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UEBERflow - Gestaltungsspielräume für globale Bildung

Authors:
  • FROLLEINFLOW - Institut für kreative Flaneure

Abstract

In der Dissertation wird der Frage nachgegangen, welche globalen bildungspolitischen Maßnahmen erforderlich sind, um auch bislang exkludierten Menschen den Kompetenzerwerb zu ermöglichen, der benötigt wird, eine positive User Experience in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen auszubilden, damit sie an der modernen Weltgesellschaft selbstbestimmt teilhaben können. Zu diesem Zweck wurden Castells ‘Netzwerkgesellschaft’ und Csikszentmihalys ‘Theorie der optimalen Erfahrung’ als analytische Grundlagen zur Einordnung der sozialen Netzwerk-Aktivitäten herangezogen. Dies ermöglichte es, unter Rückgriff auf aktuelle Lerntheorien, Kompetenzdebatten, ökonomische Analysen des Bildungssystems und User Experience-Forschungen, einige individuelle und gesamtgesellschaftliche Voraussetzungen abzuleiten, um in der Netzwerkgesellschaft konstruktiv überleben zu können. Mit Blick auf unterschiedliche sozio-kulturelle Bedingungen für persönlichen Flow im ‘space of flows’ liessen sich schließlich differenzierte Flow-Kriterien entwickeln, die als Grundlage für die Operationalisierung im Rahmen einer Real-Time Delphi (RTD)-Studie mit einem internationalen Expertinnen-Panel dienen konnten. Ziel war es, bildungspolitische Ansatzpunkte zu finden, den bislang Exkludierten bis zum Jahre 2020 erste Rahmenbedingungen zu bieten, damit sie potentiell teilhaben können an der Gestaltung der zukünftigen Netzwerkgesellschaft. Das Ergebnis der Expertinnen-Befragung wurde unter Rückgriff auf aktuelle Global und Educational Governance-Studien und das Einflusspotenzial der Zivilgesellschaft auf den Digital Divide reflektiert. Vor diesem Hintergrund konnten abschließend vier bildungspolitische Verlaufsszenarien entworfen werden, die es ermöglichen könnten, bis 2020 die Kluft zu den global Exkludierten wenigstens etwas zu schließen.
Anja Christine Wagner | UEBERf l o w
Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer
Doktorin der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.)
an der Universität Kassel im FB05 Gesellschaftswissenschaften
vorgelegt von Diplom-Sozialwirtin
Anja C. Wagner1
unter dem Titel
User Experience in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen -
Gestaltungsspielräume für globale Bildung
Erstgutachter:
Prof. Dr. Bernd Overwien2
Universität Kassel
Zweitgutachterin:
Prof. Dr. Debora Weber-Wulff3
Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin
Disputation an der Uni Kassel am 9. Februar 2012
1http://acwagner.info
2http://overwien.eu
3http://www.f4.htw-berlin.de/~weberwu/
ANJA C. WAGNER
UEBERF L O W
GESTALTUNGSSPIEL RÄUME FÜR GLOBALE BILDUNG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutsche Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Anja C. Wagner
Some rights reserved.
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Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0
Dokument online abrufbar beim Kasseler Dokumenten-Server:
https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de
„Im 20. Jahrhundert haben Philosophen versucht,
die Welt zu verändern. Im 21. Jahrhundert ist
es Zeit, sie unterschiedlich zu interpretieren.“
(Castells 2003, 3:411)
VORWORT
Lässt man zur Abrundung einer solchen Arbeit die vergangenen Jahre Revue
passieren, um für sich selbst ein zusammenhängendes, identitätsstiftendes
„Storytelling“ aufzusetzen, beginnt das Nachdenken über den persönlichen
Werdegang.
Nach dem sozialwissenschaftlichem Regelstudium eine Etappe des „Generation X“-
Daseins, begleitet von halbherzigen wissenschaftlichen Exkursen. Dann ein radikaler,
langer Schwenk in die multimediale Kreativ- und Bildungsindustrie mit unglaublich
bereichernden Erfahrungen und Erlebnissen. Schließlich die zunächst unbeabsichtigte
Wieder-Annäherung an den Hochschulbetrieb mitsamt einer beabsichtigten,
interessanten, „eigenen“ Projektreihe, begleitet von selbstorganisierten Diskurs- und
Vernetzungsaktivitäten im neuen Web (2.0). Nun, zum Ende hin, als der Freiraum
geschaffen war und sich „synergetisch“ mit den beruflichen Aktivitäten verflechten
liess: die Rückkehr zur wissenschaftlichen Arbeit. Nicht vollständig absorbierend,
sondern gut vernetzt mit Beinen in den verschiedenen Identitätskontexten.4
Die vorliegende Ausarbeitung führt somit die Erfahrungen der sehr unterschiedlichen
persönlichen Etappen zusammen. Sie ist durchtränkt von interdisziplinären Zugängen,
die mich beginnend mit dem sozialwissenschaftlichem Studium über vielfältige
Multimedia-Produktionen und Lehraufträge bis hin zu sehr unterschiedlichen
beruflichen Kontexten begleiteten und sich wechselseitig befruchteten. Es bleibt
demnach nicht aus, an dieser Stelle meiner Familie, meinen FreundInnen, meinen
KollegInnen aller gegenwärtigen und vergangenen Zeiten und meinem vielschichtigen
(Online-)Netzwerk mit allen „strong“ wie „weak ties“ grundlegend zu danken für all
ihre Impulse. Gewidmet ist diese Arbeit Carolin Ehbrecht, die leider viel zu früh
verstarb, mich aber nachhaltig lehrte, dass es eine Pflicht sei, die persönlichen Talente
in die Gesellschaft hineinzutragen.
Für die konkrete Unterstützung bei der Entstehung dieser Arbeit seien explizit
erwähnt: Debora Weber-Wulff, ohne die ich vermutlich nie wieder in das Umfeld der
Hochschulen gelangt wäre5 - und die schließlich die Konsequenzen in Form einer
Zweitbetreuung meiner Dissertation mit großem Engagement trug. Hans L. Cycon
(em.), der als erster wissenschaftlicher Projektleiter der eVideo-Projektreihe mich
nachdrücklich und wiederkehrend dazu ermunterte, endlich eine Dissertation
anzugehen. Bernd Overwien, der sich mutig bereit erklärte, diese Arbeit verantwortlich
zu betreuen - und über dessen Forschungskolloquium ich nochmals das „Profumo“ des
universitären Wissenschaftsbetriebes riechen durfte. Dem gesamten inForsch-
Kolloquium, deren Forschungsansätze und kritische Diskussionen mich stark
4 Im Laufe der Zeit sind kleinere Ausschnitte meiner schriftlichen Ausarbeitung aus der Dissertation in
veröffentlichte Beiträge auf meinem Weblog oder in „mein“ Projektwiki geflossen. Eine genaue Auflistung
der Seiten erfolgt im Anschluss an das Literaturverzeichnis.
5 Dank auch an die webgrrls, die dies über ihre Mailinglisten damals möglich machten ;-)
inspirierten. Schließlich allen Aktiven, die mir mit ihrer anonymisierten Expertise in
der Untersuchung zur Seite standen. Einen besonderen Dank möchte ich aussprechen
an: Teresa Almeida d'Eça, Stephanie Bock, Dafne González, Katrin Köhler, Ruth Marzi,
Mpine Makoe, Liz Sanders, Carol Smith, Petra Tesch, Karina Veal, Susanne Voigt,
Jiping Zhang - und Nicole Bauch. Vielen Dank für alles!
Anja C. Wagner
Berlin, im August 2011
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung........................................................................................................................15
1.1 Ausgangslage..........................................................................................................15
1.2 Zielsetzung & Fragestellung...................................................................................17
1.3 Methodisches Vorgehen.........................................................................................17
2 Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft........................................................21
2.1 Castells: Die Netzwerkgesellschaft.......................................................................22
2.1.1 Castells' Netzwerkdefinition.........................................................................22
2.1.2 Raum und Zeit..............................................................................................25
2.1.3 Identität, Kultur & Erfahrung......................................................................29
2.1.4 Technologie und Entwicklung......................................................................33
2.1.5 Macht und Gegenmacht...............................................................................36
2.1.6 Zwischenfazit: Castells Beitrag zur Bildungspolitik....................................38
2.2 Modernes Lernen in der Netzwerkgesellschaft....................................................41
2.2.1 Bildung - der Mensch als soziales Wesen....................................................42
2.2.2 Lernen zu lernen..........................................................................................44
2.2.2.1 Differenzierung des individuellen Lernbegriffs.................................45
2.2.2.2 Lernraum und -zeit.............................................................................47
2.2.2.3 Informelles Lernen.............................................................................48
2.2.3 Erziehung zum sozialen Wesen...................................................................52
2.2.4 Inter-nationale Bildungsökonomien...........................................................55
2.2.4.1 Bedeutung der Bildung in der Netzwerkgesellschaft.........................55
2.2.4.2 Bildung in der globalen Wissensökonomie........................................59
2.2.4.3 Internationalisierung der Bildung.....................................................60
2.2.4.4 Grenzen formaler Bildungsökonomien..............................................63
2.2.5 Learning 2.0 als Netzwerkaktivität.............................................................64
2.2.5.1 Community of Practice........................................................................67
2.2.5.2 Konnektivismus...................................................................................73
2.2.5.3 Personal Learning Environment & ePortfolio....................................77
2.2.5.3.1 Personal Learning Environment................................................77
2.2.5.3.2 ePortfolio....................................................................................79
2.2.6 Zwischenfazit: Lernen in der Netzwerkgesellschaft...................................82
2.3 Kompetenz(en) für die Netzwerkgesellschaft......................................................88
2.3.1 Der Kompetenzbegriff - ein Klärungsversuch.............................................90
2.3.2 Individuelle Handlungskompetenz als Kompetenzziel..............................93
2.3.3 Netz-Kompetenz als Handlungs- & Gestaltungskompetenz......................97
2.3.3.1 IT-Kompetenz......................................................................................98
2.3.3.2 Medienkompetenz...............................................................................99
2.3.3.3 Informations- und Internetkompetenz.............................................101
2.3.3.4 Netzwerkkompetenz..........................................................................102
2.3.4 Zwischenfazit: Kompetenz für vernetztes Lernen....................................106
2.4 Erstes Resümee & offene Fragen.........................................................................112
3 User Experience als Flow-Analyse...............................................................................117
3.1 Flow-Begriff bei Castells und bei Csikszentmihaly - eine Gegenüberstellung...119
3.1.1 Flow autotelischer Persönlichkeiten...........................................................119
3.1.2 Bedeutung von Zeit & Raum im Flow........................................................123
3.1.3 Identität und Macht bei autotelischen Persönlichkeiten..........................126
3.1.4 Einfluss von Technologie & Entwicklung auf Flow-Erleben.....................130
3.1.5 Zwischenfazit: Erforderliche Kompetenz für den Flow im Flow..............133
3.2 UX-Forschungsansätze und ihr Beitrag zur Flow-Analyse................................136
3.2.1 User Experience als benutzerfokussiertes Modell.....................................138
3.2.1.1 Konzeptualisierung von positiver Erfahrung....................................138
3.2.1.2 UX aus User-Perspektive...................................................................142
3.2.1.3 UX aus DesignerInnen-Perspektive..................................................144
3.2.2 Beitrag des UX-Designs auf Flow-Empfinden des Users..........................147
3.2.3 Zwischenfazit: UX-Forschung und Kompetenzentwicklung....................150
3.3 Interkulturelle Dimensionen von Flow-Erlebnissen..........................................154
3.3.1 Die interkulturelle Software des Geistes....................................................155
3.3.1.1 Power Distance Index (PDI)...............................................................157
3.3.1.2 Individualism Index (IDV)................................................................158
3.3.1.3 Maskulinity Index (MAS)..................................................................159
3.3.1.4 Uncertainty Avoidance Index (UAI).................................................160
3.3.1.5 Long-Term Orientation Index (LTO)................................................161
3.3.1.6 Lernkulturen im Vergleich................................................................162
3.3.2 Web 2.0 als soziale Kultur..........................................................................164
3.3.2.1 Begriffsbestimmung Web 2.0............................................................164
3.3.2.2 Kultur der Netzwerkgesellschaft & Web 2.0....................................165
3.3.2.3 Allgemeine Web 2.0-Kultur..............................................................166
3.3.2.4 Nationale oder regionale Web 2.0-Kultur........................................167
3.3.2.5 World Internet Project & Web 2.0-Nutzung....................................170
3.3.2.6 Das Web 2.0-Potenzial am Beispiel Afrika.......................................171
3.3.3 Zwischenfazit: Sozio-kultureller Einfluss auf Flow-Empfinden...............173
3.4 Zweites Resümee & offene Fragen......................................................................179
3.4.1 Voraussetzungen für Flow im space of flows.............................................181
3.4.1.1 Individuelle Ebene.............................................................................181
3.4.1.2 Sozio-kulturelle Ebene......................................................................183
3.4.1.3 Sozio-technologische Ebene.............................................................185
3.4.2 Individuelle Fähigkeiten für Flow im space of flows................................186
3.4.3 Offene Fragen für die Bildungspolitik.......................................................189
4 ExpertInnen-Befragung...............................................................................................193
4.1 Methodendiskussion............................................................................................193
4.1.1 Zukunftsforschung......................................................................................193
4.1.2 Mögliche Methoden der Zukunftsforschung.............................................197
4.1.2.1 Delphi-Methode..................................................................................197
4.1.2.2 Prediction Markets............................................................................200
4.1.2.3 Real-Time-Delphi..............................................................................202
4.1.2.4 Szenarientechnik...............................................................................204
4.1.2.5 Leitbilder...........................................................................................206
4.1.3 Zwischenfazit: Konsequenzen aus der Methodendiskussion...................207
4.1.3.1 Exkurs: Kollektive Intelligenz...........................................................208
4.1.3.2 Abschließendes Methoden-Design....................................................210
4.2 Vorbereitung der Real-Time-Delphi-Untersuchung..........................................211
4.2.1 Zielsetzung der Studie................................................................................212
4.2.2 Leitbild dieser Studie für 2020..................................................................213
4.2.3 Eigener Thesenkatalog mit Fragebogen....................................................213
4.2.3.1 Themenblock Person.........................................................................214
4.2.3.2 Themenblock Workflow....................................................................216
4.2.3.3 Themenblock Medienumgebung......................................................218
4.2.3.4 Themenblock Usability.....................................................................219
4.2.3.5 Themenblock Transparenz................................................................221
4.2.3.6 Themenblock space of flows............................................................223
4.2.3.7 Standardisierter Fragenblock...........................................................225
4.2.4 Auswahl der Expert/innen........................................................................228
4.2.4.1 Planung des Vorgehens.....................................................................229
4.2.4.2 Konkrete Auswahl der Expertinnen.................................................230
4.2.5 Spezifisches Untersuchungsdesign...........................................................234
4.2.5.1 Planung der RTD-Studie...................................................................234
4.2.5.2 Durchführung der RTD-Studie.........................................................236
4.2.5.3 Zeitlicher Ablauf der RTD-Studie....................................................238
4.3 Ergebnisse der Real-Time-Delphi-Untersuchung.............................................240
4.3.1 Beteiligung der Expertinnen......................................................................240
4.3.1.1 Beteiligung im Allgemeinen..............................................................240
4.3.1.2 Beteiligung im Besonderen...............................................................242
4.3.2 Methodisches Fazit zur RTD-Studie.........................................................245
4.3.3 Inhaltliches Fazit mit den zusammengeführten Ergebnissen..................247
4.3.3.1 Leitbild-Relevanz für Weltbevölkerung - Status Quo......................248
4.3.3.2 Mögliche Hemmfaktoren zur Realisierung des Leitbildes..............248
4.3.3.3 Bildungspolitische Maßnahmen zur Realisierung des Leitbildes..250
4.3.3.4 Mögliche Akteure der Bildungspolitik.............................................252
4.3.3.5 Leitbild-Relevanz für Weltbevölkerung - Idealtypisch....................253
4.4 Bildungspolitisches Resümee der RTD-Studie..................................................254
5 Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse................................................257
5.1 Internationale Bildungspolitik............................................................................257
5.1.1 Der Governance-Ansatz..............................................................................259
5.1.2 Einfluss internationaler Organisationen auf die Weltkultur....................263
5.1.3 Multilateral Education und ihre Keyplayer...............................................267
5.1.4 Einfluss der Zivilgesellschaft & NGOs.......................................................273
5.1.5 Digital Divide & Internet Governance.......................................................278
5.1.5.1 Die verschiedenen Ebenen des Digital Divide..................................279
5.1.5.2 Zivilgesellschaftlicher Einfluss auf die Internet Governance..........283
5.1.6 Zwischenfazit: Bildungspolitik in der Netzwerkgesellschaft....................288
5.2 Kritische Einordnung der empirischen Ergebnisse ..........................................294
5.2.1 Hemmfaktoren ...........................................................................................295
5.2.2 Bildungspolitische Maßnahmen................................................................305
5.2.3 Internationale bildungspolitische Akteure...............................................323
5.3 Einflusspotenzial internationaler Bildungspolitik auf Flow.............................334
5.3.1 Transformation der herrschenden Bildungsdiskussion............................335
5.3.2 Unterstützung der Open-Bewegung..........................................................336
5.3.3 Reorganisation der Institutionalisierungen..............................................337
5.3.4 Neue Lernorte für personalisierte Lernpfade...........................................338
6 Fazit mit Ausblick.........................................................................................................341
6.1 What has happened?............................................................................................341
6.1.1 Das raum-zeitliche Gefüge hat sich verändert...........................................342
6.1.2 Kulturelle Identitätsmarker individualisieren sich...................................343
6.1.3 Lernen bedeutet Entwicklung & Netzkontakt bedeutet Lernen...............344
6.1.4 Neue Kampflinien entstehen entlang der Netznutzung...........................346
6.2 What's happening?..............................................................................................347
6.3 What should happen?.........................................................................................349
7 Nachweise.....................................................................................................................351
7.1 Literaturverzeichnis.............................................................................................351
7.2 Eigene Links........................................................................................................387
7.3 Abbildungsverzeichnis........................................................................................388
7.4 Tabellenverzeichnis.............................................................................................395
7.5 Abkürzungsverzeichnis.......................................................................................396
7.6 Glossar.................................................................................................................397
8 Appendix......................................................................................................................409
Zugunsten des schnelleren Einstiegs in das Thema wurden weitere Verzeichnisse
(Eigene Links, Abbildungen, Tabellen, Abkürzungen, Glossar) aufgrund ihres Umfangs
nach hinten -hinter das Literaturverzeichnis- verschoben.
© acw Einleitung 15
1 EINLEITUNG
1.1 AUSGANGSLAGE
Die Menschen der Bundesrepublik Deutschland leben in einer
„Informationsgesellschaft“. Oder in einer „Wissens-“, einer „Netzwerk-“ oder einer
„Lerngesellschaft“?! Auf jeden Fall in einer „Bildungsrepublik“ - und spätestens hier
beginnt das Problem. Sie leben in einer „Bildungsrepublik“ einer „globalen
Wissensökonomie“. Oder existiert gar keine wahrhaft „globale Wissensökonomie“?
Stellt sich diese vielleicht aus Sicht (post-)industrialisierter Staaten lediglich als
Wissensökonomie dar, weil traditionelle Produktionsverfahren der billigen
Arbeitskraft hinterher gereist sind und den zurückgebliebenen Staaten „nur“ die
Vermarktung des Wissens geblieben ist?
Für (post-)industrialisierte Staaten jedenfalls, scheint sich Wissen zur wichtigsten
Produktivkraft entwickelt zu haben (Schelhowe 2007, 77ff.). Im Zuge der globalen
Auflösung klassischer Arbeitsstrukturen wurde „Innovation“ zum Motor
gesellschaftlicher Wertschöpfung ernannt. Dies setzt eine kontinuierliche
Weiterqualifizierung aller Beteiligten voraus und damit einher geht das Schlagwort
„Lebenslanges Lernen“ (LLL).„LLL“ ist zunächst ein bildungspolitisches Konzept, das
theoretisch breit gefasst ist als „alles Lernen während des gesamten Lebens, das der
Verbesserung von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen im Rahmen einer
persönlichen, staatsbürgerlichen, sozialen und/oder beschäftigungsbezogenen
Perspektive dient“ (Statistisches Bundesamt 2008). In der Praxis allerdings, kommt
„LLL“ eher einer Forderung nach mehr Eigenverantwortung gleich, die häufig
synonym zur Erwachsenenbildung resp. Weiterbildung verwendet wird (Gerlach 2000,
185). Wenn man sich aber konkrete Zahlen bzgl. der tatsächlichen Weiterbildung
anschaut, so gelangen sowohl eine Untersuchung der Europäischen Union (EU) als
auch eine der Weltbank zu ernüchternden Ergebnissen:
58% aller EU-Bürger gaben an, an gar keiner Form von Lernmaßnahmen
teilzunehmen - mit zunehmendem Alter und sinkendem Bildungsniveau. Nur 4,4%
der befragten Erwachsenen nahmen an formalen Bildungsangeboten teil, 16,5% an
nicht-formalen Angeboten und fast ein Drittel nutzte informelle Angebote wie
selbstständiges Lernen anhand von gedruckten Unterlagen, computergestütztes
Lernen, Bildungssendungen oder Lernzentren (Kailis und Pilos 2005).
Personen, die sich weiterbilden sind i.d.R. Angestellte in größeren Firmen, zumeist
mit einer höheren Bildungsqualifikation (auch aufgrund eines
Finanzierungsproblems bei der (non-)formalen Bildung). Die Weiterbildung
unbeschäftigter Personen zeitigen dagegen extrem schwache Ergebnisse und
© acw Einleitung 16
Trainingsmärkte im informalen Wirtschaftssektor scheitern zumeist aus Angebots-
Nachfrage-Gründen (The World Bank 2003).
Gängige bildungspolitische Konzepte für LLL führen diese Entwicklung fort. So
belegen aktuelle Studien die Gefahr, dass über das klassische bildungspolitische
Instrumentarium zwar souveräne, selbstgesteuerte Lernsubjekte weiter gefördert
werden, nicht aber das gesamte Lernenden-Spektrum (Schreiber-Barsch 2007). Mit
anderen Worten: Die zumeist auf formalisierte Angebote fokussierten
Förderprogramme unterstützen i.d.R. die, die ihrer am wenigsten bedürfen. Das Gros
der Menschheit bildet sich nicht im Rahmen klassischer Bildungsangebote fort.
Demnach taugen diese Konzepte nur bedingt dazu, die „Mechanismen sozialer
Exklusion zu entschärfen“ (ebd., 16). Vielmehr ist zu fragen, ob nicht die
bildungspolitische Förderung informeller Lernumgebungen einen signifikanten
Beitrag leisten könnte, auch bislang marginalisierte Personen zu erreichen. Vor allem
im Kontext des sog. Web 2.0 entstehen derzeit neue, vernetzte, medienbasierte
Personal Learning Environments (PLE), die von einer wachsenden Zahl moderner
„Netz-ArbeiterInnen“ genutzt werden.
Diese „Internationale der InformationsarbeiterInnen“ (Lindner), die sich weltweit
ausbreitet, praktiziert die grundlegende Forderung nach LLL, indem sie sich
kontinuierlich mit der Welt informell auseinandersetzt und innerhalb derer sie sich
beständig kommunikativ positionieren. Sie organisieren ihr Arbeiten und Lernen in
dynamisch sich wandelnden, individuell gestalteten, digitalen Umgebungen. Nicht in
Reaktion auf diverse Angebote, sondern durch die aktive Definition ihrer persönlichen
Interessen werden sie zu NutznießerInnen ihrer selbst definierten, vernetzten
Informations- und Kommunikationskanäle.
Gelingt es diesen „Netz-Menschen“, ihre individuellen Fähigkeiten hinsichtlich der
gewünschten Inhalte wie technologischen Schnittstellen zu synchronisieren, bildet sich
bei ihnen eine individuelle Kompetenz heraus, die nicht seitens externer Kräfte
definiert wurde, sondern sich selbstbestimmt im Netzverbund flexibel anpasst. Glückt
diese Kompetenzentwicklung, können solche Personen mit zunehmender Vernetzung,
bis zu einem bestimmten Grad, sogar produktiver werden (Aral, Brynjolfsson, und
Alstyne 2007) - neben der persönlichen Bedeutung, die gesamtgesellschaftliche
Stoßrichtung ihrer Kompetenz ggf. selbst zu definieren.6
Wie könnten marginalisierte Gruppen und exkludierte Personen an dieser Entwicklung
hin zu benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen partizipieren? Wie könnten sie
ihre Netz-Arbeit für sich sinnvoll und produktiv selbst gestalten? An welchen Punkten
kann bildungspolitisch noch gestalterisch angesetzt werden, wenn formale
Institutionen in ihrer Bedeutung zurückgehen?
6 Siehe dazu z.B. die aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten oder auch die Beratungen im
Deutschen Bundestag im Rahmen der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ mitsamt
einem Internet-Forum als „18. Sachverständigen“.
© acw Einleitung 17
1.2 ZIELSETZUNG & FRAGESTELLUNG
Die vorliegende Arbeit folgt der Hypothese, eine positive User Experience (UX)7
innerhalb der digitalisierten Umgebungen, die die moderne Weltgesellschaft
nachhaltig prägen, sei eine wesentliche Voraussetzung, um sich in den aktuellen
Veränderungsprozessen aktiv bewegen zu können. Es gilt zu untersuchen, welche
subjektiven Fähigkeiten die Personen einerseits selbst beisteuern können, um in den
Genuss einer positiven UX zu gelangen und welche Rahmenbedingungen auf der
anderen Seite diesen UX-Prozess beeinflussen.
Aufgrund der weltweiten Vernetzungen und sozio-kulturellen Verflechtungen ist dabei
die UX im globalen Kontext (inkl. Afrika, Asien, Südamerika etc.) zu analysieren, um
daraus generelle Kompetenzen abzuleiten und dann zu erforschen, wo man
bildungspolitisch (ggf. international) ansetzen könnte, um diese
Kompetenzentwicklung zu fördern. Zentrales Ziel dieser Arbeit ist es insofern, Hebel
zu finden, damit möglichst viele Menschen die Potenziale digitaler Vernetzungsformen
und weltweiter Informations- und Kommunikationsflüsse (zumindest potenziell)
selbstbestimmt geniessen und mitgestalten können.
Die sich daraus ableitende Hauptfrage, der es nachzuspüren gilt, lautet von daher:
Welche globalen bildungspolitischen Maßnahmen sind erforderlich, um sozial
exkludierten Personen den Kompetenzerwerb zu ermöglichen, der benötigt wird, um
über eine positive UX in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen an der
modernen Weltgesellschaft selbstbestimmt teilzuhaben?
1.3 METHODISCHES VORGEHEN
Aufgrund der sehr breit angelegten Fragestellung wird in dieser Arbeit eine Methodik
gewählt, die erste Orientierungsergebnisse für weitere Forschungen auf der Basis eines
interdisziplinären Zuschnitts liefern soll. Dabei lehnt sich das leitende
Untersuchungsdesign an folgende Vorgehensweise an, die Manuel Castells wie folgt
beschreibt:
„I do not write books about books. I use theories, any theory, in
the same way that I hope my theory will be used by anyone: as a
toolbox to understand social reality. So I use what I find useful
and I do not consider what is not directly related to the purpose of
my investigation, (…).“ (Castells 2009a, 6)
Um die analytischen Schlüsse dennoch für möglichst viele LeserInnen nachvollziehbar
zu gestalten, soll die Darlegung der theoretischen Eckpunkte einer breiteren Rezeption
folgen, die für die jeweiligen Fach-ExpertInnen mitunter nicht erforderlich ist. Damit
7 UX kennzeichnet das Nutzungserlebnis bei der Interaktion (siehe dazu auch das anhängende Glossar)
© acw Einleitung 18
interdisziplinäre Bezüge zwischen verschiedenen Themen hergestellt werden können,
wird eine mitunter feingliedrige „Hypertext“-Struktur aufgesetzt, die es ermöglicht, auf
einzelne Kapitel punktuell zu verweisen. Zulaufen sollen diese vielfältigen
theoretischen Bezüge auf einen methodischen Kunstgriff zur Zukunftsforschung, der es
ermöglicht, trotz bislang wenig belastbarer empirischer Befunde als Kern der
Annäherung an die oben formulierte, hypothetische Hauptfrage dienen zu können:
Es soll untersucht werden, welche Kompetenz im Jahre 2020 erforderlich wäre, um im
„digitalen Klimawandel“ (Lindner 2008a) zu überleben und wie die dann benötigten,
subjektiven Voraussetzungen vorab bildungspolitisch begleitet werden könnten. Über
diesen Blick in die Zukunft lassen sich vielleicht einige Aussagen treffen über die
voraussichtliche mediale Durchdringung der „Weltgesellschaft“ mit den sich heute
bereits abzeichnenden digitalen Umwälzungen des so genannten Web 2.0 und den sich
daraus ableitenden, neuen, sozialen Lern- und Arbeitsprozessen. Die „Hype“-
Entwicklungen haben sich voraussichtlich bis zum avisierten Datum verflacht und
Normalität kehrt ein in die umgewälzte Informations- und Kommunikationskultur.
Das Zukunftsszenario für das Jahr 2020 wird dabei als Leitbild formuliert und dient
als Ausgangspunkt einer Real-Time-Delphi (RTD)-Analyse, die mit einem
ausgewählten internationalen Expert/innen-Kreis durchgeführt wird. Mit dieser
Studie soll v.a. eine Basis gefunden werden, neue Anstösse für zukünftige Forschungen
zu finden und weniger eine konsensual abgestimmte prognostische Voraussicht zu
formulieren.
Damit die RTD-Analyse auf einem geeigneten Thesenkatalog aufsetzen kann, soll
zunächst in Kapitel 2 der Forschungsstand zur Frage, welche Kompetenzen für
selbstbestimmtes vernetztes Lernen erforderlich sind, zusammengetragen werden. Zu
diesem Zweck wird untersucht, inwiefern Castells' „Netzwerkgesellschaft“ eine
geeignete theoretische Grundlage zur Einordnung sozialer Online-Netzwerke im Web
2.0-Zeitalter bildet. Anschließend wird analysiert, welche Bedeutung modernen
Learning 2.0-Konzepten zukommt vor dem Hintergrund der Netzwerkgesellschaft und
angesichts des dominanten, klassischen, pädagogischen Begriffsinventars. In der
Verbindung mit Ergebnissen der Kompetenzforschung lassen sich daraus ggf. aktuelle
Anforderungen für benötigte, subjektive Voraussetzungen ableiten, um in der
Netzwerkgesellschaft überleben zu können. Im Resümee soll dann der
Forschungsstand mit Blick auf erforderliche Kompetenzentwicklungen
zusammengeführt und offene Punkte für den nächsten analytischen Schritt dargelegt
werden.
Kapitel 3 widmet sich der Frage nach generellen Voraussetzungen für ein positives
Flow-Erlebnis in den weltweiten, digitalen Informations- und
Kommunikationskanälen. Über den bei Castells und bei Csikszentmihaly
unterschiedlich entwickelten Flow-Begriff werden klassische UX-Forschungsansätze
© acw Einleitung 19
untersucht, um zu evaluieren, welche Kategorien für die Analyse eines Flow-
Erlebnisses aus Sicht von sogenannten Usern geeignet erscheinen. Die sich aus der
sozio-kulturellen Analyse ableitenden persönlichen Flow-Voraussetzungen sollen
abschießend mit dem Stand der vernetzten Kompetenzforschung aus Kapitel 2
abgeglichen und offene Fragen für die Bildungspolitik aufgeführt werden.
Um diese konkreten Fragen zu analysieren, wird in Kapitel 4 das bereits
angesprochene potentielle Leitbild für das Jahr 2020 entwickelt, in dem von allen
Menschen erwartet wird, sich in benutzergenerierten, digitalen Umgebungen zu
orientieren. Für die Real-Time-Delphi-Analyse mit Expert/innen sollen aus den
theoretischen Bezügen verschiedene Thesen destilliert werden, um die benötigten
Fähigkeiten international einschätzen zu lassen und bildungspolitische Ansätze auf die
bislang noch ungeklärten Fragen zu finden. Die Ergebnisse der Real-Time-Delphi-
Studie steuern idealerweise bildungspolitische Vorschläge bei, die von den
Expert/innen als zukunftsfördernd angesehen wurden.
In Kapitel 5 sollen dann die erzielten empirischen Ergebnisse mit Blick auf die
gegenwärtigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen auf globaler Ebene diskutiert
und mögliche Szenarien für eine moderne internationale Bildungspolitik formuliert
werden.
In einem abschließenden Fazit lassen sich idealer Weise die bildungspolitischen
Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund zentraler Entwicklungslinien im Rückblick
zusammenführen und mit einigen offenen Forschungsfragen die Arbeit beenden.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 21
2 KOMPETENT ES LERNEN IN DER
NETZWERKGESELLSCHAFT
In welcher Welt leben wir eigentlich? Wie lernen Menschen? Und wie werden sie bald
lernen?
Schauen wir aus dem Fenster auf die Straße, bewegen wir uns in
(Hoch-)Schulgebäuden oder werfen wir einen Blick in die Kinderstuben, so stellen wir
-je nach eigenem Zugang zu den neuen Medien- fest: Irgendetwas verändert sich
gegenwärtig! Wir können es nur schwer deuten, sind irritiert, verharren. Was passiert
mit den Menschen, wenn sie ihre Bildschirme einschalten, die mobilen Endgeräte aus
den Hosentaschen ziehen und mit Stöpseln in den Ohren mit ihren Begleitern
kommunizieren? Der virtuelle Raum legt sich bleiern auf den realen - es existiert kein
abzugrenzender Raum mehr. Immer, dauernd, multipel verbinden sich immer mehr
Menschen über je unterschiedliche Kanäle mit anderen. Sie vernetzen sich
-schwarmgleich- mit mehr oder weniger Intelligenz - aber unübersehbar. Es wird Zeit,
diese Realitäten anzuerkennen und mit Blick auf das Lernen zu untersuchen.
