ausschließlich durch virtuelle Repräsentationen (z.B. über
ein HMD). Der Begriff Mixed Reality betrifft den Bereich zwischen Realität und VR. Es sind
nicht nur Objekte aus der realen Welt, sondern auch solche aus der virtuellen Welt enthalten.
Je nach Umfang der realen oder virtuellen Inhalte wird von AR oder Augmented Virtuality
23
(AV) gesprochen. Bei AR wird die reale Umgebung mit virtuellen Inhalten angereichert bzw.
erweitert. Bei AV ist es umgekehrt.
Abbildung 1
Eigene Darstellung des Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums nach Milgram und Kishino (1994)
Die dargestellten VR-Visualisierungstechnologien unterscheiden sich offensichtlich im
Hinblick auf die verwendeten Ein- und Ausgabegeräte. Allen gemein ist das Ziel, dem
Nutzenden die Illusion der Anwesenheit in einer virtuellen Umgebung zu suggerieren. Ob und
wie adäquat dies gelingt, hängt nicht nur von der eingesetzten VR-Visualisierungstechnologie
ab, sondern beruht auch auf innerpsychischen und meist latent ablaufenden Informationsver-
arbeitungsprozessen zur Interpretation der dargebotenen Sinnesreize (Bente et al., 2002;
Dörner et al., 2013).
An dieser Stelle soll kurz auf die Funktionsweise der menschlichen Informations-
verarbeitung, genauer auf den visuellen Wahrnehmungsapparat, eingegangen werden. Die
Netzhaut des menschlichen Auges ist eine Fläche, auf der visuelle Reize aus der Umwelt
abgebildet werden. Diese Abbildung auf der Netzhaut ist stets zweidimensional. Das
projizierte noch zweidimensionale Bild wird bereits in der Netzhaut analysiert (z.B.
hinsichtlich Farbe und Helligkeit) und bearbeitet (z.B. Kontrastverstärkung). Die beiden
Augen liefern dabei zwei minimal unterschiedliche Bilder. Das menschliche Wahrnehmungs-
system ist darauf ausgerichtet, aus den auf die zweidimensionale Netzhaut der Augen
auftreffenden Reizen einen dreidimensionalen Gesamteindruck der visuellen Umgebung zu
24
generieren. Unbewusst, automatisch und ohne Beanspruchung kognitiver Ressourcen werden
Tiefeninformationen errechnet und die Reize in ein dreidimensionales Perzept überführt
(Dörner et al., 2013; Hibbard, Haines & Hornsey, 2017). Tiefeninformationen werden folglich
zwangsläufig generiert, unabhängig davon, ob die ursprüngliche Darstellung zwei- oder
dreidimensional gewesen ist. Dazu werden automatisch sogenannte Tiefenhinweise dekodiert
(Eysenck & Keane, 2015). Ein Objekt verdeckt ein anderes Objekt, Texturelemente werden
mit größerem Abstand kleiner, Schatten werden geworfen. Solche Hinweise lassen einen
Tiefeneindruck entstehen. Folglich lassen sich auch auf jedem zweidimensionalen Bildschirm
Tiefeninformationen einbringen, welche einen räumlichen Eindruck erzeugen. Auch drei-
dimensionale Artefakte können auf der zweidimensionalen Fläche eines Bildschirms
dargestellt und von Nutzenden als solche dekodiert werden. Damit wird deutlich, dass die
Erzeugung von dreidimensionalen Wahrnehmungseindrücken nur wenig von der
Darstellungsform bzw. der Visualisierungstechnologie abhängig ist. Auch wird verständlich,
dass die beschriebene Konstruktionsleistung des kognitiven Systems das Arbeitsgedächtnis
nicht belastet, da diese automatisch abläuft (Dörner et al., 2013).
Für die visuelle Informationsverarbeitung ist es gemäß den letzten Ausführungen
irrelevant, welche Visualisierungstechnologie zur Darstellung von dreidimensionalen Inhalten
gewählt wird. Dennoch ist davon auszugehen, dass sich darauffolgende innerpsychische
Verarbeitungsprozesse in Abhängigkeit von der VR-Visualisierungstechnologie voneinander
unterscheiden. Solche Verarbeitungsprozesse passieren innerhalb eines Individuums, sind
oftmals nicht direkt erkennbar und daher latent. Die Erforschung dieser ist umso wichtiger,
wenn verstanden werden will, wie sich die technischen Charakteristika einer Visualisierungs-
technologie auf innerpsychische Vorgänge auswirken. Pauschalaussagen zur Über- bzw.
Unterlegenheit einer Visualisierungstechnologie sind wenig gewinnbringend und übersehen
die zugrundeliegenden Mechanismen. Latente Prozessvariablen können möglicherweise die
Wirkweise einer Technologie näher erklären und darüber hinaus differenzierte Aussagen
hinsichtlich der Wirkzusammenhänge zu für Wirtschaft, Praxis wie Wissenschaft
interessanten abhängigen Konstrukten wie Genuss, Kaufverhalten aber auch Lernen liefern.
2.2 VR als Bildungstechnologie
Nachdem in Abschnitt 2.1 VR als Technologie hinreichend eingeführt wurde, soll im
Folgenden VR als Bildungstechnologie im Speziellen näher betrachtet werden. Die Unter-
kapitel 2.2.1 und 2.2.2 beleuchten Potenziale und Herausforderungen von VR in Bildungs-
kontexten. In diesen beiden Abschnitten sollen auch zentrale Einflussgrößen, die das Lernen
25
in VR determinieren, vorgestellt werden. In Abschnitt 2.2.3 wird die Effizienz von VR als
Bildungstechnologie diskutiert. Abschnitt 2.2.4 beschäftigt sich mit ausgewählten Theorien
und Modellen zum Lernen in VR und bildet schließlich die Überleitung zu dem Forschungs-
design, das dieser Arbeit zugrunde liegt.
2.2.1 Potenziale von VR als Bildungstechnologie
VR-Technologien wird ein großes Potenzial zur Gestaltung von Lehr- und Lern-
szenarien zugesprochen. Sie eröffnen Schulen, Hochschulen und anderen Bildungs-
institutionen eine Reihe vielseitiger Anwendungsmöglichkeiten (Dickey; 2005; Fowler, 2015;
Huang et al., 2010). Seit den 90er Jahren wird zunehmend versucht, die vielfältigen
Möglichkeiten von VR zur Verbesserung und Diversifizierung von Lernprozessen in
Bildungskontexten zu nutzen (Bredl & Groß, 2012; De Freitas, 2008). Häufige Einsatzfelder
von VR-Lernanwendungen sind in der Industrie (z.B. Berg & Vance, 2017; Van Wyk & De
Villiers, 2019), im Rettungswesen (z.B. Lerner, Wichmann & Wegner, 2019;
Sankaranarayanan et al. 2018), in der Medizin (z.B. Mantovani et al., 2003; Xin et al., 2019),
in der Ausbildung von Lehrkräften (z.B. Billingsley et al., 2019; Huang et al., 2021) und auch
in schulischen Kontexten (z.B. Dubach et al., 2022; Shim et al., 2003; Yildirim, Elban &
Yildirim, 2018) zu verorten. Hier gilt es jedoch zu betonen, dass der Einsatz von VR wie auch
anderer digitaler Medien nie technologiegetrieben geschehen sollte. VR sollte nur dann
implementiert werden, wenn eine Passung zwischen den gesetzten Lehr- und Lernzielen und
den Möglichkeiten von VR-Anwendungen gegeben ist sowie ein bestehendes Bildungs-
anliegen adressiert wird (Kerres, 2018).
In den nachfolgenden Abschnitten sollen die Potenziale von VR für Bildungszwecke
unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert werden.
2.2.1.1 VR-Lernumgebungen
In Abhängigkeit von der Gestaltung der VR können sehr unterschiedliche Lern-
gelegenheiten und lernbezogene Handlungsmöglichkeiten konstruiert werden. Dazu
differenzieren Schwan und Buder (2006) in die nachfolgenden Welten. Die Differenzierung
wurde anhand der Interaktionsmöglichkeiten, die in den Welten möglich sind, vorgenommen.
Erstens, Trainingswelten, in denen prozedurales Wissen erworben werden kann und psycho-
motorische Fertigkeiten wiederholt trainiert werden können, deren Üben in der Realität nicht
oder nur selten möglich, zu gefährlich oder zu teuer ist (z.B. Piromchai et al., 2015; Zender et
al., 2019). Zweitens, Konstruktionswelten, die das Gestalten eigener VR-Umgebungen und
26
Artefakte ermöglichen. Hier wird das Medium VR selbst zum Lerngegenstand und der
Konstruktions- und Gestaltungsprozess steht im Fokus. Solche Welten sind anspruchsvoll in
der Erstellung, bisher wenig eingesetzt und kaum erforscht (z.B. Wössner, 2019). Drittens,
Explorationswelten, in denen authentische und realistische Lernerfahrungen selbstgesteuert,
aktiv und häufig spielerisch gesammelt werden können. Objekte und Räume, welche für
Lernende bislang nicht oder kaum zugänglich waren, werden durch VR-Technologien
erkundbar. Geografische und zeitliche Barrieren können überwunden werden. Historische
Gebäude, Sehenswürdigkeiten, Planeten, Museen oder auch Teile des menschlichen Körpers
können exploriert werden (z.B. Black, 2017; Parong & Mayer, 2018). Viertens,
Experimentierwelten, in denen physikalische Grenzen überwunden und Lernszenarien
geschaffen werden, welche in der Realität unmöglich sind. Lernenden wird so ein multi-
perspektivischer Blick auf naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten ermöglicht.
Experimente können gefahrenlos durchgeführt werden. Fehler dürfen geschehen und sind
lernförderlich. Aus einer entdeckenden Rolle heraus können vorher aufgestellte Hypothesen
überprüft und so Kausalzusammenhänge erkannt werden (z.B. Bogusevschi, Muntean &
Muntean, 2020; Georgiou, Dimitropoulos & Manitsaris, 2007).
2.2.1.2 Lehr- und Lernziele in VR
Die Potenziale von VR als Bildungsmedium lassen sich, wie oberhalb geschehen,
anhand der möglichen Lernräume erörtern. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die
Potenziale hinsichtlich der Erreichung bestimmter Lehr- und Lernziele zu begutachten.
Oftmals, so zeigte eine Überblicksstudie von Kavanagh et al. (2017) zu VR in Bildungs-
kontexten, werden jedoch in empirischen Untersuchungen statt Indikatoren des Lernens
lediglich Akzeptanz- und Motivationsvariablen erhoben. Eine weitere Herausforderung liegt
in der Operationalisierung von Lernerfolgen. Während Dengel und Mägdefrau (2020) sowie
Jensen und Konradsen (2018) beispielsweise VR-Lernergebnisse auf den Ebenen kognitiv,
psychomotorisch und affektiv betrachten, schlagen Makransky und Petersen (2021) eine
Unterteilung der Lernresultate in Faktenwissen, konzeptuelles Wissen, prozedurales Wissen
sowie Lerntransfer vor.
Experimentelle Studien, die VR mit traditionellen Lehr- und Lernmethoden verglichen
haben, zeigen häufig ein heterogenes Bild bezüglich der Lernresultate durch den Einsatz von
VR. In einer Metaanalyse von Merchant et al. (2014) wurden 69 Studien hinsichtlich der
Lernergebnisse untersucht. Inkludiert wurden Studien zu desktopbasierten VR-Simulationen,
VR-Games und virtuellen Welten bis ins Jahr 2011. In 18 der 29 Studien zu VR-Simulationen
27
konnte im Vergleich zu Kontrollgruppen ein signifikant positiver Effekt auf Lernergebnisse
durch den Einsatz von VR festgestellt werden. Sieben Studien zeigten einen negativen Effekt
und vier Studien keinen Effekt. Merchant et al. (2014) fanden außerdem in einer Moderations-
analyse heraus, dass es einen Einfluss hat, wie Lernergebnisse erhoben werden. Daher soll
nachfolgend der Erfolg von VR-Lernanwendungen differenzierter betrachtet werden, indem
für die unterschiedlichen Lehr- und Lernziele, die eine VR-Lernanwendung haben kann,
exemplarisch empirische Studien vorgestellt werden.
Für den Erwerb von deklarativem Wissen sehen Schwan und Buder (2006) in VR den
Vorteil, Lerninhalte angemessen veranschaulichen zu können. Schwan und Buder (2006)
differenzieren Veranschaulichungen in VR in abbildungstreu, schematisierend,
konkretisierend und metaphorisch. Abhängig von den Lehr- und Lernzielen und auch den
Inhalten erscheinen unterschiedliche Veranschaulichungsformen indiziert. Abbildungstreue
Veranschaulichungen sind notwendig, wenn das VR-Lernszenario möglichst realistisch sein
sollte, um einen Transfer in reale praktische Settings zu ermöglichen. Ein Hebel in einem VR-
Flugsimulator beispielsweise sollte in Optik und Haptik möglichst dem in der Realität
entsprechen. Abbildungstreue Veranschaulichungen kommen besonders der Forderung
konstruktivistischer Lerntheorien nach authentisch gestalteten Lernumgebungen nach. Sie
bieten unmittelbare Verknüpfungen zu Alltagserfahrungen und sind stärker situiert als die
nachfolgenden von Schwan und Buder (2006) aufgeführten Veranschaulichungsformen. In
schematisierenden Veranschaulichungen wird bewusst auf die fotorealistische Darstellung
verzichtet. Lernirrelevante Details werden meist gar nicht dargestellt. Stattdessen wird häufig
die Technik der Größenskalierung herangezogen, indem Lerngegenstände, welche für die
menschliche Wahrnehmung zu groß oder zu klein sind, in ihrer Größe angepasst und
schematisch visualisiert werden. Eine schematische Darstellung des Sonnensystems kann
beispielsweise deklaratives Wissen hinsichtlich der Anordnung und der Größenverhältnisse
von Planeten vermitteln. Konkretisierende Veranschaulichungen helfen, abstrakte und für den
Menschen schwierig zu visualisierende Sachverhalte zu verbildlichen. Die Darstellung von
physikalischen Kräften (z.B. Beschleunigung, Schwerkraft) in VR kann Lernende darin
unterstützen, sich die Konzepte räumlich vorzustellen und diese zu verinnerlichen.
Metaphorische Veranschaulichungen nutzen Analogien, um abstrakte Sachverhalte
verständlich zu machen. Häufig werden Abläufe in VR personifiziert, beispielsweise wenn die
Funktionsweise eines Motherboards eines Computers als handelnde Person dargestellt wird,
die Datenpakete zwischen verschiedenen Häusern bzw. Zwischenspeichern hin- und herträgt.
Die Ausführungen von Schwan und Buder (2006) weisen darauf hin, dass VR die Möglichkeit
28
bietet, einen Lerngegenstand anders und möglicherweise eher den Bedarfen der Lernenden
entsprechend darzustellen, um so die Vermittlung deklarativen Wissens bedeutsam zu unter-
stützen. Empirisch überprüfte unter anderem Webster (2016) den Erwerb deklarativen
Wissens in VR. Er verglich VR-basierten Unterricht mit vorlesungsbasiertem Unterricht und
stellte hinsichtlich des deklarativen Wissenserwerbs Vorteile für die VR-Gruppe fest. Auch
eine Metaanalyse von Woon et al. (2021), in der Studien zu VR-Lernanwendungen im
Bereich Krankenpflege inkludiert wurden, deckte über die Studien hinweg einen mittelgroßen
Effekt im Hinblick auf Wissenserwerb zu Gunsten der VR auf. Makransky, Borre-Gude und
Mayer (2019a) jedoch fanden in einer Studie, in der sie ein Laborsicherheitstraining in drei
unterschiedlichen Versuchsbedingungen (VR-Simulation, Desktop-Simulation, Sicherheits-
manual in Papierform) durchführten, keine bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich des
Erwerbs deklarativen Wissens zwischen den drei inhaltlich äquivalenten Bedingungen. Die
empirische Befundlage erscheint im Hinblick auf den deklarativen Wissenserwerb in VR
insgesamt uneindeutig.
Neben Zielen zum deklarativen Wissenserwerb kann auch der Erwerb prozeduralen
Wissens in VR adressiert werden. Eine Überblicksstudie von Radianti et al. (2020) ergab, dass
VR bislang am häufigsten eingesetzt wurde, um prozedurales Wissen zu vermitteln. Ein
Grund hierfür ist, dass VR optimale Bedingungen für das Einüben von Routinen bietet, indem
Handlungsabläufe verlangsamt und beliebig oft geübt werden können. Zusätzlich können
unterstützende Maßnahmen zur Handlungskontrolle und Rückmeldungen zur Handlungs-
ausführung und Ergebnissen integriert werden. VR-Lernanwendungen zum Erwerb von
prozeduralen Fertigkeiten wurden insbesondere dort eingesetzt, wo Training selten oder nicht
möglich ist. Beispielsweise das Lackieren von Autokarosserieteilen (Zender et al., 2019) oder
das Verhalten im Brandfall (Sankaranarayanan et al., 2018) wird im Bildungsalltag zu selten
trainiert.
Hinsichtlich affektiver Lehr- und Lernziele eröffnen VR-Erfahrungen Lernenden die
Möglichkeit, die sonst weit entfernte und abstrakt erscheinende Lebenswirklichkeit anderer
Personen nachzuempfinden, deren Perspektive einzunehmen und so empathisch die Situation
dieser Personen mitzufühlen (Martingano, Hererra & Konrath, 2021; Troeger & Tümler,
2020). In diesem Zusammenhang wird von VR auch als Empathie-Maschine gesprochen
(Milk, 2015). In einer Studie von Schutte und Stilinovic (2017) wurde den Probanden die
Lebenswirklichkeit eines jungen Mädchens, das in einem Flüchtlingslager lebt, entweder in
VR oder über einen Dokumentarfilm vermittelt. Die Ergebnisse legten dar, dass die VR-
29
Erfahrung im Vergleich zur Kontrollbedingung zu einem höheren Maß an Empathie für das
Flüchtlingsmädchen und zu einer höheren Bereitschaft, prosoziales Verhalten zu zeigen,
führte. In einer weiteren Studie von Dyer, Swartzlander und Gugliucci (2018) sollte
medizinisches Personal im empathischen Umgang mit älteren Personen geschult werden. Die
Ergebnisse zeigten, allerdings ohne den Einsatz einer Vergleichsgruppe, dass VR das Ver-
ständnis für altersbedingte Gesundheitsprobleme verbessern und das Einfühlungsvermögen
für ältere Erwachsene erhöhen kann. Mehrere Studien setzten VR außerdem dafür ein,
Rassismus entgegenzuwirken, indem durch VR die Empathie für diskriminierte Personen
gesteigert wird (Christofi & Michael-Grigoriou, 2017; Roswell et al., 2020). Wenn VR
suggeriert, der Lernende wäre selbst die diskriminierte Person, sind besonders große Effekte
auf die Empathie zu beobachten (z.B. Bertrand et al., 2018). Eine Metaanalyse von Ventura et
al. (2020), welche allerdings nur sieben Artikel umfasst, untersuchte den Zusammenhang von
VR und Empathie. Die Ergebnisse lieferten statistisch signifikante positive Veränderungen in
der Perspektivenübernahme nach der VR-Exposition, aber keine in der Empathie. In einer
Übersichtsarbeit von Martingano et al. (2021), die 43 Primärstudien beinhaltet, konnte
nachgewiesen werden, dass VR die emotionale Empathie verbessert, nicht aber die kognitive
Empathie. VR kann folglich mitfühlende Gefühle wecken, scheint aber nicht zu ermutigen,
sich die Perspektive anderer Menschen vorzustellen. Weitere Analysen der Studie ergaben,
dass VR die Empathie nicht wirksamer förderte als weniger technisch fortgeschrittene
Interventionen (z.B. das Lesen eines Artikels).
Oftmals ist auch der Transfer von Wissen auf neue Situationen als Lehr- und Lernziel
angedacht. In einer Studie von Kozak et al. (1993) wurden hinsichtlich des Erwerbs einer
simplen motorischen Fertigkeit drei Versuchsbedingungen miteinander verglichen: VR-
Training, Training in der Realität, kein Training. Die erlernte Fertigkeit sollte auf eine leicht
veränderte Situation übertragen werden. Es konnte kein Unterschied zwischen denjenigen
Probanden, die am VR-Training teilnahmen, und denjenigen, die kein Training erhielten,
gefunden werden. Die Transferleistungen derjenigen Probanden, die in der Realität
trainierten, waren signifikant besser als die der beiden anderen Gruppen. Auch Velaz et al.
(2014) fanden hinsichtlich einer Fertigkeit in der industriellen Montage keinen Unterschied
zwischen Testpersonen, die die Fertigkeit in VR übten und solchen, die ein Video-Tutorial
dazu ansahen. Nach einer Studie von Rose et al. (2000) hingegen fördert VR den Transfer von
psychomotorischen Fertigkeiten in andere reale Kontexte. Gemäß Champney et al. (2017)
erhöht ein hohes Maß an Realitätsnähe in VR die Wahrscheinlichkeit, dass Lernerfahrungen
auf die reale Umgebung transferiert werden. Außerdem scheint es förderlich, wenn
30
Handlungen in VR mit solchen in der Realität exakt übereinstimmen (Rose et al., 2000;
Wickens & Baker, 1995). Die Studienlage erscheint insgesamt eher ernüchternd. Folglich ist
es eine zentrale Forschungsaufgabe, diejenigen Faktoren zu identifizieren, die den Transfer
von VR zur Realität hemmen bzw. fördern.
2.2.1.3 Präsenzerleben in VR
Aus einer lernpsychologischen Sichtweise heraus genügt es nicht, Lernaktivitäten
anhand der gesetzten Lehr- und Lernziele oder anhand der Lernresultate zu begutachten. Viel-
mehr interessieren die latenten Prozesse, die während einer VR-Erfahrung passieren. Diese
sind zentral für ein tiefergehendes Verständnis von Lernen in VR. So ermöglicht die wissen-
schaftliche Untersuchung solcher Verarbeitungsprozesse es, die Erfahrungsqualität von VR-
Lernerfahrungen näher zu beschreiben. Daher sollten, wenn die Potenziale von VR für
Bildungsszenarien beurteilt werden sollen, auch die zugrundeliegenden Lernprozesse
berücksichtigt werden. Als für das Lernen in VR vielversprechend haben sich die Wirk-
größen des Präsenzerlebens (z.B. Mikropoulos, 2006) sowie des Erlebens von Flow (z.B.
Rutrecht et al., 2021) erwiesen. Diese in der Literatur häufig im Kontext von VR und Lernen
diskutierten Konstrukte sollen daher nachfolgend detailliert beschrieben werden.
Ein zentrales Phänomen, das mit VR immer wieder in Verbindung gebracht wird, ist das
Gefühl, in einer VR-Umgebung präsent zu sein (z.B. Mikropoulos, 2006). Das Erleben von
Präsenz ist subjektiv. Im Englischen wird oftmals der Ausdruck being there genutzt (Ahn &
Bailenson, 2011; Slater, 2018). Dabei wird die Illusion des Präsentseins, also das Eingetaucht-
und Verschmolzensein mit der virtuellen Welt (Sherman & Craig, 2002), oftmals verstanden
als psychologischer Wahrnehmungsprozess, der interindividuell variieren kann (Slater, 2018).
Slater perceptual,
vestibular, proprioceptive, and autonomic nervous systems are activated in a way similar to
that of real life in similar situations 2). Dieses Verständnis steht im Kontrast zum eher
technisch verstandenen Konstrukt der Immersion. Immersion ist objektiv und messbar.
Manchmal werden diese beiden Konzepte jedoch nicht trennscharf betrachtet (Slater, 2018).
So verstehen manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter mentaler Immersion
das Gefühl, in die virtuelle Welt eingetaucht und mit ihr verschmolzen zu sein (z.B. Szabó &
Gilányi, 2020). In der vorliegenden Arbeit jedoch wird Immersion als Merkmal der
Technologie und Präsenzerleben als psychologisches Merkmal behandelt. Eine Beschreibung
des Immersionsbegriffs ist in Kapitel 2.1 zu finden.