Versuchen wir zu verstehen, was derzeit geschieht, welcher individuellen Fähigkeiten
es bedarf, um die vernetzten Möglichkeiten maximal nutzen zu können, und Konturen
zu erkennen, um innerhalb dieser Grenzen das Potenzial sinnvoll gestalten zu können.
Die zentrale These in diesem Kapitel lautet: In der Netzwerkgesellschaft ist die
Definition des erforderlichen Kompetenzaufbaus nicht von einer bestimmten,
vorzugsweise national begründeten Zielsetzung abzuleiten, sondern es gilt, die
Kompetenz-Potenziale einer bereits vernetzten Menschheit zu heben. Damit diese
selbstbestimmt als soziales Kollektiv auf globaler Ebene wirken kann, bedarf es eines
breiteren Zugangs zur Netzwerkgesellschaft, einiger individueller Basis-Fähigkeiten
und der sozialen Anerkennung kollektiv erarbeiteter Ergebnisse.8
Zu diesem Zweck sollen zunächst die Rahmenbedingungen der Netzwerkgesellschaft
entlang der Castell'schen Analysen angeführt werden, in denen sich Menschen und
Institutionen, auch Hochschulen, bewegen. In einem weiteren Schritt werden dann
Learning 2.0-Phänomene vor dem Hintergrund des grundsätzlichen pädagogischen
Begriffsinventars und aktueller bildungspolitischer Strömungen als Versuch analysiert,
die globalen Netzwerke zur eigenen und sozio-kulturellen Weiterentwicklung zu
nutzen. In diesem Kapitel gilt es abschließend zu erkunden, welcher Kompetenzen es
bedarf, damit sich Menschen in diesem vernetzten Zeitalter konstruktiv bewegen
können.
8 Dieser These ging ich zusammenfassend auch in einem vor kurzem veröffentlichten Buchbeitrag zu
„Kompetenzentwicklung in vernetzten Kontexten“ nach (Anja C. Wagner 2011, 50).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 22
2.1 CASTELLS: DIE NETZWERKGESELLSCHAFT
Der von Manuel Castells entwickelte analytische Ansatz zur Netzwerkgesellschaft
(Castells 2001a; Castells 2001b; Castells 2002; Castells 2003; Castells 2009b) gilt als
theoretischer Wendepunkt der Sozialtheorie, vergleichbar zur Tragweite von Max
Webers Arbeit (vgl. Stalder 2006, 206). Bis dato konzentrierte sich Netzwerkforschung
auf „Konstruktionsprinzipien, Akteursmodelle und Mechanismen der
Netzwerkbildung“ (Kardoff 2006, 69). Von diesen Netzwerk-Theoretiker/innen
unterscheidet sich Castells, indem er die Struktur des Netzwerkes -und weniger den
Inhalt- analysiert und darauf eine holistische Gesellschaftsanalyse aufbaut (Stalder
2006, 168). Hintergrund seiner Analyse ist die Beobachtung, in allen gesellschaftlichen
Bereichen eine grundlegende Transformation der konstituierenden sozialen Prozesse
erkennen zu können: von Hierarchien zu Vernetzungen.
Zentraler Antriebsmotor dieser Entwicklung waren -neben dem Aufkommen der
Mikroelektronik- die global wirkenden Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT), die einen Flow an Informationen, Menschen,
Innovationen ermöglichten und letztlich in der Netzwerkgesellschaft mündeten (ebd.,
2). Diese Netzwerkgesellschaft hat sich in den letzten drei Dekaden herausgebildet.
Nicht in Folge einer geschichtlichen Kausalität oder eines inhärent wirkenden
Sozialgesetzes, sondern aufgrund einer -mehr oder weniger zufälligen, sich in ihrem
Aufeinanderprallen aber wechselseitig bestärkenden- Koinzidenz besagter
elektronischer Revolution mit der Krise der Industrialisierung (seit den 1970er Jahren
und derzeit kulminierend) und den langfristig wirkenden kulturellen
Herausforderungen der 1960er Bewegungen (ebd., 3). Durch diese enge Verzahnung
der Re-Organisation sozialer Prozesse mit „neuen“ kulturellen Werten lässt sich eine
Verschiebung hin zu zunehmend vernetzten Strukturen feststellen, die noch nicht
abgeschlossen ist und in deren Kontext das vielfältige Entstehen dezentraler sozialer
Online-Netzwerke analysiert werden kann.
2.1.1 CASTELLS' NETZWERKDEFINITION
Netzwerke existierten schon immer - genauso wie Informationen oder Wissen.
Allerdings ist eine Kennzeichnung wie „Informationsgesellschaft“ oder
„Wissensökonomie“ wenig zielführend zur gesellschaftlichen Analyse, da sie den
wesentlichen Charakterzug der aktuellen Zeit nach Castells' Ansicht außer Acht lässt:
die an sich wert-neutralen, technologischen Tools, die prägend sind für diese
Gesellschaft (vgl. Stalder 2006, 32). Auf die technologischen Entwicklungen aber sind
die sozialen Veränderungen nach der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren
zurückzuführen, die letztlich zum „Informationalismus“ als „neuer Form sozio-
technologischer Organisation“ (Steinbicker 2001, 79) und zur Netzwerkgesellschaft
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 23
führten und in vier verschiedenen Dimensionen sichtbar wurden (Stalder 2006, 43):
1. Internationalisierung der Ökonomie
2. Aufkommen globaler Finanzmärkte
3. Entstehen von Netzwerkunternehmen
4. Individualisierung der Arbeit
Der „Informationalismus“ als neues technologisches Paradigma ist nach Castells v.a.
geprägt durch die Computer- und Gentechnologie (ebd., 28ff.).9 Beide Technologien
zeichnen sich durch eine Eigendynamik aus, die drei Charakteristika betont:
Selbstexpansion: Computer helfen z.B. dabei, bessere Computer zu entwickeln
(ebd., 29);
Rekombination: Aufgrund der Informationsmodule lassen sich vielfältige, neue,
sinnstiftende Einheiten gestalten (ebd., 29);
Verteilungsflexibilität: Informationen können ihren Aggregatszustand
kontinuierlich verändern, so dass ständige Reorganisationen der Informationsflüsse
und der sozialen Organisationen möglich werden (ebd., 30).
Castells untersucht die Auswirkungen der Technologien auf die Form der sozialen
Organisation und gelangt für die heutige Zeit zu dem Schluss, das Netzwerk sei die
zentrale soziale Organisationsstruktur - nicht im Sinne eines ideologischen
Fortschrittsglaubens, vielmehr werden die sozial bestimmenden, kulturellen Werte im
Wettbewerb kontinuierlich ausgefochten (ebd., 30). Aufgrund der spezifischen
historischen Entwicklungen hat sich dabei eine Netzwerkkultur herausgebildet, die die
sozio-ökonomischen Bedingungen nunmehr dominiert. Ein Netzwerk definiert Castells
als bestehend aus mehreren Knoten, wobei ein Knoten der Punkt sei, „an dem eine
Kurve sich mit sich selbst schneidet“ und in unterschiedlichen Netzwerken je
verschiedene Gestalt annehmen kann (Castells 2001a, 1:528).
Um die je eigene Entwicklungsdynamik der verschiedenen Netzwerke zu skizzieren,
wählt Castells methodisch einen iterativen Prozess, in dem theoretische Annahmen
fortwährend verfeinert werden durch eine Vielzahl an empirischen Case Studies, die
wiederum durch die theoretischen Überlegungen immer wieder in neue Richtungen
gelenkt werden (Stalder 2006, 36). Als eine Konsequenz dieser Vorgehensweise erhebt
Castells nicht den Anspruch, eine abschließende Sozialtheorie vorzulegen, sondern legt
seine idealtypischen, theoretischen Überlegungen als Matrix aus, die Anstoß bieten
sollen, empirisch zu forschen, um eine empirisch gesättigte Matrix entstehen zu lassen
(ebd., 37f.). Vor diesem Hintergrund schimmern die theoretischen
Rahmenbedingungen seiner Forschungen nur dezent durch.
9 Für den Fokus dieser Arbeit sind v.a. die Einflüsse der Computertechnologie relevant. Die konkreten
Auswirkungen der bio-technologischen Revolution auf die Netzwerkgesellschaft bleibt weiteren
Forschungen vorbehalten.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 24
Der Medienwissenschaftler Felix Stalder hat sich derer angenommen und eine
Kategorisierung der Castell'schen Forschungen vorgenommen. Demnach beruht die
Netzwerktheorie auf vier zentralen Annahmen:
1. Informationalismus und Netzwerke stellen zwei Ebenen desselben empirischen
Flow-Phänomens dar: zum einen die technologische und zum anderen die
morphologische Ebene. Das Verhältnis der beiden Ebenen ist das von positiven
Feedbackschleifen, weniger von kausaler Abhängigkeit und führt zu einem
Zuwachs der menschlichen Leistungsfähigkeit durch diese Informationsprozesse
(ebd., 186).
2. Räumlich verändert die Netzwerklogik die Verortung, indem ein space of flows
-oder „Raum der Ströme“- fragmentierte und diskontinuierliche Oberflächen
entstehen lässt mit einer nonlinearen Organisation (ebd., 187). Koordiniert werden
diese Aktivitäten sowohl auf globaler wie lokaler Ebene durch den elektronischen
Informationsfluss, der die gleichzeitig zentralisierten wie dezentralisierten
Prozesse flexibel managt (ebd., 185).
3. Ein gemeinsames Projekt ist die Orientierung bietende, zentrale Achse, um die sich
ein Netzwerk dreht und konstituiert. Durch wertvolle Informationen, die einzelne
Knoten dem Netzwerk hinzufügen, erlangen sie Bedeutung innerhalb des
Netzwerkes. Trägt ein einzelner Knoten nichts bei zum Netzwerk, rekonstituiert
sich das Netzwerk ohne diesen Knoten (ebd., 188).
4. Eine geteilte Kultur der Protokolle und Werte erleichtert die Kommunikation.
Sowohl die Verbundenheit als Möglichkeit der geräuschlosen Kommunikation als
auch die Konsistenz der Zielvorstellungen von Netzwerk und Komponenten sind
Grundeigenschaften, die die Performance des Netzwerkes steigern (ebd., 189).
Als Annäherung an eine aussagekräftigere Definition des Netzwerkes führt Stalder an:
„A network is an enduring pattern of interaction among heterogeneous
actors that define one another (identity). They coordinate
themselves on the basis of common protocols, values, and goals
(process). A network reacts nondeterministically to self-selected
external influences, thus not simply representing the environment
but actively creating it (interdependence). Key properties of a
network are emergent from these processes unfolding over time,
rather than determined by any of its elements (emergence).“ (ebd.,
180)
Netzwerke beruhen also nicht auf einer formalen Organisation, sondern sie
kombinieren auf potentiell universaler Basis verschiedene Knoten, die ein
gemeinsames, partikulares, funktionales Interesse miteinander verbindet. Erst im
„Vollzug seiner Reziprozitätskommunikation“ (Bommes und Tacke 2006, 58) legt das
Netzwerk fest, wer dazugehört und wie seine sachlichen, sozialen und zeitlichen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 25
Strukturen sich ggf. stabil und flexibel entfalten. Netzwerke entwickelten sich so zur
effizientesten Organisationsform, da sie drei Hauptmerkmale mitbringen, die sie an
der neuen technologischen Umgebung profitieren lassen (eigene Übersetzung aus
Lupiáñez-Villanueva 2008):
1. Flexibilität: Sie können sich an wechselnde Umgebungen mühelos
anpassen, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Komponenten
des Netzwerkes werden ausgetauscht oder umgangen, um passendere
Verbindungen zu finden.
2. Skalierbarkeit: Ohne Unterbrechung können sie wachsen oder sich
minimieren, je nach Bedarf.
3. Überlebensfähigkeit: Da sie kein materielles Zentrum besitzen,
können Netzwerke in vielen verschiedenen Konfigurationen
operieren. Sie können Angriffe auf einzelne Knoten oder
kulturelle Codes gut abfangen, da die Codes in vielen Knoten
verhaftet sind, die den "Auftrag" über neue Wege erfüllen können.
Nur die tatsächliche physische Zerstörung aller Verbindungspunkte
kann das Netzwerk eliminieren.
Auf der Basis des Informationalismus und des space of flows entstehen eine Vielzahl
an Netzwerken rund um flexible Projekte, die sich selbst jeweils mittels intensiver
Kommunikation ihrer Mitglieder koordinieren. Diese Kommunikation folgt je
spezifischen Codes, die den Raum- und Zeitbegriff von ihren historischen Wurzeln löst
und ihren eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten anpasst. Es entstehen vielfältige
Kommunikationsbeziehungen, die dazu führen können, dass Menschen in separierten
Netzwerken aufgrund mangelnder Berührungspunkte und unterschiedlicher Codes
überhaupt nicht mehr miteinander kommunizieren können, da sie in verschiedenen
Zeiten und Räumen leben (Stalder 2006, 202). Die Struktur der Netzwerkgesellschaft
konfiguriert sich entlang dieser unterschiedlichen Netzwerke, deren gesellschaftliche
Ebenen nur über einzelne Netzwerkknoten und Systemparameter verbunden sind.
2.1.2 RAUM UN D ZEIT
Die originellste Facette aus Castells Theoriewerk stellt in mehrfacher Hinsicht sein
Diskurs zu Flows (Strömen) und Plätzen, Raum und Zeit dar. Grundlage seiner
Forschungen ist die Feststellung, dass Menschen in Räumen leben und agieren. Räume
existieren aber -nach Leibniz- nicht unabhängig von sozialen Beziehungen, sondern
werden erst durch diese konstituiert und transformiert. Insofern reflektieren und
formen Räume das soziale Leben in seiner Gesamtheit (Stalder 2006, 141). Mit dieser
Annahme können Räume nur über eine Gesellschaftsanalyse verstanden werden; die
Raumforschung muss also holistischer Natur sein (ebd., 144).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 26
Da soziale Handlungen nur dann zwischen Menschen geteilt werden können, wenn sie
sich im selben Raum befinden, gehören Raum und Zeit zusammen (ebd., 144).
Zentraler Charakterzug der Modernität ist die Ausdehnung von Raum und Zeit für die
Produktionsbedingungen, die schließlich in einer „Zeit-Raum-Kompression“ (nach
David Harvey) münden (ebd., 146).
„Harveys Kernthese ist, daß dieser Drang nach kontinuierlicher
zeitlicher Beschleunigung des Kapitalumlaufes oder nach einer „Zeit-
Raum-Kompression“ zugleich auch die Produktion von Raum und
räumlichen Konfigurationen voraussetzt. Nur durch die Bereitstellung
relativ unbeweglicher Transport-, Kommunikations- und regulativ-
institutioneller Infrastrukturen, d.h. gleichsam einer „zweiten
Natur“ sozial hervorgebrachter Konfigurationen territorialer
Organisation, kann diese beschleunigte Zirkulation von Gütern durch
den Raum erreicht werden. Daher ist, wie Harvey (1985: 145) bemerkt,
räumliche Organisation notwendigerweise die Grundvoraussetzung
dafür, den Raum zu überwinden.“ (Brenner 1997, 9f.).
Nach Castells schlägt aber jeder Kompressionsprozess irgendwann ins Negative um (zu
wenig Raum, zu wenig Zeit) und dann bedarf es eines qualitativ neuen Typus von
Raum und Zeit. Mit dem Beginn der Krise des Industrialismus seit den 1980er Jahren
restrukturierten sich die kapitalistischen Produktionsströme mittels der
Transformation des Raumes durch die Informations- und Kommunikations-
technologien. Den sozialen Akteuren ermöglichen diese neuen Flows, Zeit miteinander
zu teilen an verschiedenen Orten. In der kapitalistischen Logik versucht man aus
diesem Umstand Vorteile zu schlagen, indem eine weitere „Zeit-Raum-Kompression“
vorgenommen wird und zu 24/710-Produktions- wie Distributionskanälen führt. Der
geteilte Raum ist jetzt primär der space of flows, der als herrschende räumliche Logik
auch den space of places verändert (ebd., 145).
„Der Raum der Ströme ist die materielle Organisation von Formen
gesellschaftlicher Praxis, die eine gemeinsame Zeit haben, soweit
sie durch Ströme funktionieren. Unter Strömen verstehe ich
zweckgerichtete, repetitive, programmierbare Sequenzen des
Austauschs und der Interaktion zwischen physisch unverbundenen
Positionen, die soziale Akteure innerhalb der wirtschaftlichen,
politischen und symbolischen Strukturen der Gesellschaft einnehmen.“
(Castells 2001a, 1:467)
Castells unterscheidet 3 Dimensionen, die den space of flows charakterisieren:
1. Eine Umgebung mit einer neuen, räumlichen Logik hat sich etabliert: Um am
space of flows teilhaben zu können, muss man haptisch an der Infrastruktur
10 24 Stunden / 7 Tage
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 27
andocken können. Sofern man eine entsprechende Infrastruktur vorfindet, ist der
physikalische Ort theoretisch gleichgültig. Wem diese Teilhabe an den
technologischen Netzwerken verwehrt bleibt, ist marginalisiert: Menschen,
Institutionen und Orte (Stalder 2006, 147f.).
2. Clustering in Knoten und Verteiler: Unterschiedliche Netzwerke haben
unterschiedliche zentrale materielle Orte, die eine gewisse Grösse erfordern, um
die Feinheiten dieser fortgeschrittenen Prozesse im space of flows wahrnehmen
und aufgreifen zu können (ebd., 148). Um z.B. als Ort für ein Finanzzentrum
wirken zu können, bedarf es eines komplexen Backends am Ort - inklusive einer
sozialen Kohäsion der intellektuellen Eliten (ebd., 149).
3. Für die Elitenbildung wiederum ist eine bestimmte räumliche Verteilung und
spezifische räumliche Formation erforderlich. Dies wird infrastrukturell z.B. über
den Mietenspiegel oder geschlossene Wohnbezirke oder Sicherheitsdienste gelöst.
Zum anderen verbinden Lounges an den Mobilitätsstätten (Flughafen, Bahnhöfe),
Konferenzzentren, Hotelketten, Clubs und Limousinen die Knoten als Brücken
miteinander. Und da zentrale Schulen die globale, intellektuelle Kultur ausbilden,
sind die Codes zumindest im rein kapitalistischen Segment gleich gesetzt (ebd.,
149f.; zu Elitenetzwerken und Machtfeldern i.S. von Bourdieu siehe auch: Gulas
2007, 77ff.).
Stalder führt diese Punkte in einer Definition des space of flows zusammen:
„The space of flows is the infrastructure of high-speed, high-
volume, high-precision communication and transportation, spanning
the globe but clustered in specific places based on their ability to
provide the resources relevant to advancing the networks' particular
programs. Through this infrastructure, elites produce and process
vast amounts of information based on which decisions are made.“
(ebd., 150)
Heute allerdings steht der space of flows nicht mehr nur den herrschenden Eliten zur
Verfügung - auch soziale Bewegungen nutzen diesen für ihre Netzwerke. Der space of
flows setzt auf dem space of places auf, wenn dieser Landungspunkte bereitstellt - und
mit dem World Wide Web haben sich diese potenziert. Über diese Verbindungen
können Menschen den space of flows betreten, ohne ihren space of place verlassen zu
müssen. Beziehungsweise zeichnet sich bereits ab, wie über die mobilen Endgeräte
neue räumliche Praktiken entwickelt werden, in dem der space of flows spontan und in
selbst gesetzten Rhythmen zur Koordination der beteiligten Personen genutzt wird und
eine weitere Raum-Zeit-Kompression eintritt. Innerhalb von zwei Dekaden hat der
space of flows fast jeden Lebensteil theoretisch erreicht - weltweit (ebd., 151). Aber mit
unterschiedlicher Gewichtung der zugänglichen Netzwerke, je nach der am space of
places vorherrschenden elitären Infrastruktur, die sich zusehends über dezentrale
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 28
metropolitan regions organisiert (Castells 2009b, 1:xxxii ff.).
Das Internet ist demnach nur ein kleiner Ausschnitt des space of flows. Weitere
Netzwerke, teilweise privat oder geschlossen, bauen auf diesen globalen IKT-Kanälen
auf - seien es die Finanzmärkte, die mobile Kommunikation oder Intranets mit
internationaler Ausbreitung. Man könnte auch sagen, der space of flows konfiguriert
auch den space of power oder der counterpower (ebd., 152). So haben sich
interessanterweise v.a. die kapitalistischen Zentren des 20. Jahrhunderts als
Schlüsselknoten der globalen Finanzmärkte herausgebildet (ebd., 147). Als strukturell
dominante Städte haben sich v.a. London, New York, Frankfurt, Tokyo, Amsterdam
und Zürich etabliert - neben Miami, Los Angeles, Hong Kong und Singapur als so
genannte „Gateway“-Städte, die verschiedene ökonomische Zonen miteinander
verbinden (David Smith und Timberlake 2002, 120). Das globale Datennetz verfestigt
reale Macht- und Herrschaftsstrukturen (Maresch und Werber 2002, 23), während
diese gleichzeitig über die globalen Kanäle unterlaufen werden können.
Allen Netzwerken gemeinsam ist die geographische Unabhängigkeit der einzelnen
Knoten, die sich funktional kohärent integrieren. Aus der Sicht der Plätze wird eine
Fragmentierung der Ordnung wahrgenommen in ein nonlineares Muster an
Lokalitäten, die zunehmend weniger miteinander (geographisch) verbunden sind
(ebd., 154). Aus der jeweiligen Binnensicht eines Netzwerkes aber existiert ein
gemeinsamer Raum, in dem Verbindungen zwischen den Knoten unter funktionalen
Gesichtspunkten wahrgenommen werden. Das ist die binäre räumliche Logik im
informationalen Zeitalter (ebd., 153).
Gleichzeitig existiert für die moderne Gesellschaft keine gemeinsame zeitliche
Ordnungsstruktur mehr, an der sich die Mitglieder orientieren können. Es regiert eine
timeless time, die sich weder an biologische oder künstliche Zeittakte hält, sondern
einzig den Bedingungen des Netzwerkes unterliegt. Jetzt oder Nicht-Jetzt sind die
beiden binären Pole dieser Entwicklung, die zu Störungen im flow of social time
führen muss, da die Interaktion verschiedener Zeitlichkeiten zu einer chaotischen
Fluktuation in der Sequenz von Ereignissen führt (ebd., 156). Statt zeitlicher
Sequenzen per Uhrzeiten regiert eine Hochgeschwindigkeits-Computerisierung, die
Mikroeinheiten von Sekunden rechnet. Zeit wird unsichtbar. Sie basiert zwar immer
noch auf der Uhrzeit, aber sehr komprimiert innerhalb der Netzwerkökologie. Die Zeit
ist explodiert in eine Vielzahl an Teilchen - pro IKT-Nutzer/in entsteht ein spezifischer
time frame, der nur selten, und wenn, dann zufällig, zeitgleich mit time frames anderer
Nutzer/innen zusammenfällt.11 Begrifflichkeiten wie Echtzeit und 24/7, die die Zeiten
11 Kurze Anekdote: Bei der Teilnahme an einem Flash-Mob-Event in Berlin, Alexanderplatz im Herbst 2008
wurden mehrere hundert Teilnehmer/innen per Audio-Datei, die man sich vorab downloaden und auf den
MP3-Player spielen musste, theatralisch gesteuert. Aufgrund der unterschiedlichen Abspielgeräte folgte im
Laufe der chronometrischen Zeit jede/r einer anderen Event-Zeit - die Aktivitäten verliefen zunehmend
asynchron - jede/r lebte in einem eigenen time frame (übrigens nicht intendiert bzw. nicht bedacht seitens
der Initiator/innen).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 29
der Netzwerkgesellschaft umschreiben helfen, versuchen die Schnelligkeit und
totalisierende Logik der Entwicklung einzufangen (Hassan und Purser 2007, 2ff.).
Markierte der Übergang von der oralen zur schriftlichen Kultur eine mediale
Verräumlichung, so kennzeichnet den Übergang vom Schriftlichen zum
„Telematischen“ eine Verzeitlichung in medialer Hinsicht. Der fließende Strom
organisiert die digitalen Informationen räumlich nicht mehr greifbar als Dokument,
sondern als Cyberkörper sich bewegend. Im Cyberspace wird ein Körper nicht mehr
aufgrund seiner veränderten Lage im Raum, sondern durch seine Veränderung in der
Zeit als im Fluss empfunden. Der Umgang mit den fließenden Informationen
entwickelt sich zur vierten Kulturtechnik (neben Schreiben, Lesen, Rechnen), um eine
Interaktion mit zeitlich sich verändernden Symbolen zu gewährleisten (Krämer 2002).
Diese Kulturtechniken stehen nicht nur der von Castells identifizierten
„Informationselite“ der herrschenden Klasse zur Verfügung, sondern sie konnten
subversiv von anderen interessierten, sozialen Gruppen sich angeeignet und durch den
symbolischen Zugriff auch auf weniger ökonomische, z.B. zivilgesellschaftliche
Interessen gerichtet werden. Diese modifizierten Informationseliten agieren im
kosmopolitischen Raum, während die „einfachen Leute“ im lokalen Raum leben
(Castells 2001a, 1:471). Mit möglicherweise fatalen Folgen:
„Wenn nicht bewusst und planvoll kulturelle, politische und
physische Brücken zwischen diesen beiden Formen des Raumes gebaut
werden, könnten wir uns auf dem Weg zu einem Leben in parallelen
Universen befinden, deren Zeiten sich nicht treffen können, weil sie
in unterschiedliche Dimensionen eines sozialen Hyperspace verstrickt
sind.“ (ebd., 484)
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Netzwerkgesellschaft geprägt ist von
verschiedenen Räumen, in denen flexible Netzwerke mit unterschiedlichen
Zeitrhythmen agieren, die die Menschen letztlich auseinander treiben. Damit rücken
identitätsstiftende Kulturen in den Blickpunkt, die den Menschen ggf. eine Sinn
stiftende Orientierung mit auf den Weg geben können.
2.1.3 IDENTITÄT, KULT U R & ERFA HRUNG
Im Hinblick auf ihre soziale Morphologie können soziale Entitäten in ihrem
Grundmuster als Hierarchien, Märkte, Netzwerke oder Kollektive organisiert sein
(Stalder 2006, 175f.). Netzwerke sind in ihrem Interaktionsmuster andauernder als
Märkte und flexibler als Hierarchien (ebd., 178): Der Veränderungsprozess eines
Netzwerkes hängt nicht von einem einzelnen Knoten ab, sondern konfiguriert sich als
Geschichte der Gesamtheit aller Netzwerk-Komponenten. Zwar bedingen sich die
einzelnen Knoten wechselseitig für ihre eigene Identität wie für das Netzwerk, aber
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 30
aufgrund ihrer komplementären Asymmetrie sind sie nicht abhängig von einzelnen
Knoten (ebd., 179). Vielmehr vermögen die technischen Potenziale der neuen Medien
die traditionellen Vermachtungen im space of places zu unterlaufen, zu überbieten
oder zu umgehen (Kardoff 2006, 66).
Bereits das Aufkommen der progressiven Bewegungen in den 1960/70er Jahren mit
ihrem libertären Geist und ihrer kulturellen Offenheit resultierte in spielerischen
Symbolmanipulationen und führte schließlich zu einer akzeptierten „Kultur realer
Virtualität“ (Castells 2001a, 1:425). Sie forderten die konservativen, etablierten,
sozialen Institutionen heraus und transformierten diese (Stalder 2006, 81) - nicht
durch den berüchtigten „Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke), sondern durch
die symbolische Unterstützung des aufkommenden „networked individualism“
(Wellman 2002). Dieser vernetzte Individualismus, der durch mobile, virtuelle
Technologien forciert wird, verbindet heute die Personen direkt miteinander statt wie
bisher statische Plätze oder Institutionen (ebd.).
Es handelt sich also nicht um eine Ansammlung isolierter Individuen, sondern um ein
soziales Muster (Stalder 2006, 196). Mit den webbasierten Möglichkeiten der neuen
Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und der damit verbundenen,
sich entfaltenden, multimedialen Kultur einer die McLuhan'schen Gutenberg-Galaxie
ablösenden „Internet-Galaxie“ werden in der Nutzerperspektive die Botschaften
wieder zu Botschaften (Castells 2001a, 1:425). Die an sich eigentümlichen Codes
vermengen sich in dem symbolischen Kommunikationsprozess und verwischen zu
einem „gigantischen, nicht-historischen Hypertext“ (ebd.), der als semantischer
Kontext „mit seinen vielfältigen Facetten aus einer zufälligen Mischung aus
Bedeutungen besteht“ (ebd.) und als neue symbolische Umwelt nur noch die
Kommunikation auf elektronischer Grundlage zulässt (ebd., 427). Die digitalisierten
Netzwerke multimodaler Kommunikation sind zwischenzeitlich so verwoben mit
sämtlichen kulturellen Ausdrucksformen und persönlichen Erfahrungen, das sie in
ihrer Virtualität eine neue Dimension gelebter Realität definieren (Castells 2009b,
1:xxxi).
In Kombination mit den neuen IKT und den kapitalistischen Restrukturierungen
erwuchsen daraus oppositionelle Bewegungen, die als Quelle neuer kollektiver
Identität und als Schlüsselmotoren für soziale Innovationen betrachtet werden
können. Sie sind die Subjekte des sozio-kulturellen Wandels, die von ihnen
transportierten kulturellen Werte sind die Inhalte und die sozialen Strukturen, wie sie
von spezifischen Institutionen und Organisationen repräsentiert werden, sind das
Objekt des Wandels (Stalder 2006, 79). Akteure sind nicht die einzelnen Individuen,
sondern das Kollektiv der Bewegung, das von Castells zunächst primär über einen
gemeinsamen geographischen Ort definiert wird; später dann zeigt er auf, wie soziale
Bewegungen stärker in Ideen wurzeln, die sich dann allerdings in den Institutionen
materialisieren müssen, also wieder einen Ort aufsuchen müssen, um gesellschaftlich
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 31
wirken zu können (ebd., 83).12
Um die Identität rankt sich also die persönliche Sinnstiftung. Identität meint dabei,
dass bestimmte kulturelle Charakteristika konstitutiv sind für eine Person im Kontext
dieser geteilten Kultur. Im Laufe der Zeit kristallisiert sich dann ein stabiler Kern
heraus, der sich im Kontext des Wandels ständig (re-)konfiguriert und zur
„Individuation“ (nach Anthony Giddens) führt (ebd., 83). Durch die Einbindung neuer
möglicher Quellen der Sinnstiftung in die sozialen Organisationen und Institutionen
können die Quellen gesellschaftlich relevant werden (ebd., 84). Macht wird hier
ausgeübt über die Produktion und Diffusion von Symbolen und kulturellen Codes -
und damit wird der Vermittlungsraum durch die IKT-Flows immer wichtiger. Denn
erst die symbolische Gewalt formt die Entwicklung von materialer Realität (ebd., 99)
und lässt so eine „real virtuality“ (ebd., 100) entstehen.
In der Netzwerkgesellschaft stellt „eine primäre Identität -also eine Identität, die den
anderen den Rahmen vorgibt-, die über Zeit und Raum hinweg selbsterhaltend ist“
(Castells 2002, 2:9) die zentrale, wenn nicht sogar die einzige Instanz von Sinn dar.
Durch das individuell nutzbare Inter-Net(z) haben die Wahl- und
Gestaltungsmöglichkeiten erheblich zugenommen - sowohl für die
Kommunikationsbeziehungen, die Transaktionen als auch die individuellen
Identitätsentwürfe. Zwar führt die „Kommerzialisierung der Aufmerksamkeitsmärkte“
(Reichert 2008, 62) zur Einbindung erzählter Identitäten in ökonomische
Verwertungszusammenhänge; die Gestaltung der sozialen Spielregeln in diesen
digitalen Prozessen obliegt aber allen Beteiligten. So führt die Steigerung der
Individualisierung der Individuen mittels sozialer Medien zu einer Hybridisierung
archivierter Daten, die eine Verwaltung rechnergestützter Informationen unterläuft,
wenn nicht sogar ad absurdum führt (ebd., 220). Während einerseits die
Netzbewegungen das Nutzerverhalten als individuelles Profil sichtbar machen, sich
somit die elektronische biografische Identität von ihrem narrativen Charakter löst,
erwachsen Blogs (und sonstige persönliche Äußerungsformen) zu einer „subversiven
Identitätsstrategie, diesen Vereinnahmungen entgegen zu wirken“ (Kardoff 2006, 67).
Oder wie es Steinbicker zum Ausdruck bringt:
„Die Konstruktion autonomer Identitäten jenseits der
institutionellen Ordnungen der Netzwerkgesellschaft wird zum
wichtigsten Mittel der Gegenwehr gegen ihre Herrschaftsstrukturen.“
(Steinbicker 2001, 81)
Die neue zentrale Konfliktlinie verläuft nicht mehr zwischen Kapital- und
Arbeiterklassen, sondern zwischen dem Netz und dem Selbst. Hier finden bereits die
Kämpfe um mögliche gesellschaftliche Veränderungsprozesse statt (ebd.), nicht
einseitig zugunsten kapitaler Interessen, sondern (auch) als Gegenwehr einer
12 Siehe dazu die derzeitige Koinzidenz der Diskussionen rund um Open Data, E-Government und Wikileaks.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 32
Abgrenzung des Libertären vom Liberalen.