31
Hinsichtlich der Beziehung zwischen Immersion und Präsenz geht Steuer (1992) davon
aus, dass Immersion als Merkmal der Technologie das Präsenzerleben als Teil der mensch-
lichen Erfahrungswelt determiniert. Andere Autorinnen und Autoren (z.B. Mania &
Chalmers, 2001; Mikropoulos, 2006) bestätigen diesen Wirkzusammenhang. In einer Meta-
analyse von Cummings und Bailenson (2016) wurde die Beziehung zwischen Immersion als
technische Qualität und Präsenz als psychologischer Prozess eingehend untersucht. Die
Analyse von 115 Effektgrößen aus 83 Studien zeigte, dass Immersion und Präsenzerleben mit
einer Korrelation von r = .32 lediglich mittelstark zusammenhängen. Technische
Charakteristika scheinen demnach zwar bedeutsam positiv mit Präsenzerleben zusammen-
zuhängen, jedoch gibt es einen großen Anteil unaufgeklärter Varianz. Hofer (2019) sowie
Dengel und Mägdefrau (2018) gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass das Erleben
von Präsenz keineswegs durch eine Technologieform an sich entsteht, sondern vielmehr durch
zugrundeliegende motivationale, kognitive und affektive Prozesse während der Rezeption.
Sheridan (2000) beschäftigte sich ebenfalls mit Faktoren, die Einfluss auf das Präsenz-
erleben in VR nehmen und schlug drei Arten von Determinanten der Präsenz vor. Erstens, das
Ausmaß der dargebotenen sensorischen Informationen, was in der vorliegenden Arbeit unter
dem Konzept der Immersion verstanden wird. Zweitens, das Ausmaß an Kontrolle, die man
über die Sensoren in der Umgebung hat. Drittens, das Ausmaß, in dem die Umgebung und
ihre Objekte verändert werden können. Dalgarno und Lee (2010) benennen eine weitere
Determinante von Präsenz, nämlich die Repräsentationsgenauigkeit. Damit gemeint ist, wie
realistisch und authentisch die VR-Umgebung dargestellt ist und wie glatt die Übergänge von
Sichtfeldveränderungen verlaufen.
Häufig wird zwischen physikalischer Präsenz, also dem Gefühl an einem anderen Ort
lokalisiert zu sein, sozialer Präsenz, dem Gefühl mit anderen virtuellen oder realen Akteuren
dort zu sein, und Selbst-Präsenz, dem Gefühl, tatsächlich als Individuum dort vertreten zu
sein, unterschieden (z.B. Bailey et al., 2012; Lee, 2004; Makransky, Lilleholt & Aaby, 2017).
Der Zusammenhang zwischen Präsenzerleben in VR und Lernen wurde bereits in
einigen Studien untersucht. Aufgrund der angenommenen Zusammenhänge zwischen
Immersion und Präsenz, gehen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus,
dass der Einsatz von Technologien, denen eine hohe Immersion zugeschrieben wird (z.B.
HMDs) zu mehr Präsenzerleben führt als der Einsatz von als wenig immersiv beschriebenen
Technologien (z.B. Laptop-basierte VR) (z.B. Shou et al., 2019). In einer Studie von Leder et
al. (2019) absolvierten Studierende ein Sicherheitstraining zur Verwendung einer Bohr-
32
maschine, entweder in einem CAVE oder anhand einer Powerpoint-Präsentation. Die
Probanden im CAVE erlebten bedeutsam mehr Präsenz als Probanden in der Kontrollgruppe.
Hinsichtlich des Wissens zum Sicherheitsverhalten zeigten sich jedoch keine Gruppen-
unterschiede. Auch Schroeder et al. (2017) fanden in einer Studie, in der die Fertigkeit zur
Installation eines Stromgenerators im Fokus stand, keinen Einfluss des Präsenzerlebens auf
die Resultate in einem post hoc durchgeführten Wissenstest. Ein anderes Ergebnis zeigte sich
in einer Untersuchung von Stevens und Kincaid (2015). Sie verglichen im Rahmen eines
militärischen Sicherheitstrainings HMD-basierte VR mit einer Desktopanwendung und
wiesen nach, dass unter dem HMD bedeutsam mehr Präsenz erlebt wurde und auch die
Performanz in einer nachfolgenden Schießübung besser war als am Desktop. Auch Krokos,
Plaisant und Varshney (2018) zeigten in einer Studie, in der es um räumliches Erinnerungs-
vermögen ging, dass Probanden unter einem HMD signifikant mehr erinnerten als Probanden,
die eine vergleichbare Desktopanwendung nutzten. Weitere Untersuchungsergebnisse deuten
ebenfalls darauf hin, dass das Erleben von Präsenz sich positiv auf Lernprozesse auswirkt
(Dengel & Mägdefrau, 2020; Roy & Schlemminger, 2014; Steed et al., 2016) und zwar
insofern, dass ein höheres Präsenzerleben eine stärkere Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf
lernrelevante Reize bedingt. In der Literatur finden sich jedoch auch entgegengesetzte
Befunde. Makransky, Terkildsen und Mayer (2019b) beispielsweise konnten einen negativen
Zusammenhang zwischen Lernen und Präsenzerleben nachweisen. Biochemische Prozesse
wurden entweder über desktopbasierte- oder über HMD-basierte VR vermittelt. Unter HMDs
wurde zwar bedeutsam mehr Präsenz erlebt. Die Lernresultate waren jedoch teilweise
schlechter als am Desktop. Vermutungen gehen in die Richtung, dass ein hohes Präsenz-
erleben negative Auswirkungen auf Aufmerksamkeits- und Verarbeitungsvorgänge unter
anderem durch Distraktion durch viele lernirrelevante Details oder hohes Arousal hat.
Zusammenfassend betrachtet ist die Befundlage nicht eindeutig, wenn auch ein Großteil
der Studienergebnisse dafürspricht, dass mehr Präsenzerleben das Lernen in VR unterstützen
kann. Die vorliegende Arbeit widmet sich daher der Erforschung der mediierenden Wirkung
von Präsenzerleben auf Lernerfolgsmaße.
Präsenzerleben als latentes Konstrukt ist nicht direkt erfassbar. Daher beruhen gängige
Erfassungsmethoden auf subjektiven und retrospektiven Berichten, meist in Form von
Fragebögen (Makransky et al., 2017; Volkmann et al., 2018; Witmer & Singer, 1998). Die
Güte solcher Messungen wird jedoch in Frage gestellt und physiologische Maße (z.B. EKG)
33
oder Verhaltensbeobachtungen gefordert (Freeman et al., 1999; Sanchez-Vives & Slater,
2005).
2.2.1.4 Erleben von Flow in VR
Das Präsenzerleben in VR korreliert mit dem Erleben von Flow in VR (Weibel &
Wissmath, 2011; Zinn, Guo & Sari, 2016). Unter Flowerleben wird verstanden, dass eine
Person eine Tätigkeit als beglückend erlebt. Die Person nimmt dabei keine oder kaum eine
Trennung zwischen sich und der Tätigkeit wahr (Csikszentmihalyi, 1997). Des Weiteren
automatisiert sich der Ablauf der Handlung und die Handlung wird meist schneller und
effektiver ausgeführt. Ein weiteres Merkmal des Flowerlebens ist der Verlust des Zeitgefühls
(Rutrecht et al., 2021). In der pädagogischen Psychologie wird Flowerleben auch als
leistungsrelevante Komponente der Lernmotivation klassifiziert und als motivationssteigernd
beschrieben (Engeser et al., 2005). Demzufolge ist Flow eine positive Emotion in Form
intrinsischen Belohnungsempfindens (Sherry, 2004; Voiskounsky, Mitina & Avetisova,
2004).
Flowerleben ist außerdem abhängig von der Passung zwischen dem Individuum und der
Aufgabe. Demnach kann sich Flow nur dann einstellen, wenn die handelnde Person weder
unterfordert noch überfordert ist (Csikszentmihalyi, 1997). Eine VR-Lernanwendung sollte
dementsprechend ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Fähigkeiten des Lernenden und
den konkreten Lernanforderungen anstreben.
Rheinberg, Vollmeyer und Engeser (2003) betrachten Flowerleben als multi-
dimensionales Konstrukt, das hauptsächlich aus den Facetten glatter automatisierter Verlauf
und Absorbiertheit besteht. Gemeint sind das Fließen von Handlungsketten und das völlige
Aufgehen in einer Tätigkeit. Basierend auf diesen Facetten entwickelten Rheinberg et al.
(2003) einen Fragebogen zur Erfassung des Konstrukts.
Auch das Erleben von Flow wird mit dem Erfolg einer VR-Lernmaßnahme in
Verbindung gebracht. In einer Studie von Bodzin et al. (2021) erkundeten Schülerinnen und
Schüler in VR die Wassereinzugsgebiete des Flusses ihrer Stadt. Sie berichteten bedeutsam
mehr Flow erlebt und mehr gelernt zu haben. Eine Vergleichsgruppe wurde nicht
implementiert. In einer weiteren Studie von Tai et al. (2022) wurde erneut keine Kontroll-
gruppe eingesetzt. 143 Technikstudierende wurden in VR hinsichtlich der Pflege von Auto-
karosserieteilen geschult. Die in einem post hoc Test erfassten prozeduralen Fertigkeiten
konnten signifikant durch das Erleben von Flow in der VR-Umgebung erklärt werden. Eine
34
weitere Studie von Rutrecht et al. (2021) untersuchte 100 Testpersonen, die ein leistungs-
orientiertes Rhythmus-Spiel unter einem HMD oder am Desktop spielten. Die Testpersonen
unter einem HMD gaben im Vergleich zu denen am Desktop an, ein stärkeres Gefühl von
Präsenz erlebt zu haben. Das Spielergebnis konnte zudem bedeutsam durch das Erleben von
Flow erklärt werden. Hinsichtlich Flow unterschieden sich die Gruppen jedoch nicht.
Insgesamt liegen noch wenig empirische Untersuchungen zum Zusammenhang
zwischen Flowerleben in VR und Lernparametern vor. Daran knüpft die vorliegende Arbeit
an.
2.2.2 Herausforderungen von VR als Bildungstechnologie
Mit VR als Bildungstechnologie gehen einige Herausforderungen einher, die den
Einsatz in der Praxis hemmen. Im Bereich der Grund- und weiterführenden Schule finden sich
bislang nur wenige Studien zu VR (Maas & Hughes, 2020). Dies mag an ethischen,
pädagogischen, medizinischen, didaktischen sowie technischen Bedenken, besonders bei
jüngeren Schülerinnen und Schülern, liegen (Zender et al., 2022). In Schulen der beruflichen
Bildung kommen VR-Lernanwendungen eher zum Einsatz (Merchant et al., 2014),
beispielsweise mit dem Ziel, den Aufbau großer technischer Systeme wie Züge, Flugzeuge
oder weitere industrielle Anlagen zu vermitteln (Köhler, Münster & Schlenker, 2013) oder
mit dem Ziel, prozedurale Fertigkeiten, für die es im Berufsalltag zu wenig Trainings-
möglichkeiten gibt, zu festigen (Zender et al., 2019).
Hellriegel und Cubela (2018) betonen, dass VR-Lernanwendungen nur dann effizient in
Bildungskontexten implementiert werden können, wenn der Einsatz in pädagogisch-
didaktische Konzepte, technologische Konzepte sowie in Prozesse der Organisations- und
Personalentwicklung eingebettet ist. Für die Bildungspraxis relevante pädagogisch-
didaktische Konzepte, die einen Einsatz von VR handlungsweisend unterstützen, fehlten
lange (Martin-Gutierrez et al., 2017). Seit einiger Zeit werden jedoch praxisnahe, handlungs-
leitende und evidenzbasierte Einsatz- sowie Gestaltungskriterien für VR-Lernumgebungen
entwickelt (z.B. Chen & Teh, 2013; Dengel et al., 2021; Mulders, Buchner & Kerres, 2020).
Diese müssen zukünftig in verschiedenen Bildungskontexten auf ihre Praktikabilität hin
überprüft und in mehreren Iterationen weiterentwickelt werden, um handlungsweisend für die
Praxis sein zu können. Neben pädagogisch-didaktischen Konzepten fehlt es an
technologischen Konzepten (z.B. im Hinblick auf die Anschaffung und Wartung von
35
Hardware) und an Konzepten für die Organisations- und Personalentwicklung (z.B.
Mitarbeiterschulungen) (Hellriegel & Cubela, 2018).
In den nachfolgenden Kapiteln sollen verschiedene für die vorliegende Arbeit relevante
Herausforderungen, die mit dem Bildungsmedium VR assoziiert werden, im Forschungs-
kontext näher erläutert werden.
2.2.2.1 Kognitive Belastung in VR
In den Abschnitten 2.2.1.3 und 2.2.1.4 wurden bereits die Lernprozessvariablen
Präsenz- und Flowerleben als Determinanten des Erfolgs von VR-Lernanwendungen dis-
kutiert. Hinsichtlich der Herausforderungen, die mit Lernen in VR einhergehen, sollten aus
einer lernpsychologischen Perspektive heraus auch diejenigen latenten Prozesse, die während
einer VR-Erfahrung passieren, thematisiert werden, die für das Lernen in VR möglicherweise
hinderlich sind.
Das Konstrukt der kognitiven Belastung wurde bereits mehrmals im Rahmen dieser
Arbeit genannt und soll an dieser Stelle explizit eingeführt werden. Die Cognitive Load
Theory (CLT; z.B. Sweller, 2020) und die Cognitive Theory of Multimedia Learning (CTML;
z.B. Mayer, 2005) beschreiben, wie kognitive Überlastung entsteht, wenn die beim Lernen zu
verarbeitenden Informationen die begrenzte menschliche Arbeitsgedächtniskapazität über-
steigen. Kognitive Belastung wird durch die kognitiven Anforderungen einer Lernaufgabe
verursacht. Dabei ist kognitive Belastung ein vielschichtiges Konstrukt, welches sich aus
intrinsischer, extrinsischer und lernrelevanter Belastung zusammensetzt (Andersen &
Makransky, 2021; Kalyuga 2011; Sweller, 2020). Die intrinsische Belastung wird durch die
Anzahl der Elemente, die gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis verarbeitet werden müssen und
durch das vorhandene Fachwissen des Lernenden bestimmt (Van Merriënboer & Sweller,
2005). Extrinsische Belastung hängt von der Gestaltung der Lernaufgabe ab und davon, wie
Informationen dem Lernenden präsentiert werden. Ist das Lernmaterial inadäquat gestaltet,
sind zur Verarbeitung zusätzliche Arbeitsgedächtniskapazitäten nötig. Dann ist die
extrinsische Belastung hoch, was den Kompetenzerwerb beeinträchtigen kann. Andersen und
Makransky (2021) unterteilen extrinsische Belastung nach den Ursachen, die eine solche
lernirrelevante Belastung hervorrufen können, in Umgebung, Instruktionen und Interaktionen.
Die lernrelevante Belastung entsteht durch tiefergehende kognitive Verarbeitungsprozesse,
die während des Lernens stattfinden. Im Rahmen der CLT (z.B. Sweller, 2020) und CTML
(z.B. Mayer, 2005) wird gefordert, Lernmaterialien so zu gestalten und so zu begleiten, dass
36
die extrinsische Belastung minimal ist, damit so frei verfügbare Arbeitsgedächtniskapazitäten
für konstruierende Lernaktivitäten genutzt werden können.
Eine Reihe von Studien haben nachgewiesen, dass die kognitive Belastung eine
wichtige Komponente für das Verständnis von Lernprozessen in VR darstellt (z.B. Huang et
al., 2020; Moreno & Mayer 2002; Parong & Mayer, 2021). Der aktuelle Forschungsstand legt
nahe, dass das Lernen in VR zu einer höheren extrinsischen Belastung führt als das Lernen
mit anderen Bildungstechnologien. Letzterer Befund unterstreicht die Bedeutung der Berück-
sichtigung der kognitiven Belastung bei der Entwicklung und der didaktischen Gestaltung von
VR-Lernanwendungen.
Einige Studien haben sich bereits mit der kognitiven Belastung in VR-Lernumgebungen
beschäftigt. In einer Studie von Makransky et al. (2019b) wurden VR-Lerninhalte des Faches
Biologie entweder unter einem HMD oder auf einem Bildschirm präsentiert. Für die HMD-
Bedingungen war eine geringere Lernleistung bei gleichzeitig höherer kognitiver Belastung,
welche objektiv über Hirnstromaktivität gemessen wurde, zu beobachten. Makransky et al.
(2019b) schlussfolgerten, dass das Lernen unter HMDs die Lernenden möglicherweise zu sehr
kognitiv beansprucht und ablenkt. Ein ähnliches Ergebnis lieferte eine Studie von Parong und
Mayer (2018). VR-Inhalte über den menschlichen Körper wurden entweder über HMDs oder
über Laptops dargeboten. Die Lernresultate in der Laptop-Versuchsbedingung waren
signifikant besser als die der HMD-Versuchsbedingung. Auch Parong und Mayer (2018)
führten dieses Studienergebnis auf erhöhte kognitive Belastung durch die Technologieform
zurück.
Hinsichtlich der kognitiven Belastung sollte bei VR-Anwendungen darauf geachtet
werden, welche Form der Veranschaulichung (Schwan & Buder, 2006) angesichts der
gesetzten Lehr- und Lernziele indiziert ist. So erscheint es plausibel, manche Artefakte in VR
abbildungstreu darzustellen, um einen Transfer in die Praxis zu erleichtern. Knöpfe und Hebel
in einem VR-Flugsimulator sollten möglichst so aussehen und so zu bedienen sein, wie es
auch in der Realität der Fall ist. Andernfalls kann dies Transferleistungen erschweren. Andere
Artefakte (z.B. das Inventar des Cockpits) sind weniger lernrelevant. Hier kann zu Gunsten
der kognitiven Belastung auf eine möglichst fotorealistische Darstellung verzichtet, statt-
dessen schematische Darstellungen gewählt und somit dem Prinzip der didaktischen Re-
duktion in VR nachgekommen werden (Jenewein & Hundt, 2009; Schwan & Buder, 2006).
37
Um die kognitive Belastung in VR zu reduzieren, wurden mehrere der im Rahmen der
CTML postulierten Gestaltungsrichtlinien für Multimedia angewendet. Ziel ist es, das Lernen
zu optimieren, indem das Ausmaß der extrinsischen Belastung, die durch eine Lernaufgabe
erzeugt wird, reduziert und gleichzeitig die lernrelevante Belastung erhöht wird, so dass die
begrenzten kognitiven Ressourcen des Lernenden für die Art von Verarbeitung genutzt
werden können, die für das Lernen notwendig ist (Moreno & Mayer, 2007). Die CTML-
Prinzipien der Signalisierung (Albus, Vogt & Seufert, 2021), der Modalität (Moreno &
Mayer, 2002) und des vorgeschalteten Trainings (Meyer, Omdahl & Makransky, 2019) haben
sich in VR als wirksam hinsichtlich der Reduktion der extrinsischen kognitiven Belastung
erwiesen. Parong und Mayer (2018) untersuchten darüber hinaus das Prinzip der
Segmentierung in VR. Dazu unterteilten sie eine virtuelle Simulation über den menschlichen
Körper in sechs kleinere Einheiten. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne
Segmentierung war die kognitive Belastung geringer und die Lernerfolge waren größer. Diese
Untersuchung weist folglich darauf hin, dass VR-Umgebungen, welche einem festen Lern-
pfad folgen und in sinnvolle Segmente gegliedert sind, rein explorativ angelegten VR-
Szenarien hinsichtlich der intendierten Lernprozesse und Lernerfolge überlegen sein könnten.
Auf die Strukturierung von VR-Lernanwendungen soll daher im nachfolgenden Abschnitt
genauer eingegangen werden.
2.2.2.2 Strukturierung des Lernprozesses
Eine weitere Hausforderung liegt laut Schwan und Buder (2006) in der Strukturierung
des Lernprozesses in VR. Gemäß Schwan und Buder (2006) profitieren Lernende von VR-
Lernumgebungen vor allem dann, wenn sie dabei ein spezifisches Ziel verfolgen. Ziele
können entweder explizit durch Instruktionen einer Lehrkraft oder implizit durch
strukturierende Maßnahmen innerhalb der VR vermittelt werden. Als günstig erwiesen hat
sich die Strukturierung einer VR-Lernerfahrung in einzelne überschaubare Segmente (Parong
& Mayer, 2018), die sich in ihrer Komplexität und Schwierigkeit steigern und die durch
Rückmeldungen einer Person, welche das Lernen begleitet, gesteuert werden (Lester, Stone &
Stelling, 1999). In diesem Zusammenhang soll auf das Konzept der direkten Instruktion (z.B.
Rosenshine, 2008) hingewiesen werden. Unter direkter Instruktion wird eine hoch-
strukturierte, durch die Lehrkraft gesteuerte, auf den Lernenden zentrierte, schrittweise und
feedbackreiche Steuerung verstanden. Gemäß dem Konzept werden Inhalte in kleine Ein-
heiten gegliedert, die systematisch aufeinander aufgebaut und explizit vermittelt werden. Zu
den Hauptelementen der direkten Instruktion zählen die Benennung klarer Lehr- und Lern-
38
ziele, das Anknüpfen an vorhandenes Wissen, regelmäßige Verständnisprüfungen und Rück-
meldungen (Kerres, 2018). Hattie (2009) fand in einer Metaanalyse mit über 300 Studien eine
Effektstärke von d = .59 für die Methode der direkten Instruktion, was als mindestens mittel-
groß einzustufen ist.
Im Rahmen der CTML (z.B. Mayer, 2005) wurde das mit dem Konzept der direkten
Instruktion verwandte und in Kapitel 2.2.2.1 bereits erwähnte Prinzip der Segmentierung
entwickelt, welches besagt, dass Individuen besser lernen, wenn eine umfassende Lerneinheit
in Segmenten anstatt eines kontinuierlichen Ganzen präsentiert wird. Dieses Prinzip soll
verhindern, dass eine Überforderung der Lernenden durch zu komplexes Material entsteht
(Mayer, 2005; Mayer & Pilegard, 2005). Jeder Part wird vollständig dargestellt, bevor zum
nächsten Part fortgeschritten wird. Die mittlere Effektstärke dieses Prinzips beträgt d = .98,
was als großer Effekt einzuordnen ist.
Hinsichtlich der Steuerung von Lernenden sei neben dem Konzept der direkten
Instruktion und dem Segmentierungsprinzip auf die Unterscheidung der didaktischen
Methoden Exposition und Exploration (z.B. Kerres, 2018) hingewiesen. Bei expositorischen
Methoden steht eine starke Fremdsteuerung der Lernenden im Fokus. Die Lerninhalte werden
systematisch eingeführt. Die Lernenden bewegen sich entlang eines vorab definierten Lern-
pfades. Bei explorativen Lernszenarien werden die Lernaktivitäten von den Lernenden selbst
gesteuert. Der Lernpfad wird durch die Lernenden gewählt. In einer Metaanalyse verglichen
Karich, Burns und Maki (2014) explorative mit programmgesteuerten Anlagen einer Lern-
umgebung im Hinblick auf den Lernerfolg. Der Gesamteffekt der Steuerung durch den
Lernenden gemittelt über 18 empirische Studien ist als sehr klein einzustufen und nicht
signifikant. Gemäß Kerres (2018) ist keine der beiden didaktischen Methoden immer im
Vorteil, sondern die Wahl ist von didaktischen Bedingungen abhängig zu machen.
Manche VR-Umgebungen sind zudem an ein Narrativ gebunden und lassen den
Lernenden wenig Handlungsspielraum. Andere VR-Umgebungen sind hingegen explorativ
angelegt, folgen keinem festgelegten Pfad und sind nicht in Segmente unterteilt (Schwan &
Buder, 2006). Das Fehlen einer Struktur kann jedoch die Arbeitsgedächtnisbelastung erhöhen
und lernrelevante Verarbeitungsprozesse einschränken (Rey et al., 2019). Um auf die von
Schwan und Buder (2006) geforderte Strukturierung der Lernprozesse in VR zurückzu-
kommen, erscheint die Steuerung von Lernenden auch für das Bildungsmedium VR von
zentraler Bedeutung, jedoch noch nicht hinreichend erforscht zu sein.
39
2.2.2.3 Unterschiede zwischen VR-Visualisierungstechnologien
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass die kognitive Belastung
allein durch die Verwendung von VR-Visualisierungstechnologien erhöht ist. Aus diesem
Grund liegen bereits mehrere systematische Übersichten vor, die den didaktischen Nutzen von
VR-Lernanwendungen im Vergleich zu anderen traditionellen Lehr- und Lernmethoden
betrachtet haben (Hew & Cheung, 2010; Jensen & Konradsen, 2018; Merchant et al., 2014).
In diesen Metaanalysen wurden Studien integriert, die oftmals nur deskriptiv waren, teils
rudimentäre VR-Technologien inkludierten und diese hinsichtlich des Lernerfolgs mit
herkömmlichen und nicht virtuellen Methoden verglichen. Die untersuchten VR-Lern-
umgebungen waren bezüglich der Lernförderlichkeit gleichwertig oder traditionellen
Methoden leicht überlegen. Ein klassischer Medienvergleich von grundlegend verschiedenen
medialen Darstellungsformen, wie er im Rahmen der genannten Metaanalysen geschehen ist,
ist jedoch nicht Ziel dieser Arbeit. Sogenannte Medienvergleichsstudien werden in der
Wissenschaft zudem oft kritisiert (Clark & Mayer, 2016; Reeves, 2006). Parong und Mayer
(2018) bezeiapples-to-oranges type of
comparison
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollen Lernprozesse und -erfolge von zwei didak-
tischen Methoden unter Verwendung zweier VR-Visualisierungstechnologien untersucht
werden. Daher interessiert der bisherige Forschungsstand zu Lernen in VR-Umgebungen in
Abhängigkeit von den verwendeten Ein- und Ausgabegeräten. Folglich werden im Zuge
dieser Arbeit nicht zwei grundlegend verschiedene mediale Darstellungsformen miteinander
verglichen. Vielmehr wird zwischen verschiedenen Visualisierungsformen einer einzigen
Technologie differenziert.
Eine Übersicht bisheriger Forschungsarbeiten, welche untersuchten, inwiefern sich
Lernerfolgsmaße hinsichtlich unterschiedlicher VR-Visualisierungstechnologien voneinander
unterscheiden, ist Tabelle 1 zu entnehmen. Die Tabelle enthält sämtliche Studien einer
systematischen Recherche nach Arbeiten, die VR-Visualisierungstechnologien seit 2012 im
Hinblick auf Lernergebnisse experimentell untersucht haben. Es wurden nur Studien
inkludiert, die HMD-VR-Visualisierungstechnologie mit Laptop-VR-Visualisierungs-
technologie verglichen haben. Eine genaue Beschreibung der beiden VR-Technologien, wie
sie in dieser Arbeit verstanden werden, ist in Abschnitt 2.1 zu finden.
40
Tabelle 1
Zusammenfassung gesichteter Studien zum Vergleich unterschiedlicher Visualisierungs-
technologien (HMD vs. Laptop) in VR-Lernumgebungen
2
Krieg zwischen Japan und Australien um Papua-Neuguinea während des zweiten Weltkriegs
3
Spiel mit Aufgaben zur räumlichen Perspektivenübernahme bzw. zum räumlichen Vorstellungsvermögen
4
Laborsimulation
Studie
Inhalt
Vergleich
Ergebnisse
Abadia, Calvert &
Dasika (2019)
Kokoda VR2
360° Video
Wissen, Empathie:
VG < HMD
Alrehaili & Al Osman
(2019)
Verhalten von
Honigbienen
360° Desktop-
Anwendung
Wissen: VG = HMD
Barnett & Taylor
(2012)
Militär: Befreiung von
Geiseln
360° Desktop-
Anwendung
Prozedurale
Fertigkeiten:
VG = HMD
Bharathi & Tucker
(2015)
Zusammenbau eines
Haushaltgerätes
360° Desktop-
Anwendung
Lösungsdauer:
VG > HMD
Buttussi & Chittaro
(2018)
Flugsicherheit
360° Desktop-
Anwendung
Wissenszuwachs nach
zwei Wochen:
VG = HMD
Freina et al. (2016)
In Your Eyes3
360° Desktop-
Anwendung
Performanz im Spiel:
VG = HMD
Gutierrez et al. (2016)
Durchführen
klinischer Interviews
360° Desktop-
Anwendung
Wissen:
VG = HMD
Klingenberg et al.
(2020)
Labster4
Elektronen Transport
360° Desktop-
Anwendung
Erinnern, Transfer:
VG = HMD
Kozhevnikov &
Gurlitt (2013)
Räumliches
Vorstellungs-
vermögen: Relation
und Bewegung von
Objekten
360° Desktop-
Anwendung
Problemlösefähigkeit:
VG < HMD
Madden et al. (2018)
Mondphasen/
Astronomie
360° Desktop-
Anwendung
Wissen: VG = HMD
Makransky &
Lilleholt (2018)
Labster
DNA-Analyse
360° Desktop-
Anwendung
Lernerfolg (subjektive
Einschätzung):
VG < HMD
41
Fortführung Tabelle 1
Zusammenfassung gesichteter Studien zum Vergleich unterschiedlicher Visualisierungs-
technologien (HMD vs. Laptop) in VR-Lernumgebungen
5
Nur Studie 1 berücksichtigt
6
Interaktive Reise durch den Blutfluss des Körpers
Studie
Inhalt
Vergleich
Ergebnisse
Makransky et al.
(2019a)
Labster
Sicherheitstraining
360° Desktop-
Anwendung
Erinnern: VG = HMD
Transfer: VG < HMD
Makransky et al.
(2019b)
Labster
Proteinexpression
360° Desktop-
Anwendung
Erinnern: VG > HMD
Transfer: VG = HMD
Makransky et al.
(2021)
Labster
DNA-Analyse
360° Desktop-
Anwendung
Prozedurales Wissen,
Transfer: VG = HMD
Deklaratives Wissen:
VG > HMD
Molina-Carmona et al.
(2018)
Geometrische Figuren
360° Desktop-
Anwendung
Räumliche
Visualisierung:
VG < HMD
Moro et al. (2017)
Anatomie/Sezieren
360° Tablet-
Anwendung
Wissen: VG = HMD
Murcia-Lopez &
Steed (2016)
Räumliches
Vorstellungs-
vermögen: Relation
von Objekten
360° Desktop-
Anwendung
Transfer: VG < HMD
Olmos-Raya et al.
(2018)
Modulare Reise durch
Menschheits-
geschichte (z.B.
industrielle
Revolution)
360° Tablet-
Anwendung
Wissen: VG < HMD
Ou, Liu & Tarng
(2021)
Habitat und Verhalten
eines Laubfroschs
360° Desktop-
Anwendung
Vergleich Wissenstest
Prä-Post: VG < HMD
Parmar et al. (2016)
Elektronische
Schaltkreise
360° Desktop-
Anwendung
Kognitiv: VG HMD
Psychomotorisch:
VG > HMD
Parong & Mayer
(2018)5
The Body VR6
Präsentationsfolien
mit Screenshots von
The Body VR
Kognitiv: VG > HMD
42
Fortführung Tabelle 1
Zusammenfassung gesichteter Studien zum Vergleich unterschiedlicher Visualisierungs-
technologien (HMD vs. Laptop) in VR-Lernumgebungen
Anmerkungen. VG = Vergleichsgruppe; Darstellung in alphabetischer Reihenfolge
Die in Tabelle 1 aufgeführten Studienergebnisse weisen darauf hin, dass der Einsatz von
HMDs hinsichtlich der intendierten Lernprozesse und Lernerfolge wenig additionalen Nutzen
gegenüber auf zweidimensionalen Bildschirmen präsentierten VR-Inhalten zu bieten scheint.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ein Großteil der Studien die Untersuchung
unidirektionaler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge von Technologieformen auf Lern-
indikatoren fokussiert hat. Variablen, die die gefunden Zusammenhänge, ob signifikant oder
nicht signifikant, erklären können, wurden oftmals nicht betrachtet. Nur wenige Studien
beschäftigten sich demnach empirisch mit den zugrundeliegenden Faktoren, die für unter-
schiedliche Wirkweisen von VR-Visualisierungstechnologien verantwortlich sein können.
Häufig wurden nur in den Diskussionsteilen der Studien mögliche Ursachen für gefundene
oder nicht gefundene Unterschiede zwischen den VR-Visualisierungstechnologien genannt.
Als Gründe für schlechtere Lernleistungen unter Verwendung von HMDs wurden fehlende
Vertrautheit mit der Hardware, VR induzierte Symptome des Unwohlseins, ein höheres
emotionales Arousal und eine erhöhte Arbeitsgedächtnisbelastung durch lernirrelevante
Details angeführt, welche den Lernenden ablenken (z.B. Makransky et al., 2019a; Parong &
Mayer, 2021; Srivastava et al., 2019). Lernerfolge durch den Einsatz von HMDs wurden mit
der Eignung für bestimmte Lehr- und Lernziele begründet. Demnach seien VR-Lern-
Studie
Inhalt
Vergleich
Ergebnisse
Parong & Mayer
(2021)
Kokoda VR
360° Video
Transfer: VG > HMD
Erinnern: VG = HMD
Roettl & Terlutter
(2018)
Jump & Run Spiel:
Merkfähigkeit
360° Anwendung auf
TV-Bildschirm
Erinnern: VG > HMD
Smith et al. (2018)
Dekontamination
360° Desktop-
Anwendung
Erinnern, Fertigkeiten:
VG = HMD
Srivastava et al.
(2019)
Straßennetzwerk/Stadt
360° Desktop-
Anwendung
Räumliches
Vorstellungs-
vermögen:
VG HMD
Zhao et al. (2020)
Feldausflug in
Geologie
360° Desktop-
Anwendung
Erinnern: VG = HMD
43
anwendungen besonders für prozedurale Fertigkeiten, räumliches Vorstellungsvermögen und
Empathie prädestiniert (z.B. Abadia et al., 2019; Srivastava et al., 2019; Zender et al., 2019).
Dem Vergleich unterschiedlicher VR-Visualisierungstechnologien widmeten sich da-
rüber hinaus bereits einige Überblicksarbeiten. Teils sind dort die in Tabelle 1 aufgeführten
Studien wiederzufinden. In einer aktuellen systematischen Literaturanalyse von Hamilton et
al. (2021), welche 29 Studien umfasst, wurden unter anderem Arbeiten integriert, die HMD-
basierte mit desktopbasierten VR-Lernumgebungen in Vergleich gesetzt haben. Der Großteil
der in dieser Metastudie inkludierten Untersuchungen weist auf einen lernförderlichen Effekt
von HMD-basierter VR hin. An den Primärstudien wird jedoch die unangemessene Erfassung
von Lernerfolgen sowie eine zu starke Fokussierung auf Themen der Biologie und Physik
kritisiert. Auch Wu, Yu und Gu (2020) führten eine Metaanalyse durch, in welcher sie 35
Studien integrierten, die HMD-basierte VR-Lernumgebungen mit als wenig immersiv klassi-
fizierten (z.B. desktopbasierte VR-Umgebungen) oder traditionellen Methoden verglichen.
Dabei wurde über die Studien gemittelt ein positiver, aber kleiner Effekt von g = .24 durch
den Einsatz von HMDs eruiert. In beiden Übersichtsarbeiten wurden HMDs jedoch mit
mehreren unterschiedlichen Visualisierungstechnologien verglichen und nicht ausschließlich
mit desktopbasierter VR, wie es in der vorliegenden Arbeit anhand von Tabelle 1 getan
wurde.
Es sollte ergänzt werden, dass auch aus einer ökonomischen Perspektive der Vergleich
zwischen VR-Anwendungen, die sich entweder HMDs oder Laptops bedienen, legitim
erscheint. In diversen Bildungskontexten, beispielsweise in Schulen, sind HMDs nur selten
und wenn in geringer Stückzahl vorhanden (Bitkom, 2017). Stellte sich heraus, dass über
Laptops zugängliche VR-Lernszenarien zu vergleichbaren oder gar optimierten Lern-
prozessen und -ergebnissen führen, wäre dies unter ökonomischen Gesichtspunkten eine
wichtige Erkenntnis. Laptops, Computer oder Tablets sind oft an Bildungsorten wie Schulen
vorhanden, sodass zumindest frei verfügbare VR-Lernanwendungen unmittelbar ins
Unterrichtsgeschehen integriert werden könnten. Sollte sich jedoch herausstellen, dass der
Einsatz von HMDs in VR-Lernszenarien signifikant bessere Lernprozesse und -ergebnisse zur
Folge hat, wäre dies ebenfalls handlungsweisend für den zukünftigen Einsatz von VR.
In diesem Zusammenhang stellt sich die zentrale Frage, hinsichtlich welcher Konstrukte
sich HMD-basierte von auf Laptops basierenden VR-Lernumgebungen unterscheiden. Die
sichtbaren Unterschiede der VR-Visualisierungstechnologien sind hinreichend in Abschnitt
2.1 beschrieben worden. Neben den erkennbaren Unterschieden gibt es latente Faktoren, die
44
als Korrelate der menschlichen Informationsverarbeitung gelten und somit das Erleben in VR
modifizieren. Die bereits beschriebenen Konstrukte Präsenzerleben, Flowerleben sowie
kognitive Belastung stellen mögliche Determinanten des Lernerfolgs dar. Wie oberhalb
erwähnt, tauchen aber auch durch VR induzierte Symptome des Unwohlseins unter HMDs
bedeutsam öfter auf als am Laptop. Dieses Phänomen soll nachfolgend beschrieben werden.
2.2.2.4 Symptome des Unwohlseins in VR
Einige Studien weisen darauf hin, dass in Zusammenhang mit der Nutzung von VR
während oder als direkte Folge einer VR-Erfahrung Symptome des Unwohlseins (z.B.
Schwindel, Übelkeit) auftreten können (Curry et al., 2020; Kim et al., 2018; Munafo, Diedrick
& Stoffregen, 2017). Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von Motion Sickness,
Cyber Sickness oder von VR Sickness gesprochen. Die Begriffe werden jedoch nicht trenn-
scharf benutzt (Hellriegel & Cubela, 2018). Eine Vielzahl von Symptomen, die mit visuellen
und vestibulären Störungen assoziiert sind, werden zusammengefasst. Jenewein und Hundt
(2009) ordnen die Symptome den Kategorien Übelkeit, okulomotorische Beschwerden und
Desorientierung zu. Die Symptome manifestieren sich auch physiologisch und sind anhand
diverser Parameter (z.B. Zuckerspiegel, Herzrate, Blutdruck) messbar (Chattha et al., 2020).
Unter HMDs sind die Symptome dabei häufiger zu beobachten als an Endgeräten mit
zweidimensionalen Bildschirmen (z.B. Roettl & Terlutter, 2018). Derartige Symptome des
Unwohlseins können sich sowohl auf das Erleben von Präsenz (Kennedy, Drechsler &
Kennedy, 2010) als auch auf Lernerfolge (Kolasinski, 1995; Srivastava et al., 2019) ver-
mindernd auswirken und sollten daher beim Einsatz von VR als Bildungsmedium berück-
sichtigt werden.
Die Anfälligkeit, derartige Symptome in VR zu erleben, ist für Kinder und Jugendliche
höher als für Erwachsene, soll aber mit steigendem Alter sinken (Davis, Nesbitt & Nalivaiko,
2015). Ebenso ist die Wahrscheinlichkeit bei Frauen höher als bei Männern. Auch die bis-
herigen Erfahrungen mit VR scheinen insofern eine Rolle zu spielen, als dass die Auftretens-
häufigkeit mit steigender Nutzung abnimmt (Effekt der Gewöhnung (Chattha et al., 2020)).
Zurückgeführt werden die Symptome auf Unterschiede zwischen visuell vermittelten
und real vom Körper erlebten Bewegungen (Hettinger & Riccio, 1992). In VR-Umgebungen,
in welchen die virtuellen Interaktionsformen den realen entsprechen und diese in Echtzeit
generiert werden, sollten bedeutsam weniger Symptome erlebt werden als in VR-
Umgebungen, in denen die Reaktionen zeitverzögert sind oder noch gravierender eine Person
45
sich nicht bewegt, die VR-Umgebung es aber tut, wie es in VR-Simulatoren der Fall ist, die
beispielsweise eine Autofahrt nachahmen, in welcher der Lernende passiv bleibt. Diese
Diskrepanz stört den menschlichen Gleichgewichtssinn und führt zu als aversiv erlebten
Symptomen. An zweidimensionalen Bildschirmen treten diese Symptome logischerweise
seltener auf, da das Sichtfeld nicht durch die VR erfüllt ist und somit eine visuelle
Verankerung zur Realität bestehen bleibt (Chattha et al, 2020).
Da Symptome des Unwohlseins in VR prävalent zu sein scheinen, sollten diese beim
Einsatz von VR als Bildungsmedium fortlaufend berücksichtigt werden.
2.2.2.5 Fachliches Vorwissen und technologische Vorkenntnisse in VR
Lernergebnisse sind stets abhängig von individuellen Merkmalen der Lernenden. In
Bezug auf VR scheinen besonders fachliches Vorwissen und technologische Vorkenntnisse
als Determinanten des Lernerfolgs kontrolliert werden zu müssen. Wenn diese unberück-
sichtigt bleiben, kann sich das negativ auf Lernresultate auswirken (Meyer et al., 2019;
Tacgin, 2020). Dabei wird unter Vorwissen die Wissensbasis von Lernenden und unter
technologischen Vorkenntnissen die bisher gesammelten Erfahrungen mit der Technologie-
form verstanden.
VR-Lernanwendungen bergen generell das Risiko, sich in der Vielfalt der Möglich-
keiten zu verlieren (Heiß, Eckhardt & Schnotz, 2003; Schwan & Buder, 2006). Der Lern-
prozess in VR an sich bindet bereits Verarbeitungskapazitäten. Fehlen technische Vor-
kenntnisse oder das fachliche Vorwissen, werden zusätzliche Kapazitäten beansprucht, um
das Lernmaterial angemessen verarbeiten zu können. Gerade bei mit VR-Visualisierungs-
technologien wenig vertrauten Lernenden sowie bei gänzlich neu zu erlernenden Fachinhalten
ist eine kognitive Überlastung wahrscheinlich und es empfiehlt sich der Einsatz gezielter
instruktionaler Strategien, um Kapazitäten für die relevanten Lernaktivitäten zu schaffen
(Jenewein & Hundt, 2009). So testeten Meyer et al. (2019) das in der CTML postulierte
Prinzip des vorgeschalteten Trainings in VR, indem sie den Teilnehmenden das Bild des
Aufbaus einer biologischen Zelle darboten, bevor diese in VR die Zelle und deren Bestand-
teile erkundeten. Es zeigten sich lernförderliche Effekte auf Erinnerungs- und Transfer-
leistungen. Auch eine gezielte Steuerung der Lernenden scheint für Personen mit wenig
Fachwissen und wenig technologischen Vorkenntnissen indiziert. Eine sequenzielle
Organisation anhand eines festgelegten Lernwegs bietet sich an.
46
Zu ergänzen ist, dass der Einsatz bestimmter instruktionaler Hilfen für Personen mit
geringem Vorwissen, sogenannte Novizen, lernförderlich sein kann, während dieselben
Methoden das Lernen von Personen mit hohem Vorwissen, sogenannte Experten, nicht
unterstützen oder sogar behindern. Man nennt diese Wechselwirkung Umkehreffekt der
Expertise. Kalyuga und Renkl (2010) erklären diesen Effekt auf der Basis der CLT (z.B.
Sweller, 2020) und der CTML (z.B. Mayer, 2005). Das Arbeitsgedächtnis von Experten wird
durch den Einsatz instruktionaler Unterstützung zusätzlich belastet statt entlastet. Die Ver-
arbeitung von redundanten Informationen kann Lernprozesse stören. Ein hoher Grad an
Expertise schränkt somit den Einsatzbereich instruktionaler Methoden ein. Viele der im
Rahmen der CTML (z.B. Mayer, 2005) formulierten Gestaltungsempfehlungen wirken
lernförderlich bei Novizen, während sie auf Experten einen niedrigen, keinen oder sogar
negativen Effekt aufweisen (Kalyuga & Renkl, 2010).
Daher sollen in dieser Untersuchung sowohl das fachliche Vorwissen als auch die
technologischen Vorkenntnisse hinsichtlich des Bildungsmediums VR als Kontrollvariablen
erfasst werden, um Wechselwirkungen mit den eingesetzten didaktischen Methoden zu er-
mitteln. Hinsichtlich der Strukturierung des Lernprozesses profitieren erfahrene Lernende mit
Vorwissen wahrscheinlich eher von Lernszenarien, welche die Exploration fördern, während
expositionsbasierte Lernszenarien für unerfahrene Lernende ohne Vorwissen eher geeignet
sind. Letztere Annahmen sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit empirisch überprüft
werden.
2.2.3 Effizienz von VR als Bildungstechnologie
Nachdem in den letzten beiden Kapitel 2.2.1 und 2.2.2 Potenziale und Heraus-
forderungen von VR als Bildungstechnologie herausgearbeitet wurden, erweitert das Kapitel
2.2.3 den bisher gelegten Fokus, indem VR und seine Charakteristika nicht länger nur für sich
betrachtet werden. Vielmehr wird der Einsatz von VR in Bildungssettings anhand der nötigen
Aufwendungen kritisch reflektiert und mit anderen Bildungstechnologien in Vergleich
gesetzt.
In der Bildungspraxis interessiert vor allem die Effizienz von Lehr- und Lernangeboten,
welche mit Bildungstechnologien angereichert werden. Dabei wird die Effektivität bzw. die
Wirksamkeit eines Angebots, also inwieweit Lehr- und Lernziele durch das Angebot erreicht
werden können, im Hinblick auf den erforderlichen Einsatz von Ressourcen bewertet. Dem-
nach setzen Bildungsinstitutionen Bildungstechnologien nicht per se ein, weil dieser
47
Technologie ein bestimmter Effekt zugeschrieben wird. Stattdessen wird abgewogen, wie sich
der Effekt zu dem Aufwand, der mit Konzeption und Durchführung verbunden ist, verhält
(Kerres, 2018). Für die Bildungstechnologie VR gilt daher, alle Effekte, ob lernförderlich
oder lernhinderlich (siehe Abschnitte 2.2.1 und 2.2.2), müssen mit allen Aufwendungen, die
mit dem Einsatz von VR-Lernumgebungen assoziiert sind, in Beziehung gesetzt werden.
Die Effektivität verschiedener Bildungstechnologien ist, wie Tabelle 1 (siehe Abschnitt
2.2.2.3) exemplarisch für VR darstellen konnte, gut untersucht. Das Konstrukt der Effizienz
wird hingegen seltener betrachtet. Um allerdings die Effizienz von technologiebasierten Lehr-
und Lernangeboten besser verstehen und erfassen zu können, ist weitere Forschung not-
wendig (z.B. Massy, 2016).
Windham und Chapman (1990) unterscheiden zwecks der Effizienzbestimmung von
Bildungsmaßnahmen zwischen monetären, quantitativen und qualitativen Faktoren. Des
Weiteren wird differenziert zwischen unmittelbaren und langfristigen Folgen einer Bildungs-
maßnahme. Die Unterteilung, wie Windham und Chapman (1990) sie vorgenommen haben,
wurde in Tabelle 2 auf die Bildungstechnologie VR übertragen.