Aber Castells entwickelt seine Sozialtheorie nicht durch eine Analyse der aktuellen
sozialen Kämpfe, sondern als Beschreibung der u.a. technologisch bedingten
Veränderungsprozesse und ihrer Ausformungen in der Gesellschaft. Dabei analysiert
er die kollektiven und prozessoralen Akteure innerhalb der reflexiven, sozialen
Bewegungen als kulturelle Transformationsmotoren, nicht aber den konkreten
Konflikt mit unsicheren und ungesicherten sozialen Gruppen, die ohne Informationen,
Ressourcen oder Macht sich hinter tradierte Codes und Werte zurückziehen (ebd., 82).
Die sozialen Bewegungen, die sich einbringen können in den space of flows, bewegen
sich in der für Castells relevanten, neuen Konfliktzone der Kultur, die darum ringt, wie
man in Würde und mit Sinn leben kann (Stalder 2006, 87). Und diese Bewegungen
sind stark von der modernen Technologie geprägt:
„Sociability is transformed in the new historical context, with
networked individualism emerging as the synthesis between the
affirmation of an individual-centred culture, and the need and
desire for sharing and co-experiencing. Virtual communities and
smart mobs, hybrid networks of space and photons are redefining
space and time (..) as the appropriation of technology by people for
their own uses and values.“ (Castells 2004, 223)
In der kulturellen Identitätsfrage liegt für Castells der Fokus seiner Arbeit. Kultur,
verstanden als Prozess und nicht als Inhalt. Dabei verliert er nach Ansicht Stalders'
einige Kämpfe aus den Augen, die zukünftig wichtig sind für die kulturelle Identität
aller tangierten Menschen: Der Kampf um Zugang zu Informationen und Wissen
zeichnet sich als einer der großen neuen Kämpfe der Netzwerkgesellschaft ab. Bereits
heute ist der Kampf um Patentierungen, Copyrights und internationale Verträge
entfacht, so dass Stalder den Kampf um das Urheberrecht als die geopolitische
Herausforderung der neuen Ära bezeichnet, der den alten Widerspruch zwischen
Kapital und Arbeit ablöst (Stalder 2006, 205).13 Dies gibt Castells auch im neuen
Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes zur Netzwerkgesellschaft zu bedenken:
Während Funktionalität, Wohlstand und Macht durch den space of flows definiert
seien, ist die kulturelle und soziale Sinnstiftung ein Charakteristikum des space of
places. In diesem Widerspruch zwischen der dominanten Logik einer vernetzten,
globalen Welt einerseits und dem tatsächlichen Leben der Menschen an realen Orten
in den Megaregionen andererseits ziehen neue Konfliktlinien auf (Castells 2009b,
1:xxxix).
Zusammengefasst kommt Identitäten in der Netzwerkgesellschaft die Funktion zu,
13 Die westlichen Staaten nutzen ihre Macht in den internationalen Organisationen, um über Lizenzen und
Patentgebühren den strukturellen Nachteil der Entwicklungs- und Schwellenländer juristisch zu
manifestieren. So wurde geistiges Eigentum zu einem immer wichtigeren Produktionsfaktor - und in den
USA etablierte sich eine regelrechte Patentindustrie, die über kostenintensive verfahren ihre
internationalen Rechte einklagen (vgl. Hack 2006, 163).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 33
eine kohärente Sinnstiftung über alle persönlichen Netzwerk-Beteiligungen
herzustellen. Dabei dominieren in den verschiedenen Räumen unterschiedliche
kulturelle Werte und Codes, um deren Deutungsmacht globale Kämpfe vollzogen
werden. Der individuelle Sinnstiftungsprozess vollzieht sich für Netz-Menschen in
diesem Konkurrenzkampf zwischen globaler Netzlogik einerseits und regionalen
Zusammenhängen, die das physische Leben vordergründig definieren, auf der anderen
Seite. Über die Institutionen am space of places tragen die individuell ausgehandelten
Identitäten die von ihnen eingefangenen, global fliessenden Ideen in die Gesellschaft
vor Ort hinein. Personen ohne Netz-Zugang haben keinen Einfluss auf diesen sozialen
Kulturwandel, der sich über den space of flows materialisiert. Sie sind bereits
strukturell sozial exkludiert.
Wie aber generiert die Netzwerkgesellschaft aus ihrer eigenen sozio-technologischen
Entwicklungslogik heraus eine globale Ungleichheit, die in sozialer Exklusion mündet?
Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
2.1.4 TECHNOLOGIE UND EN T WICKLUNG
Im Gegensatz zu Daniel Bells Analyse der nachindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell
1996) zeigt Castells auf, dass von einem Verschwinden der Fabrikjobs auf globaler
Ebene keine Rede sein kann14 und „Dienstleistungen“ auch in den fortgeschrittenen
Ländern eine diffuse Begrifflichkeit markieren, die der Differenzierung bedarf. Was
sich verändert hat in der modernen Weltwirtschaft, ist die sich wandelnde räumliche
Organisation der Produktion aufgrund von Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT) mit der Folge, dass Raumüberwindung kein
Hindernis mehr darstellt (Stalder 2006, 45).
In der informationellen Entwicklungsweise „wird die Technologie der
Wissensproduktion, der Informationsverarbeitung und der symbolischen
Kommunikation zur wichtigsten Quelle der Produktivität“ (Steinbicker 2001, 83).
Entscheidend ist dabei die Einwirkung von Wissen auf Wissen. Nicht mehr
wirtschaftliches Wachstum treibt die Performance einer Gesellschaft an, sondern die
technologische Entwicklung und deren gesellschaftliche Adaptivität. Es entsteht eine
„zirkuläre Wechselwirkung zwischen der Wissensbasis von Technologie und der
Anwendung von Technologie zur Steigerung von Wissensproduktion und
Informationsverarbeitung“ (ebd.). Aufgrund der Technisierung des gesamten Lebens
ist die Technologie ein Teil der sozialen Dynamik (Stalder 2006, 20). Techno-Eliten
aus Wissenschaft und Militär, Hackerkulturen mit individualistischen und sozialen
Motiven, virtuelle Kommunarden und die globale Business-Kultur treiben die
technologische Entwicklung voran. Die neuen Technologien finden -wenn sie einen
14 Alleine zwischen 1963 und 1983 ist die Anzahl der Fabrikjobs weltweit um 72% gestiegen (aktuellere
Zahlen liegen uns derzeit nicht vor).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 34
Mehrwert schaffen- Eingang in die Ökonomie und in die sozialen Bewegungen und
können so ihre soziale Relevanz entfalten (ebd., 24).
Gleichwohl waren trotz all ihrer Bedeutung nicht Informations- und
Kommunikationstechnologien die Auslöser der ökonomischen Restrukturierung,
sondern -wie oben bereits angeführt- die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, die in
einer neuen Zeit-Raum-Kompression kulminierte. Gemündet hat dies in einer
Internationalisierung der gesamten Ökonomie, an deren Ende eine neue internationale
Arbeitsteilung entstanden ist. Dadurch lassen sich jetzt Mehrwerte durch Innovation
schaffen, eine optimale Kombination von Arbeitskräften und Maschinen finden und
die Fähigkeit zur flexiblen strategischen Entscheidung sowie eine organisatorische
Einbindung aller relevanten Elemente des Produktionsprozesses ausleben (Castells
2001a, 1:273ff.). Zusammengefasst kennzeichnet folgendes Stratifikationsmodell die
neue Arbeitsteilung (Stalder 2006, 49):
1. Producers of high value: Die Entscheider(innen), die an der Quelle für Innovation
und Wertbestimmung sitzen.
2. Producers of high volume: Die Personen, die Instruktionen ausführen (müssen)
und wenig Gestaltungsspielraum haben.
3. Producers of raw materials: Die Regionen, die natürliche Ressourcen
produzieren.
4. Redundant producers: Strukturell irrelevante Menschen, also Arbeiter/innen, die
nicht produktiv sind und Konsumierende, die nicht am Markt teilnehmen (mit
einer „perverse connection“ zur globalen Kriminalökonomie).15
Diese Arbeitsteilung ist das „informationelle Paradigma der Arbeit“ (Castells 2001a,
1:275). Hier hat sich eine neue Sozialstruktur entlang der neuen räumlichen flows (der
Finanzmärkte, Mediennetzwerke, transnationalen Produktionsprozessen, globale
soziale Bewegungen, vernetztes politisches Regieren) gruppiert (Lupiáñez-Villanueva
2008) - dabei stimmen die Abgrenzungen nicht notwendigerweise mit Ländern oder
Staaten überein (Steinbicker 2001, 87). Den IKT-Technologien kommt die Rolle zu, die
funktionale Anbindung der strukturell relevanten Gruppen in den globalen
Wertschöpfungsprozess sicherzustellen - gleichgültig, in welcher Weltregion die
jeweiligen Personen lokal verankert sind. Zwar sind die infrastrukturellen
Voraussetzungen zur gleichmäßigen Durchdringung aller Bevölkerungsschichten recht
unterschiedlich, aber wenn ein Zugang gegeben ist (in welcher konkreten Form auch
immer), definiert sich im Umgang mit diesen Technologien, welcher der beiden
relevanten Personengruppen die betreffende Person angehört: ob sie eher
15 Neben dem offiziellen Weltwirtschaftssystem hat sich in enger struktureller Verflechtung eine global
vernetzte, kriminelle Schattenökonomie informell entwickelt, die von weltwirtschaftlich ausgeschlossenen
Staaten teilweise als einzige Chance für das eigene Überleben gebilligt wird. Es ist eine „perverse
Koppelung“ zwischen Schattenökonomie und staatlicher Handlungsmacht entstanden (Castells 2003,
3:175ff.).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 35
selbstbestimmt innovativ oder passiv instruiert arbeiten kann.
Dominiert wird diese neue Weltwirtschaftsordnung von den globalen Finanzmärkten,
die sich nicht nach Marktgesetzen entwickeln, sondern per „Automaton“16, der als
nahezu unbeherrschbares Naturphänomen eine Art „chaotic complexity“ entstehen
lässt und extrem flexible Unternehmen als Organisationsform fordert (Stalder 2006,
54). Letztlich mündete diese Entwicklung auf den liberalisierten Finanzmärkten
zunächst in einer wahnwitzigen Finanzblase und seit 2008 in einer Finanzkrise
unermeßlichen Ausmaßes (Castells 2009b, 1:xix ff.). Dabei gebiert sich das System wie
ein „Naturphänomen“, das weder kontrolliert noch vorhergesagt, sondern lediglich
akzeptiert und gemanagt werden kann (Stalder 2006, 118).
Und die produktiven Firmen agieren in diesem Stakeholder-Kontext. Es lässt sich seit
geraumer Zeit ein Trend bei Firmen aller möglichen Größen feststellen, flexible
Netzwerke zu entwickeln, die ihre konstituierenden Elemente in Echtzeit zu
koordinieren vermögen, über Distanzen hinweg, je nach wechselnden Aufgaben und
Gelegenheiten. Ein langsamer Wandel vollzieht sich von vertikalen Bürokratien hin zu
horizontalen Korporationen, die auf Basis von Ad-hoc-Business-Netzwerken agieren
(Stalder 2006, 57). So entstehen Netzwerkunternehmen, die -aus einzelnen Teilen
eines Unternehmens und anderen Teilen verschiedener Firmen bestehend-
projektbezogen arbeiten (ebd., 60) und eine Flexibilisierung und Individualisierung
der Arbeit auf vier Ebenen fordern: Arbeitszeit, Job-Stabilität, Verortung der Arbeit
und die sozialen Beziehungen zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen
verändern sich im Zuge dieser Entwicklungsdynamik (ebd., 62). Zudem offenbart sich
eine interne Fragmentierung der Arbeitskräfte: Diejenigen, die die Fähigkeit
mitbringen, Innovation in ihre Berufsfelder einzubringen und damit als
informationelle Produzenten Mehrwert schaffen - und die anderen, die keine an die
Person gebundenen Fähigkeiten mitbringen und ersetzbare generische Arbeit leisten
(Castells 2003, 3:397). Diese soziale Differenzierung trägt produktionsbedingt zur
Individualisierung der Arbeit, Überausbeutung von Arbeitskräften, sozialer Exklusion
und perversen Koppelung der Schattenökonomie bei.
Soziale Exklusion definiert Castells dabei als den
„(...) Prozess, durch den bestimmte Individuen und Gruppen
systematisch der Zugang zu Positionen verstellt wird, die sie zu
einem autonomen Auskommen innerhalb der gesellschaftlichen Standards
befähigen würden, die in einem bestimmten Kontext durch
Institutionen und Werte abgesteckt werden.“ (ebd., 76)
Demgegenüber beziehen sich Ungleichheit, Polarisierung, Armut oder Elend auf die
differenzielle Aneignung von Reichtum, also den Bereich der Distributions- und
16 Mit „Automaton“ beschreibt Castells die global integrierte, digitale Finanzmaschinerie, die außerhalb
jedweder institutionellen Kontrolle ihrer Eigenlogik entlang algorithmischer Impulse folgt.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 36
Konsumtionsverhältnisse (ebd., 74). In letzter Konsequenz trennt sich die „Marktlogik
der globalen Kapitalströme“ von der „menschlichen Erfahrung des Arbeitslebens“
(ebd., 397) - Realwirtschaft und Finanzwirtschaft leben unvermittelt nebeneinander
her.
Nach Castells wird die Frage, wer die (aktiven) Interagierenden und wer die (passiven)
Interagierten innerhalb der neuen Kultur der realen Virtualität sind, die zentrale
Kampflinie sein, an der entlang sich Herrschaftssystem(e) und Befreiungsbewegungen
abarbeiten werden - und ihre Machtpositionen bestimmen (Steinbicker 2001, 98). Es
entstehen neue Eliten quer zu den arbeitsteiligen Schichten, die an den Schnittstellen
des space of places zum space of flows auf den Fluss von Kapital, Informationen und
Wissen strategisch Einfluss nehmen können (ebd., 99ff.).
2.1.5 MACHT U N D GEGENMACHT
Macht im Sinne von Max Weber beschreibt das Verhältnis zwischen menschlichen
Subjekten, wenn der Wille einiger Subjekte anderen aufgedrängt wird. Dieses Diktat
begründet sich auf der Fähigkeit zur Gewaltanwendung. Und die Kontrolle über die
Gewaltmittel ist die Wurzel von Macht (Stalder 2006, 104).
Im klassischen Sinne hat der souveräne Staat das exklusive Gewaltmonopol auf einem
definierten Territorium inne - und ist hier der „legitimierte Dominator“ (ebd., 106).
Legitimation erhält er dadurch, dass der Staat als Souverän die Pfründe „seiner“
Ökonomie verteilt. Innerhalb eines Staates setzt sich eine „kulturelle Hegemonie“ 17
durch, die sich als Kompromiss oder Verhandlungsergebnis (begründet auf
innergesellschaftlichen Machtstrukturen) aus der Auseinandersetzung verschiedener
sozialer Gruppen ergibt. Mit der Globalisierung, die alle Staaten umfasst, aber nicht
alle Regionen oder gar Personen, geht ein Verlust der nationalen Souveränität und der
Legitimation der staatlichen Institutionen einher, die in einer Krise des modernen
Nationalstaates mündeten (ebd., 109). Die Ursachen für diese Entwicklung siedelt
Castells auf vier Ebenen an:
Binnenländische ökonomische Politik: Der Staat steht vor der Schwierigkeit,
nationale Steuern in einer globalisierten Welt einnehmen zu müssen. Die einzigen
politischen Instrumente, die er nutzen kann, sind, eine Produktivitätssteigerung zu
forcieren oder die Arbeitskosten zu minimieren und die Sozialstaatsausgaben
zurückzufahren (ebd., 111).
Internationale Politik: Klassische Politikfelder lassen sich zunehmend im
nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr lösen und bedürfen einer koordinierten
internationalen Handlungspraxis. So arbeiten z.B. in den Feldern der globalen
öffentlichen Güter auch internationale Nichtregierungsorganisationen als politische
17 Vgl. dazu (Gramsci 1991)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 37
Akteure mit. Sie fordern damit das vorherige nationalstaatliche Monopol heraus
und untergraben so die staatliche Legitimität als Wächter der Humanität (ebd.,
112).
Militär: Aufgrund der Globalisierung und der „perverse connections“ hat sich ein
interner wie externer Krieg als stetiger modus operandi herausgebildet, der die
Legitimation des Staates untergräbt (ebd., 113).
Medien: Spätestens mit dem Einfluss des Internets ist der staatliche Einfluss auf die
Medieninhalte verloren gegangen (ebd., 114).
Macht ist demnach nicht länger in staatlichen Institutionen, kapitalistischen
Organisationen oder symbolischen Kontrolleuren (z.B. Medienhäuser, Kirchen)
verankert. Sie verläuft sich vielmehr in die globalen Netzwerke des Wohlstandes, der
Macht, der Informationen und der Bilder, die im space of flows zirkulieren. Statt
persönlicher autoritärer Gewalt regiert der informationale Kapitalismus, der große
Teile der Bevölkerung für überflüssig bzw. redundant erklärt (Stalder 2006, 131).
Gleichwohl ist die Handlungsmacht des Staates innerhalb dieser Flüsse nicht zum
Erliegen gekommen. Das neue Modell globaler Produktion und globalen Managements
-nämlich die Arbeitsprozesse global zu integrieren und gleichzeitig die Desintegration
der Arbeiterschaft zu forcieren- ist eine Entscheidung von Regierungen und
Unternehmen und nicht auf zwangsläufige IKT-Prozesse zurückzuführen (Steinbicker
2001, 93). Die konkreten Transformationsprozesse und -formen resultieren aus der
Interaktion zwischen technologischem Wandel, institutioneller Umgebung und der
evolutionären Verbindung zwischen Kapital und Arbeit in ihrem spezifischen sozialen
Kontext (Castells 2009b, 1:xxiv). Staaten können weiterhin innerstaatlich einen
bedingten, kulturellen Unterschied setzen (siehe z.B. das international
unterschiedliche Staatsverständnis hinsichtlich des Verhältnisses von marktliberalem
Laissez-faire zu sozialstaatlicher Verantwortung). Gleichzeitig ist der Nationalstaat zu
einem Netzwerkstaat mutiert, der sich auf internationaler Bühne durch thematisch
wechselnde Koalitionen und ständig ausgehandelte Kompromisse bewegt. Die
internationale Politik ist gekennzeichnet durch
„(...) the daily practice of joint decision-making in a network
state made of nation-states, supranational associations,
international institutions, local and regional governments, and
quasi-public non-governmental organisations.“ (Castells 2004, 223)
Macht kann demnach im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft nur noch in kurzfristigen
Projekten verwaltet werden und wechselt ständig. Zwei Mechanismen stehen dafür zur
Verfügung: Zum einen die Fähigkeit, die Ziele des Netzwerkes (mit) zu definieren und
zum anderen die Fähigkeit, verschiedene Netzwerke miteinander zu verbinden, um
gemeinsame Interessen und wachsende Ressourcen zu sichern (Stalder 2006, 135f.).
Die Grammatik dieser Netzwerkprozesse konfiguriert sich entlang der herrschenden
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 38
kulturellen Codes und Protokolle. Infolgedessen stellt Macht heute einen schier
endlosen Kampf um die kulturellen Codes der Gesellschaft dar, „mittels derer
Menschen und Institutionen das Leben abbilden und Entscheidungen, auch politische
Entscheidungen fällen“ (Castells 2003, 3:398). In den sozialen Bewegungen sieht
Castells die primären Produzenten von kulturellen Codes und Bildern (Stalder 2006,
138). Die klassische Macht war physisch gewalttätig - die kulturelle Macht entspricht
einer „symbolic violence“ (ebd., 139).
„Kultur als Quelle von Macht und Macht als Quelle von Kapital liegen
der neuen gesellschaftlichen Hierarchie im Informationszeitalter
zugrunde.“ (Castells 2003, 3:399)
Da jedes Netzwerk seine eigene, selbst-bezogene Welt konstituiert, die durch einen
bestimmten zeitlichen, räumlichen und kulturellen Horizont charakterisiert ist,
werden zwangsläufig weite Teile der Bevölkerung aus dem kapitalistischen Netzwerk
ausgeschlossen. Diese Teile müssen versuchen, zurückzukehren und die Netzwerke
über die Gestaltung der symbolischen Gewalt zu transformieren (Stalder 2006, 195).
Alternative Netzwerke müssen die alten ersetzen, damit sich etwas verändert, denn
Netzwerke bestimmen unser Leben - sie sind die Matrix (Castells 2004, 224).
2.1.6 ZWISCHENFAZIT: CAS T E L L S BE I T R A G ZUR
BILDUNGSPOLITIK
Castells Bedeutung zur Analyse der vernetzten Weltgesellschaft kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Seine Meta-Analyse unterscheidet sich von der klassischen
Netzwerkforschung, die sich auf die Untersuchung konkreter Netzwerke konzentriert
und deren spezifischen Stil, Zweck, Struktur und Wertebildung herauszuarbeiten
versucht (so z.B. Anklam 2007; Steven Johnson 2001; Stegbauer 2008). Dagegen zeigt
Castells die grundlegenden Rahmenbedingungen auf, die den Strukturwandel von
einer entitätendominierten Welt hin zu einer flexiblen, netzwerkdominierten
Infrastruktur forcierten. Und er richtet den Blick auf die sozio-kulturellen
Mechanismen und Strukturen, die über die individuelle Teilhabe oder Nicht-Teilhabe
an diesen neuen, global fließenden Informationsprozessen entscheiden. Dabei besticht
v.a. sein räumliches Konzept, dem Felix Stalder eine markante neue Sichtweise
bescheinigt:
„The analytical clarification of this key point, the emergence of a
new spatial logic, expressed in the space of flows and the
fragmentation of physical space in a variable geography of
hyperconnection and structurally induced 'black holes', is one of
the most substantial and original aspects of Castell's entire theory
of the network society.“ (Stalder 2006, 166)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 39
Der „Raum der Ströme", der diese „schwarzen Löcher“ im physischen Raum entstehen
lässt, exkludiert Individuen, Institutionen oder auch ganze Regionen - je nachdem,
welchen Beitrag sie zum Funktionieren des gesamten Netzwerkes leisten können. In
der Informationsgesellschaft verdichten sich die Aktivitäten bestimmter
Netzwerkknoten aufgrund einer vorhandenen Infrastruktur. Und die Bedeutung dieser
spezifischen Standorte wächst weiter (siehe auch Jan Schmidt 2005, 19:31). Wer sich
innerhalb dieser Netzwerkbahnen bewegen kann, vermag sich in der virtuellen, zeit-
und raumüberwindenden Kultur der Produktion, Macht und Erfahrung einzubringen.
Wer außerhalb verbleibt, hat keinen Einfluss auf entsprechende sozio-kulturelle
Rahmenbedingungen.
So fördern einerseits die sozio-ökonomischen Erfordernisse (Finanzmarkt, Bildung,
Tourismus, Militär, NGOs o.ä.) eine Wissensbasis und -elite, die in ihrem
Kenntnisstand weltweit vergleichbar ist. Andererseits vernetzen sich einige Early
Adopters auch individuell über die bestehenden globalen Datenkanäle. Es entsteht
eine globale Informationselite (Nielinger 2006) - die hyperconnected Onliner (Aducci
und Al 2008). Der Publizist Thomas L. Friedman bezeichnet diesen seit dem Jahre
2000 einsetzenden Prozess als „Globalisierung 3.0“, da er den globalen Austausch von
Individuen kennzeichne, in Fortführung der staatlichen Globalisierung 1.0 und der
multinationalen Globalisierung 2.0 der Unternehmen (Friedman 2007). Dieser
Prozess des globalen individuellen Austauschs müsse in seiner revolutionären Kraft
mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen werden und hätte zu einer „flachen“ Welt
geführt (ebd., 49) - zumindest für die Informationselite, möge man anfügen. Denn die
Verwerfungen des Digital Divide existieren trotz guter Fortschritte weiterhin - weniger
als internationale Spaltung denn als inner-gesellschaftliche Brüche: Zwischen den
vernetzten, „relevanten“ ProduzentInnen einerseits und den „strukturell Irrelevanten“
andererseits.
Um den Bezug zur leitenden Fragestellung dieser Arbeit herzustellen, bleibt
festzuhalten: Wer (potentiell) Exkludierten helfen will, sollte zunächst am space of
places einen strukturellen Anschluss ermöglichen. Zunächst auf technologischer
Ebene, dann bei der Herausbildung relevanter Netzwerkknoten und schließlich auf
individueller Ebene bei der Ausbildung entsprechender Netz-Kompetenzen. Erst dann
sind die persönlichen Grundlagen geschaffen, sich in die internationale Arbeitsteilung
so einzubringen, dass ein autonomes Auskommen innerhalb der gesellschaftlichen
Standards zumindest theoretisch möglich ist. Als politisches Ziel kann aus dem
Vorgenannten abgeleitet werden, dass Chancengleichheit am space of places ganz
pragmatisch hergestellt und die persönliche Gestaltungskraft gefördert werden muss,
um die individuellen Grundvoraussetzungen zu schaffen, im „Raum der Ströme" aktiv
mitwirken zu können.
Sowohl die Menschen als auch die Institutionen befinden sich in einem tiefgreifenden
Wandel: von kleinen Gruppen hin zur vielfältigen Teilhabe in diffusen, virtuell und
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 40
physikalisch vermischten, sozialen Netzwerken. Klassische Kleingruppen verlieren
dabei an längerfristiger Bedeutung, da sich heute Kontakte von Ort-zu-Ort und von
Person-zu-Person wandeln. Es verändert sich der persönliche Bezug zu den
Netzwerken, weil sich die Vertrauensbasis zu den vernetzten Personen bzw. Systemen
wandelt - und damit die vielfältigen Netzwerkeffekte erst umfassend wirken können.
Die Grenzenlosigkeit ist systemisch bereits angelegt: Einzelne Personen entscheiden
für sich, welchen Netzwerken sie temporär angehören möchten - ob dies
EntscheidungsträgerInnen gefällt oder auch nicht. Entsprechend sind hier politische
Konzeptionen gefragt, die über enge nationalstaatliche Grenzen hinausweisen.
Was können Bildungssysteme von Castells Netzwerktheorie lernen?
1. Vernetzung ist ein grundlegendes Strukturelement der Weltgesellschaft.
2. Vernetzungskompetenz ist eine regionale, institutionelle und individuelle
Voraussetzung.
3. Der space of flows hat im Bildungsbereich bereits Raum gegriffen: Zum einen
verdichtet sich der formale Vernetzungsgrad der Inhalte, Personen und
Institutionen auf sozialer wie technologischer Ebene (vgl. z.B. Altbach und Knight
2007; Sackmann 2004). Zum anderen entstehen auf informeller Ebene dezentrale
soziale Online-Netzwerke, die die Vorteile der globalen Austauschmöglichkeiten
der Netzwerkgesellschaft für alle interessierten Menschen öffnen (vgl. auch Dutton
2007).
4. Der space of places verliert nicht an grundsätzlicher Bedeutung, liesse sich aber im
space of flows flexibel organisieren (Jan Schmidt 2005).
Castells selbst sieht die Schulen und Hochschulen am wenigsten betroffen von der
virtuellen Logik, da die persönliche Interaktion entscheidend sei für die Grundbildung.
Gleichzeitig prognostiziert er (im Jahre 2000) dem künftigen höheren Bildungssystem,
dass dieses sich in „Netzwerken zwischen Informationsknoten, Hörsälen und
Seminarräumen und den individuellen Wohnungen der Studierenden“ abspielen wird
(Castells 2001a, 1:452f.). Diese Fokussierung auf den formalen Bildungssektor
begründet sich (vielleicht) in den erst durch das Aufkommen von Web 2.0-Angeboten
möglichen, dynamischen Online-Vernetzungsmöglichkeiten, die noch keinen Eingang
in die Theorie Manuel Castells fanden. Zwar fügt er im Vorwort zur zweiten Auflage an,
dass die Minderung der Reallöhne trotz großer Produktivitätsgewinne der
Unternehmen und des Finanzkapitals einer Abwertung von Bildungsabschlüssen
gleichkommt (Castells 2009b, 1:xxi f.).18 Gleichwohl resultiere die neue Arbeitsstruktur
der Netzwerkgesellschaft in einem parallelen Ansteigen von Jobs für extrem gut
ausgebildete Personen einerseits und „low-skill jobs“ andererseits (ebd., xxiii). Die
18 In den USA sank der wöchentliche Durchschnittsverdienst von Arbeitnehmer/innen mit College-Abschluss
zwischen 2003 und 2008 um 6%. Und nur die zunehmende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt
vermochte einen Rückgang des Lebensstandards für die Mehrheit der Haushalte bremsen.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 41
strukturellen Bedingungen der so genannten „Wissensökonomie“ entfalten sich also im
Kontext einer großen Ökonomie von Dienstleitungen, die primär einer geringen
Qualifikation bedürfen - und genau in diesem sozio-technologisch begünstigten
Ungleichgewicht liegen die größten Ungerechtigkeiten in fast allen Gesellschaften
begründet (ebd., Xxiii f.). Inwiefern hier das formale Bildungssystem an seine Grenzen
gestossen ist, über einen „Aufstieg durch Bildung“ zu mehr Chancengerechtigkeit
beitragen zu können, ist nicht Castells' Thema. Eine grundsätzlichere Diskussion der
Bildungslandschaft resultiert für ihn aus seinen empirischen Erkenntnissen nicht.
Angesichts der gegenwärtig empirisch zu beobachtenden Entwicklungen hin zu
dezentralen sozialen Online-Netzwerken (z.B. Facebook, Twitter) mit neuen
Potenzialen für selbstbestimmtes Lernen kommt die Frage auf, welchen Beitrag diese
Vernetzungsformate leisten können, um exkludierten Personen ein Sprungbrett in den
space of flows zu ermöglichen. Nicht (nur) im Sinne des Sprungs über den Graben hin
zu den Gewinnern der „Wissensökonomie“, sondern damit die sozio-kulturellen Werte
der herrschenden Eliten auf einer breiteren gesellschaftlichen Basis grundsätzlich
diskutiert werden, um auf eine gerechtere Weltordnung hinzuwirken.
In diesem Zusammenhang muss -wie oben bereits angeführt- auch die „Bedeutung des
internationalen Urheberrechtskartells mit oligopolistischen Strukturen“ (Stalder 2006,
73) nachhaltig gestellt werden. Fragen des Urheberrechts und des Zugangs zu
wissensbasierter Information sind in allen Bereichen der Informationsökonomie von
zentraler Bedeutung. Inwiefern die bisherige Praxis, „fließendes, kollektiv generiertes
Wissen [...] in fixiertes Eigentumsrecht“ umzuwandeln, damit es als Produkt auf dem
Markt getauscht werden kann, weiterhin Bestand haben kann, muss bezweifelt werden
(ebd., 72f.).
Im Folgenden soll demnach erkundet werden, inwiefern kollektive, netzbasierte
Bildung geeignet erscheint, persönlich an die globale Netzwerkgesellschaft
anzudocken. Zu diesem Zweck werden zunächst die Leitbegriffe rund um Bildung,
Lernen und Erziehung zueinander in Bezug gesetzt. Daraufhin lässt sich dann die
herrschende bildungsökonomische Bedeutung in der Netzwerkgesellschaft kritisch
untersuchen, um schließlich netzbasierte Organisationsformen hinsichtlich ihres
Potenzials zur Förderung selbstbestimmten Lernens analysieren zu können.
2.2 MODERNES LERN E N I N DER NETZWERKGESELLSCHAFT
Bildung -als Fundament der „Lerngesellschaft“ (Gerlach 2000)- ist entscheidend für
die individuelle und kollektive menschliche Entwicklung. Da diese Entwicklung
zwischenzeitlich an eine „alle Lebensbereiche umfassende Norm zur Flexibilität“
(Dewe und Weber 2007, 9) gebunden sei, kann diese nur über „lebenslanges Lernen“
(LLL) sichergestellt werden - so die herrschende Meinung (Kraus 2001). Das
bildungspolitische Konzept des LLL generiert dabei einen funktionalen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 42
Handlungsdruck, dem die wissenschaftlichen Fachdiskussionen kaum kohärent
nachzukommen vermögen. Der verhandelte Gegenstand entzieht sich vielfach dem
fachdisziplinären Zugriff. Beinhaltet „Bildung“ und „Erziehung“ jeweils eine soziale
Dimension, so verschiebt LLL die breit akzeptierte Konnotation auf den einzelnen
Menschen. Zwar startete LLL zunächst als visionäres Konzept, um neue gestaltende
Ideen für neue Herausforderungen entwickeln zu helfen. Im Laufe der Zeit wich dieser
Gestaltungsaspekt allerdings einer normativen Vorgabe, eine individuelle
„Bringschuld“ den aktuellen Entwicklungen als Anpassungsfähigkeit entgegenzusetzen
(ebd., 117f.).
Um modernes Lernen“ in der Netzwerkgesellschaft einordnen zu können, wird im
Folgenden das herrschende Bildungs- und Lernverständnis im historischen Rückblick
begrifflich eingeordnet. Anschließend erfolgt eine Analyse, wie sich dieses Verständnis
in konkreten sozio-ökonomischen wie -politischen Praktiken der Erziehung
manifestiert hat. Vor diesem Hintergrund können dann neue Bildungskonzepte des
Learning 2.0 zu aktuellen bildungspolitischen Konzepten z.B. im Hochschulbereich in
Bezug gesetzt werden.