Tabelle 2
Effekte von Bildungsmaßnahmen unter Verwendung von VR-Visualisierungstechnologien
(basierend auf Kerres (2018) sowie Windham und Chapman (1990))
Ergebnis
Folgen
monetär
▪ Anschaffung von Hardware
▪ Anschaffung von Software
bzw. Entwicklung von VR-
Lernanwendungen
▪ Schulung von Lehrkräften
▪ Netzanbindung
▪ Wartung
▪ Instandhaltung
▪ Lizenzen
▪ eingesparte Material- und
anderweitige Kosten
quantitativ
▪ Testergebnisse
▪ Zeitersparnisse
▪ Abschlussnoten
▪ Erfolg in weiterer Schul- und
beruflicher Laufbahn
qualitativ
▪ inhaltliche Qualität der
Bildungsmaßnahme und der
Lernergebnisse
▪ Zufriedenheit
▪ Image der Bildungsinstitution
Hinsichtlich des monetären Aufwands können mit dem Einsatz von VR-Anwendungen
erhebliche finanziellen Kosten einhergehen. Einerseits kann die Beschaffung der Software
Gelder beanspruchen, auch wenn es teilweise kostenfreie Lernanwendungen (z.B. Kokoda
VR, siehe Tabelle 1) gibt. Andererseits fallen durch die Anschaffung der Hardware Kosten an.
48
Dies ist maßgeblich davon abhängig, welche VR-Visualisierungstechnologie zur Darstellung
der Inhalte gewählt wird. Für manche VR-Lernumgebungen kann auf an Bildungs-
institutionen bereits vorhandene Endgeräte (z.B. Tablets, Laptops) zurückgegriffen werden.
Für andere VR-Lernumgebungen braucht es HMDs, deren Kosten sich abhängig vom
Hersteller auf mehrere hundert Euro pro Stück belaufen können. Insgesamt sind die
Anschaffungskosten für Hardware als sehr unterschiedlich einzuschätzen (Hellriegel &
Cubela, 2018). Im Vergleich zu VR-Visualisierungstechnologien fallen für andere Bildungs-
technologien (z.B. Videos) bedeutsam weniger Kosten an. Auch AR-Technologien
beanspruchen wenig Gelder, wenn die Lernenden auf eigene Endgeräte zurückgreifen und frei
verfügbare Bildungsmaterialien (z.B. das AR Spiel Escape Fake, Paraschivoiu et al., 2021)
nutzen. Neben den unmittelbaren Kosten, die durch den Einsatz einer Technologie entstehen,
sollten langfristige Ausgaben für die Wartung und Instandhaltung der Hardware sowie für
Lizenzen für Software eingeplant werden. Letztendlich bietet VR jedoch auch die
Möglichkeit Gelder einzusparen, nämlich dort, wo Lernen in der Realität mit hohem Material-
verbrauch und damit Kosten verbunden ist, beispielsweise im Bereich des Fahrzeug-
lackierens, wo bei jedem Übungsgang Lacke und Werkstücke beansprucht werden (Zender et
al., 2019) oder bei Experimenten zu chemischen Reaktionen (Schwan & Buder, 2006). Auch
Ausflüge an entfernte Orte, die sich eine Bildungsinstitution unter normalen Umständen nicht
leisten könnte, werden möglich (Hellriegel & Cubela, 2018).
Der Nutzen von Bildungsmaßnahmen lässt sich jedoch nicht nur durch monetäre
Größen abbilden. Auch quantitative Maße sollten bei der Effizienzbestimmung berücksichtigt
werden. Hierzu zählen Windham und Chapman (1990) die unmittelbaren Zeitersparnisse und
Testergebnisse, die durch den Einsatz einer bestimmten Bildungstechnologie hervorgerufen
werden. Zeitersparnisse ermöglichen VR-Lernanwendungen insofern, dass entfernte Orte
zeitlich und örtlich flexibel erkundet werden können und es keiner zeitintensiven Exkursion
der Lerngruppe bedarf (Schwan & Buder, 2006). Unmittelbare förderliche Effekte auf Test-
ergebnisse finden sich nur dann, wenn die Wahl der Bildungstechnologie auf den zugrunde-
liegenden Lehr- und Lernzielen fußt. VR-Lernanwendungen, besonders solche, die HMDs
nutzen, scheinen für den Erwerb prozeduraler Fertigkeiten, räumlichen Vorstellungs-
vermögens und Empathie geeignet zu sein (z.B. Abadia et al., 2019; Srivastava et al., 2019;
Zender et al., 2019). Für den deklarativen Wissenserwerb zeigen sich oftmals keine Vorteile
von VR gegenüber traditionelleren Lehr- und Lernmethoden (z.B. Jensen & Konradsen, 2018;
Merchant et al., 2014). Hier würde VR keinen lernförderlichen Effekt generieren, sondern
wahrscheinlich vielmehr zu messbarer kognitiver Belastung führen, die das Lernen behindert
49
(z.B. Makransky et al., 2019a). Hinsichtlich der unmittelbaren Lernresultate sollte VR
folglich nur dann implementiert werden, wenn es die Lehr- und Lernziele erfordern.
Andernfalls sollte dem Prinzip der didaktischen Reduktion nachgekommen werden und auf
andere Methoden gesetzt werden (Jenewein & Hundt, 2009). Die langfristigen Folgen von
Bildungsmaßnahmen sind gemäß Windham und Chapman (1990) Abschlussnoten und
Erfolge in der weiteren schulischen und beruflichen Laufbahn. Bislang ist der Einsatz von VR
in Bildungsinstitutionen wie Schulen noch als unsystematisch zu beschreiben. Querschnitts-
studien sind die Regel. Es finden sich kaum bis keine Untersuchungen zu den Langzeit-
wirkungen von VR als Bildungstechnologie (z.B. Maas & Hughes, 2020). Aufgrund der
fortschreitenden Entwicklungen im Bereich VR lässt sich lediglich vermuten, dass
vorhandene Fertigkeiten im Umgang mit VR-Technologien das Bewältigen von zukünftigen
beruflichen Tätigkeitsfeldern erleichtern, weil diese zunehmend Kenntnisse im Bereich VR
erfordern werden.
Die inhaltliche Qualität gilt nach Windham und Chapman (1990) als die dritte
Determinante der Effizienz von Bildungsmaßnahmen. Bildungstechnologien, wie VR, wird
nachgesagt, dass sie qualitativ andere Formen des Lehrens und Lernens unterstützen. Sie
fördern Lernszenarien, die den Forderungen nach stärker selbstgesteuertem, flexiblem,
anwendungsnahem und kooperativem Lernen entgegenkommen (Kerres, 2018). Oftmals
werden in VR problemorientierte Ansätze adressiert, beispielsweise wenn das Verhalten in
Notfallsituationen geprobt wird (Sankaranarayanan et al., 2018) oder als Lehrkraft
angemessen auf Störungen im Schulunterricht reagiert werden soll (Huang et al., 2021).
Neben den unmittelbaren Folgen gehen Windham und Chapman (1990) davon aus, dass sich
als langfristige Resultate des Einsatzes von modernen Bildungstechnologien ein verbessertes
Image der Bildungsinstitution und eine erhöhte Zufriedenheit bei der Zielgruppe einstellen.
Laut Aichele und Schönberger (2017) setzen viele Bildungsinstitutionen VR-Lern-
anwendungen mit dem langfristigen Ziel ein, das Image der Institution fortschrittlicher und
innovativer zu gestalten. Dass VR-Bildungstechnologien sich positiv auf Variablen der
Zufriedenheit, Motivation und Akzeptanz seitens der Nutzenden auswirken, konnte ein
Großteil der im Rahmen dieser Arbeit berichteten Studien zeigen (z.B. Kavanagh et al.,
2017). Fraglich ist jedoch, von was für einer Dauer letztere Effekte sind.
Insgesamt scheint eine Reihe von Faktoren die Effizienz von VR als Bildungs-
technologie zu determinieren. Es ist stets eine umfassende Begutachtung monetärer,
quantitativer und qualitativer Faktoren mit Blick auf kurzfristige und langfristige Folgen im
50
Einzelfall notwendig. Dabei gilt es den Einsatz von VR im Hinblick auf die einhergehenden
Potenziale und Herausforderungen (siehe Abschnitte 2.2.1 und 2.2.2) zu bewerten, aber auch
andere Bildungstechnologien (z.B. Videos, AR) als angemessene Alternativen zu überdenken.
2.2.4 Theorien und Modelle zum Lernen in VR
Auch wenn sich eine zunehmende Anzahl von Studien, so ist es in den letzten Jahren zu
beobachten, mit VR in Bildungskontexten beschäftigt (z.B. Liu et al., 2017; Makransky &
Petersen, 2021), werden häufig weder Lernprozesse erwähnt, noch bilden Modelle oder
Theorien die Grundlage für VR-Lernszenarien (Allcoat & von Mühlenen, 2018; Fowler 2015;
Mikropoulos & Natsis, 2011; Savin-Baden et al., 2010). Vielmehr ist die Forschung
technologiegetrieben und konzentriert sich oftmals auf Anekdoten, Fallstudien und
Demonstrationen von technischen Prototypen. Es ist zu konstatieren, dass für VR kaum
spezifische Modelle und Theorien zur mediendidaktischen Aufbereitung von VR-Lern-
anwendungen vorliegen. Das konnten auch zwei aktuelle Studien zeigen. Sowohl in einer
Überblicksstudie von Radianti et al. (2020) als auch in einer Metaanalyse von Wu et al.
(2020) wurde auf den Mangel an didaktischen Theorien und Modellen, die Forschung wie
auch Praxis rund um die Bildungstechnologie VR handlungsweisend begleiten, hingewiesen.
Die Untersuchung von Radianti et al. (2020) konnte zudem zeigen, dass bisherige Studien
eher technische Konstrukte und weniger Lernprozesse und Lernergebnisse forcierten. Bei
70% der 38 inkludierten Studien wurde keine Lerntheorie als Basis benannt. Es bedarf
folglich empirischer Forschung zur Entwicklung von Designprinzipien, da sich der
didaktische Nutzen nicht durch die Technologie selbst, sondern durch ein angemessenes
didaktisches Design ergibt (Kerres, 2018). Loke (2015) moniert, dass empirische Forschung
in den kommenden Jahren aufzeigen muss, wie Kompetenzerwerb sinnvoll durch VR unter-
stützt werden kann, sodass messbare Lerneffekte erzeugt werden.
In jüngster Zeit entstehen jedoch theoretische Modelle zum Lernen in VR (Dengel &
Mägdefrau, 2020; Makransky & Petersen, 2021; Mulders et al., 2020). Diese drei Theorien
fokussieren weniger technische Aspekte des Mediums, sondern eher die zugrundeliegenden
Lernprozesse. Andere Modelle, die sich mit VR und Lernen beschäftigen, sind in den nach-
folgend beschriebenen Modellen bereits inkludiert (z.B. Dalgarno & Lee, 2010; Fowler, 2015)
oder forcieren andere relevante Faktoren wie institutionelle Rahmenbedingungen, die Rolle
von Lehrkräften, die Zuordnung zu übergeordneten Lerntheorien oder Sicherheits- und
ethische Bedenken (Emihovich, Xu & Arrington, 2020; De Freitas et al., 2010; Quintana &
Fernández, 2015; Southgate et al., 2019). Da der Fokus der vorliegenden Arbeit auf latenten
51
lernpsychologischen Prozessvariablen liegt, sollen im Folgenden das Cognitive Affective
Model of Immersive Learning (CAMIL) von Makransky und Petersen (2021), das
Educational Framework for immersive Learning (EFiL) von Dengel und Mägdefrau (2020)
sowie das Meaningful immersive VR Learning (M-iVR-L) Modell von Mulders et al. (2020)
im Detail beschrieben werden. Die drei Modelle, besonders das CAMIL, dienen als Basis für
das Forschungsdesign und die darauf aufbauende experimentelle Studie der vorliegenden
Arbeit.
2.2.4.1 Cognitive Affective Model of Immersive Learning (CAMIL)
Das CAMIL von Makransky und Petersen (2021) ist grundlegend für die vorliegende
Arbeit und soll daher nachfolgend besonders detailliert beschrieben werden. Abbildung 2
visualisiert die Modellkomponenten und deren Wirkzusammenhänge.
Makransky und Petersen (2021) haben den Anspruch, die für das Lernen in VR
wichtigsten Einflussfaktoren zu identifizieren. Dafür nehmen sie Bezug auf das Modell von
Lee et al. (2010), das VR als Technologie auf zweidimensionalen Bildschirmen betrachtet,
und auf weitere Modelle (z.B. Salzman et al., 1999). Makransky und Petersen (2021) räumen
ein, dass ihr Modell der Fülle an möglichen Wirkgrößen nicht gerecht werden kann. Das
Rahmenmodell bezieht sich zudem ausschließlich auf immersive VR, worunter mindestens
der Einsatz von HMDs verstanden wird.
Makransky und Petersen (2021) betonen, dass sie im Sinne von Clark (1994) und
Kozma (1994) davon ausgehen, dass ein Medium per se keinen lernförderlichen Effekt
generieren kann. Reine Medienvergleichsstudien seien demnach konfundiert bzw. verzerrt,
weil sie die zugrundeliegenden didaktischen Methoden nicht berücksichtigen. Im CAMIL
werden folglich keine direkten Effekte von Visualisierungstechnologien auf das Lernen
untersucht, sondern vielmehr die von didaktischen Methoden, die bei VR-Lernanwendungen
implementiert wurden. Demnach werden im Modell Wechselwirkungen zwischen Medien
und Methoden angenommen.
Es wird zudem postuliert, dass VR dann von Vorteil sein kann, wenn die Lehr- oder
Lernziele erfordern, dass das Präsenzerleben und bzw. oder die Handlungsfähigkeit, also das
Gefühl, die eigenen Handlungen generieren und kontrollieren zu können (Moore & Fletcher,
2012), groß sein sollen. Das Konstrukt Präsenz und dessen Zusammenhänge mit Lernen sind
in Abschnitt 2.2.1.3 im Detail beschrieben. Die beiden Faktoren Präsenz und Handlungs-
fähigkeit werden als Affordanzen bezeichnet. Sie resultieren zu unterschiedlichen Anteilen
52
aus den technischen Merkmalen eines Mediums, nämlich Immersion (siehe Abschnitt 2.1),
Kontrollfaktoren und Repräsentationsgenauigkeit. Für die Kontrollfaktoren sind das Ausmaß
an Kontrolle bzw. an Freiheitsgraden, die Promptheit der Reaktionen in VR und die Art der
Kontrolle relevant (Witmer & Singer, 1998). Repräsentationsgenauigkeit meint den Grad an
Realismus, Konsistenz von Objektverhalten und die glatten Übergänge zwischen Blickfeld-
veränderungen (Dalgarno & Lee, 2010). Makransky und Petersen (2021) gehen in ihrem
Modell davon aus, dass hohe Immersion, hohe Kontrolle und hohe Repräsentations-
genauigkeit die Wahrnehmung von Präsenz und Handlungsfähigkeit in VR verstärken.
Im nächsten Modellschritt beeinflussen die Affordanzen sechs kognitive und affektive
Faktoren, nämlich Interesse, Motivation, Selbstwirksamkeit, Embodiment, kognitive
Belastung und Selbstregulation. Interesse meint hier situationales Interesse und ist eine kurz-
fristige und affektive Reaktion, die durch die VR-Erfahrung ausgelöst wird (Hidi &
Renninger, 2006). Motivation, genauer intrinsische Motivation, bezieht sich auf das Ausüben
einer Tätigkeit und die damit verbundene Befriedigung (Deci & Ryan, 1985). Selbstwirksam-
keit beinhaltet die Fähigkeiten, die eine Person sich selbst zuschreibt, um Lern- oder ander-
weitige Ziele zu erreichen (Schunk & DiBenedetto, 2016). Embodiment impliziert die Wahr-
nehmung, einen Körper zu besitzen, mit dem mit der Umwelt interagiert werden kann (Kilteni
et al., 2012). Kognitive Belastung wird im Sinne der CLT (z.B. Sweller, Ayres & Kalyuga,
2011; Sweller, 2020) und der CTML (z.B. Mayer, 2005) verstanden als Ergebnis von
Informationsverarbeitungsprozessen angesichts limitierter Arbeitsgedächtniskapazität. Eine
genaue Beschreibung des Konstrukts ist Kapitel 2.2.2.1 zu entnehmen. Selbstregulation
schlussendlich meint die Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung und Impulsunterdrückung (Boyd
et al., 2005). Makransky und Petersen (2021) nehmen an, dass die Wahrnehmung von Präsenz
und Handlungsfähigkeit in VR einhergeht mit hohen Werten auf den sechs kognitiven und
affektiven Faktoren.
Die affektiven und kognitiven Faktoren nehmen im letzten Modellschritt Einfluss auf
diverse Parameter des Lernens in VR, nämlich Faktenwissen, konzeptuelles Wissen,
prozedurales Wissen sowie Lerntransfer. Diese Lernerfolgsmaße sind prävalent, wie die
Überblicksstudie von Radianti et al. (2020) zeigen konnte. Faktenwissen ist definiert als das
Erinnern einzelner Elemente (z.B. Begriffsdefinitionen), während konzeptuelles Wissen
komplexere Wissensstrukturen (z.B. Theorien) adressiert (Andersen et al., 2001). Beide
Parameter werden oftmals als deklaratives Wissen zusammengefasst (Makransky & Petersen,
2021). Prozedurales Wissen beinhaltet Wissen über Vorgänge, das heißt, wie eine bestimmte
53
Handlung auszuführen ist. Prozedurales Wissen manifestiert sich dementsprechend eher im
Verhalten (Andersen et al., 2001). Transferleistungen zeigen sich in neuen Situationen, in
denen das erworbene Wissen angewendet werden soll (Perkins & Salomon, 1992). Makransky
und Petersen (2021) postulieren, dass sich mit Ausnahme der kognitiven Belastung sämtliche
kognitive und affektive Faktoren positiv auf die Lernparameter auswirken. Erhöhtes
situationales Interesse unterstützt gemäß Harackiewicz, Smith und Priniski (2016) die
fokussierte Aufmerksamkeit auf Lerninhalte und macht das Lernen mühelos. Ist ein
Individuum motiviert, verstärkt dies ebenfalls den Fokus auf Lernprozesse und erhöht die
Ausdauer des Lernenden (Dev, 1997). Erhöhte Selbstwirksamkeit führt dazu, dass der
Lernende daran glaubt, über die zur Zielerreichung nötigen Fähigkeiten zu verfügen, was zu
erhöhter Persistenz und vermehrter Anstrengung, gesetzte Ziele zu erreichen, führt (Eccles &
Wigfield, 2002). Hinsichtlich Embodiment wird davon ausgegangen, dass durch die
Integration motorischer Lernaktivitäten andere neuronale Pfade aktiviert werden und durch
diese Multimodalität das Lernen verstärkt wird (Broaders et al., 2007). Embodiment scheint
besonders für den Erwerb prozeduralen Wissens relevant (Kilteni, Bergstrom & Slater, 2013).
Der Wirkzusammenhang zwischen kognitiver Belastung und Lernresultaten scheint
komplexer. Abhängig von der Art der kognitiven Belastung kann eine Arbeitsgedächtnis-
überlastung eintreten, was sich hinderlich auf das Lernen auswirken kann (siehe Abschnitt
2.2.2.1). Ausgeprägte selbstregulative Fähigkeiten können den Einsatz generativer Lern-
strategien erleichtern, was sich in VR in mehreren Studien als lernförderlich erwiesen hat
(z.B. Klingenberg et al., 2020; Parong & Mayer, 2018).
Makransky und Petersen (2021) fordern dazu auf, die in ihrem Modell postulierten aber
empirisch noch wenig erforschten Wirkzusammenhänge unter Verwendung verschiedener
didaktischer Methoden zu untersuchen. Dieser Forderung versucht die vorliegende Arbeit
unter Verwendung zweier didaktischer Methoden bei gleichzeitiger Untersuchung diverser
affektiver wie kognitiver Faktoren, auch solcher, die im CAMIL nicht berücksichtigt wurden,
nachzukommen.
Kritisch reflektierend ergänzen Makransky und Petersen (2021), dass sie im CAMIL
keine externen Einflussfaktoren berücksichtigt haben. Darunter fassen sie individuelle
Dispositionen (z.B. Alter, Geschlecht) und weitere Charakteristika der Lernenden (z.B.
Offenheit für neue Erfahrungen, Vorwissen, Familiarität mit der Technologie), die den
Einfluss von VR auf das Lernen moderieren. Diese Kritik wird durch das von Dengel und
54
Mägdefrau (2020) entwickelte theoretische Rahmenmodell namens EFiL aufgegriffen, das im
nachfolgenden Kapitel näher beschrieben wird.
Abbildung 2
Cognitive Affective Model of Immersive Learning (CAMIL; Makransky & Petersen, 2021;
eigene Übersetzung)
2.2.4.2 Educational Framework for immersive Learning (EFiL)
Das 2018 von Dengel und Mägdefrau entwickelte EFiL baut auf dem Angebots-
Nutzungs-Rahmenmodell von Helmke (2014) auf, das Lernen auf verschiedenen Ebenen
betrachtet. Solche Rahmenmodelle sind komplex und decken zahlreiche Faktoren ab, welche
Einfluss auf den Lernprozess nehmen können, von institutionellen Rahmenbedingungen über
die Lehrkraft hin zu individuellen Wahrnehmungs- und Kognitionsprozessen. Dengel und
Mägdefrau (2018) bedienen sich dieser Darstellungsform, um das Zusammenspiel
technologischer und subjektiver Faktoren im Lernprozess innerhalb von VR-Umgebungen
näher beschreiben zu können. Im Folgenden wird eine überarbeitete Modellversion aus dem
Jahr 2020 vorgestellt. Eine Visualisierung des Modells ist Abbildung 3 zu entnehmen.
Der Fokus bei Dengel und Mägdefrau (2020) liegt auf den Wirkgrößen Immersion und
Präsenz als zentrale Determinanten des Lernens in VR-Umgebungen. Das Verständnis von
Immersion als technisch-objektive Variable und Präsenz als subjektive Variable entspricht
dem Verständnis, das auch der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Dengel und Mägdefrau
55
(2020) gehen darüber hinaus davon aus, dass zwischen Immersion und Präsenz eine Kausal-
beziehung besteht. Sie verordnen Immersion in der Kategorie Lehr-/Lernmedium als Teil des
Angebots an den Lernenden. Sie nehmen des Weiteren an, dass der Inhalt, das Setting aber
eben auch die Immersion das Lehr-/Lernmedium charakterisieren. Das Medium wird von
einer Lehrkraft unter Berücksichtigung von Lehr- sowie Lernzielen angeboten.
Im nächsten Modellschritt löst ein Lehr-/Lernmedium Wahrnehmungs- und Inter-
pretationsvorgänge aus. Dazu zählt gemäß Dengel und Mägdefrau (2020) auch das Erleben
von Präsenz. Insofern, wenn auch nicht explizit im Modell so visualisiert, beeinflusst das
Ausmaß an Immersion das Ausmaß an Präsenzerleben. Die innerpsychischen Interpretations-
und Wahrnehmungsvorgänge, also auch das Präsenzerleben, wiederum stehen unter dem
Einfluss von interindividuell variierenden motivationalen (z.B. das Vorhandensein von
Amotivation oder intrinsischer Motivation), kognitiven (z.B. das Ausmaß an fachlichem
Vorwissen, das Vorhandensein von Lernstrategien) und emotionalen Faktoren (z.B. Angst
oder Neugier hinsichtlich einer unbekannten Technologieform) sowie der bisherigen
Erfahrungen, die Dengel und Mägdefrau (2020) unter dem Begriff Lernpotenzial zusammen-
fassen. Ebenso wird postuliert, dass sich die motivationalen, kognitiven und emotionalen
Faktoren sowie Erfahrungen untereinander beeinflussen. Auch die Lehrkraft und das Lehr-
/Lernmedium an sich determinieren das individuelle Lernpotenzial.
Im nächsten Modellschritt wirken sich die innerpsychischen Vorgänge auf die sich im
Verhalten der Lernenden manifestierenden Lernaktivitäten aus, welche innerhalb und außer-
halb der VR geschehen können. In Anlehnung an Helmke (2014) gehen Dengel und
Mägdefrau (2020) von einer mediierenden, d.h. vermittelnden, Wirkung der Wahrnehmungs-
und Interpretationsvorgänge auf die Lernaktivitäten aus, wodurch bestimmt wird, ob und
welche Lernaktivitäten ausgelöst werden. Die Darstellung einer Mediation gelingt im Modell
von Dengel und Mägdefrau (2020) und auch in dem Modell von Helmke (2014) nicht.
Anhand der üblichen Visualisierung von links nach rechts lässt sich lediglich von direkten,
nacheinander geschalteten Wirkzusammenhängen und nicht von mediierenden Zusammen-
hängen ausgehen. Es fehlt die Darstellung indirekter Effekte. Eine Verbindung zwischen
Medium und Lernaktivitäten existiert im Übrigen gar nicht. Für die vorliegende Arbeit wurde
Dengels und Mägdefraus (2020) Verständnis einer indirekten Beziehung von Lehr-/Lern-
materialien über innerpsychische Lernprozesse auf Lernresultate übernommen.
56
In Dengels und Mägdefraus (2020) Modell werden die Lernaktivitäten zudem durch die
Faktoren des Lernpotenzials determiniert. Die Lernaktivitäten wiederum nehmen im nächsten
Schritt direkt Einfluss auf die Lernergebnisse auf drei verschiedenen Ebenen.
In Anlehnung an Helmke (2014) spielen auch diverse Kontextvariablen eine Rolle für
das Lernen in VR. Hier nehmen Kontextvariablen (z.B. kulturelle Herkunft, Familie) Einfluss
auf die Lehrkraft sowie auf das Lernpotenzial.
Des Weiteren weisen Dengel und Mägdefrau (2018) auf Schwierigkeiten bei der
Erfassung von Lernergebnissen als Resultat von VR-Lernaktivitäten hin. In der überarbeiteten
Modellversion schlagen sie eine Klassifizierung in kognitive, affektive und psychomotorische
Ergebnisse vor (Dengel & Mägdefrau, 2020). Für die kognitive Domäne und damit assoziierte
Lehr- wie Lernziele verweisen sie auf die Taxonomie von Bloom (1956) und dessen Unter-
teilung in Wissen, Verstehen, Anwendung, Analyse, Synthese und Bewertung. Die
Taxonomie von Bloom wurde später von Krathwohl et al. (1975) und Anderson et al. (2001)
unter anderem um affektive Ziele erweitert. Auch für die psychomotorische Domäne
existieren Taxonomien (Göldi, 2011). Generell gibt es für die Erfassung von Lernresultaten
keine für VR spezifischen Messinstrumente, vielmehr hängt die Erfassung von Lern-
ergebnissen von den didaktischen Zielen, den Inhalten und der Fachdisziplin ab.
Abbildung 3
Educational Framework for immersive Learning (EFiL; eigene Darstellung und Übersetzung
basierend auf dem Original (Dengel & Mägdefrau, 2018) und der überarbeiteten Fassung
(Dengel & Mägdefrau, 2020))
57
2.2.4.3 Meaningful iVR Learning (M-iVR-L) Modell
Das M-iVR-L Modell von Mulders et al. (2020) offeriert basierend auf der CTML (z.B.
Mayer, 2005) und damit verbundenen Ansätzen, den aus den Theorien resultierenden Zielen
für das Instruktionsdesign und den spezifischen Attributen, die das Medium VR vereint, sechs
handlungsweisende Richtlinien für die Konzeptionalisierung von VR-Lernumgebungen. Das
Modell ist in Abbildung 4 dargestellt. Wie Makransky und Petersen (2021) beziehen sich
auch Mulders et al. (2020) auf die Gestaltung immersiver VR, was den Einsatz von HMDs
impliziert.
Ausgehend von der Prämisse, dass eine hohe Immersion in VR zu einer Belastung oder
gar Überlastung des limitierten menschlichen Arbeitsgedächtnisses führen kann, wird
gefordert, dass VR nur dann zum Einsatz kommen sollte, wenn tatsächlich ein Bildungs-
problem und gesetzte Lehr- und Lernziele adressiert sowie gleichzeitig relevante Rahmen-
bedingungen (z.B. Charakteristika der Zielgruppe oder der Bildungsinstitution) berücksichtigt
werden (Kerres, 2018; Moreno & Mayer, 2002). Kosten und Nutzen der Implementation von
VR sollten abgewogen werden. Wenn die Entscheidung zu Gunsten des Mediums VR
gefallen ist, sollten jedoch bestimmte Gestaltungsprinzipien, welche Mulders et al. (2020) in
ihrem Modell aufführen, bedacht werden.
Weil das Lernen in VR auch multimediales Lernen darstellt, ziehen Mulders et al.
(2020) als theoretische Basis ihres Modells die CTML (z.B. Mayer, 2005; Mayer & Moreno,
1998) sowie die assoziierten Theorien der dualen Kodierung (z.B. Paivio, 1991), der
kognitiven Belastung (CLT; z.B. Sweller, 2011; Sweller, Van Merriënboer & Paas, 2019) und
der generativen Lernstrategien (z.B. Wittrock, 1992) heran. Im Rahmen der CTML wird
gefordert, sich bei der Gestaltung von multimedialen Lernumgebungen an bestimmte Design-
prinzipien zu halten. Die Theorie der dualen Kodierung geht davon aus, dass menschliche
Verarbeitungsprozesse über zwei Kanäle ablaufen, einen für visuelle Informationen und einen
für verbale Informationen. Die CLT schließt daran an und postuliert, dass die Verarbeitungs-
kapazität dieser Kanäle begrenzt ist. Mehr Informationen zur CLT sind in Abschnitt 2.2.2.1 zu
finden. Die Theorie generativen Lernens geht davon aus, dass Lernen nur dann adäquat ge-
lingen kann, wenn die Verarbeitung des Lernmaterials aktiv und konstruktiv ist. Aufbauend
auf diesen theoretischen Modellen, werden drei Ziele des Instruktionsdesigns benannt (Mayer,
2019), die bei der Gestaltung von multimedialen Lernumgebungen beachtet werden sollten
und die auch den nächsten Schritt im Modell von Mulders et al. (2020) darstellen. Das erste
Ziel ist die Reduktion unnötiger kognitiver Belastung. Darunter fallen Designprinzipien der
58
CTML, die fordern, Distraktoren zu vermeiden, relevante Informationen räumlich sowie
zeitlich zusammen zu präsentieren und wichtige Inhalte hervorzuheben. Das zweite Ziel
beinhaltet, wesentliche kognitive Prozesse zu organisieren, um eine kognitive Überlastung zu
vermeiden. Designprinzipien der CTML, die zur angemessenen Segmentierung von Lern-
materialien und zur Berücksichtigung des Vorwissens auffordern, fallen unter dieses Ziel. Das
dritte Ziel impliziert, generative kognitive Verarbeitung zu fördern, indem beispielsweise
generative Lernstrategien wie Selbstverbalisation oder Zusammenfassen integriert werden.
Werden die Postulate der CTML (z.B. Mayer, 2005) und verwandter Theorien berück-
sichtigt, kann Lernen im Sinne der gesetzten Ziele förderlich sein. Im Englischen wird von
meaningful learning gesprochen und dies von rote learning abgegrenzt (Mayer, 2002). Rote
learning beinhaltet Erinnerungsprozesse, wohingegen meaningful learning ein tieferes Ver-
ständnis von Wissen adressiert, das benötigt wird, um das Wissen auf neue Situationen anzu-
wenden. Um meaningful learning zu erreichen, muss Lernen aktiv, konstruktiv, intentional
und authentisch sein. Meaningful learning beinhaltet die Kompetenzen verstehen, anwenden,
analysieren, bewerten und kreieren. Um eben meaningful learning in VR zu ermöglichen,
passen Mulders et al. (2020) einige der in der CTML (z.B. Mayer, 2005) enthaltenen Design-
prinzipien auf das Lernmedium VR an. Um das jedoch im Kontext VR tun zu können, müssen
die Spezifika des Mediums VR bedacht werden. Daher folgen Mulders et al. (2020) bei der
Charakterisierung der Technologie dem Vorschlag von Burdea und Coiffet (2003), welche
VR anhand der drei Schlüsselmerkmale Immersion, Interaktivität und Imagination
beschreiben. Die Konzepte Immersion und Interaktivität wurden bereits hinreichend in
Kapitel 2.1 dargelegt. Imagination bezieht sich auf die menschliche Fähigkeit, sich nicht-
existente Dinge vorzustellen zu können und die Simulation derer in VR anzunehmen. Burdea
und Coiffet (2003) beschreiben den Imaginationsprozess auch als kreative Leistung.
Basierend auf der CTML (z.B. Mayer, 2005) und assoziierten theoretischen Ansätzen,
den Zielen des Instruktionsdesigns und den VR spezifischen Charakteristika postulieren
Mulders et al. (2020) sechs forschungsbasierte Empfehlungen zur Gestaltung von VR-
Lernumgebungen. Erstens, der Immersionsgrad der VR sollte an die Lehr- und Lernziele
angepasst werden. So verlangen bestimmte Inhalte nach einer hohen Authentizität.
Beispielsweise Glanz und Spiegelung des applizierten Lacks auf Autokarosserieteilen
erscheinen für Fahrzeuglackiererinnen und Fahrzeuglackierer relevant, um ihre Leistung
einschätzen zu können, und sollten daher möglichst realistisch dargestellt werden. Andere
Inhalte der VR wie die Lackierkabine sind für das Lernen weniger relevant. Auf eine
59
fotorealistische Darstellung kann hier verzichtet werden, da unnötige Immersion das
begrenzte Arbeitsgedächtnis zusätzlich belastet. Zweitens, in VR sollten relevante
Interaktionen Lernprozesse unterstützen. Solche Interaktionsformen in VR, die motorischen
Handlungsabläufen der Realität entsprechen, erscheinen hilfreich und erleichtern den
Transfer. Rein spielerische und damit für das Lernen unnötige Interaktionen sollten
vermieden werden. Generell kann das vorgeschaltete Erproben noch unbekannter
Interaktionsformen in VR hilfreich sein. Drittens, komplexe Inhalte sollten in VR in kleineren
Segmenten dargeboten werden, um kognitive Überlastung zu vermeiden. Viertens, das Lernen
in VR sollte angemessen angeleitet werden, sei es durch eine virtuelle Lernbegleitung oder
durch andere Hilfestellungen, beispielsweise das Hervorheben lernrelevanter Informationen.
Fünftens, das individuelle Vorwissen von Lernenden sollte fortlaufend berücksichtigt und das
Ausmaß an Unterstützung sowie die Komplexität des Materials daran angepasst werden.
Sechstens, konstruktive Lernaktivitäten sollten initiiert werden, um die Wissenskonstruktion
und Transferleistungen zu unterstützen. Die Empfehlungen fünf und sechs können sowohl
innerhalb als auch außerhalb der VR-Umgebung realisiert werden.
Das Modell von Mulders et al. (2020) betrifft vor allem die Konzeption von VR-
Lernanwendungen, was zwar für Forschung und Praxis grundlegend ist, aber nicht im Fokus
der vorliegenden Arbeit liegt. Gleichzeitig berichtet das Modell aber auch über relevante
innerpsychische Lernprozesse (z.B. kognitive Belastung beim Lernen in VR) und Kontext-
faktoren (z.B. fachliches Vorwissen der Lernenden). Die Integration dieser Variablen in das
Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit wurde durch das Modell und die zugrundeliegende
Forschung bekräftigt.
60
Abbildung 4
Meaningful iVR Learning (M-iVR-L) Modell (Mulders et al., 2020; eigene Übersetzung)
2.3 Ziele und Ableitung des Forschungsdesigns
Die vorliegende Arbeit intendiert vor dem Hintergrund der im zweiten Teil dieser
Arbeit skizzierten theoretischen Hintergründe zu untersuchen, inwiefern VR-Visualisierungs-
technologien unter Berücksichtigung zweier didaktischer Herangehensweisen geeignet sind,
um das Lernen von Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe bedeutsam zu unterstützen. Am
Beispiel einer historisch relevanten VR-Umgebung, nämlich des in VR nachgebildeten
Verstecks von Anne Frank in Amsterdam, werden kognitive und affektive Parameter des
Lernens sowie die subjektive Bewertung der VR-Anwendung näher beleuchtet. Ein
besonderer Fokus der Arbeit soll auf lernrelevanten Informationsverarbeitungsprozessen
liegen, die die in VR stattfindenden Lernaktivitäten hinreichend erklären können.
Die Arbeit knüpft an das theoretische Rahmenmodell CAMIL von Makransky und
Petersen (2021) an und will einige der darin postulierten Wirkzusammenhänge empirisch
untersuchen. Die nachfolgende Abbildung 5 stellt das Forschungsdesign, das der vorliegenden
Arbeit zugrunde liegt, dar und basiert zu großen Teilen auf der Abbildung 2, welche das
Modell von Makransky und Petersen (2021) visualisiert. Inkludiert wurden darüber hinaus
einzelne Aspekte der Modelle von Dengel und Mägdefrau (2020) sowie Mulders et al. (2020)
(siehe Abbildungen 3 und 4).
61
Wie von Makransky und Petersen (2021) vorgeschlagen, wird in dieser Untersuchung
Lernen in VR unter Verwendung verschiedener Technologien wie auch verschiedener
didaktischer Methoden erforscht. Dabei sollen die Haupteffekte der unabhängigen Variablen,
also didaktische Methode und VR-Visualisierungstechnologie, im Hinblick auf die
abhängigen Variablen, also die Indikatoren des Lernens auf affektiver und kognitiver Ebene
und die Bewertung der VR, untersucht werden. Als didaktische Methoden werden Exposition
und Exploration einander gegenübergestellt (Kerres, 2018). A priori kann basierend auf der
Studienlage nicht angenommen werden, dass eine der beiden didaktischen Methoden per se
im Vorteil ist. Die Umsetzung der didaktischen Methoden orientiert sich auch an den
Prinzipien der direkten Instruktion (z.B. Hattie, 2009; Rosenshine, 2008) und dem im Rahmen
der CTML postulierten Gestaltungsprinzip der Segmentierung (z.B. Mayer, 2005), welches
als Richtlinie auch im Modell von Mulders et al. (2020) zu finden ist. Auf die Umsetzung der
didaktischen Methoden wird in Abschnitt 3.3 im Detail eingegangen. Als VR-
Visualisierungstechnologie werden HMD-basierte VR und Laptop-basierte VR miteinander
verglichen. Basierend auf der bestehenden Forschung (siehe Tabelle 1, Abschnitt 2.2.2.3)
wird angenommen, dass HMD-basierte VR-Szenarien im Besonderen dafür geeignet sind,
affektive Lehr- und Lernziele zu adressieren. Auch für die Bewertung seitens der Lernenden
wird mit einer Überlegenheit HMD-basierter VR gerechnet. Für kognitive Ziele werden keine
Unterschiede zwischen den Visualisierungstechnologien erwartet.
Die von Makransky und Petersen (2021) aufgeführten Modellkomponenten Präsenz und
kognitive Belastung werden als Lernprozessvariablen in das Forschungsdesign inkludiert.
Über die drei vorgestellten Modelle CAMIL (Makransky & Petersen, 2021), EFiL (Dengel &
Mägdefrau, 2020) und M-iVR-L (Mulders et al., 2020) hinweg, haben sich das Erleben von
Präsenz sowie die kognitive Belastung als relevante Wirkfaktoren für das Lernen in VR
erwiesen. Basierend auf Erkenntnissen anderer Forschung (z.B. Bente et al., 2002; Bodzin et
al., 2021; Kim et al., 2018; Tai et al., 2022) werden darüber hinaus das Erleben von Flow und
Symptome des Unwohlseins als Lernprozessvariablen ergänzt. Zudem werden Ansätze des
Modells von Dengel und Mägdefrau (2020) sowie des Modells von Mulders et al. (2020)
integriert, indem sowohl technologische Vorkenntnisse als auch das fachliche Vorwissen als
relevante Kontextfaktoren implementiert und auf deren moderierende Wirkungen hin
kontrolliert werden. Zur Operationalisierung der Lernergebnisse wird sich an Mayers (2002)
Vorstellung von meaningful learning orientiert, indem in VR erworbene Wissensstrukturen
abgerufen sowie transferiert werden sollen. Neben kognitiven Maßen werden in Anlehnung
an Dengel und Mägdefrau (2020) affektive Indikatoren zur Erfassung von Lernergebnissen
62
herangezogen. Zusätzlich wird die subjektive Bewertung der VR-Lernanwendung
berücksichtigt. Basierend auf den vorliegenden Forschungsergebnissen (siehe Abschnitt
2.2.1.2 sowie Tabelle 1 in Abschnitt 2.2.2.3) werden besonders für die affektiven Lehr- und
Lernziele lernförderliche Effekte durch den Einsatz von VR-Visualisierungstechnologien, im
Speziellen durch HMD-basierte VR, erwartet.
Bislang liegen kaum empirische Studien zu den Annahmen der drei noch recht jungen
Modelle vor. Daher soll eine empirische Überprüfung des in Abbildung 5 dargestellten
Forschungsdesigns, auf welchem die vorliegende Arbeit zugrunde basiert, bedeutsam
Erkenntnisse in diesem Forschungssektor generieren. Allen drei Modellen gemein ist die
Darstellung von Lernen in VR als stringenten linearen Prozess. Ein Faktor beeinflusst den
nächsten, der wiederum den nächsten und so weiter. Diese Darstellungsform ist zwar üblich,
unterschätzt jedoch die multikausalen Beziehungen zwischen den Wirkgrößen. Das
Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit hat daher den Anspruch, die komplexen
Interaktionsgefüge lernrelevanter Variablen und damit auch mediierende sowie moderierende
Zusammenhänge angemessener abbilden zu können. Dazu symbolisieren unterschiedlich
gestaltete Pfeile in Abbildung 5 die unterschiedlichen Wirkzusammenhänge.
Durch die Integration von Mediatorvariablen und Moderatorvariablen in das
Forschungsdesign wird neben der Betrachtung von unabhängigen und abhängigen Variablen
die simultane Betrachtung einer Reihe von Drittvariablen möglich. Durch die Kontrolle
solcher Drittvariablen können Konfundierungen vermieden werden. Werden Einflussgrößen,
die mit den unabhängigen Variablen, hier also die didaktische Methode und die VR-
Visualisierungstechnologie, und abhängigen Variablen, hier also die Maße des Lernens,
korrelieren, nicht kontrolliert, können nämlich sogenannte Scheineffekte entstehen. Die
Schätzung der Zusammenhänge zwischen den unabhängigen und abhängigen Variablen ist bei
fehlender Kontrolle relevanter Drittfaktoren verzerrt. So werden Zusammenhänge systema-
tisch über- oder unterschätzt. Die Interpretation von Kausalität zwischen unabhängigen
Variablen und abhängigen Variablen ist gefährdet. Studien, welche sich ausschließlich dem
Vergleich zweier medialer Darstellungsformen widmeten, versäumten es bislang oftmals,
persongebundene Variablen (z.B. fachliches Vorwissen, Erleben von Flow und Präsenz) und
somit Unterschiede innerhalb der gezogenen Stichprobe hinsichtlich dieser Variablen zu
kontrollieren. Dies ist besonders schwerwiegend, wenn es sich bei der Studie um kein
randomisiertes Experiment handelt, bei welchem davon ausgegangen wird, dass sich person-
gebundene Variablen durch die zufällige Zuteilung zu den Experimentalbedingungen
63
ausbalancieren (Eid, Gollwitzer & Schmitz, 2010). Werden, wie das dieser Arbeit zugrunde-
liegende Forschungsdesign vorschlägt, zusätzliche Variablen integriert, die basierend auf
bisherigen Forschungsergebnissen mit den unabhängigen und abhängigen Variablen
zusammenzuhängen scheinen, können einerseits Konfundierungen und damit verzerrte
Ergebnisse vermieden und gleichzeitig systematisch zusätzliche Varianz der abhängigen
Variablen aufgeklärt werden.
Zusätzliche Varianz kann darüber hinaus aufgeklärt werden, wenn nicht nur Haupt-
effekte der unabhängigen Variablen auf die abhängigen Variablen betrachtet, sondern auch
die Wechselwirkungen zwischen den unabhängigen Variablen analysiert werden. Die
Notwendigkeit der Betrachtung von Wechselwirkungen zwischen Medien und Methoden
betonten bereits Makransky und Petersen (2021).
Um die im Forschungsdesign enthaltenen komplexen Wirkzusammenhänge quantitativ
untersuchen zu dürfen, braucht es große Stichproben. Mindestens 25 Probanden pro
Versuchsbedingung (Eid et al., 2010) sind nötig, um höhere inferenzstatistische Verfahren
rechnen zu dürfen.
Abbildung 5
Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit basierend auf den Modellen von Makransky und
Petersen (2021), Dengel und Mägdefrau (2020) sowie Mulders et al. (2020)
64
Ziel dieser Arbeit ist es folglich, einen Beitrag zur Bildungsforschung im Sektor VR zu
leisten. Die Erkenntnisse zur Wirksamkeit verschiedener VR-Visualisierungstechnologien in
Bezug auf evaluative, affektive und kognitive Indikatoren können Forschung wie Praxis
dienlich sein. Unter anderem bietet die Untersuchung die Möglichkeit, zu überprüfen,
inwieweit VR und im Besonderen HMD-basierte VR zur Adressierung affektiver und anderer
Lehr- und Lernziele geeignet ist. Des Weiteren kann untersucht werden, inwiefern die
Implementation der didaktischen Methoden Exposition und Exploration in VR lernförderlich
ist. Darüber hinaus will die Arbeit zukünftige Forschung dazu motivieren, die Ergebnisse
unter Verwendung weiterer VR-Umgebungen, VR-Visualisierungstechnologien und
didaktischer Prinzipien zu überprüfen. Aus einer lernpsychologischen Perspektive werden
besonders die Erkenntnisse hinsichtlich latenter Lernprozessvariablen (z.B. das Erleben von
Flow, Präsenz, kognitive Belastung in VR) interessant sein. Fundiertes Wissen über die dem
Lernen in VR zugrundeliegenden Prozesse ist für den nachhaltigen und lernförderlichen
Einsatz der Technologie als Bildungsmedium entscheidend.
Über die Ergebnisse der vorliegenden Einzelstudie hinaus, möchte diese Arbeit ver-
mitteln, wie mediendidaktische Untersuchungen im behandelten Forschungssektor gelingen
können. Die methodische Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit geht dabei über die
Testung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, wie es in klassischen Medienvergleichs-
studien üblich ist, hinaus. Medienvergleichsstudien sind, wie es Tabelle 1 (siehe Abschnitt
2.2.2.3) zeigt, jedoch prävalent. Mittels eines Forschungsdesigns, wie es in der vorliegenden
Arbeit erprobt wird, lassen sich tiefergehende Erkenntnisse zu Lernen in VR generieren.
Demnach will die vorliegende Arbeit auch dazu ermutigen, nicht nur direkte Implikationen
des Einsatzes von VR in Bildungssettings zu untersuchen, sondern vielmehr komplexe
Interaktionsgefüge mehrerer Faktoren anhand von dem in dieser Arbeit vorgeschlagenen
Forschungsdesign.
Außerdem sollen die Erkenntnisse der Arbeit für die Lehr- und Lernpraxis in Bildungs-
institutionen (z.B. Schulen, Museen, Jugendzentren) von Nutzen sein, insofern, dass es sich
bei der in dieser Arbeit untersuchten VR-Umgebung um ein frei zugängliches Bildungs-
material handelt und sämtliche im Rahmen dieser Arbeit konzipierten Begleitmaterialien (z.B.
Instruktionen, Aufgaben, Erwartungshorizonte) über bekannte Plattformen (z.B. MUNDO
7
)
zur Verfügung gestellt werden.
7
https://mundo.schule (abgerufen am 21.04.2022)
65
2.4 Hypothesen
Im Rahmen der Untersuchung werden die unterhalb aufgeführten zentralen Hypothesen
überprüft, wobei als besonders bedeutend die mediierenden und moderierenden Effekte anzu-
sehen sind. Die Phrase Lernergebnisse meint dabei stets affektive und kognitive Lern-
indikatoren sowie die Bewertung der VR-Umgebung, also Zufriedenheit und Weiter-
empfehlung. Die Hypothesen eins bis drei überprüfen Haupteffekte, die Hypothesen vier und
fünf Moderationseffekte und die Hypothesen sechs und sieben schließlich Mediationseffekte.