2.2.1 BILDUNG - DER MENSCH AL S SOZIALES WESEN
Im Bildungsbegriff schwingt vieles mit: Bildung wird zugleich gesehen als normativ-
idealistischer Begriff und als Ressource der modernen Gesellschaft, Ideal und Kapital,
emanzipatives Moment der Unterdrückten und kapitalistische Ware (Bildungsinhalte
und -zertifikate) (Löw 2006, 19). Und Bildung verweist auf eine lange Tradition.
Die Bildungsgeschichte lässt sich im westlichen Denken bis zur Vormoderne im 5.
Jahrhundert vor Christus zurück verfolgen. Um sich nicht „als Gefangener gängiger
Vorstellungen, Ansichten, Routinen und Ambitionen“ (Lütgert 2002a) zu verhalten,
sondern einsichtig zu handeln, zeigt Platon im berühmten Höhlengleichnis auf, wie der
Mensch zum Denken des Maßgeblichen schmerzhaft aufsteigen kann. Platon gelangt
zu der „Überzeugung, dass die Arbeit an einer Bildung, die zu einer gerechteren
Ordnung führt, der eigentliche, keinem anderen Zweck aufzuopfernde Selbstzweck des
menschlichen Daseins ist.“ (Benner und Brüggen 2008, 210) Aristoteles greift diese
Tradition auf: die Bildung des Bürgers zielt darauf, ihn zum guten Handeln zu
befähigen (ebd.). In diesen älteren Definitionen werden die verschiedenen Facetten
der Menschlichkeit kultiviert, damit die Menschen an den gesellschaftlich üblichen
Lebensformen teilhaben können (Raithel, Dollinger, und Hörmann 2007, 36).
Im deutschen Idealismus und Neuhumanismus formten sich später die inneren Werte
aus, die zur „Vervollkommnung der subjektiven Erlebnistiefe in Einsamkeit und
Freiheit“ beitragen sollen (ebd., 36). Und Wilhelm von Humboldt füllt den exklusiv
deutschsprachigen Bildungsbegriff mit der Formel:
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 43
„Nur indem der Mensch als Individuum zu sich selbst findet.“
(Lütgert 2002b)
Wilhelm von Humboldts autonomes Bildungskonzept zielt auf die individuelle
Vervollkommnung der Individualität als „einzigartige Ausgestaltung persönlicher
Fähigkeiten und Haltungen“, der Totalität als Bildung aller persönlichen, geistigen wie
körperlichen Kräfte und der Universalität als „Teilhabe an allen Lebens- und
Kulturbereichen“ (Raithel, Dollinger, und Hörmann 2007, 38). Die außerhalb des
Menschen angesiedelte Welt gilt es nach Humboldt zu ergreifen und mit dem Selbst zu
verbinden. Zu diesem Zwecke bedarf es der Bildung mittels Wissenschaft und Kunst,
Freundschaften, Geselligkeit und der Teilhabe am öffentlichem Leben (Benner und
Brüggen 2008, 220).
„Dies führte v. Humboldt zur Konzeption des (neu)humanistischen
Gymnasiums, in dem das Ziel eines methodischen wie inhaltlichen
Zugangs zur Erkenntnis des Menschen überhaupt und eine Einsicht in
die Möglichkeit seiner Entfaltung zu einer vollständigen Humanität
ermöglicht werden sollte.“ (Michael Schmidt 2005)
Allerdings sei es Aufgabe des Staates,
„(...) in Schulen wie Universitäten der allgemeinen Menschenbildung
einen zeitlichen Vorrang vor jeder beruflichen Spezialisierung
einzuräumen.“ (Benner und Brüggen 2008, 216)
Dem Staat kommt in dieser Sichtweise auf die Bildung eine ordnungspolitische
Funktion zu: Indem Bildung zur Wissenschaft gekürt wird, erfahren sich bildende
Menschen einen Freiraum, der infrastrukturell abgesichert und bildungspolitisch
gewollt ist - als soziales Konstrukt dieser in sich ruhenden, gebildeten Menschen. Der
Mensch als natürlich-freie Person im Rousseau'schen und als Endzweck im Kant'schen
Verständnis (Lütgert 2002b) führt in letzter Konsequenz zur Bildung als
Menschenrecht (Prengel und Overwien 2007).
Diese Perspektive auf den Menschen ist eine auf den Educand „mit dem Ziel der
reflexiven Ausformung eines kultivierten Lebensstils“ (Raithel, Dollinger, und
Hörmann 2007, 36) und nur vermittelt eine Sichtweise auf die Erziehung des
Menschen. Das Recht auf Bildung ist ein Gewährleistungsrecht im Sinne einer
Bereitstellung von Bedingungen, „die es ermöglichen, das Bildungsziel zu erreichen.“
(Krappmann 2007, 13) Es liegt in der Verantwortung des Kindes oder der Eltern,
darauf zuzugreifen und die angebotenen Bildungsmöglichkeiten zu nutzen (ebd.).
Im originär deutschen Bildungsverständnis gewährleistet der Staat also eine
Infrastruktur, die eine Vervollkommnung der jeweiligen Individualität, Totalität und
Universalität ermöglicht. Wie er diese Bedingungen innerhalb der (hoch-)schulischen
Struktur ausgestalten kann, soll im Teilkapitel Erziehung ausgeführt werden. Eine
teleologische Ausrichtung des Bildungsbegriffes auf die gesellschaftliche Brauchbarkeit
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 44
und die berufliche Aus-, Fort- oder Weiter-Bildung im Sinne einer Vielzahl
aufklärerischer Philanthropen (Lütgert 2002c) ist in diesem Humboldt'schen Sinne
wenig zielführend. Der Zweck ist eben nicht auf eine äußere Ordnung ausgerichtet,
sondern von der inneren Ordnung gebildeter Menschen abhängig (Lütgert 2002b). Im
Kapitel Stand der Kompetenzforschung werden diese Denktraditionen wieder
aufgegriffen.
2.2.2 LERNEN Z U LERNEN
Viele wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit dem Lernen: Von der
Pädagogik angefangen, die sich primär mit erziehungswissenschaftlichen
Fragestellungen beschäftigt, über die Lernpsychologie mit ihrem Interesse, den
Lernprozess als solchen begreifbar zu machen und den Neurowissenschaften, die sich
der physiologischen Prozesse beim Lernen annimmt, bis hin zur Philosophie (Göhlich
und Zirfas 2007, 11ff.).
Nach Platon sind in der menschlichen Seele bereits sämtliche Ideen angelegt, die
„anläßlich konkreter Sinneseindrücke reaktiviert werden“ (Raithel, Dollinger, und
Hörmann 2007, 67) können. Dieser Lernbegriff unterscheidet sich wesentlich von der
Auffassung Aristoteles', die Seele sei eine „Tabula Rasa, auf die Sinneseindrücke
eingetragen werden“ (ebd.) - Lernen bedeutet in diesem Verständnis die „Aufnahme
und Speicherung von Sinnesdaten“ (ebd.). Beide Auffassungen verstehen Lernen als
„relativ dauerhafte[n] Erwerb einer neuen oder die Veränderung einer schon
vorhandenen Fähigkeit, Fertigkeit oder Einstellung“ (ebd.). Die Konkurrenz, wie es
sich mit dem Verhältnis von Sinneseindrücken zur Seele verhält, löste sich im Laufe
der Bildungsgeschichte auf, indem sich mehrheitlich ein Verständnis
herauskristallisierte, das Lernen „nicht als Folge eines natürlichen Reife- oder
Wachstumsprozesses [Anm. acw: wie Platon meinte], sondern als Ergebnis
produktiver Interaktionen des Lernenden mit Gegenständen seiner Umwelt [Anm.
acw: i.S. des Aristoteles'schen Verständnisses]“ sieht (ebd.).
In der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand erfolgt demnach das Lernen - und
genau hier konfigurierte sich im Laufe der Zeit eine „Kampfarena“ für die Vielzahl an
bildungspolitischen Positionen (Bildung als System, Bildung als Erziehung und
Ausbildung Dritter, Bildung als Wissen oder Bildung als Subjektentwicklung). 19 Doch
haben die Diskussionen weniger mit dem Lernbegriff im altgriechischen Sinne gemein,
denn eher mit der konkreten Ausgestaltung der Auseinandersetzung. In letzter
Konsequenz resultierte diese Diskussion rund um die systemische Einbindung des
Lernprozesses zu einer „Umstellung der Pädagogik vom Lernen spezifischer
Qualifikationen (…) auf die formale Kompetenz vom Lernen des Lernens“ (Göhlich
19 Diese bildungsbegriffliche Unterscheidung trifft Bernd Overwien in einem bislang unveröffentlichten
Arbeitspapier zum Thema Bildung – besten Dank für die Bereitstellung des Entwurfs.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 45
und Zirfas 2007, 41) - und damit zum handlungsleitenden Motiv des LLL.
Allerdings erfolgte dieser Perspektiv-Wechsel nicht widerspruchslos. Bereits 1978
kritisierte Theodor Ballauff,
„(...), dass der Begriff der Bildung durch den des Lernens ersetzt
werde und man meine, dadurch einen nüchternen pädagogischen Begriff
gegenüber dem traditionsüberladenen Bildungsgedanken zu gewinnen.“
(Michael Schmidt 2005, 9)
Diese Stimme ist zwischenzeitlich zu einem Chor angeschwollen, der „Klagelieder“
singt angesichts einer zunehmenden Instrumentalisierung des Lernbegriffes zugunsten
einer beruflichen Ausrichtung. Lernen in diesem funktionalen Verständnis orientiere
sich entlang der gesellschaftlichen Brauchbarkeit und löse den Bildungsbegriff von der
Persönlichkeitsbildung -inklusive der individuellen Selbstbestimmung- ab. Erziehung
reduziere sich in dieser Logik zur gestaltenden Kraft: der notwendigen Anpassung des
Individuums an die sozio-ökonomischen Bedürfnisse als das dominierende
Momentum.
2.2.2.1 DIFFERENZIERUNG D E S INDIVIDUELLEN LERNBEGRIFFS
Um die Fokussierung des Lernbegriffs auf einen außerhalb des Lernenden gelagerten
Lerngegenstand aufzulösen, entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten eine
ganzheitliche Perspektive, die allerdings weiter am „Mensch als Subjekt des Lernens“
(Künkler 2011, 20) festhält. Beispielhaft sei hier eine komplexitätsreduzierende,
pädagogische Sicht angeführt, demnach Lernen inhaltlich auf vier miteinander
verbundenen Ebenen verläuft:
1. Wissen-Lernen: Versuch, über einen gesellschaftlich anerkannten Wissenskanon
objektives, den Menschen äußerliches oder entäußertes Wissen weiterzureichen.
Der schulische Lehrplan dient als „systematisierte und didaktisierte Version des
kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft“ (Göhlich und Zirfas 2007, 183).
2. Können-Lernen: Hier geht es um „praktisches Wissen“ als „verkörperlichte und so
ggf. auch reflexionslos reaktivierbare Handlungsfähigkeit“ (ebd., 184), die sich
nicht objektiviert, sondern an den Körper des Einzelnen gebunden ist. Dieses
Können kann gelernt werden durch Mimesis, Nachahmung und Übung (ebd., 186).
3. Leben-Lernen: Jeder Mensch muss zunächst lernen, sein persönliches Leben zu
meistern. Um pädagogisch angemessen darauf reagieren zu können, können sechs
verschiedene Facetten unterschieden werden: Neben dem Überleben-Lernen sind
dies das Lebensbewältigung-, Lebensbefähigung-, Biographisches-, Lebenskunst-
und Sterben-Lernen. Je nach konkretem Bedarf müssten Pädagog/innen
unterschiedliches Wissen und Können vermitteln (ebd., 187ff.). In diesem Kontext
ist das Verhältnis von Leben zu Lernen als pädagogisches Dauerthema
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 46
anzusiedeln. Historisch durchgesetzt hat sich eine Lehrorientierung, die die Welt
(idealerweise) aus dem pädagogischen Raum ausschließt (ebd., 100).
4. Lernen-Lernen: Dieser Aspekt läuft in jedem anderen Lernen mit und zielt auf die
persönlichen „Fähigkeiten und Fertigkeiten des Umgangs mit Lernsituationen und
Lernprozessen sowie der Transformation von Situationen in Lernprozessen“ (ebd.,
190). Pädagogisch geht es darum, Lernkompetenzen für die gesamte Lernzeit, also
das lebenslange Lernen, aufzubauen.
Diese vier Ebenen sind alle gemeinsam, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, an den
meisten Lernprozessen beteiligt (ebd., 181) und bespielen zusammen genommen vier
Modi des persönlichen Lernens (ebd., 180):
Erfahrungsbezogen stößt Lernen immer eine Modifikation vorhandener
Erfahrungen an;
Dialogisch bedarf Lernen einer gelingenden Auseinandersetzung mit Anderem/
Anderen;
Sinnvoll muss sich Lernen in einem Geschehenssinn auf körperlicher,
biographischer, sozialer oder kultureller Ebene äußern;
Ganzheitlich berührt Lernen immer den gesamten Lernenden und transformiert
den Lernenden auf verschiedenen Ebenen - auch jenseits des im Lernen
Fokussierten.
Inwiefern diese Modi zwangsläufig einer pädagogischen Einbindung bedürfen bzw. die
für das individuelle Lernen erforderlichen Beziehungspersonen zwangsläufig in
formalen Bildungsinstitutionen verankert sein müssen, ist fraglich (vgl. zur
Ausdifferenzierung einer relationalen Lernkonzeption Künkler 2011, 542ff.).20
Um modernes „Lernen“ in der Netzwerkgesellschaft weiter analysieren zu können, soll
zunächst die Bedeutung einer raumzeitlichen Lernkonzeption historisch eingeordnet
werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann das für kollektive, netzbasierte
Bildung bedeutsame informelle Lernen strukturell diskutieren, um anschließend
mögliche erzieherische Einflusspotenziale für die aus Castells' Analysen abgeleitete,
notwendige, gesamtgesellschaftliche Vernetzungskompetenz identifizieren zu können.
Es geht weiterhin um ein grundsätzliches Verständnis, in welchem Verhältnis Bildung,
Lernen und Erziehung zueinander stehen (können) - und welche potentiellen
bildungspolitischen Ansatzpunkte sich durch die Entwicklungen in der
Netzwerkgesellschaft hier anschlussfähig entfalten lassen.
20 Eine ausgiebige Rezeption von Künklers neuem Buch konnte leider keinen Eingang mehr in diese Arbeit
finden. Künkler unterscheidet zwischen Praktiken des expliziten Lernens, implizit-formativem Lernen und
transformativem Lernen. Bildungsinstitutionen vermögen -wenn überhaupt- beim expliziten Lernen ihren
Einfluss geltend machen. Außer-institutionelle Kontexte sind allerdings grundsätzlich bedeutsamer für die
individuellen Lernformen, die sich immer über das soziale „Zwischen“ konfigurieren.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 47
2.2.2.2 LE R N RAU M UND -Z E I T
Lernen geschieht auf einem Zeit-/Raum-Kontinuum, das aus unterschiedlichen
Perspektiven in verschiedene Sequenzen schock gefroren wird:
Aus pädagogischer Sicht wird ein Lernraum argumentativ konfiguriert, um der
Gesellschaft einen Raum zum Lernen abzutrotzen. Neben der Arbeit und dem privaten
Heim ermöglichen Lernräume den Lernenden eine Teilhabe an den gesellschaftlichen
Prozessen entsprechend des herrschenden (sozialen) Bildungs- und
Erziehungsverständnisses.
„Ein Raum wird zum Lernraum im besten Sinne des Wortes, wenn er
nicht nur (...) das Interesse des Lernenden weckt, an dessen
Vorwissen anschließt, das Tätigwerden und die Eigenkontrolle des
Lernenden ermöglicht, sondern darüber hinaus dem Selbst - genauer:
der kontingenten, über den Status Quo hinausweisenden Identität des
Lernenden - Raum zur Findung eigener Erneuerung bietet.“ (Göhlich
und Zirfas 2007, 105)
Bereits frühzeitig in der Menschheitsgeschichte hat sich die Schule als Lehrraum
mitsamt einem zeitlich klar strukturierten Lehrplan herausgebildet. Das menschliche
Leben wurde chronologisch in verschiedene Zyklen unterteilt, die sich über klar
abgegrenzte zeitliche Einheiten vom Kindergarten über die Schule und die Ausbildung
bis hin zum Beruf erstreckten. Über diese geschützte Einflussnahme des Staates auf die
Entwicklung junger Menschen konnte das Wissen-Lernen und ggf. das Können-Lernen
eingeübt werden, vielleicht auch das angepasste Leben-Lernen - aber kaum das
Lernen-Lernen, da über den Lehrplan ein idealtypischer Bildungsweg vorgezeichnet
wurde.
Die Teilnahme an schulischen Angeboten resultiert demnach aus einer alten Tradition,
die aufklärerisch gewendet und unter staatlicher Kontrolle einen ggf. säkularisierenden
Einfluss auf heranwachsende Menschen gewährleistet. Schulen, oftmals gleichgesetzt
mit Lernen, sind bis heute internationale Exportschlager, die Modernität
demonstrieren und einen Fortschrittsglauben in sich tragen.
Damit aber aus einem Lehrraum ein Lernraum entsteht, muss sich dieser und seine
Gegenstände im Vollzug des Lernens aktivieren (ebd., 100). Dies setzt eine Erkenntnis
voraus, Räume nicht zwangsläufig als institutionalisierte zu sehen; vielmehr können
sich Räume recht kurzfristig in einer Handlungssituation strukturieren. Als „Hybrid
aus materiellen Bedingungen und sozialer Nutzung“ (Löw 2006, 119) entfalten sich
auch Räume - so z.B. in Kontexten des informellen Lernens.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 48
2.2.2.3 INFORMELLES LERNEN
„Zum Thema gibt es bisher neben erziehungswissenschaftlichen
Arbeiten im engeren Sinne, hauptsächlich Ansätze aus der Ethnologie,
Anthropologie und Psychologie (hier besonders zum inzidentellen
Lernen, Lernen am Modell, sozialen Lernen, self-regulation und
Motivation). Zusätzlich herangezogen werden können
Forschungsergebnisse aus der Kultur-, Kognitions- und der
Sozialisationsforschung. Im Rahmen der Anthropologie und der
Ethnologie gibt es (vor allem aus den USA) eine Reihe von Arbeiten,
die sich mit der kulturellen Bedingtheit von Lernen befassen.“
(Overwien 2001, 373)
Informelles Lernen -im englischsprachigen Raum teils als informal education, teils als
informal learning bezeichnet- stammt aus dem Begriffsinventar John Deweys (in
Abgrenzung zum formalen Lernen, das sich aus dem informellen Lernen herausschälte
- vgl. Dzierzbicka 2008, 175). In den 1950er Jahren erfuhr der Begriff einen großen
Schwung in der US-amerikanischen Erwachsenenbildung, seit den 1970er Jahren
zunehmend auch in der internationalen Diskussion. Unter der begrifflichen Kategorie
informelles Lernen findet „(...) das Lernen am Arbeitsplatz, in sozialen Bewegungen,
im Bereich neuer Medien, im Freizeitbereich (...) zunehmend Beachtung.“ (Overwien
2004, 51) Nicht als theoretisches, pädagogisches Konzept, das seitens der Gesellschaft
an die Lernenden herangetragen wird, sondern als selbstverständliche
Handlungspraxis. Informelles Lernen geschieht den Lernenden tagtäglich - ohne
Intention und ohne intrinsische oder extrinsische Zweckorientierung. Hier wird ein
Lernen verhandelt, das „in und über Erfahrung“ (nach Dehnbostel) ein
„grundlegendes, >natürliches< Selbstlernen“ (nach Dohmen) erfährt (Dzierzbicka
2008, 177). Und v.a. solche Aktivitäten kennzeichnet, die Wissen, Verständnis oder
Fähigkeiten generieren, ohne dazu extern, seitens eines curricularen Kriteriums,
angestoßen worden zu sein (D. W. Livingstone 2006, 204).
Als Rahmenbedingungen formuliert die Forschungslandschaft weitestgehend
übereinstimmend, informelles Lernen sei weder institutionell geprägt, noch erfolge es
planmäßig oder folge einer Struktur (Rohs 2008, 22). Abschlüsse oder Zertifikate
werden nicht erzielt und der Lernprozess erfolgt zumeist selbstorganisiert,
problemorientiert und selbstgesteuert (ebd., 23). Eine klare Unterscheidung zum
formellen Lernen lässt sich kaum treffen - vielmehr existiert ein Kontinuum mit einem
informellen bzw. einem formellen Endpunkt und dazwischen vielen Spielarten an
kombinierten formell-informellen Lernszenarien (ebd., 25f.). Die Diskurse rund um
informelles Lernen sind zumeist in erziehungs-, sozial- und
wirtschaftswissenschaftlichen Debatten eingebettet - und das international (Overwien
2001, 368f.). Je nach Blickwinkel fokussieren sie auf unterschiedliche Schwerpunkte
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 49
und Zielsetzungen. Ein zentraler Fokus der Forschungen konzentriert sich dabei auf
die betriebliche Weiterbildung (Rohs 2008, 30).
Aus gesellschaftlicher Perspektive übernimmt der informelle Bereich in den
Industrieländern
„(...) die Funktion des lebenslangen Lernens zur Sicherstellung
beruflicher Mobilität und Wiedereingliederung freigesetzter
Arbeitskräfte in den Wirtschaftsprozess, zur Anpassung an den
aktuellen Wissensstand und zur Steigerung des Lebensstandards durch
kulturelle Bereicherung in der Freizeit.“ (Gerlach 2000, 23)
In weltwirtschaftlich benachteiligten Staaten ist der informale Sektor dagegen mit
einem weit verbreiteten Analphabetismus konfrontiert (ebd., 24). Der informale Sektor
meint dabei sowohl Beschäftigungsverhältnisse in Wirtschaftsbereichen, die außerhalb
der staatlichen Aufsicht und ohne soziale Sicherung wirken, als auch informelle
Lernprozesse, die sowohl im formalen wie im informalen Sektor mit schwierigen
Bedingungen zu kämpfen haben. Da das formale Bildungssystem ein
Subsistenzeinkommen voraussetzt, müssen wesentliche Fähigkeiten und Kompetenzen
in traditionellen Trainingsbeziehungen, non-formalen Bildungsmaßnahmen oder in
informellen Lernprozessen sich angeeignet werden (Overwien 2007, 8f.).
Generell weisen viele Studien für die individuellen Perspektiven aus, welch hohe
prozentuale Bedeutung dem informellen Lernen in der Weiterbildung zukommt
(Dzierzbicka 2008, 174). Allerdings messen diese Studien nur klassische formalisierte
Angebote wie computergestützte Lernprogramme, Bildungssendungen oder
Lernzentren (siehe z.B. die EU-Studie Kailis und Pilos 2005). Inwiefern Learning-on-
the-job, just-in-time-Recherchen oder andere, nicht-formalisierbare, individuelle
Aktivitäten mit kollateralen Lernerfolgen -sei es Wissen-, Können-, Leben- oder
Lernen-Lernen- quantifizierbar sind, sei an dieser Stelle dahingestellt. Die
statistischen Größen werden damit womöglich übertroffen - laut dem Faure-Report
der UNESCO von 1972 lernen die Menschen zu ca. 70% informell (Overwien 2001,
359).
Um die Vielfalt an möglichen informellen Lernformen besser fassen zu können, schlug
David Livingstone vor, zwischen „informal education or informal training“ und „self-
directed or collective informal learning“ zu unterscheiden. Die Trennung erfolgt dabei
entlang der Einflussnahme auf den Lernvollzug, der Rolle der Lernenden und der zu
vermittelnden Inhalte (Dzierzbicka 2008, 179). Aber auch dieser
Klassifizierungsversuch scheitert daran, je nach zu untersuchendem Einzelfall eine
Fallbeschreibung zu verlangen - das „Lernen in informellen Kontexten“ (Düx/Dass
2005 - zit. nach ebd.) lässt sich nur schwer eindeutig definieren. Auch vernachlässigt
diese Sichtweise das implizite Lernen (Overwien 2001, 363). Zudem sehen nicht alle
Pädagog/innen diese diskursive Entwicklung positiv: So kann in Konzepten wie dem
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 50
informellen Lernen, die alltäglichen Lebenspraxen als Lernräume zu nutzen, ein Risiko
erkannt werden,
„(...) das Lernen den räumlichen, materiellen und zeitlichen Zwängen
alltäglichen (ggf. betrieblichen) Handelns zu unterwerfen und damit
zu behindern.“ (Göhlich und Zirfas 2007, 105)
Der geschützte Raum geht verloren - zumindest im ersten Schritt des analytischen
Nachgangs eines existierenden Phänomens. Und um die Gestaltung informeller
Lernräume ringt der bildungspolitische wie pädagogische Diskurs. Denn grundsätzlich
kreist die offizielle Bildungsdiskussion in Deutschland (fast) ausschließlich um formale
Institutionen21 - selbst für informelle Lernerfolge entwickelte die EU seit 1996 formale
Zertifizierungsmodi (Overwien 2004, 32). Dabei geht es den politischen Instanzen
nicht darum, informelle Lerntätigkeiten anzuerkennen - vielmehr ist eine Kontrolle
des (günstigen) informellen Lernens mittels eines Akkreditierungssystems gewünscht.
Ein Tauschwert soll geschaffen werden für Lerntätigkeiten, die lediglich einen
Gebrauchswert aufweisen - sowohl im Interesse potenzieller Arbeitgeber als auch für
die abhängig Beschäftigten (Attwell 2006a).
Die im Hintergrund stehende Frage, um die solche Klassifizierungsbemühungen
kreisen, lautet: Wenn der Anteil an informellem Lernen sowohl absolut (im globalen
Vergleich zu potentiellen Lernaktivitäten) als auch relativ (dem Verhältnis innerhalb
persönlicher Lernbiographien) stetig wächst, wie kann gesellschaftlich dort noch
eingegriffen werden? Diese Fragestellung betrifft sowohl pädagogische,
bildungssoziologische und bildungspolitische Rahmenbedingungen. Denn das
„Problem des informellen Lernens“ ist, dass es ein „unbedingtes Interesse“ der
lernenden Personen voraussetzt und sich „nicht für aktuell brennende gesellschafts-
oder bildungspolitische Problemstellungen einspannen lässt“ (Dzierzbicka 2008, 182).
Insofern sei auch ein pädagogisches Engagement (...) im Bereich des informellen
Lernens unerwünscht und völlig fehl am Platz!“ (ebd., 181f.).
Andererseits zeigen einschlägige Untersuchungen in betrieblichen Kontexten auf, wie
sich Rahmenbedingungen und individuelle Dispositionen wechselseitig bedingen in
ihrem Einfluss auf das informelle Lernen generell und das Zusammenspiel von
informellem und formellem Lernen im Besonderen (Rohs 2008, 178ff.). Neben
lernunterstützenden Maßnahmen sind hier v.a. die individuellen Kompetenzen
gefragt:
„Die Lernmotivation, Kompetenzen in der Selbststeuerung von
Lernprozessen wie auch die Reflexionsfähigkeit und Wahrnehmung von
Lerngelegenheiten haben starke Auswirkungen darauf, in welchem
Umfang formelle und informelle Lernprozesse zusammenwirken können.“
21 siehe die Bildungsschwerpunkte des BMBF unter http://www.bmbf.de/ (05.03.2011) oder die statistischen
Erhebungen des Statistischen Bundesamtes Deutschland unter http://www.bildungsbericht.de/
(05.03.2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 51
(ebd., 181)
Das zugrunde gelegte Lernverständnis bewegt sich dabei auf einem Kontinuum
zwischen formellem und informellem Lernen. Es definiert sich je nach Grad der
„Intention, Lernunterstützung, Steuerung, Bewusstheit und Lernergebnis“ (ebd., 175)
und beinhaltet bereits in der Definition typische Charakteristika formeller
Lernprozesse, die es ermöglichen, den zunächst subjektiven Prozess sozial
einzubinden.
Allerdings ist fraglich, ob eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen formalem,
non-formalem und informellen Lernen analytisch hilfreich ist oder ob nicht
-zumindest bei Erwachsenen- zwischen intentionalem und nicht-intentionalem Lernen
differenziert werden sollte. Intentionales Lernen liegt vor, wenn Wissen-Lernen oder
Können-Lernen beabsichtigt wurde - sei es in Selbst- oder Fremdorganisation. Nicht-
intentionales Lernen dagegen umfasst intentionales Lernen ohne Lernabsicht (z.B.
Reisen), „mit nicht intentionalen Geschehnissen verbundene Lerneffekte (z.B. Unfall,
Beziehungskrise)“ und lebensnaher Kompetenzerwerb, der keiner Absicht oder keinem
Ereignis zugeordnet werden kann (vgl. dazu Overwien 2001, 364).
Informelles Lernen, so viel kann abschließend festgestellt werden, geschieht alltäglich
und andauernd. Ob gewünscht oder nicht, lässt sich diese Lernform weder einem
spezifischen Raum noch einer konkreten Zeitperiode zuordnen. Formales Lernen kann
dabei unter Umständen die Qualität des informellen Lernens mit konfigurieren. Es
bleibt jedoch fraglich, ob grundsätzlich beide Formen erforderlich sind, um sich
persönlich weiterzubilden.22
Hier könnte Overwiens Vorschlag einer Unterscheidung zwischen zwei Perspektiven
hilfreich sein: Zum einen der aus Sicht des lernenden Subjekts und zum anderen aus
Sicht der Lernumgebung, die von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung von
Fragen sei, denen die Subjekte nachgehen. Informelles Lernen kennzeichne dann
definierte oder nachträglich definierbare Lernepisoden. Der Begriff umschreibt hier
ein „Kontinuum zwischen bewusst selbstgesteuertem und außeninduziertem Lernen
außerhalb schulischer oder nonformaler Bildungsangebote.“ (Overwien 2001, 365)
Insofern Lernumgebungen potentiell lernende Subjekte gestaltend unterstützen
können, liessen sich mit Smith vier bildungspolitische Handlungsfelder abstecken, die
weiterhin aktuell erscheinen (Mark K. Smith 1999):
1. Intensivere Erforschung stiller Lernprozesse.
22 Einige Reflektionen, die im weiteren analytischen Verlauf mitgedacht werden, lauten: Welcher äußeren
Strukturierung bedarf es, um sich innerlich zu systematisieren - sowohl individuell wie gesellschaftlich?
Formales Lernen setzt einen Rahmen für die informelle Weiterbildung und ordnet sie für die soziale
Tauglichkeit - gleichzeitig behindert es womöglich kreative Entwicklungen, die sich im sozialen
Miteinander ausbilden könnten. Welcher Rahmenbedingungen bedarf es, um die Qualität des informellen
Lernens fernab von formalen Angeboten zu steigern? Zumindest im Kontext des intentionalen Lernens
lassen sich ggf. extrinsische Rahmenbedingungen als geschützte Lernräume schaffen, die informelles
Lernen unterstützen - vielleicht nicht teleologisch auf einen bestimmten Bildungskanon ausgerichtet, wohl
aber im Sinne einer selbstverantworteten Bildungsinitiative.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 52
2. Unterstützung der Selbstbildung über eine Vielzahl an zugänglichen und
gebrauchstauglichen Angeboten, die im differenzierten Zusammenspiel Lernen
nicht als individuellen, sondern als sozialen Akt begreifen.
3. Stärken sozialer, demokratischer Verbindungen durch Unterstützung der Vielzahl
an organisierten Gruppen, die sich von unten entwickeln.
4. Entwicklung informeller Bildung, die neben der formalen Ausbildung ihren Platz
in den bildungspolitischen Entscheidungen gewinnen muss.
Erziehung zum informellen Lernen wäre schließlich eine Forderung, die es
bildungspolitisch zu begleiten gelte. Eine Frage, der im Rahmen dieser Arbeit
nachgegangen werden soll, müsste demnach lauten, ob (informelle) digitale
Lernumgebungen dahingehend erzieherisch wirken können - ggf. auch ohne
Anbindung an formale Bildungsinstitutionen.
2.2.3 ERZIEHUN G ZUM S O Z I A L E N WESEN
Etymologisch lässt sich der Begriff Erziehung zurückführen auf „ziehen“. Gemeint ist
mit der Erziehungstätigkeit sowohl der Vorgang und auch das Resultat, „nämlich die
Erzogenheit bzw. die Erziehung, Zucht und Aufzucht“ (Raithel, Dollinger, und
Hörmann 2007, 21). Während der Bildungsdiskurs also die Educand-Perspektive
einnimmt, nimmt die Erziehungsdebatte eine Erzieher-Perspektive ein. Erwachsene
wirken erziehend auf die Kinder ein mit dem Ziel, soziale Wesen auszubilden (Löw
2006, 22). Hier kann der gesellschaftliche Hebel ansetzen, der eine Lernumgebung
schafft, in der die einzelnen Personen Anregungen finden, zu lernen und sich zu
bilden.
Als wissenschaftliche Disziplin dieser Perspektive hat sich die Pädagogik
herausgebildet, die sich in viele Teildisziplinen und theoretische Ansätze
ausdifferenzierte. Im deutschsprachigen Diskurs gilt Wilhelm von Humboldt nicht nur
als geistiger Vater des modernen Bildungssystems - er reformierte gleich das gesamte
deutsche Bildungssystem und ersetzte dieses durch ein dreigliedriges
(Elementarschule - Gymnasium - Universität) (ebd., 20). Humboldt meinte, der
einzelne Mensch sei für sich genommen zu schwach, eine umfassende Persönlichkeit
auszubilden - er bedürfe gesellschaftlicher, kultureller und institutioneller
Unterstützung zur Erziehung seiner selbst. Das (neu)humanistische Gymnasium stellte
aus Humboldts Sicht eine Möglichkeit dar, den Menschen einen methodischen wie
inhaltlichen Zugang zur Entwicklung einer vollständigen Humanität zu gewähren
(Michael Schmidt 2005).