Zur Veranschaulichung der angenommenen Wirkzusammenhänge wurde Abbildung 6 ange-
fertigt.
I. Die Lernergebnisse unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Visualisierungs-
technologie.
a. hinsichtlich affektiver Lernindikatoren: HMD > Laptop
b. hinsichtlich kognitiver Lernindikatoren: HMD = Laptop
c. hinsichtlich der Bewertung: HMD > Laptop
II. Die Lernergebnisse unterscheiden sich in Abhängigkeit von der didaktischen
Methode (Exploration Exposition).
III. Wenn selbst Erfahrungen mit Diskriminierung gesammelt wurden, wirkt sich dies
auf die Lernergebnisse aus.
8
IV. Das fachliche Vorwissen
9
beeinflusst die Lernergebnisse in Abhängigkeit von der
didaktischen Methode.
a. Je größer das Vorwissen, desto förderlicher für die Lernergebnisse in der
Explorations-Versuchsbedingung.
b. Je geringer das Vorwissen, desto förderlicher für die Lernergebnisse in der
Expositions-Versuchsbedingung.
V. Die technologischen Vorkenntnisse hinsichtlich VR beeinflussen die Lernergebnisse
in Abhängigkeit von der didaktischen Methode.
a. Je größer die technologischen Vorkenntnisse hinsichtlich VR, desto förderlicher
für die Lernergebnisse in der Explorations-Versuchsbedingung.
b. Je geringer die technologischen Vorkenntnisse hinsichtlich VR, desto
förderlicher für die Lernergebnisse in der Expositions-Versuchsbedingung.
8
Da die in der vorliegenden Arbeit untersuchte VR-Umgebung am Beispiel der Anne Frank die systematische Diskriminierung von Jüdinnen
und Juden während der NS-Zeit behandelt, wurde als zusätzliche Kontrollvariable das Vorhandensein von Diskriminierungserfahrungen in
der bisherigen Lebensgeschichte der Probanden erhoben.
9
Die VR-Umgebung beinhaltet das Versteck von Anne Frank in Amsterdam. Vorwissen meint in dieser Untersuchung folglich die
bestehende individuelle Wissensbasis zum Leben der Anne Frank im Versteck.
66
VI. Lernprozessvariablen vermitteln die Zusammenhänge zwischen Visualisierungs-
technologie und den Lernergebnissen.
a. Das Präsenzerleben ist in den HMD-Bedingungen größer als in den Laptop-
Bedingungen. Je höher das Präsenzerleben, desto förderlicher für die Lern-
ergebnisse.
b. Das Flowerleben ist in den HMD-Bedingungen größer als in den Laptop-
Bedingungen. Je höher das Flowerleben, desto förderlicher für die Lern-
ergebnisse.
c. Die extrinsische Arbeitsbelastung ist in den HMD-Bedingungen größer als in
den Laptop-Bedingungen. Je niedriger die extrinsische Arbeitsbelastung, desto
förderlicher für die Lernergebnisse. Für lernrelevante Arbeitsbelastung ist
letzterer Wirkzusammenhang umgekehrt.
d. Das Unwohlsein ist in den HMD-Bedingungen größer als in den Laptop-
Bedingungen. Wenn Symptome des Unwohlseins erlebt werden, desto
hinderlicher für die Lernergebnisse.
VII. Lernprozessvariablen vermitteln die Zusammenhänge zwischen didaktischer
Methode und den Lernergebnissen.
a. Das Präsenzerleben ist in den Explorations-Bedingungen größer als in den
Expositions-Bedingungen. Je höher das Präsenzerleben, desto förderlicher für
die Lernergebnisse.
b. Das Flowerleben ist in den Explorations-Bedingungen größer als in den
Expositions-Bedingungen Je höher das Flowerleben, desto förderlicher für die
Lernergebnisse.
c. Die extrinsische Arbeitsbelastung ist in den Explorations-Bedingungen größer
als in den Expositions-Bedingungen. Je niedriger die extrinsische Arbeits-
belastung, desto förderlicher für die Lernergebnisse. Für lernrelevante
Arbeitsbelastung ist letzterer Wirkzusammenhang umgekehrt.
67
Abbildung 6
Integration der einzelnen Hypothesen
Anmerkungen. KV = Kontrollvariable; MV = Mediatorvariable; AV = abhängige Variable;
UV = unabhängige Variable; H = Hypothese
68
3. Methodik
Zur Überprüfung der aufgestellten Hypothesen wurde ein experimentelles Design
gewählt. In einem 2x2-faktoriellen Versuchsplan sind die Einflüsse der unabhängigen
Variablen (1. didaktische Methode: Exposition vs. Exploration, 2. Visualisierungstechnologie:
HMD vs. Laptop) auf mehrere abhängige Variablen (1. kognitive Indikatoren des Lernens, 2.
affektive Indikatoren des Lernens, 3. Bewertung: Zufriedenheit und Weiterempfehlung) unter-
sucht worden. Daneben wurden diverse Lernprozessvariablen als mögliche Mediatoren der
Wirkzusammenhänge näher betrachtet. Ergänzend wurden verschiedene soziodemographische
Variablen und das fachliche Vorwissen sowie technologische Vorkenntnisse kontrolliert. Eine
Übersicht sämtlicher Konstrukte, deren Messmethoden, Messzeitpunkte, Art der Variable
sowie eine Zuordnung zu den korrespondierenden Hypothesen dieser Arbeit ist Tabelle 3 zu
entnehmen.
Tabelle 3
Übersicht der Konstrukte, deren Indikatoren, Messzeitpunkte, Variablenart und der
zugehörigen Hypothesen
Konstrukt
Messinstrument(e)
MZP
Art der
Variable
Hypothese(n)
Soziodemographische
Daten
Soziodemographischer
Fragebogen (Alter,
Geschlecht, Schulform,
Klasse, Muttersprache)
2
KV
-
Erfahrungen mit
Diskriminierung
Single Item*
2
UV
3
Technologische
Vorkenntnisse
2x Single Item*
2
KV
5
(Vor)-Wissen
Single Item*
Wissenstest*
Transferaufgaben*
1 & 2
2
2
KV & AV
AV
AV
1-7
1-7
1-7
Perspektivenüber-
nahme
Single Item*
Historische
Perspektivenübernahme
(adaptiert nach
Hartmann, 2008)
1 & 2
2
AV
AV
1-7
1-7
69
Fortführung Tabelle 3
Übersicht der Konstrukte, deren Indikatoren, Messzeitpunkte, Variablenart und der
zugehörigen Hypothesen
Anmerkungen. * = selbst entwickelte Messinstrumente; MZP = Messzeitpunkt; MCLSVE =
Multidimensional Cognitive Load Scale for Virtual Environments; FKS = Flow Kurzskala;
MPS = Multimodal Presence Scale; KV = Kontrollvariable; MV = Mediatorvariable;
AV = abhängige Variable; UV = unabhängige Variable
Zum Verständnis der Methodik der vorliegenden Arbeit gliedert sich das folgende
Kapitel in die Abschnitte Stichprobe, VR-Umgebung, Prozedur, Messinstrumente und Daten-
auswertung.
3.1 Stichprobe
Um die Hypothesen der vorliegenden Untersuchung zu testen, wurden Daten von
insgesamt 132 Personen (65 weiblich, 63 männlich, 4 divers) erhoben. Die Stichprobe dieser
Untersuchung setzt sich aus Versuchspersonen im Alter von 12 bis 17 Jahren zusammen
(M = 13.84, SD = .92). Teilnahmevoraussetzung war, dass die Versuchspersonen zum
Erhebungszeitpunkt die achte oder neunte Klasse einer weiterführenden Schule in
Deutschland besuchten. Die Rekrutierung der Versuchspersonen fand vielschichtig über
Radiobeiträge, Flyer und über soziale Netzwerke statt. Darüber hinaus wurden gezielt Lehr-
kräfte von verschiedenen weiterführenden Schulen in Nordrhein-Westfalen angesprochen. Für
eine Teilnahme an der Studie konnten sich die Probanden selbst oder deren Eltern per Mail
Konstrukt
Messinstrument(e)
MZP
Art der
Variable
Hypothese(n)
Arbeitsbelastung
MCLSVE (Andersen &
Makransky, 2021;
eigene deutsche
Übersetzung)
2
MV
6 & 7
Unwohlsein
2x Single Item*
2
MV
6
Flowerleben
FKS (Rheinberg et al.,
2003)
2
MV
6 & 7
Präsenzerleben
MPS (Volkmann et al.,
2018)
2
MV
6 & 7
Zufriedenheit
Single Item*
2
AV
1-7
Weiterempfehlung
Single Item*
2
AV
1-7
70
oder telefonisch anmelden. Die Teilnahme an der Untersuchung war freiwillig. Eine
finanzielle oder anderweitige Vergütung für die Teilnahme war nicht vorgesehen.
3.2 VR-Umgebung
Bei der VR handelt es sich um das frei verfügbare und kostenlose Anne Frank VR
House, das gemeinsam von der Anne Frank Stiftung
10
und Force Field VR
11
entwickelt wurde.
Die Anwendung erlaubt Einblicke in das Versteck der 13 Jahre alten Anne Frank, ihrer
Schwester, ihrer Eltern und vier weiteren Untergetauchten. Das Versteck befand sich in einem
Hinterhaus eines Firmengebäudes auf der Prinsengracht 263 in Amsterdam. Die VR-
Umgebung zeigt die Lebenswirklichkeit der acht Personen jüdischer Herkunft im Zeitraum
von 1942 bis 1944. Es sind alle acht Räume des Verstecks mitsamt Inventar detailgetreu
nachgebildet. Dabei werden keine Personen dargestellt. Ansonsten erscheint die Lebens-
wirklichkeit der Untergetauchten zu Zeiten des Nationalsozialismus für den Moment
konserviert. Ein Brettspiel wartet darauf, weitergespielt zu werden, das Geschirr steht noch
zum Abtropfen auf der Spüle, ein Fahrrad hängt an der Wand, Annes Tagebuch und ihre Stifte
liegen auf dem Schreibtisch. Einen Überblick über die Räumlichkeiten bieten die
Abbildungen 7 bis 9.
10
https://www.annefrank.org/nl/ (abgerufen am 21.04.2022)
11
vertigo-studios.nl (abgerufen am 21.04.2022)
71
Abbildung 7
Das Bücherregal, welches den Eingang zum Hinterhaus tarnte
12
Abbildung 8
Das Zimmer von Anne Frank und Fritz Pfeffer
13
12
http://edu.annefrank.org/dashinterhaus/ (abgerufen am 21.04.2022)
13
https://mixed.de/virtual-reality-wenn-raeume-sprechen-koennten-anne-frank-vr-ausprobiert/ (abgerufen am 21.04.2022)
72
Abbildung 9
Das Hinterhaus
14
Die Anwendung kann über zwei VR-Visualisierungstechnologien erkundet werden.
Zum einen können HMDs und zwei dazugehörige Controller verwendet werden. Dafür muss
im Vorfeld die entsprechende Applikation
15
aus dem App Store des jeweiligen Anbieters
geladen werden. Durch Teleportation sowie Körper- und Kopfbewegungen kann das Versteck
Raum für Raum exploriert werden. Zum anderen besteht die Möglichkeit, das virtuelle
Versteck über diverse Endgeräte mit zweidimensionalen Bildschirmen (z.B. Tablets,
Smartphones, Laptops) zu erforschen, indem auf die inhaltlich äquivalente 360°-Web-
anwendung
16
zurückgegriffen wird. Hier wird das Sichtfeld entweder durch die
Touchfunktion des entsprechenden Endgerätes oder durch den Maus Cursor verändert.
Innerhalb des Verstecks sind zusätzliche Informationen zur Lebenswirklichkeit im
Hinterhaus und zur Geschichte der Untergetauchten eingebunden. Dazu befinden sich auf
bestimmten Gegenständen (z.B. Radio, Brettspiel) bzw. an bestimmten Orten Symbole mit
Aufforderungscharakter, die ergänzende Auskünfte ermöglichen. In der 360°-Webanwendung
sind diese Gegenstände gekennzeichnet durch Play- oder anderweitig gestaltete Buttons. Wird
ein solcher ausgewählt, ploppt ein Fenster mit informativen Textbausteinen zum jeweiligen
14
eigene Darstellung basierend auf https://www.annefrank.org/de/anne-frank/das-hinterhaus/ (abgerufen am 21.04.2022)
15
https://www.oculus.com/experiences/quest/1958100334295482/ (abgerufen am 21.04.2022)
16
https://www.annefrank.org/de/anne-frank/das-hinterhaus/ (abgerufen am 21.04.2022)
73
Gegenstand bzw. Raum auf. Manchmal werden auch Zitate aus dem Tagebuch der Anne
Frank präsentiert. Zusätzlich sind Videos zur Plattform Youtube
17
verlinkt. Für die vor-
liegende Untersuchung wurden diese Links blockiert. Um zwischen den Räumen im Versteck
zu wechseln, sind auf den entsprechenden Türen Icons mit Türen oder Türklinken integriert.
Unter dem HMD sind auf den Gegenständen mit Aufforderungscharakter weiße Handsymbole
abgebildet, in welche die eigenen Hände bzw. Controller hineingelegt werden sollen. Werden
Objekte gegriffen, lassen sie sich wenden, aus nächster Nähe betrachten usw. Zusätzlich
finden sich verteilt im Versteck weiße Kreise mit Anführungszeichen, die ausgewählt werden
können. In jeglichen Fällen werden nach der Selektion von Objekten zur Webanwendung
inhaltlich äquivalente Informationen von einer weiblichen Voice over Stimme aus der
Perspektive von Anne Frank vorgetragen. Die App bietet die Möglichkeit, die Voice over
Stimme zusätzlich durch Textbausteine identischen Inhalts zu ergänzen oder die Stimme
durch den Text zu ersetzen. Auf diese Möglichkeiten wurde, auch basierend auf der CTML
(u.a. Mayer, 2005) und dem in dieser Theorie aufgeführten Gestaltungsprinzip der Modalität,
verzichtet. Darüber hinaus besteht unter dem HMD additiv die Möglichkeit, sich vor und nach
der Erkundung des Hinterhauses Filmsequenzen anzuschauen, welche anhand von Bildern
und Videoclips die geschichtlichen Hintergründe von der Machtergreifung Adolf Hitlers bis
zum Tod von Anne Frank erläutern. Diese lassen sich jedoch deaktivieren, was in der vor-
liegenden Untersuchung zwecks Gleichhaltung der Versuchsbedingung auch getan wurde.
Um unter dem HMD zwischen Räumen zu wechseln, sind auf den Türklinken weiße Hand-
symbole dargestellt.
Insgesamt entsprechen beide Anwendungen am ehesten der von Schwan und Buder
(2006) vorgeschlagenen Kategorie der Explorationswelten. Die Räume des Verstecks und
seine hinterlegten Zusatzinformationen können in frei gewählter Reihenfolge und beliebig oft
erkundet werden. Es gibt keine zeitlichen oder weiteren determinierenden Vorgaben.
Die Hersteller empfehlen den Einsatz der Anwendung ab 13 Jahren. Basierend auf
dieser Empfehlung und den Inhaltsfeldern des Kernlehrplans für Geschichte für die Sekundar-
stufe I an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (MSB, 2019) wurden für die vorliegende Unter-
suchung Schülerinnen und Schüler der achten und neunten Klasse rekrutiert. Da die Hersteller
für die Anwendung keine expliziten didaktischen Ziele formuliert haben, wurden im Zuge der
vorliegenden Arbeit Lehr- und Lernziele auf kognitiver und affektiver Ebene ausgearbeitet.
Die Erreichung eben dieser soll im Rahmen der durchgeführten Studie überprüft werden. Zur
17
https://www.youtube.com (abgerufen am 21.04.2022)
74
Formulierung der Lehr- und Lernziele wurde erneut der entsprechende Kernlehrplan
(Inhaltsfeld: Nationalsozialismus und zweiter Weltkrieg) genutzt. Zudem wurde die Expertise
einer Geschichtslehrerin sowie die von Fachdidaktikerinnen und -didaktikern im Rahmen
eines Kolloquiums der Universität Duisburg-Essen herangezogen. Die Ziele sind in Tabelle 4
dargestellt. Sie wurden denen im Bildungsplan angeführten Kompetenzerwartungen
zugeordnet. Darüber hinaus fand eine Zuordnung basierend auf der kognitiven Lernziel-
taxonomie nach Bloom (1956) statt, welche später von Krathwohl et al. (1975) um affektive
Fähigkeiten ergänzt wurde.
Tabelle 4
Lehr- und Lernziele für das Anne Frank VR House
Kompetenzerwartung
laut Bildungsplan
Taxonomien
Kognitive Lehr-/Lernziele
Die SuS kennen die Lebenswirklichkeit von
Anne Frank im Hinterhaus.
Sie wissen
was den Eingang zum Hinterhaus tarnte.
wer im Hinterhaus lebte.
welche Räume das Versteck enthielt.
wann das Bad bedenkenlos genutzt werden
konnte.
welches Otto Franks Lieblingsbuch war.
womit Anne die Nachbarn beobachtete.
was an die Wohnzimmerwand geschrieben
wurde.
was in Peters Zimmer an der Wand hing.
Sachkompetenzen 4
und 5
Wissen
(Kompetenzstufe
1)
was auf dem Esstisch lag.
wie Annes Tagebuch aussah.
Die SuS können jemandem, der das Wort
Isolation nicht kennt, es erklären und in
Zusammenhang zu Anne Franks Leben
stellen.
Sachkompetenz 7
Verständnis
(Kompetenzstufe
2)
Die SuS können Verhaltensregeln für die
acht Menschen im Hinterhaus aufstellen, die
unbedingt eingehalten werden mussten, um
nicht entdeckt werden zu werden.
Sachkompetenzen 4
und 5
Anwendung
(Kompetenzstufe
3)
75
Fortführung Tabelle 4
Lehr- und Lernziele für das Anne Frank VR House
Kompetenzerwartung
laut Bildungsplan
Taxonomien
Affektive Lehr-/Lernziele
Die SuS sind in der Lage, sich in Anne
Frank und ihr Leben im Versteck (z.B.
räumliche Enge, eingeschränkter
Handlungsspielraum) hineinzu-
versetzen.
Handlungskompetenz 1
Wertung
(Kompetenzstufe 3)
Anmerkungen. SuS = Schülerinnen und Schüler. Die Ziele wurden von der Autorin basierend
auf dem Kernlehrplan für die Sekundarstufe I an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (MSB,
2019) und in Abstimmung mit Expertinnen und Experten aus dem Feld entwickelt.
3.3 Prozedur
Die Durchführung der Studie fand im Zeitraum von Mai bis Dezember 2021 statt. Für
die Studie wurden entweder die Räumlichkeiten der entsprechenden Schulen oder ein
Veranstaltungsraum der Universität Duisburg-Essen genutzt. Die Untersuchung beinhaltete
eine anfängliche Prä-Messung, das eigentliche VR-Erlebnis und eine abschließende Post-
Messung. Im Folgenden wird der gesamte Ablauf der Studie im Detail beschrieben.
Zunächst erfolgte eine Aufklärung der Probanden über den Verlauf der Untersuchung.
Den Teilnehmenden wurde die Anonymität ihrer Daten zugesichert. Die Online-Fragebögen
füllten die Probanden an Laptops aus. Für die Erstellung der Online-Fragebögen wurde das
Tool Limesurvey
18
verwendet. Um die beiden Fragebögen unter Gewährleistung der
Anonymität zu verknüpfen, wurden von den Probanden selbst generierte Versuchspersonen-
codes (siehe Anhang D) verwendet. Die gesamte Untersuchung dauerte jeweils zwischen
einer und anderthalb Stunden. Der erste Fragebogen beinhaltete zwei kurze Fragen, in denen
die Teilnehmenden einschätzen sollten, wie viel sie bereits zur Person Anne Frank wissen und
wie gut sie in der Lage sind, sich in ihre Lebenswirklichkeit hineinzuversetzen.
Unmittelbar nachdem der erste Fragebogen ausgefüllt wurde, erkundeten die Probanden
die VR-Umgebung, was an sich durchschnittlich 30 Minuten dauerte. Das VR-Erlebnis
unterschied sich zwischen den Probanden hinsichtlich der verwendeten VR-Visualisierungs-
technologie sowie hinsichtlich der eingesetzten didaktischen Methode.
18
https://www.limesurvey.org/de/ (abgerufen am 21.04.2022)
76
Für die Versuchsbedingungen, bei denen ein HMD (hier: Oculus Quest 2) und
Controller genutzt wurden, wurde im Vorfeld die entsprechende App aus dem Oculus Store
geladen. Untersuchungen unter Verwendung von HMDs wurden stets im Einzelszenario
durchgeführt (siehe Abbildung 10). Dies erlaubte es, die Probanden im Vorfeld hinsichtlich
der besonderen Funktionalitäten (z.B. Teleportation, Selektion von Gegenständen) der
Hardware zu instruieren (siehe Anhang A). Für die Versuchsbedingungen, bei denen die
Teilnehmenden Laptop und Maus nutzten, wurde die inhaltlich äquivalente 360°-Web-
anwendung verwendet (siehe Abbildung 11). Aus forschungspraktischen Gründen nahmen
mehrere Probanden in diesen beiden Versuchsbedingungen simultan an der Studie teil. Dazu
durften die Räumlichkeiten der Schulen genutzt werden. Endgeräte wurden größtenteils von
der Versuchsleitung gestellt (hier: Laptops, Dell Latitude 3510, 15,4 Zoll, Intel Core i5,
nVidia MX230 Grafikkarte; 16GB RAM mit dazugehöriger USB-Maus). Über Kurzlinks, die
an der Tafel bzw. Whiteboard niedergeschrieben wurden, gelangten die Probanden schnell zu
den Online-Fragebögen und der Webanwendung. Während des VR-Erlebnisses am Laptop
wurden die Teilnehmenden stets angehalten, selbstständig zu arbeiten, keine anderen Web-
seiten zu besuchen und sich nicht währenddessen untereinander auszutauschen. Die Unter-
suchungsbedingungen sollten möglichst gleichgehalten werden. Dazu folgte die Versuchs-
leitung einem handlungsweisenden Leitfaden. Der Leitfaden ist im Anhang A zu finden.
Abbildung 10
Untersuchungsszenario in einer Experimentalbedingung unter einem HMD
77
Abbildung 11
Untersuchungsszenario in einer Experimentalbedingung an einem Laptop
Diejenigen Versuchspersonen, welche das VR-Szenario unter Verwendung der
didaktischen Methode der Exposition testeten, erhielten konkrete Instruktionen, die sie durch
das VR-Erlebnis leiteten. Die Gestaltung der expositionsbasierten Lernumgebung orientierte
sich dabei an den Prinzipien der direkten Instruktion (Hattie, 2009; Kerres, 2018; Rosenshine,
2008) und dem von Mayer et al. im Rahmen der CTML postulierten Gestaltungsprinzip der
Segmentierung (Mayer, 2005; Mayer & Pilegard, 2005). So war in den expositionsbasierten
Versuchsbedingungen das VR-Erlebnis fremdgesteuert. Dazu wurde an das Vorwissen der
Probanden Erinnere dich daran, was du alles bereits über Anne Frank und
ihr Versteck in Amsterdam weißtuDu
weißt, wer in welchem Raum im Hinterhaus gelebt hat
priori festgelegtem Lernpfad. Demnach erfolgte das Lernen in VR sequenziell, d.h. Raum für
Raum, und in lerngerechten Segmenten. In kleinen Schritten wurden die Probanden durch die
Schau dich zuerst einmal um. Danach dreh dich
nach links zum Schreibtisch umEin neuer Raum wird erst betreten, nachdem der Raum
zuvor vollständig erkundet wurde. Über regelmäßige Fragen wurde geprüft, ob die Probanden
Hast du gesehen, wer alles auf den Postern in Annes
Zimmer abgebildet war?etzt
78
hast du schon die Hälfte der Räume im Versteck erkundet. Die Instruktionen wurden ent-
weder über ausgedruckte Arbeitsblätter (Laptop-Bedingungen; d.h. ein Arbeitsblatt pro
Schülerin bzw. Schüler) oder mündlich durch die Versuchsleitung (HMD-Bedingungen)
dargeboten. Die Instruktionen sind im Anhang B und C zu finden. Den Probanden, welche das
VR-Szenario explorativ erlebten, wurde zu Beginn die Arbeitsanweisung gegeben, die
Unterkunft von Anne Frank und den anderen Untergetauchten frei und selbstgesteuert zu
erkunden. Währenddessen wurden keine weiteren Instruktionen gegeben.
Nach der Durchführung des Experiments wurden die Probanden gebeten, einen ab-
schließenden Fragebogen am Laptop auszufüllen. Die Bearbeitungsdauer betrug durch-
schnittlich 35 Minuten. Die Fragebogenbatterie beinhaltete Instrumente zu demographischen
Variablen, zur Vorerfahrung mit der verwendeten Technologie, zur Bewertung, zu kognitiven
und affektiven Lernresultaten sowie zu Lernprozessvariablen. Abschließend wurde den
Probanden für ihre Teilnahme gedankt und sie wurden über die Ziele und den weiteren
Verlauf der Studie aufgeklärt. Eine Darstellung des Ablaufs ist in Abbildung 12 zu finden.
Abbildung 12
Studienablauf (Darstellung in Anlehnung an Spangenberger, Geiger & Freytag (2022))
3.4 Messinstrumente
Für die Beantwortung der Fragestellungen wurden zu zwei Messzeitpunkten Daten
erhoben. Im Folgenden werden die untersuchten Konstrukte und die dazu verwendeten Mess-
79
instrumente und Items detailliert und in der Reihenfolge, in welcher sie zum Messzeitpunkt
zwei erhoben wurden, beschrieben. Sämtliche Messinstrumente sind im Anhang D bis O zu
finden.
Soziodemographische Daten. Neben Geschlecht, Alter, Schulform, Klassenstufe und
Muttersprache wurde mit einer dichotomen geschlossenen Frage erfasst, ob die Probanden in
ihrer bisherigen Lebensgeschichte selbsWurdest du selbst
schon aufgrund deiner Religion, deiner Hautfarbe oder anderer Merkmale diskriminiert?
Vorerfahrungen mit der verwendeten Technologie wurden mit zwei geschlossenen und
in sich verzweigten Items erfasst (1. Hast du bereits Erfahrungen mit Virtual Reality
gemacht?, 2. Wie häufig nutzt du Virtual Reality-Anwendungen?
Lernindikatoren wurden in der vorliegenden Untersuchung zu beiden Messzeitpunkten
und hinsichtlich kognitiver wie affektiver Ziele gemessen. Dabei wurde zu einem Großteil auf
selbst entwickelte Tests zurückgegriffen. Um das vorhandene Vorwissen hinsichtlich der
Lebenswirklichkeit von Anne Frank, während diese sich im Hinterhaus versteckt hielt, also
die Wissensbasis vor dem VR-Erlebnis, zu erheben, wurden die Probanden zu Messzeitpunkt
eins gebeten, ihr Wissen basierend auf einer nicht vorhandensehr
großer Wissensschatzut gestellt.
Zur Überprüfung der kognitiven Lehr- und Lernziele (siehe Tabelle 4 in Abschnitt 3.2)
Wie sah Annes Tagebuch
aus? gestellt. In freie Textfelder sollte die korrekte Antwort stichpunktartig eingetragen
werden. Für die Fragen wurden Teilpunkte vergeben, jedoch maximal zwei Punkte pro Frage,
sodass sich ein Maximalpunktwert von 20 ergibt. Die interne Konsistenz für die zehn Items
des Wissenstests beträgt = .71. Der Test und ein Erwartungshorizont sind dem Anhang G zu
entnehmen. Zum anderen waren die Probanden zur Überprüfung von Lehr- und Lernzielen
höherer Kompetenzstufen dazu aufgefordert, ihr zuvor in der VR-Umgebung erworbenes
Wissen zu abstrahieren bzw. zu transferieren, indem sie erstens Verhaltensregeln (Dos and
Don'ts) für das Leben im Hinterhaus formulieren und zweitens den Begriff der Isolation am
Beispiel der Anne Frank definieren sollten. Die Lösungen sollten auch hier in Freitextfelder
eingetragen werden. Zur Bewertung der Lösungsvorschläge der ersten Aufgabe wurde ein
Erwartungshorizont (siehe Anhang H) mit insgesamt zehn Verhaltensregeln aufgestellt. Pro
Regel erhielten die Probanden einen Punkt, sodass ein Maximalscore von zehn möglich war.
Für die zweite Aufgabe liegt ebenfalls ein Erwartungshorizont (siehe Anhang H) vor, wobei
80
je ein Punkt für die Beschreibung des allgemeinen Konstrukts (Teilpunkte möglich) und ein
Punkt für den Bezug zu Anne Frank vergeben wurde. Auch bei dieser Aufgabe konnten
maximal zwei Punkte erreicht werden. Die beiden Transferaufgaben wurden gemeinsam mit
einer Lehramtsstudentin für Sozialwissenschaften ausgewertet.
Neben kognitiven wurden auch affektive Lehr- und Lernziele (siehe Tabelle 4 in
Abschnitt 3.2) betrachtet. Als affektives Ziel wurde die Perspektivenübernahme in Anne
Frank festgesetzt. Unter Perspektivenübernahme wird die Fähigkeit verstanden, die Gefühle
einer anderen Person nachempfinden zu können, was als wesentliche Voraussetzung für die
Entstehung von Mitgefühl bzw. Empathie angesehen wird (Dimitrova & Lüdmann, 2014).
Zur Überprüfung des Ausmaßes an Perspektivenübernahme in die Figur Anne Frank waren
die Probanden zu beiden Messzeitpunkten dazu aufgefordert, anzugeben, wie gut sie sich in
die Lebenssituation von Anne im Hinterhaus hineinversetzen können. Auch hier wurde als
überhaupt nichtsehr gut-
gezogen. Um darüber hinaus das Maß an Perspektivenübernahme in Anne Frank zu messen,
wurde der Fragebogen von Hartmann (2008), der historische Perspektivenübernahme erfasst,
adaptiert und auf das Beispiel der Anne Frank angepasst. Der ursprüngliche Fragebogen
untersucht das Ausmaß der historischen Perspektivenübernahme in eine junge unverheiratete
Frau im Mittelalter, die nach gescheiterten Heiratsplänen ihrer Eltern gezwungen wird, in ein
Kloster zu gehen. Der Fragebogen differenziert zwischen drei Aspekten historischer
Perspektivenübernahme: Erstens, gegenwartsfixierte Betrachtung der historischen Situation.
Zweitens, Rolle des historischen Akteurs. Und drittens, historische Kontextualisierung.
Hartmann (2008) geht dabei von einer hierarchischen Ordnung dieser Facetten aus, indem
sich historische Perspektivenübernahme von einer gegenwartsfixierten Betrachtung einer
bestimmten Situation hin zu deren Betrachtung unter historischen Gesichtspunkten
entwickelt. Die Instruktion zu diesem Instrument beinhaltet, sich in Anne Frank hineinzu-
versetzen und eine Zustimmung oder Ablehnung zu Aussagen von 1 (passt gar nicht zu ihrer
Situation) zu 4 (passt voll und ganz zu ihrer Situation) abzugeben. Insgesamt besteht der
Fragebogen aus zwölf Items, von denen drei eine gegenwartsfixierte Betrachtung der
historischen Situation, drei weitere die Rolle des historischen Akteurs und drei letzte den
historischen Kontext und Unterschiede zwischen Gegenwart und Vergangenheit berück-
sichtigen. Hartmann (2008) berichtet in ihrer Studie eine noch ausreichende interne
Konsistenz von = .51. Die interne Konsistenz in dieser Untersuchung betrug = .63. In
ihrer Studie, an der mehr als zweihundert Schülerinnen und Schüler der siebten Klasse im
81
Geschichtsunterricht partizipierten, erhielt Hartmann (2008) einen Mittelwert von M = 2.15
(SD = .44).
Beispielitems:
Für Anne muss es furchtbar
gewesen sein, nicht mehr in die Schule gehen zu können, weil sie dann keine Chance mehr
hatte, Freundschaften zu pflegen und neue Freunde kennen zu lernen
Anne konnte als Tochter nichts gegen die Entscheidung ihrer
Eltern, sich im Hinterhaus zu verstecken, sagen und musste sich so verhalten, wie sie es
wollten
Historische Kontextualisierung: Auf die Schule und ihre Freunde zu verzichten, konnte Anne
Neben der Erfassung von Lernresultaten liegt ein Fokus der vorliegenden Arbeit auf der
Untersuchung von Faktoren, welche den Zusammenhang zwischen den Merkmalen eines
Lernangebots und den Lernresultaten mediieren. Deswegen betrachtet diese Arbeit neben
Kriterien des Lernerfolges auch Merkmale des Lernprozesses selbst. Diese sollen im
Folgenden näher beschrieben werden.
Multidimensional Cognitive Load Scale for Virtual Environments (MCLSVE; Andersen
& Makransky, 2021). In der MCLSVE wird die subjektiv erlebte Arbeitsbelastung während
einer VR-Erfahrung retrospektiv erfasst und in verschiedene Dimensionen unterteilt:
intrinsische kognitive Belastung, extrinsische (lernirrelevante) kognitive Belastung und
lernrelevante kognitive Belastung. Dabei gliedern Andersen und Makransky (2021) die
extrinsische Belastung nach den Quellen, die eine Belastung herbeirufen, in drei Subskalen
auf: Instruktionen, Interaktionen und Umgebung. Der Skala mit insgesamt 18 Items liegt ein
fünfstufiges Antwortformat vostimme überhaupt nicht zustimme völlig zu
zugrunde. Die internen Konsistenzen in der Studie von Andersen und Makransky (2021)
reichten von extrinsisch_Umgebung = .68 bis lernrelevant =.89. In der vorliegenden Arbeit lagen die
Werte für Cronbachs Alpha zwischen extrinsisch_Instruktionen = .61 bis intrinsisch =.85. Darüber
hinaus verglichen Andersen und Makransky (2021) zwei unterschiedlich komplexe VR-
Lernszenarien miteinander und erhielten für die intrinsische Belastung die Mittelwerte
Msimpel = 2.10 (SD = .90) und Mkomplex = 3.76 (SD = .70), für die extrinsische Belastung durch
Instruktionen Msimpel = 1.61 (SD = .61) und Mkomplex = 2.39 (SD = .75), für die extrinsische
Belastung durch Interaktionen Msimpel = 1.71 (SD = .70) und Mkomplex = 2.26 (SD = .78), für die
82
extrinsische Belastung durch die Umgebung Msimpel = 1.65 (SD = .64) und Mkomplex = 3.17
(SD = .89) und für die lernrelevante Belastung Msimpel = 3.87 (SD = .69) und Mkomplex = 3.17
(SD = .89). Eine validierte deutsche Übersetzung lag zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht
vor. Daher wurde eine eigene Übersetzung der Skala verwendet.
Beispielitems:
Die in der virtuellen Welt behandelten Themen waren sehr komplex
Die Anweisungen und/oder Erklärungen
währenddessen waren sehr unklar
Die Interaktionsmöglichkeiten in der virtuellen
Welt waren sehr unklar
Die virtuelle Umgebung war voll von
irrelevantem Inhalt.
Lernrelevante BelastungDie virtuelle Umgebung hat mein Wissen und mein Verständnis zur
Lebenswirklichkeit von Anne Frank wirklich verbessert
Im Zusammenhang mit der Nutzung von VR-Anwendungen werden immer wieder
Gefühle des Unwohlseins berichtet (z.B. Kim et al., 2018), wobei dies von der Art der VR-
Visualisierungstechnologie abhängig zu sein scheint (Roettl & Terlutter, 2018). Um dies zu
berücksichtigen, wurden in der vorliegenden Untersuchung zwei Kontrollitems integriert,
Während ich in
der virtuellen Welt war, wurde mir schwindelig.
Probanden auf einer vierstufigen Skala von 1 (trifft überhaupt nicht zu) bis 4 (trifft völlig
zu) beantwortet werden.
Flow Kurzskala (FKS; Rheinberg et al., 2003). Das Instrument besteht unter anderem
aus den zwei Dimensionen glatter automatisierter Verlauf und Absorbiertheit und insgesamt
zehn Items. Es erfasst das sogenannte Flowerleben, unter dem Rheinberg et al. (2003) das
reflexionsfreie, gänzliche Aufgehen in einer glatt laufenden Tätigkeit verstehen. Der Frage-
bogen hat eine siebenstufige Skala als Antwortformat von 1 (trifft nicht zu) über 4 (teils
teils) bis 7 (trifft zu). Rheinberg et al. (2003) führen Kennwerte aus verschiedenen Stich-
proben auf. Beim Graffiti-Sprayen wurde ein Mittelwert von M = 5.16 (SD = .93) und beim
Lösen einer Statistikaufgabe ein Mittelwert von M = 4.57 (SD = 1.13) gefunden. Rheinberg et
83
al. (2003) berichten für die FKS ein Cronbachs Alpha von = .90. Die interne Konsistenz in
dieser Untersuchung betrug = 81.
Beispielitems:
Glatter automatisierter VerIch war ganz vertieft in das, was ich tat
Ich hatte keine Mühe, mich zu konzentrieren
Multimodal Presence Scale (MPS; Makransky, Lilleholt & Aaby, 2017; deutsche
Übersetzung von Volkmann et al., 2018). Die Selbstbeurteilungsskala zur Erfassung und
Quantifizierung des Präsenzerlebens umfasst ursprünglich 15 Items. Die Dimensionen
physikalische Präsenz, Selbst-Präsenz und soziale Präsenz werden mit je fünf Items abgefragt.
In dieser Untersuchung wurde auf die Dimension der sozialen Präsenz verzichtet, da es sich
um keine soziale virtuelle Umgebung handelt, in der die Probanden auf andere virtuelle oder
reale Akteure treffen. Die zugrundeliegende fünfstufige Skala reicht von 1 (stimmt gar
nicht) bis 5 (stimmt völlig). Cronbachs Alpha liegt in den Studien von Volkmann et al.
(2018) für physikalische Präsenz zwischen = .69 und =.82 und für Selbst-Präsenz
zwischen = .84 und =.89. Die internen Konsistenzen in dieser Untersuchung betragen
physikalisch = .88 und Selbst = .93. Volkmann et al. (2018) berichten darüber hinaus Normwerte
aus Studien, in denen sie das Ausmaß an Interaktivität mit einem virtuellen Agenten mani-
pulierten. Die Mittelwerte liegen zwischen M = 2.93 (SD = .96) und M = 3.01 (SD = .85) für
Selbst-Präsenz und zwischen M = 3.15 (SD = .88) und M = 3.54 (SD = .71) für physikalische
Präsenz.
Beispielitems:
Physikalische Präsenz: Die virtuelle Umgebung erschien mir real
Selbst-Es hat sich angefühlt, als wäre meine echte Hand in der virtuellen
Umgebung gewesen.
Zum Abschluss der zweiten Fragebogenbatterie wurden die Probanden gebeten, die VR-
Erfahrung zu bewerten. Dazu sollten sie ihr Ausmaß an Zufriedenheit Ich bin mit dem
virtuellen Lernangebot zufriedenWeiterempfehlung Ich würde
das virtuelle Hinterhaus anderen Schülerinnen und Schülern weiterempfehlen.
stimme überhaupt nicht zustimme voll und ganz zu
84
3.5 Datenauswertung
Die Auswertung der Daten erfolgte mit Hilfe des Statistikprogramms SPSS für
Macintosh (IBM SPSS Statistics 27.0). Von den 132 Versuchspersonen haben keine
Probanden die Studie abgebrochen. Die Fragebögen der beiden Messzeitpunkte konnten durch
die verwendeten Versuchspersonencodes alle einander zugeordnet werden. Dennoch ent-
standen durch nicht vollständig ausgefüllte Fragebögen fehlende Werte. Eine Analyse
fehlender Werte (missing data analysis; MVA) ergab, dass der Anteil fehlender Werte bei
maximal 6% pro Skala (z.B. Präsenzerleben) und damit im tolerierbaren Bereich liegt
(Graham, Cumsille & Elek-Fisk, 2003). Aufgrund von einzelnen fehlenden, nicht ersetzten
Werten variiert die Stichprobengröße zwischen den Berechnungen leicht.
Neben einfachen deskriptivstatistischen Analysen wurde eine multivariate Varianz-
analyse (MANOVA) mit didaktischer Methode, Visualisierungstechnologie und
Diskriminierungserfahrungen als unabhängige Variablen und den verschiedenen Lern-
indikatoren als abhängige Variablen durchgeführt. Interaktionseffekte durch die Kontroll-
variablen technologische Vorkenntnisse und fachliches Vorwissen wurden in Moderations-
analysen untersucht. Um darüber hinaus die vermittelnden Einflüsse der erhobenen Lern-
prozessvariablen zu erforschen, wurden multiple t-Tests für unabhängige Stichproben,
Korrelations- und darauf aufbauend Mediationsanalysen angestellt. Für die Moderations- und
Mediationsanalysen wurde das kostenlose SPSS Makro PROCESS von Hayes (2013)
installiert. Zur Visualisierung der Ergebnisse wurden diverse Darstellungen angefertigt. Auf
das genaue Vorgehen der statistischen Analysen sowie deren notwendige Voraussetzungen
wird in dem jeweiligen Abschnitt bzw. im Anhang genauer eingegangen.
85
4. Ergebnisse
Die Darstellung der statistischen Analysen unterteilt sich in fünf wesentliche Ab-
schnitte. Es folgt zunächst die deskriptive Statistik, in der ergänzend zu Kapitel 3.1 die sozio-
demographischen Daten der Stichprobe beschrieben werden. Im Anschluss werden die
deskriptiven Statistiken der erhobenen Variablen berichtet. Im nächsten Schritt wird die Über-
prüfung der Hypothesen eins bis drei im Rahmen einer MANOVA hinreichend dargestellt.
Die Hypothese vier und fünf betreffenden Moderationsanalysen finden sich im darauf-
folgenden Abschnitt. Abschließend werden zur Beantwortung der Hypothesen sechs und
sieben die Ergebnisse mehrerer t-Tests für unabhängige Stichproben, Korrelations- sowie
Mediationsanalysen präsentiert.
4.1 Deskriptive Kennwerte der Stichprobe
Als derzeitige Schulform gaben 55% der Probanden Gymnasium, 1% Hauptschule, 2%
Realschule, 42% Gesamtschule und 1% sonstige Schulformen an. 55% berichteten, die achte
Klasse und weitere 45% die neunte Klasse zu besuchen. Die Muttersprache war bei 70% der
Versuchspersonen deutsch. Als weitere Sprachen wurden russisch (7%) und türkisch (8%)
aufgeführt. Die restlichen 15% verteilten sich auf weitere 15 Sprachen.
Die Teilnehmenden wurden gefragt, ob sie in ihrer eigenen Lebensgeschichte bereits
Diskriminierung (z.B. aufgrund ihrer Hautfarbe oder anderer Merkmale) erfahren haben. 24%
bejahten Diskriminierungserfahrungen, 76% negierten solche. Darüber hinaus wurde die Vor-
erfahrung der Probanden mit der entsprechend verwendeten Technologie erfragt. In den
HMD-Versuchsbedingungen berichteten 70% zuvor Erfahrungen mit VR gesammelt zu
haben. Von den 70% gaben 3% an, VR häufig (d.h. täglich bis mehrfach pro Woche), 7% ab
und an (d.h. wöchentlich bis einmal im Monat) und 16% selten (d.h. weniger als einmal im
Monat) genutzt zu haben. Weitere 45% probierten es bisher nur aus. In den Laptop-Versuchs-
bedingungen gaben 59% der Probanden an, bereits Erfahrungen mit VR gesammelt zu haben.
Die Häufigkeit betrug dabei bei 3% regelmäßig, bei 9% ab und an, bei 12% selten und 59%
haben es bislang nur ausprobiert.
4.2 Deskriptive Kennwerte der Skalen
In Tabelle 5 sind für jede Skala bzw. für jedes Item die Erfassungszeitpunkte, Range,
Stichprobengrößen, Mittelwerte, Standardabweichungen sowie Cronbachs Alpha als Maß der
internen Konsistenz angegeben. Für derartige statistische Analysen wurden die Items der ein-
86
gesetzten Messinstrumente wie von den Autorinnen und Autoren (Andersen & Makransky,
2021; Hartmann, 2008; Makransky et al., 2017; Rheinberg et al., 2003) vorgeschlagen zu
Skalen bzw. Subskalen zusammengefasst.
Tabelle 5
Deskriptive Kennwerte aller verwendeten Skalen
Anmerkungen. MZP = Messzeitpunkt, N = Stichprobengröße, M = Mittelwert,
SD = Standardabweichung, = Cronbachs Alpha
Variable
MZP
Range
N
M
SD
α
(Vor)-Wissen
Prä
Post
1-10
1-10
132
132
4.16
6.79
2.17
1.68
-
-
Wissenstest
Post
0-20
132
10.89
4.36
.71
Aufgabe Verhaltensregeln
Post
0-5
131
1.82
1.01
-
Aufgabe Isolation
Post
0-2
132
.94
.54
-
Perspektivenübernahme
Prä
Post
1-10
1-10
132
132
4.77
6.67
2.40
2.13
-
-
Historische
Perspektivenübernahme
Gegenwartsfixierte Betrachtung
der Situation
Rolles des historischen Akteurs
Historische Kontextualisierung
Post
Post
Post
Post
1-4
1-4
1-4
1-4
131
131
131
131
2.89
2.68
2.97
3.04
.41
.61
.52
.53
.63
.43
.29
.42
Arbeitsbelastung
Intrinsische Belastung
Extrinsische Belastung durch
Instruktionen
Extrinsische Belastung durch
Interaktionen
Extrinsische Belastung durch
die Umgebung
Lernrelevante Belastung
Post
Post
Post
Post
Post
1-5
1-4
1-4
1-4
3-5
130
130
130
130
131
2.88
1.96
1.89
1.90
3.97
.96
.78
.73
.73
.62
.85
.61
.74
.76
.70
Unwohlsein
Schwindel
Übelkeit
Post
Post
1-4
1-4
129
129
1.34
1.26
.62
.52
-
-
Flowerleben
Glatter automatisierter Verlauf
Absorbiertheit
Post
Post
Post
1-6
1-7
2-7
128
128
128
4.71
5.18
5.37
1.02
1.36
1.38
.81
.68
.85
Präsenzerleben
Physikalische Präsenz
Selbst-Präsenz
Post
Post
1-5
1-5
124
124
3.35
2.82
.99
1.14
.88
.93
Zufriedenheit
Post
1-5
124
4.31
.91
-
Weiterempfehlung
Post
1-5
124
4.33
.93
-
87
Tabelle 6 enthält die Verteilung der Stichprobe auf die vier Experimentalbedingungen
der Studie.
Tabelle 6
Verteilung der Experimentalbedingungen
HMD
Laptop
Exposition
Exploration
N = 37
N = 31
N = 37
N = 27
4.2.1 Exkurs: Qualitative Daten der Transferaufgaben
Neben einer Vielzahl quantitativer Daten wurden im Rahmen dieser Arbeit in den
Transferaufgaben qualitative Daten gesammelt, die gemäß der erarbeiten Erwartungshorizonte
(siehe Anhang H) ausgewertet und numerisch beurteilt wurden. In diesem Absatz werden
vereinzelt Antworten der Probanden exponiert. Diese Darstellung beansprucht keine Voll-
ständigkeit oder erfolgte gar nach wissenschaftlichen Auswahlkriterien, sondern will lediglich
Eindrücke aus Sicht der Testpersonen vermitteln. Eine weitere Interpretation erfolgt nicht.