Inhaltlich orientiert sich Humboldt am Bildungs- und Fächerkanon der bereits im 17.
Jahrhundert vom Pädagogen Johann Amos Comenius entwickelten Allgemeinbildung -
dieser gesellschaftlich anerkannte Grundstock konfiguriert das Curriculum, das eine
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 53
umfassende wie normative Bandbreite aufweisen soll (Löw 2006, 20). In der
anschließenden Universitätsausbildung aber sah Humboldt auf methodischer Ebene
die Studierenden nicht länger als Lernende, sondern als Forschende, die von
Professoren geleitet und unterstützt wurden. Über Forschung gelangen in dieser
Sichtweise die „Lernenden“ zur Selbstbildung durch Wissenschaft (Hörster 2007, 49).
Die Konzentration der Erziehungsdebatte auf die Bildung der Lernenden ist in der
deutschen Ideengeschichte nicht unumstritten. Bereits die aufklärerischen
Philanthropen bemühten sich, Bildung und Ausbildung miteinander zu vereinen:
„Die Menschlichkeit des Menschen soll durch eine
produktionsorientierte Berufs- und Standesbildung hervorgebracht
werden.“ (Lütgert 2002c)
Indem sie den Bildungsbegriff auf seine gesellschaftliche Brauchbarkeit reduzieren,
finden aktuelle Vertreter/innen einer instrumentellen Sicht auf die Bildung eine
Vielzahl an Anknüpfungspunkten. Dieser Diskurs, wem die (Aus-)Bildung denn primär
nützen solle -dem Individuum oder der Gesellschaft- wendet sich zunächst gegen Ende
des 19. Jahrhunderts im Zuge der industrialisierten Gesellschaft zugunsten der
„ökonomischen, technischen und industriellen Brauchbarkeit des Erlernten“ (Löw
2006, 21). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts münden diese Diskussionen im EU-
Kontext im so genannten Bologna-Prozess und der Dominanz formaler,
wirtschaftsorientierter Bildungsangebote in der bildungspolitischen Ausrichtung.
Inhaltlich verschiebt sich die Diskussion des curricularen Grundstocks der Ausbildung
auf das Wissen- und Können-Lernen. Doch es gilt zu bedenken:
„Wissen ist höchstens eine Komponente von Bildung. Wissen ohne
Reflexionskompetenz und Verantwortungsbewusstsein, das reine Abrufen
von Daten und Fakten, führt nicht zur Mündigkeit im Sinne einer auf
Bildung beruhenden individuellen Handlungskompetenz, sondern, wie
Adorno (1903-1969) formulierte, allenfalls zu einer Halbbildung.“
(Michael Schmidt 2005, 9)
Um dieser einseitigen Fokussierung entgegen zu wirken, entstanden bereits Anfang
des 20. Jahrhunderts erste reformpädagogische Ansätze, die Pädagogik sowohl in der
Theorie als auch in der Praxis aus Sicht des Menschen (ursprünglich aus Sicht des
Kindes) dachten. Eine kulturkritische Haltung an der Institutionalisierung und
Formalisierung schulischen Lernens zeichnete diese Ansätze aus, die sich darin einig
waren, die Individualität des Kindes resp. des Menschen verkümmere im bestehenden
Bildungssystem (vgl. dazu Baumgart 2007, 121ff.). Illich schloss sich ein halbes
Jahrhundert später dieser Kritik an und zeigte auf, welche hierarchischen,
bürokratischen, ungerechten, kapitalistischen und systembewahrenden Potentiale dem
klassischen Schulsystem inhärent sind und nichts mit dem aufklärerischen
Bildungsideal gemein hätten. Eine radikale Trennung von Staat und Erziehung
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 54
forderte Illich daraufhin, eine „Entschulung der Gesellschaft“ (Illich 1973; Illich 2003).
Die öffentliche Infrastruktur solle lediglich ein Angebot schaffen, das freiwillig und
nicht verpflichtend zum Ziele der Herausbildung mündiger Bürger/innen genutzt
werden könne. Bildungsgeflechte statt Bildungstrichter sah er als Lösungsansatz, der
Homeschooling ebenso beinhalte wie aufgewertete Bibliotheken, Museen oder
ähnliche Lernstätten. Als Alternative schlug Illich ein Bildungswesen vor, das sich
durch drei Zwecke auszeichnet, die eine auffallende Ähnlichkeit zu aktuellen Open
Education-Forderungen aufweisen, wie später aufzuzeigen sein wird:
1. Jede/r sollte jederzeit Zugang zu vorhandenen Lernmöglichkeiten haben.
2. Alle, die als Lehrende wirken möchten, sollen die Vollmacht haben, Lernende zu
finden.
3. Alle, die der Öffentlichkeit ein Problem darlegen möchten, sollen die Gelegenheit
haben, dies zu tun.
In dieser Sichtweise brach sich ein Gedanke Bahn, der einen Ausweg aufzuzeigen
vermag aus dem klassischen Bildungsdiskurs, der bis heute vorherrscht und an dieser
Stelle kurz zusammengefasst werden soll:
Bildung und Lernen werden zumeist auf formale Aspekte reduziert - selbst bei der
Analyse informeller Aspekte wird vorzugsweise die Einbindung in formale Kontexte
untersucht.
Erziehung meint eine gelenkte Ausrichtung zugunsten einer bildungspolitisch
ausgehandelten Norm an sozial geforderten Fähigkeiten - je nach
Argumentationsstand zugunsten der (Aus-)Bildung selbstbestimmter Individuen
oder sozio-kulturell erforderlicher Qualifikationen.
Die klassische Erziehung setzt Lehrende als Vermittler/innen voraus. Eine
gestaltete Lernumgebung kann in dieser Logik nur in Fortführung oder als Ersatz
von Lehrenden diskutiert werden - eine informelle Gestaltung von
Lernumgebungen ist in dieser Perspektive nicht denkbar. Vielmehr verlagert sich
die Erziehungsdebatte zugunsten informeller Skills in die Diskussion rund um
aktuell erforderliche Kompetenzen und konzentriert sich dort v.a. auf die
Kompetenzmessung, um sie wieder einzufangen in die formalen Prozesse (dazu
später mehr).
Der Diskurs selbst heftet sich an klar umrissene Raum- oder Zeitkonfigurationen -
selbst raum- oder zeitübergreifende Konzepte werden über die konkreten
Verortungen im Bildungs- resp. Lernprozess diskutiert. Nicht verortbare und/oder
zeitlich unbegrenzte Lernepisoden sind schwer zu identifizieren, weil im
pädagogischen Diskurs mit dem Abgleich von intentionalem Lernziel und
Lernergebnis ein zentrales Momentum einer an das Wissen- oder Können-Lernens
geknüpften (Aus- oder Weiter-)Bildung existiert.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 55
Bildung als politisches Konzept erscheint im politischen Diskurs vielen als
nationales Heiligtum. Über bildungspolitische Parameter setzen souveräne Staaten
die Prioritäten, die für ihr nationalökonomisches Fortschreiten erforderlich sind.
Gezielte Anreizsysteme und Subventionen dienen den (supra-)nationalen
Institutionen zur bildungspolitischen Steuerung der Geschicke „seiner“
BürgerInnen. Eine gewährleistete Schulpflicht und Unterstützung der Ausbildung
ist inhärenter Bestandteil einer fortschrittlichen, nationalen „Wissensökonomie“
(auch dazu später mehr).
Diese Sichtweise entspricht keiner exklusiv deutschen oder westlichen Ausrichtung,
sondern differiert international lediglich im Hinblick auf die konkreten
pädagogischen Maßnahmen. Bildung als formales Ziel der Erziehung stellt ein
global anerkanntes, bildungspolitisches Ziel dar - nicht zuletzt angetrieben durch
gravierende sozio-ökonomische Interessen, die die Bildungsindustrie raum- und
zeitübergreifend zu bedienen vermag (dazu jetzt das folgende Kapitel).
2.2.4 INTER -N ATIONALE BILDUNG S ÖKONOMIE N 2 3
Um den Bildungsdiskurs von seinem (supra-)national verengten und normativ
überhöhten Siegeszug auf den materiellen Boden zurückzuholen, drängt sich ein
nüchterner Blick auf den globalen Bildungswettbewerb auf. Welche Funktionen
übernimmt „die Bildung“ neben der idealtypischen Ermächtigung des Individuums,
„zu sich selbst zu finden“ im Sinne Humboldts?
2.2.4.1 BEDEUTUNG D E R BILD U N G IN DER NETZWERKGESELLSCHAFT
In der von Castells beschriebenen internationalen Arbeitsorganisation [Producers of
high value, Producers of high volume, Redundant producers] entlang der neuen
räumlichen Flows entscheidet der Zugang zu den global verbindenden Technologien,
ob die Person zu den „strukturell relevanten“ oder „irrelevanten“ Personen zählt. In
diesem „informationellen Paradigma der Arbeit“ (Castells 2001a, 1:275) kann sich
gewünschten Netzwerken nur anschließen und diese mit gestalten, wer Zugang findet
in den space of flows. Weltweit verteilt sitzen die beteiligten Personen, die in den
vernetzten Datenfluss eingreifen, neue Allianzen bilden und die Realwirtschaft am
Laufen halten (Farrell und Fenwick 2007a). Selbst in den von der Weltwirtschaft
vernachlässigten Weltregionen arbeitet eine kleine Elite, die Zugang zum Netz und
damit zur Weltgesellschaft hat. Viele von ihnen sind Absolvierende der
Kaderschmieden der Weltökonomie (Harvard, M.I.T., London School of Economics
o.ä.) (Dirlik 2006, 5). Andere nutzen die vorhandenen Datenbahnen in den Internet-
23 Das folgende Kapitel entspricht (bis auf das Unterkapitel „Internationalisierung der Bildung“) größtenteils
einem Auszug meines Buchbeitrages „Kompetenzentwicklung in vernetzten Kontexten. Herausforderungen
für die Bildungspolitik“ (Anja C. Wagner 2011).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 56
Cafés, Hochschulen oder auch Business Centern, um sich z.B. als Start-up24 oder
zivilgesellschaftliche Kraft25 mit globaler Ausstrahlung aufzubauen - zumeist unter
kreativer Ausnutzung der zur sozialen Vernetzung geeigneten mobilen Endgeräte.
Subindex Factor-
driven
stage (%)
Efficiency-
driven
stage (%)
Innovation
-driven
stage (%)
Zuordnung zu
Castells'
Sozialstruktur
Basic requirements
Institutions
Infrastructure
Macroeconomic stability
Health and primary education
60 40 20 Redundant
producers
Efficiency enhancers
Higher education and training
Goods market efficiency
Labor market efficiency
Financial market
sophistication
Technological readiness
Market size
35 50 50 Producers of
high volume
Innovation and sophistication
factors
Business sophistication
Innovation
5 10 30 Producers of
high value
Tabelle 1: Gewichtung der Subindizes auf die Entwicklungsstufen (vgl. ebd.:8, Table 1 kombiniert mit Figure 1
und Zuordnung durch die Autorin zu Castells' internationaler Arbeitsteilung)
Trotz dieser vielfältigen, nationale Grenzen überschreitenden Aktivitäten einzelner
Personen oder Initiativen ist die staatliche Organisation der Weltgesellschaft auf dem
politischen Parkett ein kaum hinterfragtes Paradigma - und dient damit als Grundlage
der gängigen bildungspolitischen Diskussionen.26 So sind z.B. die Analysen des World
24 z.B. http://ushahidi.com/ (05.03.2011)
25 z.B. http://kabissa.org (05.03.2011)
26 Zwar gerät in den politikwissenschaftlichen Internationalen Beziehungen die klassische (Neo-)Realismus-
Theorie, die primär machtpolitische Staaten als Akteure der Weltpolitik ansieht, zusehends unter Druck
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 57
Economic Forums (WEF) ein guter Gradmesser für die kulturelle Hegemonie im
herrschenden Weltwirtschaftssystem (Graz 2003). Das WEF, bekannt für seine
alljährlichen Treffen der Wirtschafts-, Kultur- und Politikelite zur Diskussion der
Weltprobleme in Davos, ist selbst als Non-Profit-NGO aufgestellt. In seinen Analysen
aber konzentriert man sich auf staatliche Akteure, die einem entwicklungslogischen
Weg von einer „factor driven“ über eine „efficiency driven“ hin zu einer „innovation
driven“ Ökonomie folgen, um miteinander auf dem Weltmarkt zu konkurrieren
(Schwab, Sala-i-Martin, und Greenhill 2009, 21). Dabei entscheidet das
Zusammenspiel zwischen zwölf Säulen der staatlichen Entwicklung -verteilt über drei
Subindizes- über die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Nationen (siehe die linke Spalte
in Tabelle 1).
Je nach Entwicklungsstufe des Staates (2. bis 4. Spalte) ist die vertikale Gewichtung
zwischen den Grundvoraussetzungen (Basic requirements), Effizienzverstärkern
(Efficiency enhancers) und Innovationsfaktoren (Innovation and sophistication
factors) unterschiedlich. Nach Ansicht des WEF bauen die drei Subindizes aufeinander
auf und definieren mittels ihres Mischungsverhältnisses den Grad der staatlichen
Weiterentwicklung. So kommt in der factor-driven Entwicklungsstufe zunächst dem
nationalstaatlichen Auf- und Ausbau der Grundvoraussetzungen eine sehr große
Bedeutung zu, auf der erste Effizienzverstärker aufsetzen können/müssen und nur
wenige Aktivitäten auf der Innovationsebene gefordert sind. Im Zuge der vom WEF
idealtypisch verkürzten Entwicklung eines Staates kommt dem Auf- und Ausbau der
Effizienzverstärker und Innovationsfaktoren eine immer größere Bedeutung zu.
Entsprechend sind die Bildungsaktivitäten auch auf die neuen Herausforderungen
auszurichten, weil Bildung in allen horizontalen Entwicklungsstufen eine wesentliche,
funktionale Rolle spielt. Denn das Ausmaß der Grundbildung, der höheren Bildung
und der kreativen Innovationsdynamiken entscheidet mit darüber, auf welchem Rang
ein Nationalstaat im globalen Wettbewerb vertikal einzustufen ist (vgl. ebd., 17ff.). So
rangiert im aktuellen Global Competitiveness Index 2009–2010 des WEF das
innovationsgetriebene Deutschland auf Rang 7, das effizienzgetriebene China auf 29
und das faktorengetriebene Burundi landet im Gesamtbild -trotz einiger
Innovationsfaktoren- auf dem letzten Platz (133) (vgl. ebd., 13).
Diese funktionale, am neo-liberalen Weltbild orientierte Stufung der Nationalstaaten
ist hinsichtlich der Realisierung globaler Gerechtigkeit und Chancengleichheit äußerst
fragwürdig und hinsichtlich der ökonomischen Berechnungsgrößen auch befremdlich
(vgl. dazu Plehwe und Walpen 2004). Dennoch vermag uns die Tabelle einen
analytischen Rahmen bieten, um die von Castells diagnostizierte moderne
Sozialstruktur im herrschenden Wirtschaftssystem annähernd zu quantifizieren.
seitens verschiedener Theorien, die vielschichtigere Akteurskonstellationen am Werk sehen (vgl. Meyers
2008; Filzmaier u. a. 2006). Im politischen Alltagsdiskurs aber wird die kulturelle Hegemonie weiterhin
von einer engen nationalstaatlichen Fokussierung dominiert.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 58
Hierzu überführen wir die vom WEF vorgenommene, vertikale Strukturierung
einzelner Nationalstaaten auf Castells' globale Netzwerkgesellschaft, wodurch sich die
drei Schichten arbeitsteiliger Kategorien den drei Subindizes grob zuordnen lassen
(vgl. die letzte Spalte in Tab. 1):
1. Die Producers of high value sind im space of flows verantwortlich für die
Innovationsfaktoren und repräsentieren nur einen Bruchteil der Menschheit. Sie
treffen auf systemischer, vernetzter Ebene normative Entscheidungen mit globaler
und nationaler Wirkung. Diese Elite sitzt insbesondere in den Nationalstaaten der
innovationsgetriebenen Stufe - also v.a. in den westlichen Staaten. Aber auch in
den Schwellen- und Entwicklungsländern ist eine innovative Schicht aktiv, die sich
über den space of flows mit ihresgleichen weltweit zu verbinden vermag. Aufgrund
ihrer Vernetzung und sozio-politischen Bedeutung sind sie innerhalb der neo-
liberalen Logik unersetzlich und systemrelevant - und insofern willkommene Gäste
in Davos.
2. Die Producers of high volume arbeiten an der Schnittstelle von space of places
zum space of flows zugunsten der Effizienz und bilden das Gros der aktiven
Bevölkerung in den weltwirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern. In
Schwellenländern ist dieser Anteil der Bevölkerung vergleichbar hoch und selbst
Entwicklungsländer können bereits mit ersten Effizienz-Erfolgen im Sinne des
WEF aufwarten. Diese Personen führen Instruktionen aus und zählen zu den
strukturell Relevanten, sofern sie aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten nicht
ausgetauscht werden (können).
3. Die Redundant producers sorgen bestenfalls am space of places für die
Grundvoraussetzungen bzw. sind sie weitestgehend abgedrängt in die
weltwirtschaftlich benachteiligten Länder. An Personen reichen diese von
einfachen Hilfsarbeiterinnen oder dem Haushaltspflege-Personal in den
fortgeschrittenen Ländern bis hin zur konsequenten Ausbeutung von
Fabrikarbeiterinnen in den Zulieferbetrieben der Entwicklungs- und
Schwellenländer zugunsten innovativer Lifestyle-Produkte des Westens. Diese
Personen sind systemisch austauschbar, da ihre Tätigkeiten zumeist keine
wesentlich an die Person gebundenen Fähigkeiten erfordern.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Konsequenzen daraus folgen, die
Bildungssysteme auf die „Filterung“ kompetenter, innovativer oder effizienter
Personen auszurichten, wie es in der Theorie der globalen Wissensökonomie
strukturell angelegt ist.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 59
2.2.4.2 BI L D U NG IN DER GL O B ALEN WI S SENS Ö K ONOMI E
In der derzeit neo-liberal27 geprägten Netzwerkgesellschaft ermöglichen
weltumspannende, arbeitsorganisatorische Kanäle die kosteneffiziente Auswahl von
geeignetem Humankapital“. Ehemals moderne Industriegesellschaften mutieren im
Zuge dieses Migrationsprozesses der Arbeit zu so genannten Wissensgesellschaften,
die ihre gesamtgesellschaftlichen Fertigkeiten zur wechselseitigen, ökonomischen
Verwertbarkeit ausbauen (Farrell und Fenwick 2007b, 22).
Für Castells stellt sich nun die Frage, ob Informationen und Wissen nicht schon immer
wesentliche Voraussetzungen für funktionierende Ökonomien waren (vgl. hierzu
Stalder 2006, 30). Heute käme dagegen den technologischen Entwicklungen ein weit
größeres Gewicht zu. In welche Richtung sich die Technologien ausdifferenzierten,
würde in der am Wachstums- und Fortschrittsglauben orientierten, sozialen
Netzwerkstruktur komparativ ausgehandelt (ebd.) - und entsprechend politisch
umgesetzt. So definierte sich z.B. die EU im Jahre 2000 als wissensbasierte
Gesellschaft und setzte sich zum neuen strategischen Ziel, bis zum Jahre 2010 „die
Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum in der Welt zu machen.“ (Europäischer Rat 2000, 5)
Um dieses Ziel zu erreichen, bedürfe es einer globalen Strategie und Politik, die u.a.
den Übergang hin zu einer wissensbasierten Wirtschaft und Gesellschaft fördere
(ebd.). Bildung erlangt in diesem Kontext den Status der zentralen Triebfeder für
ökonomische Transformation und erwächst teilweise zu dem wesentlichen Kriterium
nationaler und internationaler Wirtschafts- und Sozialpolitik (Farrell und Fenwick
2007b, 14).
In dieser Atmosphäre konnte der endgültige Aufstieg der OECD zur
bildungspolitischen Leitinstanz mit internationaler Ausstrahlung hinsichtlich
empirisch nachzuweisender, „objektiver“ Indikatoren gelingen.
„The increasing interest in international comparisons is linked to
the theory of human capital and the ‘classical’ neo-liberal OECD
thinking on the economic returns of educational investment. In an
era of global competitiveness and financial constraints, it is
plausible that the expectations of the outcomes of education are
getting higher and higher.“ (Ioannidou 2007, 343)
Die OECD überführt demnach die neo-liberale Logik des Weltwirtschaftssystems auf
das Bildungssystem und definiert mit ihren Vergleichsstudien eine kulturelle
Hegemonie mit, der Staaten und internationale Organisationen harmonisiert folgen
(vgl. z.B. Popp 2009; Rinne, Kallo, und Hokka 2004; Alexander-Kenneth Nagel,
27 Neo-Liberal im Sinne der herrschenden kulturellen Hegemonie, die als politische Handlungsstrategie in
ihren Grundsätzen auf den Überlegungen neo-klassischer Wirtschaftstheorien aufsetzt, diese aber je nach
sozialem Standpunkt variiert.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 60
Martens, und Windzio 2010).28 Auch die Weltbank erklärt die Wissensproduktion zum
zentralen Entwicklungsmoment, dem die Entwicklungsländer nachzueifern hätten,
wollten sie am globalen Wachstum teilhaben (The World Bank 2007). Aufgabe der
Gesellschaft sei es, die Zirkulation des Wissens zu ermöglichen: Explizite oder
implizite Bildung werde benötigt, um Netzwerke aufzubauen, die eine globale
ökonomische Aktivität generieren und aufrechterhalten könne (Farrell und Fenwick
2007a, 5). Entwicklungspolitisch unterstützt wird diese Forderung von der Weltbank,
indem z.B. Kredite an die Bedingung geknüpft werden, Sekundarschulen und
Universitäten zu privatisieren (so geschehen in Afghanistan und Irak) oder
Freihandelsabkommen wie GATT und GATS dezent nachhelfen, indem sie in ihren
Abkommen u.a. die Privatisierung von Bildungsdienstleistungen rechtlich fixieren
(Omar Khaled Sahrai und Diana Sahrai 2006, 378).
2.2.4.3 INTERNATIONALISIERUNG DER BILD U N G
Die Internationalisierung der Bildung ist nirgendwo augenscheinlicher als im Bereich
der höheren Bildung: Inhaltlich mittels international ausgerichteter Curricula,
methodisch u.a. durch vielfältige E-Learning-Verbindungen und organisatorisch in der
internationalen Anschlussfähigkeit potentieller Studienmodule à la Bachelor/ Master
wird (v.a. in OECD-Staaten) der Globalisierung Rechnung getragen und die Erziehung
auf eine interkulturelle Weltwirtschaft ausgerichtet. Zudem ist ein deutlicher Trend zu
grenzüberschreitenden Bildungsprozessen zu erkennen, der traditionelle
internationale Austauschprogramme zwischen ForscherInnen und Hochschulen weit
überschreitet (vgl. Altbach und Knight 2007).
Neue wie alte Bildungsinstitutionen bieten zunehmend flexibilisierte
Bildungsangebote mit einem Fokus auf Lehre in Form kommerzieller, auswärtiger
higher education-Kurse an oder bauen Auslandsresidenzen als Campus auf (Knight
2007). Selbst moderne Open Educational Resources-Ansätze (oder Open Courseware
à la M.I.T oder Open University) dienen dem Zweck, sich international auf
Studierenden-Suche zu begeben. Sowohl im nationalen als auch im internationalen
Zusammenhang ist die Bildungsindustrie zu einem Wirtschaftsfaktor herangewachsen
(Attwell 2006a; vgl. dazu auch Altenburg und Rennkamp 2010). So nutzen Schulen der
Entwicklungsländer die Materialien aus den Industrieländern, die kaum für ihre
Realitäten geeignet sind (Suarez-Orozco und Sattin 2007, 6). Oder westliche Business-
und Technologie-Schulen (Harvard, M.I.T. und London School of Economics) feilen
als moderne Missionarsstuben an der globalen Elite (Dirlik 2006, 5).
Der Kampf um die Studierenden, der war of talents, ist längst Realität. Die Anzahl der
ausländischen Studierenden wächst stetig (laut OECD um das Vierfache in den letzten
30 Jahren) - außerhalb der EU schneller als innerhalb der OECD und in Non-OECD-
28 Dazu später mehr in Kapitel 5.1
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 61
Ländern schneller als in OECD-Staaten (siehe Tabelle 2).
Herkunftsstaat
ausländischer
Studis
Studium in OECD-
Ländern
Studium in Non-
OECD-Ländern
Gesamt-
Auslandsstudium
Afrika 250.720 (77%) 75.799 (23%) 326.519 (100%)
Asien 1.031.483 (81%) 246.208 (19%) 1.277.690 (100%)
Europa 607.394 (89%) 72.402 (11%) 679.797 (100%)
Nord-Amerika 77.452 (95%) 4.345 (5%) 81.797 (100%)
Ozeanien 16.930 (97%) 441 (3%) 17.371 (100%)
Süd-Amerika 136.133 (82%) 30.785 (18%) 166.919 (100%)
Gesamt (2005) 2.296.016 (84,2%) 429.980 (15,8%) 2.725.996 (100%)
Gesamt (2000) 1.545.534 (85,0%) 273.225 (15,0%) 1.818.759 (100%)
Tabelle 2: Extrakt aus Data Tables: Who studies abroad and where? (OECD 2007)
Gleichzeitig offenbart die globale Statistik der Auslands-Studienaufenthalte zwei
Ungleichgewichte: Zum einen wird der Zustrom in die OECD-Länder deutlich sichtbar.
Dabei wählten 2005 23% aller internationalen, mobilen Studierenden die USA für
ihren Auslands-Studienaufenthalt, Großbritannien folgt mit 12%, Deutschland mit
10%, Frankreich 9%, Australien 6% und Japan mit 5% (OECD 2007). Zum anderen
aber zeigt sich ein Nord-Süd-Gefälle der persönlichen Präferenzen. Während fast ein
Fünftel aller ausländischen Studierenden aus Afrika, Asien und Süd-Amerika ein
Studium in einem Non-OECD-Land ausüben, sinkt dieser Anteil auf nahezu ein
Zehntel bei den Europäer/innen bzw. ein Zwanzigstel bei den Nord-AmerikanerInnen
und vernachlässigbare 3% bei den Studierenden aus Ozeanien (Open Doors 2008).
Dabei sind die Gebühren internationaler Studierender zu einer Haupteinnahmequelle
einiger Hochschulen geworden, die sie verwundbar machen, sollte die internationale
Mobilität der Studierenden eines Tages nachlassen. So sind z.B. die Einnahmen
britischer Universitäten zu 10%, in Australien zu 17% (OECD 2007) von den
internationalen Studierenden abhängig. Da derzeit v.a. China und Malaysia ihr
Universitätssystem massiv ausbauen, wird schon bald die Frage anstehen, wie sich
diese Entwicklung auf den Markt der international Studierenden in den westlichen
Staaten auswirkt (Malley 2007).
Welche Bedeutung diese Kontakte zudem für die internationale Netzwerkbildung
haben, kann am Beispiel des US-Bildungssystems angedeutet werden: Der US-
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 62
amerikanische Hochschulmarkt ist international gesehen der attraktivste
Ausbildungsplatz für ausländische Studierende. Zwar sank in der Zeit von 2000 zu
2005 deren Anteil im internationalen Vergleich um 4% (OECD 2007), doch bereits
2007/08 konnte -nach einer Untersuchung des US-amerikanischen Institute for
International Education- ein Zuwachs von 7% gegenüber dem Vorjahr erzielt werden
(Open Doors 2008). Die Spitzenreiter der nationalen Kontingente an
Auslandsstudierenden in den USA stellen asiatische Staaten.29 Die attraktivsten
Studienfächer für Auslandsstudierende in den USA sind die Fächer Business &
Management (20%) und das Ingenieurwesen (17%). Die größten Zuwachsraten
verzeichnen die Landwirtschaften und Intensive English (ebd.).
Demgegenüber arbeiten die ausländischen Gastwissenschaftler/innen v.a. in den
biologischen und biomedizinschen Wissenschaften (21,8%), den
Gesundheitswissenschaften (17,7%), dem Ingenieurwesen (12,8%) und der Physik
(12,1%). Mit Bildung und Erziehung befassen sich dagegen nur 1,9% der
Gastwissenschaftler/innen. Insgesamt forschten (71%) oder lehrten (12,4%) 126.123
internationale Wissenschaftler/innen im akademischen Jahr 2007/2008 an den US-
Hochschulen - weitere 9,7% forschten und lehrten gleichermaßen, während 6,9% zu
anderen Zwecken in den USA weilten (ebd.). Auch bei den in den USA arbeitenden
Wissenschaftler/innen führen die asiatischen Herkunftsstaaten deutlich vor den
OECD-Staaten (ebd.).
Die Hochschulen sind damit zu einem der größten Exportschlager des
Dienstleistungssektors und zu einer entscheidenden, ökonomischen Kraft für die US-
amerikanische Ökonomie herangewachsen: Mehr als 15,5 Mrd. US-Dollar trugen
internationale Studierende durch Gebühren und Lebensausgaben zum Staats- resp.
Landeshaushalt der USA bei. 62% der Studierenden bestreiten ihren Studienaufenthalt
mit Geldern aus persönlichen Quellen - von den auf fremde Unterstützung
angewiesenen Studierenden erhält nur ein Drittel das Gros der Gelder aus den USA
(Open Doors 2008). Hinzu kommen die Ausgaben der ausländischen
WissenschaftlerInnen und die vielfältigen Netzwerkkontakte für zukünftige
Forschungen und gemeinsame Entwicklungen.
Die einzelnen Universitäten kämpfen also auf dem globalisierten Markt um
Studierende und Wissenschaftler/innen. Nicht nur mit Blick auf ausländische
Interessent/innen, sondern auch mit Blick auf die inländischen. Die New York Times
zeigte in einer Infografik den rasanten Anstieg der US-amerikanischen Bildungskosten
im Verhältnis zum durchschnittlichen Familieneinkommen auf.30 Demnach stiegen die
Studiengebühren zwischen 1982/84 bis 2007 um das Fünffache (500%) an, während
das durchschnittliche Einkommen nur um die Hälfte (150%) zulegte. In der
29 Indien 94.563 Studierende, China 81.127 und Süd-Korea 69.124.
30 http://www.jamtoday.org/post/70265208/when-the-education-bubble-finally-pops (05.03.2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 63
Konsequenz fokussieren Hochschulen gerne auf so genannte (Geld-)Eliten, die als
Netzwerk eine gute Anbindung und Verstetigung herrschender Interessen dienen (zur
Kontinuität und Herausbildung einer sozio-ökonomischen wie sozio-politischen Elite
siehe Hartmann 2006). Der war of talents beginnt an den Hochschulen und es
verwundert nicht, wenn Vertreter/innen dieser Institutionen den Fokus des
Bildungsdiskurses auf eine stark hierarchisierte und formale Erziehung setzen.31
2.2.4.4 GR E N ZEN FORMALER BILDUNGSÖKONOMIEN
Nach diesen Ausführungen wird deutlich, wem die Theorie einer globalen
Wissensökonomie nützt: Unmittelbar profitieren Producers of high value, die
aufgrund der erfolgten Investitionen in Forschung und Entwicklung neue
Innovationen hervorbringen, die idealerweise am Markt erfolgreich sind und über die
Angleichung der kulturellen Werte einen globalen Absatzmarkt finden. Mittelbar
profitieren davon alle strukturell relevanten Producers of high volume, die sich über
eine Positionierung innerhalb der globalen Wissensökonomie eine an die eigene
Person geknüpfte Unique Selling Proposition aufbauen. Gleichzeitig müssen sie
realisieren, wie das inflationäre Sinken ihrer Netto-Löhne zu einer Abwertung ihrer
Hochschul-Abschlüsse führt (siehe zu den Lohnentwicklungen in den USA: Castells
2009b, 1:xxi). Für die strukturell Redundant producers spielt die globale
Wissensökonomie kaum eine Rolle - sie sind als Arbeitskraft und Konsumierende nur
bedingt gefragt und als Person jederzeit durch das Heer der weltweiten Arbeitslosen
oder neue Maschinen ersetzbar.
Fassen wir mit Castells zusammen, so lassen sich im Informationszeitalter folgende
grundlegenden sozialen Bruchlinien verzeichnen (Castells 2003, 3:397):
1. Eine interne Fragmentierung der Arbeitskräfte in „relevante“ Produzierende und
„irrelevante“ Personen, die „ersetzbare generische Arbeit“ leisten.
2. Ein wesentliches Segment der Gesellschaft ist sozial exkludiert: Es setzt sich aus
„ausrangierten Individuen“ zusammen, die ihren Wert als Arbeitskräfte oder
Konsumierende aufgebraucht haben.
3. Zwischen der Marktlogik der globalen Netzwerke der Kapitalströme und der
menschlichen Erfahrung des Arbeitslebens wird radikal getrennt.