Transferaufgabe zum Begriff der Isolation:
Versuchsperson AH08: Isolation ist, wenn man abgeschieden von dem Rest der Welt ist. Bei
Anne Frank mussten sie und ihre Mitbewohner in kompletter Stille leben und keine Auf-
merksamkeit auf sich ziehen. Sie hatten Angst, entdeckt zu werden, weswegen sie sich von den
Menschen um sich herum abgeschottet haben.
Versuchsperson HR16: Isolation ist eine Sache, bei der man aus einem bestimmten Grund
nicht in die Außenwelt gehen kann. Man ist allein in seinem Haus/Zimmer. Anne war auch in
Isolation, sogar für eine relativ lange Zeit, ca. 2 Jahre. Sie musste auf vieles verzichten. Eine
Isolation kann aber auch relativ kurz, ca. 2 Wochen sein, wie jetzt zum Beispiel bei Corona.
Transferaufgabe zum Aufstellen von Verhaltensregeln:
Versuchsperson JD10: leise sein, ab einem bestimmten Zeitraum nicht die Toilettenspülung an
machen, auf keinen Fall nach draußen gehen, die Vorhänge geschlossen halten
Versuchsperson PE15: laut sein, nach 8:30 Uhr irgendetwas von sich hören lassen, eine
Essensauswahl haben, aus dem Fenster schauen, raus gehen, Gardinen bei Tag verschieben
88
4.3 Testung der Hypothesen I bis III: Haupteffekte
Um die Hypothesen eins bis drei zu überprüfen, wurde eine MANOVA durchgeführt.
Die Anwendung dieses parametrischen Verfahrens ist an bestimmte Voraussetzungen ge-
knüpft. Diese wurden hinreichend überprüft. Die Prüfung der Voraussetzungen ist im Anhang
P zu finden.
Als unabhängige Variablen wurden in das Verfahren die drei jeweils zweistufigen
Variablen Visualisierungstechnologie, didaktische Methode und Diskriminierungserfahrungen
integriert. Als abhängige Variablen wurden der Wissenstest, die beiden Transferaufgaben, die
beiden Items zur Gesamtbewertung und die historische Perspektivenübernahme eingebunden.
Darüber hinaus sind zur Operationalisierung der Lernresultate zwei neue Variablen berechnet
worden. Sowohl Perspektivenübernahme als auch fachliches Wissen wurden zu beiden Mess-
zeitpunkten durch zwei einzelne Items abgefragt. Zwecks Erfassung der Zunahme an
Perspektivenübernahme bzw. Fachwissen vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt wurden
zwei neue Variablen berechnet, die einen Prä-Post-Vergleich erlauben. Wie bereits Tabelle 5
zeigt, liegen die Werte zum zweiten Messzeitpunkt numerisch höher als beim ersten Messzeit-
punkt. Daher wurde bei der Variablenberechnung der Prä- vom Post-Wert subtrahiert.
Positive Werte auf diesen beiden neuen Items bedeuten einen Zuwachs an Perspektiven-
übernahme bzw. fachlichem Wissen, negative Werte eine Abnahme. Durchschnittlich ver-
besserte sich das fachliche Wissen über alle Versuchsbedingungen hinweg um 2.63 Einheiten
(SD = 2.25) und die Perspektivenübernahme um 1.90 Einheiten (SD = 2.37). Die beiden neu
gebildeten Items wurden ebenfalls als abhängige Variablen in die MANOVA inkludiert.
Die MANOVA prüft im vorliegenden Fall, ob der Mittelwertsvektor der abhängigen
Variablen vom Nullvektor verschieden ist. Als Signifikanzniveau wurde für die MANOVA
und alle folgenden Analyseverfahren 5% festgesetzt. Neben einer Gesamtstatistik, welche
aussagt, ob sich der Mittelwertsvektor einer Stufe einer unabhängigen Variable von der
anderen Stufe unterscheidet, liefern in der MANOVA enthaltene univariate Tests bzw.
ANOVAs, für welche abhängigen Variablen signifikante Effekte der unabhängigen Variablen
zu finden sind. Aufgrund der Alphafehler-Kumulierung und der höheren Teststärke wurde
sich gegen mehrere ANOVAs und für eine MANOVA entschieden. Außerdem berücksichtigt
eine MANOVA im Gegensatz zu einer ANOVA Zusammenhänge zwischen den abhängigen
Variablen (Eid et al., 2010; Wentura & Pospeschill, 2015). Als Signifikanzstatistik wurde
Wilks Lambda ausgewählt, da sich diese Statistik aufgrund seiner robusten Eigenschaften in
der anwendungsorientierten Literatur durchgesetzt hat (Eschweiler, Evanschitzky &
89
Woisetschläger, 2009). Als Effektstärkemaß wurde das partielle Eta-Quadrat () heran-
gezogen. Letzteres Maß gibt in Werten zwischen 0 und 1 den Anteil derjenigen Varianz an
der Gesamtvarianz der abhängigen Variablen an, der durch eine bestimmte unabhängige
Variable erklärt werden kann. In Anlehnung an Cohen (1988) ist = 0.01 ein kleiner Effekt,
= 0.06 ein mittlerer Effekt und = 0.14 ein großer Effekt.
Die in dieser Untersuchung durchgeführte dreifaktorielle MANOVA zeigte statistisch
signifikante Unterschiede zwischen den Stufen der Variable Visualisierungstechnologie
(F(8,108) = 8.67, p > .00, partielles = .39 = .61), zwischen den Stufen der
Variable didaktische Methode (F(8,108) = 2.68, p > .00, partielles = .17 = .83)
und auch zwischen den Stufen der Variable Diskriminierungserfahrungen (F(8,108) = 2.47,
p = .02, partielles = .15 = .85) für die kombinierten abhängigen Variablen. Die
Wechselwirkung zwischen Visualisierungstechnologie und didaktischer Methode wurde nicht
signifikant (F(8,108) = .82, p = .59, partielles = .06 = .94). Abbildung 13 fasst
die Befunde zu den Haupteffekten der MANOVA in Anlehnung an die Darstellung in
Abbildung 6 zusammen. An dieser Stelle ist jedoch noch nicht die inhaltliche Richtung der
gefundenen Effekte ersichtlich. Daher folgen diverse post hoc Analysen.
Abbildung 13
Darstellung der Hypothesen I bis III
Anmerkungen. AV = abhängige Variable; UV = unabhängige Variable; = partielles Eta-
Quadrat
90
Da für alle drei Faktoren der Analyse signifikante Befunde ermittelt wurden, schloss
sich post hoc für jede abhängige Variable die Durchführung einer mehrfaktoriellen ANOVA
an. Tabelle 7 enthält die Ergebnisse zur unabhängigen Variable Visualisierungstechnologie,
Tabelle 8 die Ergebnisse zur unabhängigen Variable didaktische Methode und Tabelle 9
schließlich die Ergebnisse zur unabhängigen Variable Diskriminierungserfahrungen. Unter-
halb jeder Tabelle wird auf die statistisch bedeutsamen Befunde der ANOVAs im Detail
eingegangen.
4.3.1 Hypothese I: VR-Visualisierungstechnologie
Tabelle 7
Ergebnisse der ANOVAs für die unabhängige Variable VR-Visualisierungstechnologie
Abhängige Variable
F-Wert
dfZähler
dfNenner
p
partielles η²
Wissen Prä-Post
Vergleich
.07
1
115
.80
.00
Perspektive
Prä-Post-Vergleich
3.23
1
115
.08
.03
Zufriedenheit
4.85
1
115
.03*
.04
Weiterempfehlung
6.79
1
115
.01**
.06
Historische
Perspektivenübernahme
.54
1
115
.47
.01
Wissenstest
21.90
1
115
.00***
.16
Transferaufgabe
Isolation
.33
1
115
.57
.00
Transferaufgabe
Verhaltensregeln
8.38
1
115
.01**
.07
Anmerkungen. df = Freiheitsgrade; p = Signifikanzniveau; = Eta-Quadrat;
Signifikanzniveau * p < .05, ** p < .01, *** p < .001
Signifikante Unterschiede zwischen den beiden Stufen der Visualisierungstechnologie
(1. HMD, 2. Laptop) finden sich hinsichtlich der abhängigen Variablen der Zufriedenheit, der
Weiterempfehlung, der Transferaufgabe zu den Verhaltensregeln sowie hinsichtlich des
Wissenstests. In den HMD-Bedingungen sind die Versuchspersonen bedeutsam zufriedener,
würden die VR-Anwendung eher weiterempfehlen und sie erzielen auch signifikant bessere
Leistungen in der Transferaufgabe zu den Verhaltensregeln als die Versuchspersonen in den
Laptop-Bedingungen. Beim Wissenstest hingegen sind die Ergebnisse der Laptop-Gruppen
signifikant besser als die der HMD-Gruppen. Balkendiagramme (siehe Abbildungen 14 bis
91
17) visualisieren die numerischen Unterschiede zwischen den Stufen auf diesen vier
abhängigen Variablen. Die Fehlerbalken repräsentieren nach oben und unten die einfache
Standardabweichung.
Abbildung 14
Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der abhängigen
Variable Weiterempfehlung
Abbildung 15
Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der abhängigen
Variable Zufriedenheit
92
Abbildung 16
Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der abhängigen
Variable Wissenstest
Abbildung 17
Signifikante Unterschiede bezüglich der Visualisierungstechnologie auf der abhängigen
Variable Transferaufgabe Verhaltensregeln
Für die abhängige Variable Perspektive Prä-Post-Vergleich konnte knapp kein
statistisch bedeutsamer Unterschied zwischen den Ausprägungen der Variable
Visualisierungstechnologie gefunden werden (p = .08). Dennoch soll an dieser Stelle die
numerische Differenz berichtet werden. Unter dem HMD liegt der Mittelwert bei M = 2.25
(SD = 2.44), am Laptop bei M = 1.44 (SD = 2.13).
93
4.3.2 Hypothese II: didaktische Methode
Tabelle 8
Ergebnisse der ANOVAs für die unabhängige Variable didaktische Methode
Abhängige Variable
F-Wert
dfZähler
dfNenner
p
partielles η²
Wissen Prä-Post
Vergleich
6.94
1
115
.01**
.06
Perspektive
Prä-Post-Vergleich
.81
1
115
.37
.01
Zufriedenheit
.14
1
115
.71
.00
Weiterempfehlung
1.69
1
115
.20
.01
Historische
Perspektivenübernahme
.03
1
115
.86
.00
Wissenstest
3.82
1
115
.05*
.03
Transferaufgabe
Isolation
.29
1
115
.59
.00
Transferaufgabe
Verhaltensregeln
1.65
1
115
.20
.01
Anmerkungen. df = Freiheitsgrade; p = Signifikanzniveau; = Eta-Quadrat;
Signifikanzniveau * p < .05, ** p < .01
Im Hinblick auf den Prä-Post-Vergleich des fachlichen Wissens sowie auf den Wissens-
test konnten in den ANOVAs statistisch signifikante Unterschiede zwischen den beiden
Stufen der didaktischen Methode ermittelt werden. Testpersonen in den Expositions-
Experimentalbedingungen schätzten ihren Wissenszuwachs signifikant größer ein als Test-
personen in den Explorations-Bedingungen und schnitten auch im Wissenstest bedeutsam
besser ab. Abbildungen 18 und 19 zeigen die numerischen Stufenunterschiede auf den beiden
abhängigen Variablen. Die Fehlerbalken repräsentieren erneut nach oben und unten die
einfache Standardabweichung.
94
Abbildung 18
Signifikante Unterschiede bezüglich der didaktischen Methode auf der abhängigen Variable
Wissen Prä-Post-Vergleich
Abbildung 19
Signifikante Unterschiede bezüglich der didaktischen Methode auf der abhängigen Variable
Wissenstest
95
4.3.3 Hypothese III: Diskriminierungserfahrungen
Tabelle 9
Ergebnisse der ANOVAs für die unabhängige Variable Diskriminierungserfahrungen
Abhängige Variable
F-Wert
dfZähler
dfNenner
p
partielles η²
Wissen Prä-Post
Vergleich
.89
1
115
.35
.01
Perspektive
Prä-Post-Vergleich
.31
1
115
.58
.00
Zufriedenheit
13.55
1
115
.00***
.11
Weiterempfehlung
9.71
1
115
.00***
.08
Historische
Perspektivenübernahme
1.76
1
115
.19
.02
Wissenstest
.03
1
115
.86
.00
Transferaufgabe
Isolation
.23
1
115
.63
.00
Transferaufgabe
Verhaltensregeln
1.29
1
115
.26
.01
Anmerkungen. df = Freiheitsgrade; p = Signifikanzniveau; = Eta-Quadrat;
Signifikanzniveau *** p < .001
Auch im Hinblick auf die unabhängige Variable Diskriminierungserfahrungen wurden
signifikante Effekte sichtbar. Sowohl die Zufriedenheit als auch die Weiterempfehlung kann
bedeutsam durch diese Variable, die zwischen den Stufen Diskriminierungserfahrung vor-
handen und Diskriminierungserfahrung nicht vorhanden unterscheidet, erklärt werden.
Personen, die innerhalb ihrer bisherigen Lebensgeschichte diskriminiert worden sind, sind
bedeutsam unzufriedener mit der VR-Anwendung und empfinden diese als weniger
empfehlenswert als Personen, die bislang keine Diskriminierung erfahren haben. Abbildungen
20 und 21 repräsentieren die numerischen Unterschiede zwischen den beiden Stufen der
unabhängigen Variable. Wie auch in den obigen Darstellungen stehen die Fehlerbalken nach
oben und unten für die einfache Standardabweichung.
96
Abbildung 20
Signifikante Unterschiede bezüglich der Diskriminierungserfahrungen auf der abhängigen
Variable Zufriedenheit
Abbildung 21
Signifikante Unterschiede bezüglich der Diskriminierungserfahrungen auf der abhängigen
Variable Weiterempfehlung
4.4 Testung der Hypothesen IV und V: Moderationseffekte
Eine Moderation, auch Interaktion genannt, entsteht, wenn die Beziehung zwischen
zwei Variablen von einer dritten Variable abhängt. In der vorliegenden Untersuchung ist
davon ausgegangen worden, dass das fachliche Vorwissen und die technologischen Vorkennt-
nisse die Beziehung zwischen der unabhängigen Variable didaktische Methode und den
abhängigen Variablen der Lernindikatoren getrennt voneinander beeinflussen (siehe
Abbildungen 5 und 6). Um die angenommenen moderierenden Effekte der beiden Kontroll-
faktoren hinreichend zu überprüfen, wurden mit Hilfe des PROCESS Makros von Hayes
97
(2013) lineare Regressionen angestellt. In die Regressionen wurde als unabhängige Variable
die didaktische Methode und als Moderatoren technologische Vorkenntnisse sowie fachliches
Vorwissen inkludiert. Weil Lernen als Kriterium der Regression auf verschiedenen Ebenen
betrachtet wurde, wurden mehrere Regressionen angestellt. So ist für jeden Indikator (d.h.
Wissenstest, Wissen Prä-Post Vergleich, historische Perspektivenübernahme, Perspektive Prä-
Post Vergleich, Zufriedenheit, Weiterempfehlung, Transferaufgabe Verhaltensregeln) eine
Regression berechnet worden. Der Lernindikator Transferaufgabe Isolation wurde aufgrund
fehlender Linearität (siehe Anhang Q) exkludiert.
Zur Testung der Moderation verwendet das Makro PROCESS den Resampling-Ansatz
Bootstrapping (z.B. Eid et al., 2010). Bootstrapping wird in der Forschungsliteratur als
robuste Methode zur Signifikanztestung verstanden (MacKinnon, Lockwood & Williams,
2004). Dennoch ist die Durchführung einer Moderationsanalyse an bestimmte Voraus-
setzungen gebunden. Diese wurden hinreichend überprüft (siehe Anhang Q). Ob die
Moderationseffekte bedeutsam sind, prüft PROCESS mittels Konfidenzintervallen, in der
vorliegenden Untersuchung mit 5000 Bootstrapping-Durchgängen. Umschließt das
Konfidenzintervall den Wert null, so ist der Moderationseffekt als nicht bedeutsam zu
interpretieren. Es wurde auf das Modell zwei nach Hayes (2013) zurückgegriffen, da ange-
nommen wurde, dass beide Kontrollfaktoren den Zusammenhang zwischen der unabhängigen
Variable und den abhängigen Variablen beeinflussen, jedoch nicht miteinander interagieren.
Weil der Haupteffekt der didaktischen Methode bereits in der in Abschnitt 4.3
beschriebenen MANOVA hinreichend untersucht wurde, braucht dieser nachfolgend nicht
erneut berichtet werden. Vielmehr interessieren die Interaktionseffekte. Die Inferenzstatistik
der Moderationsanalysen lieferte F-Werte, dazugehörige Freiheitsgrade, Signifikanzniveaus
und Konfidenzintervalle. Tabelle 10 bietet einen Überblick über die Ergebnisse. Für jede
abhängige Variable, also für jeden der sieben Lernindikatoren (graue Zeilen in Tabelle 10),
sind die Statistiken zu den Interaktionen durch die beiden Kontrollvariablen Vorwissen und
technologische Vorkenntnisse dargeboten. Zusätzlich wird R-Quadrat Delta (R²) als Maß der
Effektstärke berichtet. Es gibt in Werten zwischen 0 und 1 an, wie viel mehr Varianzanteile
an der Gesamtvarianz der abhängigen Variable der Interaktionsterm aufklärt als der
Moderator und die unabhängige Variable allein. Gemäß Cohen (1988) entspricht R² = 0.02
geringer Varianzaufklärung, R² = 0.13 moderater Varianzaufklärung und R² = 0.26 starker
Varianzaufklärung.
98
Der Großteil der statistischen Analysen konnte keine Moderationseffekte der Faktoren
fachliches Vorwissen sowie technologische Vorkenntnisse auf die Beziehung zwischen der
didaktischen Methode und den Lernindikatoren finden. Lediglich für zwei der sieben Lern-
indikatoren sagte die Interaktion zwischen fachlichem Vorwissen und didaktischer Methode
die Lernresultate (hier: die subjektive Einschätzung zum Wissenszuwachs und die Leistungen
in der Transferaufgabe zu den Verhaltensregeln) signifikant vorher. 1,6% bzw. 3,9% der
Gesamtvarianz konnte jeweils durch die Interaktion erklärt werden.
Tabelle 10
Ergebnisse der Moderationsanalysen
F-Wert
dfZähler
dfNenner
p
R²
CI
Wissenstest
Vorwissen
.02
1
126
.88
.0002
[-0.589, 0.751]
Technologische
Vorkenntnisse
2.38
1
126
.13
.0178
[-5.451, 0.683]
Wissen Prä-Post
Vorwissen
4.38
1
126
.04*
.0163
[-0.523, -0.034]
Technologische
Vorkenntnisse
1.66
1
126
.20
.0052
[-1.706, 0.302]
Historische
Perspektiven-
übernahme
Vorwissen
.00
1
125
.99
.0000
[-0.069, 0.070]
Technologische
Vorkenntnisse
.59
1
125
.44
.0041
[-0.387, 0.166]
Perspektive
Prä-Post
Vorwissen
.43
1
126
.51
.0034
[-0.505, 0.256]
Technologische
Vorkenntnisse
.03
1
126
.86
.0003
[-1.721, 1.949]
Zufriedenheit
Vorwissen
.06
1
118
.80
.0006
[-0.131, 0.184]
Technologische
Vorkenntnisse
.03
1
118
.87
.0002
[-0.726, 0.632]
Weiter-
empfehlung
Vorwissen
.00
1
118
.98
.0000
[-0.151, 0.156]
Technologische
Vorkenntnisse
.18
1
118
.67
.0015
[-0.891, 0.511]
99
Fortführung Tabelle 10
Ergebnisse der Moderationsanalysen
F-Wert
dfZähler
dfNenner
p
R²
CI
Aufgabe
Verhaltensregeln
Vorwissen
5.88
1
125
.02*
.0393
[-0.345, -0.043]
Technologische
Vorkenntnisse
2.31
1
125
.13
.0164
[-1.241, 0.149]
Anmerkungen. df = Freiheitsgrade; p = Signifikanzniveau; R² = R-Quadrat Delta;
CI = Konfidenzintervall mit Wahrscheinlichkeit 95%; Signifikanzniveau * p < .05
Zum besseren Verständnis der gefundenen Moderationseffekte für die Kontrollvariable
fachliches Vorwissen wurde eine neue Variable gebildet. Die kontinuierliche Variable Vor-
wissen wurde kategorisiert in die Stufen wenig Vorwissen, moderates Vorwissen und viel
Vorwissen. Diese Kategorisierung geschah anhand des Mittelwerts und der Standard-
abweichung der Variable (siehe Tabelle 5). Die Stufe moderates Vorwissen beinhaltet Werte
plus und minus eine Standardabweichung um den Mittelwert. Werte unterhalb dieser Range
fallen in die Kategorie wenig Vorwissen, Werte oberhalb in die Kategorie viel Vorwissen. In
einem nächsten Schritt wurde für die beiden signifikant gewordenen abhängigen Variablen je
ein Streudiagramm erstellt (siehe Abbildungen 22 und 23). Mit Hilfe eines solchen
Diagramms lässt sich visualisieren, für welche Werte des Moderators der moderierende Effekt
auftritt und für welche nicht. An der y-Achse ist der jeweilige Lernindikator, an der x-Achse
die Stufen der didaktischen Methode (Exposition und Exploration) dargestellt. In diese
Diagramme wurden für die Stufen der neu gebildeten kategorialen Variable Vorwissen
bedingte Regressionsgeraden eingezeichnet. Anhand dieser Diagramme lässt sich schluss-
folgern, dass Testpersonen mit wenig Vorwissen hinsichtlich der Lernresultate eher in der
Explorations-Versuchsbedingung profitierten. Personen mit viel Vorwissen dagegen schnitten
besser in den Expositions-Bedingungen ab. Für Probanden mit moderatem Vorwissen lässt
sich keine eindeutige Richtung erkennen. Dieser Befund gilt für beide Lernindikatoren.
100
Abbildung 22
Signifikante Moderation der Variablen didaktische Methode und Vorwissen auf den Zuwachs
an Fachwissen
Abbildung 23
Signifikante Moderation der Variablen didaktische Methode und Vorwissen auf die Leistung
bei der Transferaufgabe Verhaltensregeln
101
Abbildung 24 versucht die Befunde der Moderationsanalysen in Anlehnung an die
Darstellung in Abbildung 6 komprimiert darzustellen.
Abbildung 24
Darstellung der Hypothese IV
Anmerkungen. AV = abhängige Variable; UV = unabhängige Variable; KV = Kontroll-
variable; R² = partielles R-Quadrat
4.5 Testung der Hypothesen VI und VII: Mediationseffekte
Im letzten Abschnitt des Ergebnisberichts liegt der Fokus auf denen in Hypothese sechs
und sieben postulierten Mediationen. Ein Mediator erklärt die Beziehung zwischen einer un-
abhängigen und einer abhängigen Variable. Damit ist die Mediationsanalyse auch gleichzeitig
eine Analyse von Kausaleffekten. Neben direkten Effekten werden indirekte Effekte über
Drittvariablen untersucht. Nach Baron und Kenny (1986) müssen vier Annahmen für das Vor-
handensein einer Mediation erfüllt sein (siehe Abbildung 25). Erstens, zwischen der
unabhängigen Variable und der abhängigen Variable existiert ein direkter Zusammenhang
(Pfad c). Dieser Pfad wird auch der totale Effekt genannt. Zweitens, die unabhängige Variable
muss mit dem Mediator korrelieren (Pfad a). Drittens, auch Mediator und abhängige Variable
müssen zusammenhängen (Pfad b). Viertens, bei einer vollständigen Mediation verliert der
direkte Pfad zwischen unabhängiger und abhängiger Variable seine Signifikanz (Pfad c`) Der
Pfad c` wird auch der direkte Effekt genannt. Direkter (c`) plus indirekter Effekt (d.h. das
Produkt aus a und b) ergeben den totalen Effekt (c). Wenn der vierte Schritt nicht erfüllt ist,
wird von partieller Mediation gesprochen.