Hiernach scheint es erforderlich, die Sichtweise einer globalen Wissensökonomie als
normativem Ziel und damit einhergehend die tendenziell kulturimperialistische
Infiltration der Bildungsmärkte in den Entwicklungsländern (vgl. dazu Omar Khaled
31 Entsprechend ist auch folgendes Zitat der Zeppelin Universität aus Friedrichshafen zu deuten (via
@cervus): „Als kleine Universität, die an die Qualitäten einer Kultur der Anwesenheit glaubt, begegnen wir
den auch im Bildungsbereich immer deutlicher werdenden Tendenzen zur Digitalisierung und
Distanzierung mit einer sehr kritischen Haltung“, so wird der Referent des Universitätspräsidenten zum
Start deren „iTunes U“-Channels zitiert - vgl. http://www.zeppelin-
university.de/deutsch/aktuelles_presse/aktuelles/2010_12_23_15417229_meldung.php (05.03.2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 64
Sahrai und Diana Sahrai 2006) analytisch zu hinterfragen. Der Bildungsbegriff in der
bildungspolitischen Diskussion sollte nicht mit der veräußerlichten
Wissensproduktion gleichgesetzt werden, der vor allem einen größeren Markt für
westliche Bildungsprodukte und -dienstleistungen zur Zweitverwertung aufbaut
(Attwell 2006a). Vielmehr ist es an der Zeit, persönliche Möglichkeiten zu eruieren, die
Potenziale der globalen Informations- und Kommunikationstechnologien im Kontext
der Netzwerkgesellschaft zu heben, will man einen Weg hin zu einer offeneren,
gerechteren Weltordnung finden.
Um die enge Bindung von globaler Wissensökonomie und nationalen (non-)formalen
Bildungssystemen zu unterlaufen, soll nunmehr untersucht werden, welchen Einfluss
digitale Lernumgebungen auf formale und informelle Lernsysteme ausüben und
welchen Beitrag sie für modernes Lernen in der globalen Netzwerkgesellschaft leisten
können.
2.2.5 LEARNING 2.0 ALS NETZWERKAKTIVITÄT
Die Firma Fronter32 wartete auf der Online Educa Berlin 2006 mit folgender digitalen
Lernplattform-Geschichtsschreibung auf: die Zeit der Learning Management Systeme
(LMS) und der Personal Learning Environments (PLE) sei bereits überschritten, statt
dessen käme jetzt die Zeit der Collaborative Working Environments (CWE) - und
natürlich: Fronter verstehe sich als CWE33. Diese Marktstrategie spiegelt nicht nur den
Kampf der Begriffe wieder, sondern auch den Versuch seitens der Bildungsindustrie,
Systeme bereitzustellen, die als zentrale Anlauf- und Organisationsplattform einen
geschützten Raum zur Verfügung stellen. Allerdings setzen solche Systeme eine
formale Institution voraus, in deren Rahmen die Lernenden agieren. Doch wie verhält
es sich bspw. mit der Vielzahl an Communities of Practice (CoP) oder anderen
informellen Netzwerken, in denen sich Menschen ohne Lehrperson oder Learning
Objects selbst organisieren? Wie sind diese Systeme verbunden mit informellen
Informations- und Kommunikationskanälen?
Seit dem Aufkommen digitaler Welten hat sich für alle Netzaktiven das Verhältnis von
formaler zu informeller Bildung zugunsten letzterer entwickelt.
„Learners increasingly acquire not only ‘street’ knowledge but also
‘academic’ knowledge from outside of the classroom. In particular
their technological world is likely to be richer outside the school
than it is inside the school.“ (Banyard und Underwood 2008, 2)
Aus dieser Entwicklung ziehen die Autoren die Folgerung, dass nicht mehr die
32 Fronter (siehe http://fronter.info/ - 05.03.2011) versteht sich als offenes Betriebssystem für
Bildungseinrichtungen mit extrem hoher Marktdurchdringung in Skandinavien und teilweise in UK
33 Siehe dazu die Fronter-Broschüre: http://fronter.info/downloads/Fronter_Brochure_UK_lowres.pdf, S.3
(05.03.2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 65
Lernenden im Fokus der Lehrenden stehen sollten, sondern der personal learning
space den kognitiven Raum konfiguriert, den (u.a.) der teaching space als
Lernumgebung bespielen sollte.
„The physical characteristics of the personal learning space can
still be influenced by teachers and institutions, but the design of
that space and the uses of the technology are under the control of
the learners. At our university our library information services
provide academic search facilities and e-learning support but the
students choose to Google.“ (Banyard und Underwood 2008, 10)
Die Einbettung neuer sozialer Prozesse mittels neuer sozialer Online-Netzwerke in das
alltägliche Leben ermöglicht einen natürlichen Zugang zu spontanen
Kontaktaufnahmen, Interaktionen und Gesprächen, die informelles Lernen
unterstützen und zum Wissensaufbau beitragen (Pettenati, Cigognini, und Sorrentino
2007, 1). Auch ermöglichen Social Media-Technologien den globalen Austausch
moderner Netz-ArbeiterInnen. Diese Personen sind vielschichtig miteinander vernetzt
und bilden sich gegenseitig kontinuierlich weiter (Kalz u. a. 2006). Mit dieser
Entwicklung einhergehend sind im Bildungsdiskurs zwei Trends zu konstatieren (Paul
Anderson 2007, 32ff.):
Einerseits erfolgt innerhalb formaler Institutionen eine Betonung auf lebenslanges
Lernen (LLL) und Lernenden-Unterstützung, um Kreativität und Innovation zu
ermöglichen. Angelehnt an die Erfolge der Open-Source-Bewegung sind alternative
Open-Education-Ansätze entstanden, die einer dezidierten Analyse bedürfen. So
fügen sich Open University-Initiativen schon seit geraumer Zeit recht erfolgreich in
die formale Ausbildungsstruktur nationalstaatlicher Bildungssysteme ein. Auch
Open Access oder Open Educational Resources können als Marketing-Annäherung
formaler Bildungseinrichtungen an die Open-Initiativen betrachtet werden - im
Sinne des oben angeführten globalen Bildungswettbewerbs.
Parallel dazu werden im nicht-institutionellen Kontext zunehmend offene,
personalisierte Ansätze gefordert, die die formale Bildung in Frage stellen. Unter
den Stichwörtern Community of Practice (Lave und Wenger 1991), Personal
Learning Environment (Attwell 2006b), Learning 2.0 (Downes 2005) und
Connectivism (Siemens 2004) werden einige Ansätze diskutiert, wie -mittels einer
dynamischen Verknüpfung über diverse Informations- und
Kommunikationskanäle- sich modernes Arbeiten und Lernen kollaborativ
vernetzen lässt.
Beide Facetten der modernen Lernentwicklung stellen wichtige Aspekte für exkludierte
Personen dar, da sich ihnen in der virtuellen Community „Diaspora-Räume“ eröffnen,
die zumindest potenziell einen selbstbestimmten Zugang zu globalen Ressourcen und
Netzwerken begründen (Farrell und Fenwick 2007b, 16). Durch die Informations- und
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 66
Kommunikationstechnologien können zudem vier Veränderungspotentiale des
Lernens identifiziert werden (Dewe und Weber 2007, 127f.):
Der multiperspektivische Umgang mit Information und Kommunikation löst die
einzelperspektivische Aufbereitung von Lerninhalten ab.
Aufgrund der Globalisierung und damit einhergehenden Mobilität ist eine Zunahme
informeller und impliziter Lernprozesse zu beobachten.
Die Verantwortung für den Lernprozess überträgt sich auf den einzelnen Menschen.
Insofern ist ein Wechsel von der Erzeugungs- zur Ermöglichungsdidaktik für diese
selbstgesteuerten Lernprozesse erforderlich.
Der Begriff E-Learning 2.0 wurde im Oktober 2005 von Stephen Downes (Downes
2005) geprägt, der angesichts der technologischen, demographischen und sozio-
kulturellen Veränderungen den klassischen E-Learning-Begriff um zentrale
Charakteristika erweitert sah. Demnach zeichnen sich moderne Lehr-/Lernprozesse
durch eine Rollenverschiebung hin zur Lernenden-Zentrierung aus, die sich auf ein
gemeinsames Wissen stützen und fortan als Gemeinschaft sozial lernen, indem sie sich
ihr Wissen just-in-time/case per Pull-Verfahren heranziehen und weiterentwickeln.
Als Konsequenz erodiert die Verbreitung proprietärer Lehrangebote zugunsten
flexibler, offener Lernangebote (Anja C. Wagner 2006). Und die
Forschungsschwerpunkte der E-Learning-Theoretiker/innen verlagern sich von der
Produktion geeigneter Lehrmaterialien zugunsten der Frage, wie sich professionelle
und nutzergenerierte Inhalte von Lernenden sinnvoll nutzen lassen (Downes 2005).
Solche Überlegungen stoßen auf medienpädagogischer Seite nicht auf große
Beliebtheit, konzentriert man sich dort v.a. auf die Gestaltung von Lehrprozessen
(Reinmann 2010). Als Konzession an solcherlei Bedenken hat sich zwischenzeitlich der
Begriff Learning 2.0 oder Lernen 2.0 durchgesetzt, da er einen Blended-Learning-
Ansatz suggeriert, der mit klassischer Präsenzlehre kompatibel sei. Zwar kann mittels
der Web 2.0-Technologien subjektiv aggregiertes Wissen i.S. des Lebenslangen
Lernens (LLL) konstruktivistisch genutzt und informelle Lernerfolge in formale
Bildungsangebote integriert werden. Aber die „kollektive Intelligenz“ (Levy 1998) der
Weisheit der Vielen (Surowiecki 2007) und die inter-personale Autorenschaften neuer
Medien fordern und fördern leicht zugängliche, offene Materialien, die individuell und
unabhängig vom formalen Bildungsapparat flexibel nutzbar sind (Anja C. Wagner
2006).
Ist bildungspolitisch die Förderung des LLL für die Netzwerkgesellschaft gewünscht,
könnte es sich empfehlen, die Überlegungen der Netzprotagonisten aufzugreifen und
zu analysieren, welche Möglichkeiten der individuellen Stärkung persönlicher
Fähigkeiten notwendig sind, um sich in den Prozess der vielfältigen, inter-subjektiven,
digital vernetzten Lernkultur auch auf informeller Ebene einzubringen.
Im Folgenden sollen drei Konzepte vorgestellt werden, die gegenwärtig den Learning
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 67
2.0-Diskurs prägen: Community of Practice (CoP), Konnektivismus und Personal
Learning Environment (PLE) inklusive ePortfolio. In der anschließenden
Zusammenführung werden diese Konzepte in Bezug gesetzt zum gängigen
Begriffsinventar und den daraus resultierenden Bildungspraktiken.
2.2.5.1 CO M M U N ITY OF PRACTICE
Der von Stephen Downes entwickelte E-Learning 2.0-Ansatz baut auf dem
soziologischen Lernmodell Etienne Wengers auf, den Communities of Practice (CoP)
(Wenger 1999). Mit CoPs sind Gruppen von Menschen gemeint, die ein gemeinsames
Interesse an einem Thema haben, freiwillig miteinander interagieren und aufgrund
ihrer Interaktion lernen, ihren Zugang zum Thema zu verfeinern. Eine Intention, mit-
oder voneinander zu lernen, muss nicht gegeben sein. Vielmehr nnen CoPs rein
zufällig als solche entstehen - ohne Kenntnis der Beteiligten. Gekennzeichnet ist eine
CoP durch gemeinsame Erfahrungen, Geschichten, Tools oder ähnliche
Problemlösungsstrategien, weniger durch eine formale Organisation (Wenger 2006a).
Gleichzeitig sind CoPs die kleinstmögliche analytisch sinnvolle Einheit, die alle
Aspekte des Lebens umfasst, und somit als grundlegende Sozialstruktur dienen kann,
da sie alle Charakteristika einer aufgrund historischer Lernprozesse herausgebildeten
Wechselwirkung zwischen Handlungsstruktur und -trägern aufweist (Wenger 2006b,
15).
Das CoP-Konzept kann in verschiedenen Kontexten angetroffen werden: In der
Geschäftswelt ebenso wie in Organisationen, der Regierung, in Berufsverbänden,
Entwicklungsprojekten und auch im Bildungswesen. Grundsätzlich unterscheiden
kann man CoPs in interne CoPs, CoPs in Netzwerkorganisationen, formale,
organisationsübergeifende Praxisnetzwerke und selbstorganisierte Praxisnetzwerke
ohne formale Verbindungen (Archer 2006, 22ff.). Während CoPs bestehenden
Institutionen eine Komplexitätsebene aufgrund ihrer Peer-to-Peer-Struktur
hinzufügen, gilt es nach Wenger im formalisierten Bildungswesen zu fragen (Wenger
2006b, 15):
Wie könnten formale (Hoch-)Schulpraktiken in den Bildungsinstitutionen mit
fächerübergreifenden CoPs verbunden werden?
Wie könnten Studierende ihre Lernerfahrungen gleichzeitig in größere CoPs
außerhalb der Klassenräume einbringen?
Wie könnten die lebenslangen Lernanforderungen mittels thematisch interessanter
CoPs über den (Hoch-)Schulalltag hinaus an die Interessen der Studierenden
gebunden werden?
Dabei gilt es zu beachten, dass die Struktur einer CoP nicht durch Hierarchie oder
formale Zuweisung einer Rolle (z.B. einer Lernenden-Rolle) entsteht, sondern durch
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 68
die Tätigkeiten der aktiven Personen. Erst indem Personen miteinander interagieren,
aufeinander Bezug nehmen (oder auch nicht), entsteht und verändert sich die CoP-
Struktur. Die modernen Internet-Technologien fördern solche CoP-Initiativen, da sie
eine multiple Erweiterung der Reichweiten ermöglichen (Wenger 2006a). So entsteht
derzeit eine Vielzahl offener CoPs auf der Basis technologisch fundierter Social
Networks, die -professionell genutzt- eine informelle Weiterentwicklung jedes
einzelnen Beteiligten und der gesamten Community ermöglichen.
In seinem Forschungsprojekt „Learning for a small planet“ (Wenger 2006b) entwickelt
Wenger eine soziale Lerntheorie, die stärker auf die Ebene der Sinnstiftung fokussiert
und nicht auf die der Lernmechanismen, deren Erforschung allerdings auch nach
Wengers Ansicht weiterhin von wesentlichem Interesse ist. Sinnstiftung rückt die
Lernerfahrung als zentrale humane Kategorie in den Mittelpunkt des Interesses -
Lernen für das Leben und nicht als theoretisches Konstrukt. Dabei gelte es, die soziale
Lerntheorie von einer Theorie des sozialen Lernens zu unterscheiden: Während erstere
neue Bedeutungen durch ihr aktives gemeinschaftliches Handeln im sozio-kulturellen
Rahmen aushandelt, leitet sich letztere von der These ab, das Lernen erfolge besser in
Gruppen oder anderen interagierenden Kontexten. Für Wenger verändert Lernen
sowohl die Welt als auch den individuellen Bezug zur Welt: Identität entwickelt sich
durch die Teilhabe oder Nicht-Teilhabe in CoPs (ebd., 13). Kompetenzen und Wissen
stellen dabei einen Teil der komplexen Identitätsbildung dar. Nur die heraus gebildete
Identität vermag abstrakte Fähigkeiten und Fertigkeiten sinnvoll einzuordnen und als
Teil einer handelnden Subjektivität zu begreifen (ebd., 21).
Aufgrund der neuen IKT-bedingten Partizipationsmöglichkeiten sind die Kontexte, in
denen Bedeutungen und Identitäten verhandelt werden, für den Einzelnen komplexer
und weitreichender geworden. Konkrete Orte als Treffpunkt und vertrauensvolle
Plätze des Austausches mit anderen vervielfältigen und verflüchtigen sich (Pöysä und
Lowyck 2006). Eine Vielzahl an potentiellen CoPs, die individuell genutzt werden,
führt Sinnstiftung zur einzelnen Person zurück - Identität muss hier individuell
ausgehandelt werden (Wenger 2006b, 15). Gleichzeitig kommt der Teilnahme in
spezifischen CoPs eine Vermittlungsrolle zu, um die Bedeutung großer Strukturen mit
der Identitätserfahrung in diesen Strukturen in Einklang zu bringen (ebd., 15). Eine
Theorie der Identitätsbildung geht in dieser Perspektive nicht vom Individuum aus,
sondern sieht das Individuum als Produkt einer wachsenden Komplexität der
gesellschaftlichen Community-Struktur (ebd., 13).
Die Community-Struktur von sozialen Lernsystemen kann insofern -mit Blick auf die
von Castells fokussierten Kategorien einerseits und auf die gesellschaftliche Ebene
bzw. Identitätsbildung in der Netzwerkgesellschaft andererseits- entlang folgender
Dimensionen analysiert werden:
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 69
Community-
Struktur von
sozialen
Lern-
systemen
... auf gesellschaftlicher Ebene ... zur Identitätsbildung
Skala Community als fragmentierte
Identitätsprojektion:
Communities existieren auf
verschiedenen Ebenen der
Skala - von kleinen, lokalen
Gruppen bis hin zu großen
Schirmorganisationen.
Aufgrund dieser
Fragmentierung der
Lernsysteme kommt es zu
verschachtelten Ebenen der
Verdichtung, die es in ihrer
Wechselwirkung zu
analysieren gilt. Die
Entstehung neuer
Verdichtungsformen weist
ähnliche Strukturen wie
niedrigere Stufen auf,
zuzüglich neuer emergenter
Eigenschaften. Allen
gemeinsam ist Identität als
intrinsische Eigenschaft (ebd.,
16).
Identitäten als skalierbare
Einheit: Identitäten können die
fraktale Struktur der
Lernsysteme transformativ
auffangen, da sie gleichzeitig auf
lokaler und globaler Ebene zu
agieren vermögen. Zudem kann
die Zugehörigkeit zu einer CoP
unterschiedliche Formen
annehmen, die nicht kongruent
zur Identitätsbildung verlaufen
(ebd., 20).
Raum Sozialer Raum als Vielfalt mit
Grenzen: Auf jeder Ebene der
oben angeführten Skala ist
orthogonal der soziale Raum
des Lernsystems mit einer
Vielzahl an Praktiken und
Communities angelegt, die
miteinander interagieren, um
solch ein System zu schaffen.
Identitäten als individueller
Abstimmungsprozess: Multiple
Mitgliedschaften, die es
abzustimmen gilt, sind ein
fundamentales
Identitätsmerkmal (ebd., 20).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 70
Community-
Struktur von
sozialen
Lern-
systemen
... auf gesellschaftlicher Ebene ... zur Identitätsbildung
Vor allem die Lernprozesse an
den Grenzen der CoPs sind
interessante analytische
Momente, da sie sowohl
Ignoranz als auch kreative
Innovation potentiell
beinhalten (ebd., 17).
Zeit Dynamik der Lerngeschichten:
CoPs zeichnen sich durch
eigene Lebenszyklen und
Generationswellen aus.
Gleichzeitig formen sie
weniger kontinuierlich als
dynamisch das größere System
durch ihren spezifischen
Rhythmus der transformativen
oder erneuernden
Veränderungen (ebd., 17).
Teilnahme in CoPs als
Flugbahnen: Die Erfahrung wird
von der Person als über die Zeit
zusammenhängend
wahrgenommen. Es entsteht eine
persönliche Geschichte (ebd.,
20).
Kultur Kultur als Partizipation,
Verdinglichung und
Verhandlung: Sowohl die
konkrete
Partizipationsstruktur als auch
die konkreten Ausgestaltungen
einer CoP bilden zusammen
den Kontext für die beteiligten
Individuen, ihrer Erfahrung
eine Bedeutung geben zu
können (ebd., 18).
CoP-Identitäten als Material für
persönliche Identität: Vielfältige
Diskurse der CoP-Identitäten,
wie sie sich in den Partizipations-
und Verdinglichungsformen
darstellen, versorgen das
individuelle Verständnis der
eigenen Identitätserfahrung mit
Material (ebd., 20).
Macht Macht als Macht als individuelle Kategorie:
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 71
Community-
Struktur von
sozialen
Lern-
systemen
... auf gesellschaftlicher Ebene ... zur Identitätsbildung
Bedeutungsökonomie: Eine
soziale Lerntheorie muss eine
Machtdimension beinhalten,
um die Legitimität und soziale
Wirksamkeit der
Lernerfahrung einordnen zu
können (ebd., 18). Dabei trägt
im Kontext spezifischer CoPs
Erfahrung zur
Kompetenzwahrnehmung bei.
Inwiefern diese Kompetenz
auch in einem breiteren
Kontext als Wissen akzeptiert
wird, hängt von anderen
Faktoren ab. Beide Aspekte
zusammen genommen formen
aber den konkreten
Lernprozess.
Identität als gelernte Erfahrung
der Teilhabe setzt die Fähigkeit
voraus, überhaupt als Akteur
handeln zu können. Die
Anerkennung individueller
Kompetenzen setzt die
Identifizierung mit einer CoP
voraus. Ohne die Akzeptanz
derer Werturteile kann eine CoP
keine Macht über ein Individuum
ausüben (ebd., 21).
Die Dimensionen der Herausbildung einer identitätsstiftenden Sozialstruktur wandern
in dieser Sichtweise von klassischen Identitätsmustern (Nation, Klasse o.ä.) hin zu
komplexen, individuellen Konfigurationsmustern im Rahmen kollektiver CoPs. Das
Raumgefühl als nicht abstrakte Verortung des Geschehens kann nur von innen heraus
verstanden werden. Von außen muss die Abgrenzung nicht deutlich sichtbar sein
(Pöysä und Lowyck 2006). Indem Personen zu Mitgliedern einer CoP heranreifen,
entwickeln sie eine soziale Identität, die einen normativen Rahmen für das individuelle
Lernen entwirft (Brown und Duguid 2002, 138). Im Kontext des CoP-strukturierten
Sozialsystems bedingen sich das Lernen der Individuen und das Lernen der
Gesellschaft (und ihrer Institutionen) wechselseitig. Dieser soziologische Blick zeigt die
Dynamik der gesamtgesellschaftlichen Lernentwicklung auf und rückt die Bedeutung
einer identitätsstiftenden Einordnung der Erfahrungen und die Anerkennung erlernter
Kompetenzen und Wissen in den Fokus. Lernen als nachfrageorientierter,
identitätsformender, sozialer Akt verbindet Menschen miteinander (ebd., 140).
Im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft mitsamt der Dominanz ihrer „weak ties“
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 72
(Granovetter 1973) treten neben die engen Verbindungen im Rahmen von CoPs so
genannte Networks of Practice (NoP), die nicht als Kollektiv agieren, wenig Wissen
produzieren und dennoch einen effizienten Informationsaustausch zwischen ihren
locker verbundenen Mitgliedern ermöglichen (Brown und Duguid 2002, 141f.). Die
sich aus den vielfältigen CoPs und NoPs konfigurierende Topographie der Gesellschaft
lässt Informationen nicht gleichmäßig global über die Netzwerkgesellschaft
schwappen, sondern verteilt sich entsprechend der heterogenen, lokalen Struktur. Die
individuelle Praxis unterscheidet sich dabei je nach Zugang und Intensität der
Beteiligung zu CoPs und NoPs - eine homogene, standardisierte Kultur, sei es
innerhalb von Organisationen oder sei es in der Aus- und Weiterbildung, ignoriert die
individuellen Verbundenheiten in der Netzwerkgesellschaft. So kann die Perspektive
auf eine vernetzte Wissensökologie die Limitationen einer isolierten Einheit
überwinden helfen und Synergien schaffen - es bedarf lediglich kreativer reziproker
Strategien der Verbindung. Indem sich formale und informale Strukturen ergänzen
und praxisorientierte Spontanität mit organisierter Struktur ausgleichen, können z.B.
auch Firmen innovativ wirken, so die These von Brown & Duguid (ebd., 143ff.).
Entsprechend entwickelte John Seely Brown zusammen mit Richard P. Adler eine
Theorie des sozialen Lernens, die Lernen weniger als individuellen denn als sozialen
Prozess analysiert (Brown und Adler 2008).34 Sie zeigen auf, wie von der Open
Educational Resources (OER)- Bewegung über die Prosumer-Qualitäten des Web 2.0
der Weg bereitet wurde zum Social Learning. Zunächst verschiebt sich der Lernfokus
vom WAS (Descartes: „Ich denke, also bin ich“) zum WIE („Wir beteiligen uns, also
sind wir“). Damit einher geht ein Perspektivwechsel:
„This perspective shifts the focus of our attention from the content
of a subject to the learning activities and human interactions
around which that content is situated.“ (ebd.)
Ein weiterer Aspekt des sozialen Lernens: Der Gegenstand wird nicht erst abstrakt
gelernt, um sich dann den sozialen Praktiken der Weiterentwicklung des Gegenstandes
zu widmen - die aktive Aneignung eines Wissensgegenstandes beinhaltet bereits die
soziale Teilhabe. Chris Anderson hat es im eCommerce-Bereich bereits demonstriert:
Nischenprodukte rechnen sich über den sog. langen Schwanz (The Long Tail) der
Einkommensgenerierung (Chris Anderson 2007). Brown und Adler übertragen diese
Analysen auf den Lernsektor. Während (Hoch-)Schulen nur einen begrenzten
Themenkatalog vermitteln können, stehen im Internet nahezu unbegrenzte
Materialien zum ständigen Abruf bereit. Eine Kompetenz besteht nun darin, diese
Wissensnischen zu finden, um sich dort zu informieren und einzubringen:
„Finding and joining a community that ignites a student’s passion
can set the stage for the student to acquire both deep knowledge
34 Bereits früher in meinem Blogpost zusammengefasst und hier übernommen (Anja C. Wagner 2008).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 73
about a subject („learning about“) and the ability to participate in
the practice of a field through productive inquiry and peer-based
learning („learning to be“). These communities are harbingers of the
emergence of a new form of technology-enhanced learning -Learning
2.0- which goes beyond providing free access to traditional course
materials and educational tools and creates a participatory
architecture for supporting communities of learners." (Brown und
Adler 2008)
Genau diese Kompetenz gelte es zu begleiten bzw. zu vermitteln. Als Vorschlag führen
die beiden Autoren sog. reflektierende Praktika an. Der neue nachfrageorientierte
Lernansatz bemüht sich, Leidenschaften bei Lernenden zu provozieren, die sie in die
Lage versetzen, Begehrlichkeiten zu entwickeln, Teil einer bestehenden Community of
Practice zu werden. Genau dabei sollten Bildungseinrichtungen mitwirken - diese
Kompetenzen zu entwickeln. Als weiteres Beispiel einer innovativen CoP kann nach
John Hagel und John Seely Brown das Multiplayer-Spiel World of Warcraft (WoW)
begriffen werden. Kein Trainingsprogramm oder Workshop vermöge ein
vergleichbares individuelles Engagement provozieren - zudem können
Transfersessions nur vorhandenes Wissen vermitteln und kein innovatives generieren.
In WoW sammeln die Spieler/innen dagegen Erfahrungspunkte, die sie für höhere
Spielstufen qualifizieren. Komplexität und Hersausforderung wachsen mit jedem
Spiellevel - ohne dass ein Trainingsprogramm die Spieler/innen qualifizieren müsste
(Hagel und Brown 2009). Da WoW sich als Wissensökonomie mit einer expansiven
Collaboration Curve als erfolgreiches Beispiel eines Creation Spaces anbiete, können
auch Manager/innen von diesen Prinzipien lernen (Hagel, Davison, und Brown 2010,
133 ff.). Dieses Potenzial hat z.B. IBM erkannt, dessen weltweiter Chef der Spiele- und
Interaktives-Entertainment-Abteilung in einem BBC-Interview die Lernerfolge
aufgrund von WoW-Aktivitäten betont (Shiels 2008).
Zusammengefasst handelt es sich bei CoPs und NoPs um tatsächliche
Vernetzungsformen, die in vielen gesellschaftlichen Bereichen bereits praktiziert
werden. Innerhalb dieser Strukturen vollzieht sich ein soziales Lernsystem, das
identitätsbildend wirkt und sich damit auch auf sämtliche konstituierenden Elemente
der Netzwerkgesellschaft auswirkt. Das Lernen in vernetzten Systemen entwickelt sich
zum wichtigen Impuls, um im „digitalen Klimawandel“ überleben zu können.35
2.2.5.2 KONNEKTIVISMUS
Klassische „Lernparadigmen“ (Künkler 2011, 39) wie Behaviorismus, Kognitivismus,
Konstruktivismus oder Neurowissenschaften fokussieren auf den „Mensch als Subjekt
des Lernens“ (ebd., 20). Diese explizite oder implizite individualtheoretische
35 Vgl. hierzu auch die aktuellen Forschungen von Künkler zum „Lernen in Beziehung“ (Künkler 2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 74
Fokussierung vermag das grundsätzlich relationale Verhältnis des „Lernens“ als
„radikales Beziehungsgeschehen“ (ebd., 25) im „Zwischen (…) zwischen sich, Anderen
und anderem“ (ebd., 568) schlecht zu greifen. 36 Einen etwas anderen, der
Netzwerkgesellschaft ggf. etwas angemesseren, analytischen Zugang ermöglicht die
von George Siemens entwickelte Connectivism-Lerntheorie (Siemens 2004), die von
manchem Kritiker nicht als Theorie denn eher als didaktische Methode bezeichnet
wird (so z.B. Kerr 2007; Verhagen 2006).
Inhaltlich baut Konnektivismus auf dem radikalen Konstruktivismus auf, geht aber
davon aus, dass Wissen sozial generiert wird, also sich in einem Netzwerk von
Menschen, Institutionen, Communities und medialen Inhalten -technologisch
unterstützt- organisiert. Die Kunst des individuellen Lernens besteht darin, dieses
verteilte Wissen für die persönlichen Belange urbar zu machen und konstruktiv
einzubinden. Lernen entsteht in diesem Verständnis durch den Aufbau von neuralen,
konzeptuellen und sozialen Verbindungen - zu anderen Personen, zu Inhalten, zu
anderen Hirnregionen und Zusammenhängen. Und durch die Aktivität eines solch
vernetzten Lernens entwickelt sich die Menschheit - sowohl individuell als auch sozial.
„The starting point of connectivism is the individual. Personal
knowledge is comprised of a network, which feeds into organisations
and institutions, which in turn feed back into the network, and then
continue to provide learning to individuals. This cycle of knowledge
development (personal to network to organisation) allows learners to
remain current in their field through the connections they have
formed.“ (Siemens 2004)
In diesem fließenden Umfeld bewegen sich die lernenden, wissenden oder
informierenden Menschen, bilden sich weiter und entwickeln neue Zusammenhänge.
Der Lernfokus befindet sich hier im Orkus des WIE („Wir partizipieren, also sind wir“).
Lernen entwickelt sich in dieser Perspektive weg von einer individualistischen
Aktivität und hin zu einer sich stetig wandelnden, an die aktuellen Anforderungen
angepassten systemischen Notwendigkeit. Die Individuen werden in Bezug zur Welt
gesetzt, wobei -gemäß dem Gesetz des Netzwerkes- nicht die einzelnen
Netzwerkknoten entscheidend sind, sondern die Beziehungen zwischen diesen,
prinzipiell austauschbaren Knoten.
Hinzu kommen die technologiebedingten, kollektiven Charakteristika der Web 2.0-
Kollaboration: Kollektive Systeme wie Tagclouds, PageRank, Empfehlungen o.ä.
erfordern kein kollektives Commitment seitens der Individuen, die mittels ihrer
Aktionen im Web 2.0-basierten, sozio-kulturellen, virtuellen Raum Aggregationen an
36 Wie bereits in mehreren Fußnoten angemerkt: Das Buch von Künkler erschien erst kurz vor Fertigstellung
dieser Arbeit und seine Analyse konnte nicht mehr breit aufgegriffen werden. Gleichwohl bietet sie einen
Ansatz, der sich gut in die Sichtweise der hier verfolgten Fragestellung einreihen lässt. Von daher wurde an
der ein oder anderen Stelle eine kurze Referenz zu seiner Untersuchung hinzugefügt.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 75
Daten ermöglichen. Sowohl aktive wie passive Nutzer/innen tragen mit ihren
Datenspuren zur Intelligenz der Daten bei - die Individuen kollaborieren ohne
bewusste Teilnahme. Gleichzeitig sind Kollektive ein sichtbarer Einstiegspunkt zu
normalerweise weniger sichtbaren Netzwerken und Gruppen, in denen klassisches
soziales Lernen stattfindet (Dron und Terry Anderson 2008).
Wissen kann in dieser Perspektive nicht mehr als Lernobjekt mit klaren Konturen,
weder in Form einer medialen Abbildung oder in Gestalt einer Person, verstanden
werden. Vielmehr wird es als sich ständig erweiterndes, entwickelndes, durch die
beteiligten Netzwerkknoten und deren kollektive Beziehungsstruktur sich
kontinuierlich veränderndes soziales Wissen erfahrbar. Die individuelle Lernerfahrung
entspricht hier nicht einer Lernentwicklung in vorgegebenen, sequentiellen Schritten,
sondern diese wächst dem Netzwerk entsprechend mit. Lernen wird zur emergenten
Erfahrung durch die Interaktion mit anderen und die persönliche Verknüpfung
unterschiedlicher Konzepte. Lernen kommt also dem Aufbau und Gebrauch von
Verbindungen gleich. Der von Stephen Downes ausgerufene Vierschritt „Filter - Re-
Purpose - Re-Mix - Feed Forward“ (Downes 2004) symbolisiert den kontinuierlichen
Wandel des individuellen wie kollektiven Wissens. Vernetztes Wissen meint in diesem
Kontext beides: Sowohl das Wissen um relevante Netzwerke in der Welt, als auch das
Wissen, das durch diese Netzwerke erlangt wird (Downes 2008)
Indem jede/r Lernende aus einem Wissensmeer -bedingt durch vielfältige persönliche
Verbindungen- die für seine Fragen wichtigen Inhalte selektiert, diese aus dem
Zusammenhang reißt, als subjektives Mosaik verschiedener Inhaltsfragmente wieder
in möglicherweise neue Zusammenhänge einfügt und dieses Ergebnis qua
Veröffentlichung dem sozialen Wissen wieder zuführt, entsteht ein produktiver
Kreislauf. Wird dieser Kreislauf zum Prinzip erkoren, generiert sich eine kollektive
Fülle an neuem Content, der begleitet wird durch eine vielfältig diskursive
Kommunikationskultur und somit einer Explosion an Lernerfahrungen gleichkommt.
„We need to let go of the notion that we can know a field in its
entirety. All knowledge is in the connections - how we’ve connected
concepts and how we are connected to other people and sources of
information. To know is to be connected.“ (Siemens 2008a)
Im Gegensatz zu anderen Lerntheorien, die Wissen als mögliche, teilweise
transferierbare Aussage verstehen, entsteht Wissen im Konnektivismus als Ensemble
von expliziten, informellen und impliziten Verbindungen, das durch Aktivitäten und
Erfahrungen geformt wird. In diesem Verständnis kann Wissen nicht vermittelt
werden, sondern wird erst durch die Aktivität generiert. Personalisiertes Lernen
geschieht im Konnektivismus-Ansatz nicht durch Modularisierung, sondern durch ein
reduziertes Regelwerk, das die Autonomie der Lernenden innerhalb der vernetzten
Umgebung stärkt (Downes 2007). Vorgegebene Lernräume würden hier dem
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 76
tatsächlichen Netzwerklernen in komplexen, chaotischen und sich verändernden
Räumen einen Riegel vorschieben. Vielmehr stellen nicht-lineare Lernumgebungen
mit authentischen und problem-basierten Lernprozessen eine logische Folge dieser
komplexen Welt dar, die nicht auf Kausalitäten beruht (Phelps 2003). Inwiefern
didaktisches Design überhaupt selbstorganisiertes Lernen in vernetzten Gruppen und
Gemeinschaften befördern kann, bleibt fraglich. Eine Möglichkeit wäre es, Lehrende
als Enabler zu verstehen (Reinmann 2010, 105). Eine andere Variante wäre die der
Lehrenden als Vermittler, die aufzeigen, wie gängige Tools sinnvoll genutzt und in
reflexiven Kontexten eingeordnet werden können (Siemens 2008c). Siemens sieht
auch die Möglichkeit für Instructional Designer gegeben, weiterhin einzelne
Inhaltebausteine, Interaktionen und die gesamte Lernökologie (Siemens 2007)
gestalten zu können - allerdings auf Basis einer komplexen Analyse (Siemens 2008b):
1. In der Kontext-Analyse müsste der herrschende Stil der kollektiven
Lernentwicklung identifiziert werden, um Menschen und Inhalte in Beziehung
setzen zu können.
2. Ergebnis der Content-Analyse (welche OER existieren oder entstehen bereits) wäre
das konkrete Design einer geeigneten Lernökologie und möglicher
Netzwerkverbindungen.
3. Bei der Zielgruppen-Analyse gilt es zu bedenken, dass persönlich verwendbares
Lernen gewisse Fähigkeiten und Prozesse erfordert, um die Lerninhalte individuell
anpassen zu können.
4. Ein iterativer Gestaltungsprozess auf der Basis evaluierender Usability-Analysen
sei erforderlich, um die tatsächlichen Verbindungen und Zugriffe abzubilden.
Eine Zusammenfassung der dem Konnektivismus inhärenten Implikationen könnte
lauten:
Aufgrund der aktuellen, komplexen und chaotischen Netzwerkgesellschaft
verschieben sich die Machtverhältnisse. Jedem Menschen steht es grundsätzlich
offen, sich einzubringen in die Definition der Netzwerkziele und -methoden.
Lediglich die Voraussetzungen des Einzelnen zur Teilhabe am Netzwerk müssen
gewährleistet sein.
Wissen ist ein dynamischer Prozess. Insofern muss Wissen fliessen - frei, offen,
unabhängig, katalysiert durch die Menschen.
Menschen müssen lernen, Verbindungen (zu Menschen, Inhalten, Themen,
Netzwerken etc.) zu schaffen, um just-in-time/case darauf zugreifen zu können. Auf
die Informations- und Kommunikationstechnologien kann unterstützend
zugegriffen werden, da diese sui generis eine Vernetzungskomponente aufweisen.
Das Bildungssystem muss und kann an die modernen Anforderungen angepaßt
werden - mit radikalen Veränderungen für die Lernökologie, die sich vom
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 77
Klassenraum lösen wird. Entsprechend verändert sich die Rolle der Lehrenden.
2.2.5.3 PERSONAL LEARNING EN VIR O N M E NT & EPOR T F O L IO
Personalisierungen von Lernumgebungen sind seit dem Aufkommen digitaler
Technologien ein ersehntes Ziel bildungspolitischer wie didaktischer Maßnahmen. Mit
den webbasierten Potentialen des individuellen Zuschnitts überschlug sich die
Schrittfolge der pädagogischen Befreiung zur persönlichen Autonomie: Von den eher
behaviouristischen Ansätzen des Web based Trainings (WBT) über die
kognitivistischen Content-Delivery-Ansätze der Learning Management Systeme
(LMS) als E-Learning 1.0 und konstruktivistischen Kommunikations- und
Kollaborationsplattformen der Online-Lehre in Virtual Classrooms oder Blended-
Learning-Ansätze mittels Projektarbeit bis zu den Learning 2.0-Aktivitäten des
Zeitalters der Social Software (Gonella und Pantò 2008).
Im Kontext des Learning 2.0 rankt sich die Diskussion um die Frage, wie konkrete
Lernformen ausschauen können, von zwei verschiedenen Wurzeln aus. Zum einen
existiert eine institutionalisierte Sichtweise auf das Sujet, um seitens des Lehrdesigns
einen zeitgemäßen, systemischen Zugang zu Lernmaterialien und -interpretationen zu
ermöglichen - dies ist der Bereich der Virtual Learning Environments (VLE), die sich
gerne als Online-Umgebung für Personal Learning Environments (PLE) verkaufen.
Auf der anderen Seite hat sich eine Sichtweise etabliert, die eine eher individualistische
Perspektive aufwirft und das Lerndesign an die Lernenden heftet - also wahrhaft
persönliche PLEs.
2.2.5.3.1 PERSONAL LEARNING ENVIRONMENT
Übergreifend kann ein PLE definiert werden als (e-)Learning-System einer einzelnen
Nutzerin, das Zugriff auf eine Vielzahl an Lernressourcen ermöglicht und ggf. auch
einen Zugang zu anderen Lernenden und Lehrenden, die andere PLEs oder VLEs
nutzen (Harmelen 2006). Ein PLE ist demnach eher ein technologisches Konzept, das
Funktionalitäten beschreibt, die in ihrer Kombination geeignet sind, als
Lernanwendung die jeweilige Person in ihrer Wissens- und Kompetenzerweiterung
aktiv zu unterstützen (Schaffert und Kalz 2009, 6f.). Es geht v.a. um die medialen
Werkzeuge, die den Lernprozess und das Wissensmanagement des Einzelnen
unterstützen helfen. Neben der Konzentration auf die konkrete Technologie steht die
Person im Mittelpunkt des Lernprozesses - und das temporäre (Lern-)Ergebnis
integriert sich in einen kollaborativen Prozess der Wissenskonstruktion (Attwell
2009). Der Begriff des Persönlichen beschreibt dabei die individuelle Gestaltung, den
privaten Zugang zum PLE als Privateigentum und die Kontrolle über die persönlichen
Daten (Schaffert und Kalz 2009, 7). In dieser Sichtweise existieren verschiedene
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 78
prototypische, technologische Realisierungen, die von einer Service-Integration in
vorhandenen Lernumgebungen über integrierte Oberflächen in Form persönlicher
Portale bis hin zum PLE als Framework reichen (ebd., 8ff.). Diese institutionalisierten
Realisierungen repräsentieren nicht nur unterschiedliche technologische Ansätze,
sondern resultieren aus divergierenden Ansichten auf verschiedenen Ebenen. Für
deren Analyse hat Harmelen eine komplexe Taxomonie entworfen (Harmelen 2006):
1. Auf der Ebene der Personen unterscheiden sich die Ansätze hinsichtlich ihrer
pädagogischen Ausrichtung, der Kollaborationsfähigkeit, des Systemansatzes
(geschlossen vs. offen), der Gestaltbarkeit (Personalisierung vs. Templates) und
der Lernkontrolle.
2. Auf der Ebene der Verbindungen divergieren die Ansichten zwischen ein- und
mehrdimensionalen Austauschformaten zwischen PLE und Institution(en),
zwischen Server-, Hybrid- oder Peer-to-Peer-Zugriff, zwischen Online- und/oder
Offline-Nutzung, der Frage des Plugin-Einsatzes und den Fragen rund um die
Content- und Anwendungskompatibilität.
3. Auf der Ebene der Plattform ist die Frage, welcher Grad an Mobilität erreicht bzw.
unterstützt werden soll.
Werden PLEs als Resultat eines didaktischen Designs seitens der Lehrenden an
Lernende herangetragen und mittels einer technologischen Realisierung
vorkonfiguriert, schwingen darüber hinaus bestimmte pädagogische Prämissen mit.
Implizite Grundlage einer systemisch bereit gestellten, persönlich adaptierbaren VLE-
Lernumgebung können höchst unterschiedliche Annahmen sein (Wild, Mödritscher,
und Sigurdarson 2008, 2):
Nicht nur professionelle Lerninhalte sollten gelernt werden, sondern auch
Lernmethodiken.
Die vernetzte Lernumgebung sollte nicht eine gestaltete Vorgabe des Instructional
Designers sein, sondern als Ergebnis eines kollektiven Lernprozesses entstehen.
Ein Netzwerk bildet Verhaltensstrukturen aus, die unvorhersehbar sind - ein
offenes Design sollte solche Entstehungsprozesse ermöglichen.
Aus Sicht des Individuums stellt sich dieser VLE-Kontext dann als primär
technologische PLE dar, die sich in sieben Punkten von Lernmanagement-Systemen
(LMS) unterscheidet und als pädagogische Herausforderungen des Wandels begriffen
werden muss (Schaffert und Hilzensauer 2008, 3f.):
1. Selbstorganisation der persönlichen „Lern-“Umgebung ist Voraussetzung zur
persönlichen Entwicklung zum Prosumer;
2. Medienkompetenz ist Grundvoraussetzung, um eine individuelle Sicht zu
entwickeln;
3. E-Kompetenz ist notwendig, um sich in den virtuellen Umgebungen aktiv bewegen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 79
zu können;
4. Community-Bildung und Kollaboration sind Voraussetzungen, um an den sozialen
Errungenschaften teilhaben zu können;
5. Urheberschaften wandeln sich - Datensicherheit und geistiges Eigentum sind neu
zu definieren;
6. Wandel der Lernkultur erfordert neue Selbstbestimmungs- und
Selbstorganisations-Konzepte;
7. LMS und Social Software sollten miteinander verknüpfbar sein.
Inwiefern dabei ein PLE seitens der „Lernenden“ als explizite LERNumgebung
bewusst wahrgenommen werden muss, die inhaltlich bestimmten Lernanforderungen
genügt und spezifischer, örtlich zugänglicher Personen zur bewusstseinsfördernden
Orientierung bedarf (Schulmeister 2009), sei an dieser Stelle in Frage gestellt.
Vielmehr ist -wie im Kapitel Informelles Lernen beschrieben- auch nicht-intentionales
Lernen als informeller Lernprozess in selbst gestalteten PLEs denkbar, wenn z.B.
Lernepisoden nachträglich definierbar sind oder gar beiläufig geschehen. Über
vernetzte Strukturen liessen sich dabei sehr wohl flexible, auch rein virtuelle,
zwischenmenschliche, mediale Diskursstrukturen aufbauen.
Grundsätzlich gilt es abzuwägen, ob institutionalisierte VLE-Umgebungen zur
Förderung von PLEs ein geeigneter Weg sind, um die individuellen
Nutzungspräferenzen und persönlichen Umgebungen aus dem Freizeit- und
Arbeitskontext lerntechnologisch konstruktiv einzubinden. Im webbasierten Netzwerk
bildet sich bereits ein individuelles PLE ausserhalb der Institutionen emergent aus, das
zunächst keiner didaktischen Führung bedarf. Lediglich bei der reflexiven
Organisation des Lernens -auf der Basis von Informationen, Wissen, Kompetenzen
oder Expertise- können pädagogische Erfahrungswerte zur Gestaltung und Nutzung
persönlich gestalteter Umgebungen unterstützend wirken. Ob dafür aber ein
vorkonfiguriertes PLE erforderlich ist, bleibt mehr als fraglich.
2.2.5.3.2 EPORTFOLIO
Ein Segment des PLEs wird seit 2003 unter dem Stichwort ePortfolio diskutiert.
„An e-portfolio is the product, created by the learner, a collection
of digital artefacts articulating experiences, achievements and
learning.“ (Gray 2008, 6)
Aufgrund der vielfältigen medialen Möglichkeiten, digitalen Konvergenzen und
geringeren technologischen Hürden können heute von vielen Menschen persönliche,
digitale Artefakte erstellt werden, die -für diverse Disziplinen relevant- ein
facettenreiches Bild einer Person entwerfen helfen. ePortfolios sind insofern eine
Möglichkeit, eine Kontinuität der Lern- und Arbeitsprozesse über Zeit, Raum und
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 80
Curriculum hinweg zu dokumentieren. Sie können institutionell angestoßen oder
eigenmotivational initiiert werden, um die entwickelten Kompetenzen
selbstreferentiell zu diskutieren oder sich einer öffentlich gelebten, externen
Evaluation zu unterziehen (Carmean und Christie 2006, 34f.). Damit kann ein
ePortfolio auch als Feedback-Katalysator mit institutionellen Begleitern oder
Gleichgesinnten fungieren, um sich selbst zu hinterfragen und ggf. weiterzuentwickeln
(Greenberg 2004, 28). Von daher weist das ePortfolio-Konzept drei Ebenen auf:
Zunächst die Fokussierung auf studierenden-zentrierte Lern- und Reflexionsprozesse,
dann das institutionelle Monitoring des Lernfortschritts und Endprodukts; schließlich
die Karriereplanung und der Aufbau eines repräsentativen Lebenslaufes (Tosh und
Werdmuller 2004, 1).
Eine Möglichkeit, diesen Prozess technologisch abzubilden, stellen Weblogs als
Aggregator dar, da sie sich als dynamisches Reflexionsinstrument mit
Kommentarfunktion für den Einzelnen und aufgrund ihrer RSS-Fähigkeit für die
Allgemeinheit gut eignen und gleichzeitig außer-institutionelle Aktivitäten abzubilden
vermögen (Tosh und Werdmuller 2004). Doch neben den technologischen
Rahmenbedingungen bedarf es einer gewissen Motivation, sich der Abbildung des
eigenen Entwicklungsprozesses auszusetzen. In der Forschung herrschen
unterschiedliche Ansichten vor, ob ein ePortfolio eine kohärente Präsentation
aussagekräftiger Materialien gegenüber einem Publikum sei oder eher ein System oder
Repository, aus dem sich das Publikum seine Inhalte frei wählen könne (Grant 2005,
1). Und unter Bildungsgesichtspunkten stellt sich die Forschungsfrage entweder aus
Sicht einer Instructional Design-Strategie oder als Reflexionsinstrument für die
Lernenden (Barrett 2005, 2): Je nach Angelpunkt der Perspektive -sei es aus Sicht der
Lehrenden oder der Lernenden- gestaltet sich der Freiraum, der in Bezug auf die
Gestaltung der individuellen Lernumgebung gewährt wird.
Welcher Bedingungen bedarf es, um erfolgreiche Reflexionsprozesse anzustossen?
Grundsätzlich lassen sich die Lerngelegenheiten, die Zeit, die Motivation der
Lernenden und die Unterstützung bei den Reflexionsprozessen als wesentliche
Kriterien identifizieren (Rohs 2008, 178). Entlang des von Kolb entworfenen
erfahrungsgesättigten Lernzyklus (siehe Abbildung 1) kann aufgezeigt werden, wie ein
selbstbestimmter ePortfolio-Prozess mittels Dialog und Kollaboration vonstatten
gehen kann (Gray 2008, 9). Eine konkrete Erfahrung bildet den Ausgangspunkt für
Lernende, die Erfahrung zu beobachten und aktiv zu reflektieren, sie mit abstrakten
Begriffen in den Wissensprozess einzubinden und schließlich das reflektierte Wissen
experimentell im öffentlichen Rahmen zu erproben. Die Interaktion zwischen digitalen
Artefakten, Institutionen, Lehrenden, Mit-Lernenden, ArbeitgeberInnen und
KollegInnen lässt hier eine Lerngemeinschaft entstehen.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 81
Beim (e)Portfolio-Ansatz greifen demnach zwei zentrale Sozialtechniken:
„(...) die Selbstdarstellung zur Fremdbeurteilung und die Erhöhung
der Selbstreflexivität zur Selbststeuerung“ (Reichert 2008, 117).
Kann ein auf das Subjekt zurückgeworfenes Portfolio-Assessment eine gewünschte
Alternative zu traditionellen Lehr-/Lernmodellen aufzeigen? Diese Frage wird oftmals
als eine der Einbindung in formale „Humankapital“-Prozesse und damit eine der
Standardisierung von Bewertungskriterien diskutiert (ebd.). Bildungspolitisch
gewünscht ist das ePortfolio als Kompetenzentwicklungsmethode, um die avisierten
Lissabon-Ziele und des Bologna-Prozesses zu erreichen bzw. das LLL zu unterstützen.
„Pädagogisches Ziel des ePortfoliokonzeptes ist die Förderung
individueller Fachkompetenzen, persönlicher
Lernstrategieentwicklungskompetenz und Selbstorganisationskompetenz
durch Einbezug von Lernergebnissen, aber auch der
Lernprozessdokumentation, Reflexion und metakognitiver
Auseinandersetzungen mit der eigenen Lernleistung. Vom Einsatz
dieses Lehr-/Lernkonzepts wird erwartet, dass Lernende in der
ganzheitlichen Entwicklung ihrer Kompetenzen, in der Erweiterung
ihrer praktischen Handlungsfähigkeit sowie in der Dokumentation
ihrer Lernergebnisse besonders gut unterstützt werden.“ (Hornung-
Prähauser u. a. 2007, 127)
Inwiefern dieses bildungspolitische Ziel aber mittels der Vorgabe standardisierter,
didaktischer ePortfolio-Werkzeuge erreicht werden kann, ist fraglich, da damit nicht
gleichzeitig die Selektion durch Prüfungen im Bologna-Prozess hinterfragt wird
(Reinmann und Sippel 2009). Denn wie kann man ePortfolios bewerten?! Auch gilt es,
Abbildung 1: Quelle: Gray 2008, S.11
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 82
eine analytische Unterscheidung des Bewertungszieles vorzunehmen: Wird lediglich
der bisherige Lernstand formal katalogisiert oder der daraus folgende, perspektivische
Lernprozess aufgezeigt? In letzterem Fall werden die Lernenden selbst mit einbezogen
und es stellt sich die Frage, wie die intrinsische Motivation zur lebenslangen Führung
eines ePortfolios in den institutionellen Instanzen unterstützt werden kann. Die
ePortfolio-Forscherin Helen Barrett entwickelte die These, dass mit zunehmender
Lernenden-Kontrolle über den Lernprozess und die Lernziele die intrinsische
Motivation steigt (Barrett 2005, 15ff.). Aber auch eine Weiterentwicklung des
institutionalisierten ePortfolio-Ansatzes könnte diesen Prozess unterstützen: Die
Diskussion eines (über-)lebenslangen persönlichen Internet-Speicherplatzes i.S. eines
„Memex“ (Bush 1945), der als Netzwerkknoten es von Geburt an erlaubt, persönliche,
soziale, berufliche und bildungsrelevante Systeme miteinander zu verbinden. Helen
Barrett fordert eine Re-Konzeptualisierung des ePortfolio-Eigentums zugunsten eines
persönlichen, lebenslangen Digital Archive-Ansatzes, der alle formalen wie
informellen Artefakte beinhaltet (Barrett und Nathan Garrett 2008). Ob allerdings die
Menschheit für diese Entwicklung bereits geeignete sozio-kulturelle
Rahmenbedingungen geschaffen hat, um das nötige Vertrauen aufbauen zu können,
muss zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl bestritten werden (vgl. dazu später die
Ausführungen zur interkulturellen Software des Geistes).
2.2.6 ZWISCHENFAZIT: LE R N E N IN DE R
NETZWERKGESELLSCHAFT
Der Bildungsdiskurs bewegt sich bis heute in einem (idealistischen)
Interessenkonflikt: die Erziehung des Menschen zum sozialen Wesen zugunsten eines
normativen, gesellschaftlichen Zustands oder die Bildung jeder einzelnen Person zum
Mensch als soziales Wesen. An dieser Bruchstelle kann analytisch die deutschsprachige
Unterscheidung zwischen Bildung und Erziehung angesiedelt und ein differierender
Lernbegriff identifiziert werden. Weltweit konzentrieren sich die aktuellen
Diskussionen auf eine formal fundierte Verbindung von Erziehung und Bildung.37
Leben-Lernen und Lernen-Lernen tragen in diesem Kontext lediglich eine
Bildungsforderung an das Individuum heran, sich diesem möglichst formal zu
sanktionierenden Lernerfolg zu unterwerfen. Informelle Lernprozesse werden als
solche zwar anerkannt, aufgrund ihrer schwierigen Messbarkeit aber gerne in formale
Kontexte eingebettet.
Zugleich hat sich ein Bildungsexport bzw. ein Studierenden-Import materialisiert, der
massive sozio-ökonomische Interessen stützt. Zum einen stellen nationale Studierende
eine zentrale Ressource für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt dar; zum anderen
37 In der englischen Sprache trifft gar der „education“-Begriff keine Unterscheidung zwischen Bildung und
Erziehung.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 83
dienen internationale Studierende als zusätzliche Einnahmequelle und zukünftiger
Anker in ihren Heimatländern. Die akademische Vernetzung ist eine treibende Kraft
nationaler Bildungspolitiken, die sich in weltweit gültigen Bildungsnormen
niederschlagen und auf Handelsreise gehen.
In diesem Kontext sollten auch die E-Learning-Aktivitäten der Bildungsinstitutionen
eingeordnet werden. Angesichts der globalen Wettbewerbsbedingungen wetteifern v.a.
die Hochschulen um die internationalen Studierenden. Die Lernräume werden global
ausgedehnt, ohne aber den eigentlichen, physischen Bildungsort in Frage zu stellen.
Ein Kampf um die Deutungshoheit des klassischen Erziehungsgedankens bei
gleichzeitiger Erweiterung der Distributionswege in den globalen Raum eröffnet neue
Potenziale. Indem einerseits die Forderung nach lebenslangem Lernen erhoben wird
und gleichzeitig internationale Zeitzonen angesprochen werden, resultiert diese Logik
in der Auflösung zeitlich sequentieller Einheiten. Die ursprünglich an den Lernraum
gekoppelte Lernzeit wird flexibilisiert und der Bildungsort über die Lernumgebung in
den virtuellen Lernraum verlängert.
Diese bildungspolitische Praxis korrespondiert mit einer informellen Lernrealität, die
vom bildungstheoretischen Diskurs auch anerkannt wird: Das theoretische
Bildungsverständnis transformiert sich vom Lernen im geschützten Raum und auf
Vorrat für zeitlich folgende Räume zum alltäglichen, raum- wie zeitübergreifenden,
informellen Lernen. Als Schlussfolgerung könnte man theoretisch ableiten, die
bildungspolitische Praxis an diesen neuen Realitäten auszurichten und neue
Lernkontexte zu fördern. Stattdessen werden in der Praxis öffentliche Hochschulen zu
Bildungsindustrien modelliert, damit diese auf dem globalen Markt um die Talente
konkurrieren. Und deren Geschäftsmodelle bauen auf formalen Strukturen auf, so dass
seitens des (supra-)national begründeten Diskurses eine Notwendigkeit
heraufbeschworen wird, auch informelle Ansätze formal einzubinden. Dabei wandeln
sich die diskutierten Lerninhalte vom Wissen mit wenig Halbwertzeit zur Methodik
zwecks Aufbau langfristig wirkender Kompetenzen zum Zwecke des
nationalökonomischen „Aufschwungs“. Inwiefern aber diese „Standort“-begründeten
Argumentationen zeitgemäß sind angesichts einer globalen Netzwerkgesellschaft,
bleibt mehr als fraglich.
„Neue“, informellere Lernkontexte rücken zusehends in den Blickpunkt aktueller,
unabhängiger Forschungen. Welchen Beitrag diese für „modernes“ Lernen in der
Netzwerkgesellschaft leisten können, soll hier kurz diskutiert werden:
Klassische Netzwerkanalysen definieren ihr Studienobjekt als eher geschlossenes
System mit einer klaren Zielsetzung, das zwar regelmäßig neue Mitglieder aufnehmen
kann, aber um stärkere Bindungen zwischen seinen Mitgliedern entstehen zu lassen,
ein gemeinsames Ziel benötigt - sie gehen damit einher mit dem typischen Community
of Practice (CoP)-Ansatz. Netzwerke mit schwachen Verbindungen rücken dagegen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 84
langsam in den Fokus der Forschungen - der Networks of Practice (NoP)-Ansatz
erlangte erst im Zeitalter der neuen informellen Medien breitere Aufmerksamkeit (vgl.
z.B. Terry Anderson 2009).
Mit der zunehmenden Komplexität von Produkten, Dienstleistungen und Prozessen in
der Netzwerkgesellschaft und der daraus resultierenden Spezialisierung bei
gleichzeitiger Notwendigkeit, kollaborativ zu arbeiten und Wissen zu teilen, hat sich
das CoP-Konzept v.a. in Business-Kreisen zu einem viel diskutierten Ansatz des
modernen Wissensmanagements entwickelt (Archer 2006, 21f.). Der CoP-Ansatz wird
gerne genutzt, um (möglichst erfolgreiche) Communities aufzubauen und eine
lebendige Kultur von außen zu entwickeln. Nicht als emergente Entwicklung, sondern
als gestaltete Gemeinschaft. Auch Etienne Wenger verfolgt diesen Weg, indem er Wege
zum Aufbau einer CoP und Strategien zur Navigation durch CoPs aufzeigt - aus Sicht
sogenannter Stewards (Wenger 2008).
In der Netzwerkgesellschaft fungieren CoPs in ihrer Gesamtkonfiguration als
Netzwerkknoten für das große, weltumspannende Sozialsystem. Die internen Prozesse
einer CoP verbinden Individuen in dem konkreten Netzwerk, nicht aber zwangsläufig
die Individuen mit der Welt. Der auf Wenger zurückzuführende CoP-Ansatz kann im
Sinne der klassischen Netzwerkforschung zur Analyse des sozialen Zusammenhalts
und der Rahmenbedingungen für soziales Lernens genutzt werden. Das Analyseziel
fokussiert dabei v.a. auf die Lernprozesse der Community. Individuen dienen mit
ihrem Wissensbestand als funktionale Zuträger von sozio-ökonomisch oder sozio-
kulturell erforderlichem Knowhow. Die individuellen Lernprozesse zielen insofern auf
die Optimierung des Wissensstandes für die Community.
Demgegenüber ist Siemens' Connectivism-Ansatz eher mit Castells' Meta-Analyse der
Netzwerkgesellschaft vergleichbar, indem Individuen, CoPs und auch mediale
Artefakte als Netzwerkknoten betrachtet werden. Aber nicht nur die
Netzwerkforschung ist hier im Blick, sondern der Ansatz beinhaltet auch Elemente der
Chaos-Theorie, der Vielschichtigkeit und der Selbstorganisation (Siemens 2008a).
Dies ermöglicht eine Einordnung des individuellen Lernens in einen ungeordneten,
nicht planbaren, holistischen Prozess des sozialen Lernens. In dieser Perspektive
rücken die Lernprozesse des Individuums stärker in den Vordergrund - über
individuelle NoPs können zudem Informationen zwischen CoPs ausgetauscht werden.
Hier kommt die von Friedman oben angeführte „Globalisierung 3.0“ voll zum Zuge,
während der CoP-Ansatz eher der „Globalisierung 2.0“ als Versuch einer
unternehmerischen Vernetzung gleichkommt. Während CoPs also kollektives Lernen
in Communities forcieren helfen, analysiert der Konnektivismus das kollaborative
Lernen in Netzwerken.
Lernen als Netzwerkaktivität zu betrachten, ist kein neuer Ansatz. Wie in Kap. 2.2.3
angeführt, vertrat Ivan Illich bereits 1972 die These:
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 85
„Unsere derzeitigen Bildungseinrichtungen dienen den Zielen des
Lehrers. Wir brauchen aber Beziehungsstrukturen, die es jedermann
ermöglichen, sich selbst dadurch zu entwickeln, daß er lernt und zum
Lernen anderer beiträgt.“ (Illich 2003, 104)
Und die Geschichte des Internets ist eine des vernetzten Lernens, da wichtigste
Triebkraft der Entstehung und Entwicklung des Internets die Hyper-Struktur ist
(Scholz 2007). Insofern sind die Diskussionen rund um frei zugängliche, offen
verfügbare und urheberrechtlich adaptierbare Inhalte und Systeme eine logische
Folgerung des sozio-technologischen Wandels seit der Einführung des Internets.
Gegen die sozio-technologisch bedingten Eigendynamiken kann man sich nicht
individuell wehren oder sie ignorieren. Vielmehr kann der Kommunikationscode
dieser Prozesse nur von innen heraus verstanden und mitgestaltet werden (Castells
2001a).
„Perhaps the necessary analytical step to understanding the new
forms of social interaction in the age of the Internet is to build
on a redefinition of community, de-emphasizing its cultural
component, emphazing its supportive role to individuals and
families, and de-linking its social existence from a single kind of
material support.“ (ebd., 127)
Insofern machen proprietäre oder gestaltete Umgebungen auch wenig
Sinn. Die Menschen gestalten sich bereits ihre eigenen Personal
Learning Environments (PLE), die ihnen zunächst als technologische
Schnittstelle zum Netzwerk, zu NoPs und zu CoPs entgegen treten.
Während der CoP-Ansatz ein modifiziertes Instructional-Design ermöglichen will und
die optimale Gestaltung der Lernumgebung im Blick hat, erfordert das PLE im Kontext
eines konnektivistischen Ansatzes persönliche Kompetenzen, um die subjektiven
Voraussetzungen mitbringen zu können. Der virtuelle Ort, der bei gestalteten CoPs
vorgegeben ist, ist flüchtiger bei individuell gestalteten Zugängen. Im „Raum der
Ströme" sind aber Orte eine Zugangsvoraussetzung, um in den Informations- und
Kommunikationsfluss springen zu können. Insofern können CoPs aufgrund ihrer
räumlichen Nähe zur realen Welt ein gutes Sprungbrett für Individuen darstellen,
einen ersten, und sei es auch indirekten, Netzwerkknoten aufzubauen und anzudocken
in der Netzwerkgesellschaft. Als Konsequenz verschiedene CoPs zu konzipieren, um
die Lernprozesse zu steuern, ist allerdings zu kurz gegriffen.
Interpretiert man CoPs nämlich aus Sicht Castells, so besteht wenig Hoffnung für von
außen gestaltete Communities, die vernetzten Menschen zu erreichen. Um diesen
Standpunkt zu verstehen, ist ein Perspektiv-Wechsel notwendig: Nicht aus Blick des
Designers auf das Tableau zu schauen, sondern aus Sicht der vernetzten Individuen.
Dann sind CoPs lediglich äußere Formen der Kultur realer Virtualität, die entstehen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 86
und vergehen - die Kontrolle über die Beziehung zwischen Person und CoP setzt aber
die Person. Es sei denn, man entwickelt Zwangssysteme, die Personen in eine CoP
drängen. Lässt die Person aber keine Bindung zu, entwickelt sich die Identität
außerhalb der Zwangs-CoP, denn im Zeitalter des space of flows entstehen weltweit
eine Vielzahl freiwilliger Communities und Netzwerke, an die Personen andocken
können, wenn ihnen der Zugang zum Internet möglich ist. In diesen fragmentierten
Lernsystemen bewegen sich die Personen, weil die Botschaft dort wieder zur Botschaft
geworden ist (Castells 2009a, 418). Das Medium tritt in den Hintergrund und
Personen mit Internetzugang sind nunmehr die aktiv Interagierenden.
Für das Individuum stellt sich dabei seine Erfahrung als zusammenhängend dar.
Gleichgültig, in wie vielen CoPs und NoPs sich die Person bewegt, die persönliche
Geschichte ist eine kohärente, unabhängig von den Lebenszyklen der einzelnen
Praxisbezüge. Eine integrale Identität entsteht, die selbst ihren Zugang zu den
verschiedenen Bezügen bestimmt und somit keine Community mehr als
identitätsstiftendes Moment der Geschichte auftreten lässt. Sinn ergibt sich in einer
durch IKT vernetzten Gesellschaft nur durch Abgrenzung des Selbst vom Netz, vom
Unterlaufen der von außen gesetzten Zwänge und dem Versuch einer narrativ
kontrollierten, digitalen Identität. Sinn stiftend für die persönliche Identität sind
demnach die kulturellen Praxen der verschiedenen Bezüge im Zusammenspiel - eine
Community alleine vermag im vernetzten Zeitalter keine Deutungshoheit über ihre
Mitglieder übernehmen.
Wie entsteht die kulturelle Praxis mehrerer Bezüge in CoPs und NoPs? Indem alle
Beteiligten die Codes der kulturellen Hegemonie selbst mitbestimmen durch ihre
Mitarbeit - im IKT-Flow. Macht innerhalb eines Bezuges kann insofern nur aus dem
Inneren heraus von den aktiven Individuen ausgeübt werden. Und hier könnten ggf.
(Instructional) Designer ansetzen: Sie können sich als Lernbegleiter/innen in
entstehende oder bestehende Praxisbezüge aktiv einbringen, sich als Netzwerkknoten
mit anderen verbinden. Nicht i.S. eines Raumgestalters, als vielmehr als Mitfließende
im space of flows, die v.a. an den Grenzen dieser Bezugssysteme verschiedene
Communities thematisch miteinander verbinden helfen könnten, um den Fokus der
beteiligten Menschen zu erweitern und die zeitlichen Störungen der timeless time
partiell aufzufangen.
Was also derzeit geschieht, ist ein Phänomen, dass zunehmend ehemals lokale
Kommunikationsformen (wie Konversation, Teilen, Community) die globalen
Kommunikationsformen des massenmedialen Zeitalters (Broadcasting,
Zentralisierung, proprietäre Angebote, Kommerz) aufgrund ihrer Kompatibilität mit
vernetzten Medienformen ersetzen (Downes 2007). Und im Bildungsprozess lassen
sich zwei Ebenen an Veränderungen erkennen: Zum einen mutieren Lernräume von
Klassenräumen zu komplexen Lernökologien und zum anderen wandeln sich die
Lernstrukturen von hierarchischem Content zu vernetztem Lernen. Während in der
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 87
Logik kapitalistisch agierender Bildungsinstitutionen die klassischen Lernräume und
-zeiten sich zunächst in das Netz ausdehnen, resultiert die daraufhin einsetzende „Zeit-
Raum-Kompression“ in einer Beschleunigung der Halbwertzeit des Wissens und führt
in ihrer vernetzten Ausdehnung zu neuen, individualisierten Verarbeitungsformen
dieser pulsierenden, sich kontinuierlich aktualisierenden Wissensbestände. Insofern
stellen PLEs als individuell gestaltbare, digitale Arbeits- und Lernumgebungen eine
logische Transformation eines generisch sich entwickelnden Prozesses der Anpassung
der Bildungseinrichtungen an global sich vernetzende Wissensstrukturen dar.
PLEs konfigurieren den neu entstandenen Raum mit einer asynchron wirkenden,
synchron empfundenen Zeitstruktur - und formalisieren auf eine spezifische,
chaotische, flexible Art die informellen Arbeits- und Lernprozesse. In dessen
Konsequenz entwickelt sich die Externalisierung des internen Wissens zu einem
menschlichen Bedürfnis, da es Teil des individuellen, vernetzten Lernprozesses ist und
in das Netzwerk eingeschleust werden muss.
„The pipe is more important than the content within the pipe.“
(Siemens 2004)
So lautet die Botschaft der Botschaft. Und diese pipe“ wird heute primär medial
abgebildet. Nicht als kohärentes System, das von einer Organisation bereitgestellt
wird, sondern als sich stetig veränderndes Online-Netz mit vielfältigen Informations-
und Kommunikationskanälen. Die „hyperconnected“ (Aducci und Al 2008) Welt der
globalen Information Worker bewegt und bildet sich in genau solch einem medialen
Gefüge. Doch nicht voraussetzungslos. Stephen Downes listet auf, welcher
individuellen Voraussetzungen es bedarf, um den Anforderungen zur aktiven Teilhabe
im Sinne des Konnektivismus gerecht werden zu können (Downes 2006):
Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, welche Inhalte zum aktuellen Zeitpunkt die
richtigen sind, denn aktuelles Wissen ist das Ziel der konnektivistischen
Lernaktivitäten;
Aufbau und Pflege von vielfältigen, individuell relevanten Verbindungen, um darauf
just-in-time/case zugreifen zu können;
Lernwille ist wichtiger als vorhandenes Wissen, um sich stetig weiterzubilden;
Akzeptanz verschiedener Meinungen als Fundus des eigenen Lernens;
Konnektivistischer Pragmatismus: Netzwerken beizutreten und mitzuwirken.
Wie könnten nun die „passiven Onliner“ und die „Barebones“ (Aducci und Al 2008, 3)
herangeführt werden? Welche konkreten individuellen Kompetenzen sind erforderlich
und sollten bildungspolitisch gestützt werden, um diese Voraussetzungen schaffen zu
können? Bedürfen Menschen eines geschützten Raumes, um sich nicht gleich im
Lichte der Öffentlichkeit zu erproben? Sind CoPs als geeignete Lernräume und
Übergangslösung bzw. erste Andockstation für konnektivistische Aktivitäten geeignet?
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 88
2.3 KOMPETEN Z(EN) FÜR DIE NETZWERKGESELLSCHAFT
Die Kompetenzdebatten werden vorzugsweise in der Betriebswirtschaft und der
Pädagogik, aber auch in der Soziologie und Psychologie geführt.
In den beiden erst genannten, dominanten Disziplinen werden Kompetenzen vor allem
an die praktischen Erfahrungen in der Arbeit gebunden: Einmal als betriebliche
Forderung für den Verwertungsprozess - und einmal als subjektorientierte Dialektik,
deren Handlungskompetenz sich kontinuierlich weiterentwickelt (Molzberger 2007,
59f.). Dabei hat sich in der breiten deutschsprachigen Diskussion -trotz aller
Unterschiedlichkeit- die von dem Psychologen Franz Emanuel Weinert vorgelegte
Konzeptualisierung des Kompetenzbegriffs im Rahmen der Expertise-Forschung
durchgesetzt (Lang-Wojtasik und Scheunpflug 2005, 2). Demnach sind Kompetenzen
„(...) die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren
kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu
lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und
sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in
variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu
können.“ (Weinert 2001, 27f.)
Diese im Rahmen der „Klieme Expertise“ des BMBF vorgelegte Definition ist heute
richtungsweisend bei der Einführung von nationalen Bildungsstandards (Klieme u. a.
2007, 22). In einer Fußnote wird der Kompetenzbegriff der Studie von dem der
beruflichen Bildung -der ja parallel weiter existiert- abgegrenzt, ohne dass hier eine
ausdrückliche Begründung gegeben wird - es sei denn, man betrachtet den Hinweis auf
„Domänen“ als ausreichende Begründung (ebd., 23). Berufliche Handlungskompetenz
dagegen wird -im Unterschied dazu- vielfach nach wie vor auch als ein an
emanzipatorische Vorstellungen von Kompetenz anschließender Begriff gesehen (Roth
1971), was aber in der Praxis nicht mehr sehr relevant ist.38 Der neue
Kompetenzbegriff (hauptsächlich) schulischer Bildung stützt sich weitgehend auf das
Verständnis von Weinert.39
Zurückgeführt wird der dahinter stehende dominante Diskurs auf die neo-
konservative, neoliberale Wende, die durch eine ökonomistische Sichtweise geprägt ist.
Diese wirkte sich in der Deregulierung auch von Arbeitsprozessen aus, definierte
Arbeitskräfte zu Arbeitskraftunternehmern um und führte insgesamt zu einer
Neotaylorisierung der Arbeitsorganisation (Molzberger 2007, 62). Kompetenzen
rückten nunmehr die Verantwortung für die Passgenauigkeit der persönlichen
Entwicklung an die sozio-ökonomischen Erfordernisse an die Person. Wer nicht
38 Vgl. zum emanzipatorischen Kompetenzbegriff, der bis zu Heinrich Roth im Jahre 1971 zurückgeführt
werden kann: (Overwien 2011)
39 Allerdings fliesst Weinerts Kompetenzverständnis etwas verkürzt in die Definition ein (Sander 2011).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 89
kompetent ist, hat keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Dabei variiert die
Beschreibung von Kompetenz von elementbeschreibenden Ansätzen (Fähigkeiten,
Motivation/Selbstbild, Wissen/ Fertigkeiten) über die Beschreibung von Kompetenz-
Ausprägungen (Fach-, Methoden-, Sozialkompetenz u.a.) bis hin zu Kompetenz-
Zuschreibungen im organisatorischen Kontext (Zuständigkeit, Aufgabenkompetenz,
Befugnisse) (Staudt u. a. 2002, 158ff.).
In dieser funktionalen Perspektive der beruflichen Handlungskompetenz folgen
dennoch fast alle Aspekte der Kompetenzdiskussion nahezu deterministisch den sozio-
ökonomischen Globalisierungsprozessen und deklinieren sich entlang folgender,
aufeinander bezogener Ebenen (vgl. Veith 2003, 20ff.):
1. Moderne Gesellschaften sehen sich aufgrund der Globalisierung mit systemischen
Reproduktionsproblemen konfrontiert. Hier greifen die oben angeführten Chancen
und Risiken der Netzwerkgesellschaft im Zeitalter einer Globalisierung 3.0, die
nicht mehr von Staaten oder Unternehmen kontrolliert werden können. Die
Menschen verbinden sich und ihre thematischen Interessen in temporären,
fließenden Netzwerken. Flexible Kompetenzfelder werden weiterhin als soziales
Muster national wirkender Innovationsmotoren gesehen.
2. Auf der organisatorischen Ebene der Unternehmen und Betriebe geraten die
traditionellen Produktionsmodelle unter Druck. Berufstypische Einsatzkonzepte
und Aufgabenprofile werden prozess- und dienstleistungsbezogen aufgelockert,
Hierarchien abgebaut, Entscheidungen in die Verantwortung von Arbeitsgruppen
verlagert, generell kollektive Prozesse stärker unterstützt und die Eigeninitiative
der Mitarbeiter/innen gefordert, um eine intrinsische Arbeitsmotivation zu
fördern (ebd., 24). Kompetenz wird hier als Leistung analysiert (Kauffeld 2006,
18).
3. Auf der Ebene der sozialen Handlungspraktiken individualisieren sich die
Beschäftigungsverhältnisse und „frei flottierende individuelle Problemlöse-,
Kooperations- und Kommunikationsfähigkeiten“ (Veith 2003, 26) werden immer
wichtiger. Personengebundene, fachlich-methodische und soziale Kompetenzen
stellen grundlegende soziale Dispositionen dar, die in flexiblen
Arbeitsorganisationen mit variablen Zuständigkeiten bedeutsam sind (ebd.).
Kompetenz wird hier als Persönlichkeitsmerkmal gefordert (Kauffeld 2006, 17).
4. Schließlich entfalten auf der individuellen Ebene autonom handelnde Personen
ihre selbstorganisatorischen Kompetenzen eventuell besser, um „mit
kontinuierlich wachsender situativer „Ungewissheit und Unbestimmtheit flexibel
und kreativ umzugehen“ (Veith 2003, 20). Kompetenz wird hier als
Selbstorganisationsdisposition definiert (Kauffeld 2006, 18f.).
Folgt man dieser hegemonialen, ökonomistischen Sichtweise, mündet die Diskussion
in einer Nachfrage nach multifunktional einsetzbaren Mitarbeiter/innen mit
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 90
Eigeninitiative, variablen Fähigkeiten und meta-fachlichen Schlüsselqualifikationen
für die Erwerbsarbeit. In der Konsequenz kommt den individuellen Kompetenzen als
innovative Ressource eine grosse Bedeutung für die gesellschaftliche wie
organisatorische Ebene zu. Der Logik folgend stellen heute Kompetenzentwicklung
und Selbstorganisation als erwachsenenpädagogische Leitkonzepte und
organisationssoziologische Zielbestimmungen ein normatives Bildungsziel dar (Veith
2003, 434).
Diesem neoliberalen Verständnis stellt die emanzipatorische Pädagogik einen
erweiterten Kompetenzbegriff gegenüber, in der Hoffnung, damit anschlussfähig das
Grunddilemma zwischen Bildung und Qualifikation auflösen zu können (Müller-
Ruckwitt 2008). „Kompetenz“ ermöglicht es in dieser Interpretation, der funktional
ausgerichteten Sicht auf die Qualifikationen eine Subjektorientierung
entgegenzustellen. So könne der Kompetenzbegriff das sachlich Richtige mit dem
sittlich Gültigen vereinen. In diesem bildungstheoretischen Verständnis wäre
„Kompetenz“ dann nur im Singular denkbar, da sie an die einzelne Person gebunden
ist. Und die Kompetenz des Einzelnen leitet sich von der anwendungs- und
bereichsspezfischen Tauglichkeit ab (ebd., 257ff.).
2.3.1 DER KOMPETENZBEGRIFF - EIN KLÄRUNGSVERSUCH
Der gesamte Kompetenzdiskurs äußert sich im Rahmen bildungspolitischer
Diskussionen als vielschichtiger Kampf um die richtigen Perspektiven und damit
Begriffe bzw. Definitionen. Im bundesdeutschen Kontext provozierten spätestens die
PISA-Studien mit ihrem Kompetenzverständnis eine Reflektion des tradierten
Bildungsverständnisses (Müller-Ruckwitt 2008). Während einerseits klassische
bereichsspezifische Kompetenzen abgeprüft wurden (Lesekompetenz, mathematische
und naturwissenschaftliche Grundbildung), legte PISA auch großen Wert auf
bereichsübergreifende Kompetenzen wie „selbstreguliertes Lernen“ (als zielgerichtete
aktive und konstruktive Eigenleistung), „soziale Kompetenzen“ (Kommunikation und
Kooperation) oder das „Problemlösen“ (ebd., 50f.).
„Cheetham & Chivers (2005) diskutieren diverse Perspektiven auf
Kompetenz, welche sich sowohl aus verschiedenen Anwendungsgebieten
wie auch unterschiedlichen Forschungsperspektiven entwickelt haben.
Hierbei unterscheiden sie:
Kognitive-Wissensorientierte Ansätze, die Kompetenzen im
Wesentlichen als notwen7diges und vorhandenes Wissen betrachten
und die Fähigkeit betonen, dieses Wissen in einem
Anwendungskontext umzusetzen.
Funktionale Kompetenzdefinitionen, die oft von einer Aufgaben-
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 91
und Ergebnisorientierung ausgehen. Eine Kompetenz wird also als
Fähigkeit gesehen, ein notwendiges Ergebnis einer Aufgabe auf
einem dedizierten Qualitätsniveau zu generieren.
Persönliche Kompetenzen, die Fähigkeiten betonen, Verhalten an
situative Gegebenheiten und Anforderungen anzupassen.“ (Kalz u.
a. 2006, 3)
Der Kompetenzbegriff „bündelt auf der Ebene des Subjektes die
Verhaltensmöglichkeiten und das notwendige im Hintergrund stehende Wissen“
(Hungerland und Overwien 2004, 10). Dabei zeichnen sich Kompetenzen durch zwei
Komponenten aus: Zum einen die Befähigung zur Bewältigung von Situationen und
zum anderen die Erzeugung von Situationen. Vor allem letztere, die kritische
Kompetenz, setzt eine -auch betriebswirtschaftlich geforderte- Eigeninitiative voraus,
die allerdings von den Erziehungswissenschaften wenig gefördert wird (Vonken 2005,
32). Denn dort werden Kompetenzen
„(...) als potenzielle Fähigkeiten eines Individuums begriffen, in
Handlungssituationen auftretende Probleme durch die Generierung
zweckgerichteter und erfolgversprechender Aktivitäten zu bearbeiten
und im günstigen Fall auch zu lösen.“ (Veith 2003, 31)
Die Pädagogik konzentriert sich also auf die Befähigung zur Problemlösung und fragt
nach den individuellen wie sozialen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um
passende Kompetenz(en) mitzubringen. Neben der Handlungsfähigkeit und
-bereitschaft als individuelle Handlungskompetenz sind demnach formale
Kompetenzbezüge und sozio-kulturelle Gestaltungsfähigkeiten (wie Lesen, Schreiben
und andere Grundtechniken) zentrale individuelle Eigenschaften, die pädagogisch
begleitet werden können, aber nur in einer systemisch integrierten
Handlungsumgebung mit identitätsstiftenden Bezügen zur vollen Geltung kommen.
(ebd., 32ff.).
Die Frage ist aber, ob sich aus einer spezifischen Handlung einer Person auf
entsprechende Kompetenzen schliessen lässt oder ob primär andere Faktoren wirken,
die zu kompetenten Handlungen im Arbeits- und Lernprozess führen. Vor allem die
formalen Kompetenzbezüge, die eine pädagogisch gängige Unterscheidung zwischen
Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz vornehmen, unterstellen, diese könnten „in
beteiligungsorientierten Lehr-Lern-Prozessen entwickelt werden“ (Vonken 2005, 66).
Dabei scheint ein Umdenken in der betrieblichen Bildungsarbeit erforderlich: Statt
berufliche Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erzeugen, gelte es, die Entwicklung von
Kompetenz zu ermöglichen (ebd., 71). Denn kompetentes Handeln
„(...) äußert sich darin, selbständig, selbstverantwortlich,
kreativ, selbstorganisierend und flexibel Entscheidungen zur
Reduktion von Komplexität zu treffen.“ (ebd., 127)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 92
Kompetenz bedeutet in dieser Argumentation, unterschiedliche Kenntnisse,
Fähigkeiten und Fertigkeiten mit kompetentem Handeln verbinden zu können (ebd.,
132). Folglich ist jeder Mensch in der Lage, kompetent zu handeln - nur in
unterschiedlichem Ausmaß, abhängig von seiner Kompetenz. Die Schulung von
kompetentem Handeln ist insofern nur eingeschränkt möglich, da die individuelle
Kompetenz diesem enge Grenzen setzt (ebd., 188).
„Kompetenz meint das Ergebnis von Bildungs- und
Sozialisationsprozessen, die Summe biografisch und gesellschaftlich
geprägter präintentionaler Aspekte, die den einzelnen in
unterschiedlichem Maße in die Lage versetzen, Situationen zu
"erzeugen", also wahrzunehmen und zu thematisieren.“ (ebd., 191)
Erfahrungsoffenheit mit Reflexionstechniken zu verbinden ist zentral für die
persönliche Kompetenzentwicklung. Genau mit diesem kontinuierlichem Prozeß
erweitert der Kompetenzbegriff konzeptuell das Konzept der
(Schlüssel-)Qualifikationen. Während Qualifikationen sich aus der Nachfrage
definieren im Hinblick ihrer Verwertbarkeit, akzeptiert der Kompetenzbegriff die enge
Bindung an konkrete Kontexte und die Notwendigkeit einer kontinuierlichen
individuellen Weiterbildung (Molzberger 2007, 61).
Diesem singularen, an die Person gebundenen Kompetenzbegriff steht auf der anderen
Seite ein v.a. im deutschsprachigen Raum gängiger, pluraler Kompetenzbegriff
gegenüber, der sich aus einer vielschichtigen, flexiblen Melange aus Fach-, Methoden-,
Sozial- und Selbstkompetenzen (seit 1971) zusammen setzt. Dieses Verständnis ist
international an die von der UNESCO definierten Bildungsherausforderungen
anschlussfähig. Bereits im UNESCO-Report „Learning The Treasure within“ beruht
Lernen auf den vier Säulen: „learning to know, learning to do, learning to live together,
learning to be.“40
Ein so verstandener Kompetenzbegriff spiegelt also „Erziehungsziel und
Wesenszuschreibung des Menschen gleichermaßen“ (Müller-Ruckwitt 2008, 246).
Werden beide Sichtweisen zusammengefasst, so umfasst der Kompetenzbegriff
allgemeine persönliche Fähigkeiten, die sowohl zur beruflichen Qualifizierung als auch
zur individuellen Handlungskompetenz beitragen. Diese Handlungskompetenz lässt
sich dabei nicht einseitig aus der sozio-ökonomischen Sicht von Institutionen oder
Gesellschaften funktional begründen, sondern bedarf z.B. gewisser sozio-politischer
Kontexte. In dem hier beleuchteten Zusammenhang wäre insofern zu fragen, in
welchen bildungspolitischen Rahmungen Individuen diese spezifische
Handlungskompetenz ausbilden können. Und welche Gestaltungsspielräume neben
den klassischen Bildungsangeboten vorhanden sind und wo ggf. politisch nachgeholfen
werden kann.
40 http://www.unesco.org/delors/ (14.07.2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 93
2.3.2 INDIVIDUELLE HANDLUNGSKOMPETENZ ALS
KOMPETENZZIEL
Hinsichtlich der Fragestellung, welcher Kompetenzen es bedarf, um sich
selbstbestimmt in der Netzwerkgesellschaft bewegen und entsprechend weiterbilden
zu können, soll nun auf die einzelne Person fokussiert werden und die benötigten
Voraussetzungen, um individuell handlungskompetent agieren zu können.
Nach dem Innovationsforscher Erich Staudt (1997) setzt sich eine abstrakte
Kompetenz zur Handlung aus der individuellen Handlungskompetenz und der
Zuständigkeit im institutionellen Geflecht zusammen. Die individuelle
Handlungskompetenz wiederum konfiguriert sich aus einem Zusammenspiel von
wissensgetränkter Handlungsfähigkeit, die sich aus Wissen und Können resp.
Fertigkeiten ableitet, mit der motivationalen Handlungsbereitschaft. Für beide
Facetten relevant sind die je spezifischen Persönlichkeitseigenschaften (Veith 2003,
32f.). In dieser handlungspraktischen Perspektive werden die individuellen
Kompetenzen unter einem funktionalen Aspekt einer konkreten Handlung im Rahmen
einer äußeren Ordnung analysiert und in Bezug gesetzt zur organisatorischen
Kompetenz zur Handlung (vgl. dazu Staudt u. a. 2002, 220f.). Wie aber könnte ein
Wechsel des Blickwinkels aussehen, um aus Sicht der Individuen auf die Welt zu
blicken und damit einen direkt an die Person gehefteten Kompetenzen-Bund zu
erlangen?
Ein möglicher Ansatz stellt das Konzept der Schlüsselkompetenzen dar, das 2001 in
dem von der OECD angestoßenen Projekt „Defining and Selection of Competencies.
Theoretical and Conceptual Foundations (DeSeCo)“ entwickelt wurde. Demnach lassen
sich drei Kategorien an Schlüsselkompetenzen definieren, die für die persönliche und
soziale Entwicklung von Menschen in komplexen, modernen Gesellschaften wesentlich
sind (vgl. OECD 2005; und darauf aufbauend The World Bank 2003, 22):
Autonomes Handeln zugunsten persönlicher Projekte in einer sozialen Umgebung
Interaktive Nutzung von Tools zur Zielerreichung
Funktionieren in sozial heterogenen Gruppen
Unterschiedliche Konstellationen in der konkreten Zusammenstellung dieser drei
Kategorien lassen einen Dimensionsraum entstehen, der je nach persönlicher oder
politischer Zielsetzung bespielt werden kann (Michelsen und Overwien 2008, 304f.).
Mit dieser qualitativen Erweiterung des Kompetenzbegriffes durch die Einführung
differenzierter persönlicher Schlüsselkompetenzen lassen sich nunmehr die
verschiedenen Kategorien mit Fähigkeiten kreuzen, in deren Koordinatensystem je
spezifische Fähigkeiten ausgebildet werden können (The World Bank 2003, 22):
technische Fähigkeiten (von Literatur über Sprachen, Naturwissenschaften bis hin
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 94
zu Problemlösung und Mediennutzung)
interpersonale Fähigkeiten (Teamwork, Führung, Kommuniktion, Kooperation)
methodologische Fähigkeiten (Selbstlernkompetenz, mit Wandel und Risiken
umzugehen, Selbstorganisation)
Will man nun den primären Fokus von einer an Verwertbarkeit orientierten
Handlungskompetenz in Richtung einer zukunftsfähigen sozialen Kompetenz in
vernetzten Kontexten verlagern, so bietet sich das von dem Zukunftsforscher Gerhard
de Haan entwickelte Konzept der „Gestaltungskompetenz für nachhaltige
Entwicklung“ an. Aus subjektiver Sicht beschreibt diese individuelle
„Gestaltungskompetenz“ das Vermögen,
„(...) die Zukunft von Sozietäten, in denen man lebt, in aktiver
Teilhabe im Sinne nachhaltiger Entwicklung modifizieren und
modellieren zu können.“ (de Haan und Harenberg 1999, 62)
Das Konzept der Gestaltungskompetenz birgt somit die Chance, als zentrales
Bildungs- und Lernziel die Kompetenzen eben nicht aus Sicht externer Anforderungen
oder schulbarer Fertigkeiten zu definieren, sondern den Kompetenzbegriff selbst an
die Person zu heften. An zukunftsweisenden wie eigenverantwortlichen
Teilkompetenzen lassen sich nach de Haan definieren (vgl. ebd & Michelsen und
Overwien 2008, 305):
Kompetenz zu vorausschauendem Denken und Handeln
Kompetenz zu interdisziplinärer Arbeit
Kompetenz zu weltoffener Wahrnehmung
Kompetenz zur Partizipationsfähigkeit
Kompetenz weitreichender Planung und Umsetzung
Kompetenz zur Empathie-Fähigkeit
Kompetenz zur Eigen- und Fremd-Motivation
Kompetenz zur kulturellen Reflexion
Im Idealfall bieten Kompetenzen den Subjekten also Handlungsmöglichkeiten, die sie
selbstverantwortlich nutzen können. Vor allem die Entscheidungskompetenz über
Einsatz und Nutzungsszenario der reflektierten Kompetenz geben dem Subjekt einen
Gestaltungsrahmen, der an die aktuellen Bedürfnisse anpassbar ist (Molzberger 2007,
61) - nicht primär die beruflichen als vielmehr die subjektiv als wichtig erachteten. 41 So
41 „Der hier formulierte Ansatz der „Gestaltungskompetenz“ ist nicht neu. Im Zuge der
Schlüsselqualifikationsdebatte und der aufkommenden Informations- und Kommunikationstechniken
forderten z.B. Felix Rauner & Gerald Heidegger Ende der 1980er Jahre „soziale Technikgestaltung als
Bildungsaufgabe“ (Rauner/ Heidegger 1989): „Statt abzuwarten oder bloß zu prognostizieren zu versuchen,
was da auf uns zukommt, gilt es, auf die Zukunft gestaltend einzuwirken“ (ebd., S. 211). Auch wenn sich die
Gestaltungskompetenz vorrangig auf technische Prozesse bezieht, werden ihre jeweiligen
Anwendungsbereiche „Lebenswelt“, „Natur“, „Arbeit“ und „Kultur“ in den Ansatz mit einbezogen (Rauner
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 95
schlugen die Berufspädagogen Gerald Heidegger und Felix Rauner bereits 1997 vor,
„wandernde“, dynamische Berufsprofile zu etablieren, die z.B. in Deutschland die
Anzahl der Berufsbilder von fast 400 auf 100 „Kernberufe“ reduzieren. Die
Gestaltungskompetenz ermöglicht dann -nach Attwell und Heidegger (2001)- den
Absolvent/innen dieser Ausbildungsgänge, sich entsprechend ihrer biographischen
Kompetenz weiterzuentwickeln und über diesen Weg sich an die Bedürfnisse des
Arbeitsmarktes individuell anzupassen (Attwell 2006a).
Im Unterschied zu anderen Lernresultaten und Konstrukten wie Können, Fertigkeiten,
Fähigkeiten bringt Kompetenz in diesem Verständnis „die als Disposition vorhandenen
Selbstorganisationspotenziale eines Individuums zum Ausdruck“ (Kirchhöfer 2004,
64). Selbstorganisation hier verstanden
„(...) im umfassenden Sinne als Disposition zur Selbstbestimmung der
Lernziele und anzustrebenden Niveaustufen, als Selbststeuerung des
Lernens in und außerhalb des Arbeitsprozesses, als Selbstarrangement
der Lernumgebung und Lernmittel, als Eigenverantwortung und
Selbstkontrolle der Arbeitsergebnisse und auch als Selbststeuerung
der Lernbiographie.“ (Kirchhöfer 2006, 31)
Personen definieren hier selbstständig -im Rahmen ihres je persönlichen Kontextes-
ihre Handlungspotentiale, auf denen dann wiederum die sozio-politische wie
-kulturelle und -ökonomische Ausrichtung aufsetzt.
Allerdings existieren weitere, interdisziplinär verschiedene Definitionen der
Selbstorganisation, die sich auf den gemeinsamen Nenner der „Entstehung bzw.
Herstellung von Ordnung“ (Reinmann 2009, 6) zurückführen lassen. Wie dies konkret
geschieht, ist abhängig von der Ordnungsebene: Auf der Ebene des Organischen
entsteht Ordnung durch Selbsterschaffung bzw. -erhaltung; auf der personalen Ebene
durch Selbstbestimmung und auf der sozialen Ebene durch Selbsterschaffung und ggf.
durch Selbstbestimmung (ebd., 3). Das selbstorganisierte Lernen strukturiert sich
demnach auf der Ebene der Person und kann differenziert werden in selbstreguliertes,
selbstgesteuertes und selbstbestimmtes Lernen, die sich in ihrer jeweiligen
Strukturierungsform unterscheiden. Selbstbestimmung bedeutet dann in diesem
Kontext,
„(...) dass es der Person gelingt, äußere Anforderungen und
Gegebenheiten (äußere Strukturierung) mit inneren Zielen und Normen
(innere Strukturierung) in Einklang bzw. in eine Passung zu
bringen.“ (ebd., 4)
Für diese Selbstorganisationsfähigkeit bedarf es personaler und situationaler
1995, S. 60). In diesem Konzept wird ebenso auf zentrale Schlüsselkompetenzen, wie Kommunikations-
und Partizipationsfähigkeit, Autonomie, Solidarität, Kreativität, Systemdenken, Abstraktions- und
Erfahrungsfähigkeit verwiesen, wobei von den zentralen „Leitideen Gestaltungs- und Kritikfähigkeit“
ausgegangen wird (Heidegger 1996, S. 104).“ (siehe Fußnote 8: Schüßler 2006, 11)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 96
Bedingungen, die sich in dieser Argumentation „nicht allein durch Sozialisation in
einer digitalen Medienwelt entwickeln“ (ebd., 6). An personalen Voraussetzungen
bedarf es hier der Kompetenz, seine Ziele wahrnehmen und artikulieren, daraus
Lernziele ableiten oder Lehrziele verstehen und diese Ziele als sinnvoll bewerten zu
können. Zudem bedarf es modifizierter situationaler Voraussetzungen, um z.B. Macht
und Kontrolle über den Lernprozess seitens der Bildungsinstitutionen oder
Unternehmen abzugeben. Unter den gegenwärtigen Bedingungen kämen Forderungen
nach selbstorganisiertem Lernen im und durch das Web 2.0 einem Elitekonzept gleich,
die außer Acht lassen, dass nicht jede/r die dafür erforderlichen personalen
Voraussetzungen mitbringt (ebd., 8).
Die Frage ist also, wie die personalen und situationalen Voraussetzungen entwickelt
werden können, um eine individuelle Gestaltungskompetenz auszubilden und fortan
maximal selbstorganisiert die persönliche (Um-)Welt nach eigenen Vorstellungen mit-
gestalten zu können. Eine Möglichkeit wird derzeit unter dem ePortfolio-Ansatz mit
Blick auf selbst-regulatorische Lernansätze diskutiert.42 Demnach kann
Selbstregulation entlang eines Vierstufen-Planes entwickelt werden (Blackburn und
Hakel 2006, 84ff.):
1. Zielsetzungskompetenz steigern
2. Selbst-Monitoring mit gezielten Feedbacks forcieren
3. Ziele mit strategischer Handlungsorientierung regulieren
4. Ziele in Form eines Selbst-Assessments mit dem Feedback reflektieren .
Dieses, begleitend zum Bildungsprozess entwickelte, ePortfolio kann dann ggf. in ein
ePortfolio für die professionelle Kompetenzdarstellung münden, in der ein komplexes
Kompetenzprofil abgebildet werden kann.
In dieser Argumentationslogik basiert individuelle Handlungskompetenz auf der
subjektiven Mischung an Teilkompetenzen und der darauf aufbauenden Bereitschaft
zur Gestaltung, also der persönlichen Motivation zum Handeln - kombiniert mit den
auf den durch die Teilkompetenzen initiierten Wissensbausteinen und angeeigneten
Fertigkeiten, die selbstorganisiert stetig weiter entwickelt und an die Bedürfnisse
angepasst werden. Die Problematik, die hier durchschimmert, ist ein an ein konkretes
Lernergebnis als Ergebnis eines Lernprozesses geknüpftes Kompetenzverständnis -
Kompetenz im pluralen Sinne. Erst wenn eine spezifische Kompetenz reflektierbar,
also greifbar wird, kann sie als solche konstatiert werden.
Allerdings sind die in der Persönlichkeitsstruktur verankerten Kompetenzen weniger
leicht zu greifen und entsprechend schlecht mit edukativen Maßnahmen zu
beeinflussen. Lediglich flankierend können diese subjektiven Kompetenzen unterstützt
werden (Overwien 2007). Overwien unterscheidet sieben persönlichkeitsbezogene
42 Vgl. Kap. 2.2.5.3.2
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 97
Kompetenzen, die v.a. im informellen Sektor von Belang sind (ebd., 12f.):
1. Neugierde und Kreativität
2. Initiative und Autonomie
3. Lernfähigkeit
4. Verantwortungsbewusstsein
5. Frustrationstoleranz
6. Improvisationsgeschick
7. Risikobereitschaft
Um diese Kompetenzen selbstorganisiert in kleinen Unternehmungen erfolgreich
einzubringen, bedarf es zusätzlicher sozialer und organisatorischer Kompetenzen
(ebd., 13):
1. Kommunikations- und Empathie-Fähigkeit
2. Kooperationsbereitschaft
3. Analysefähigkeit
4. Planungsbereitschaft
5. Organisatorische Fähigkeiten
Sind diese persönlichen Anforderungen nur schwierig über klassische
Bildungsinstitutionen zu begleiten, so kennzeichnen aktuelle Entwicklungen eine
weitere Komplexitätssteigerung: In der Netzwerkgesellschaft entfaltet sich die
individuelle Handlungskompetenz erst vor dem Hintergrund eines sozio-
technologischen Konzepts, das maßgeblich in die identifizierten
persönlichkeitsbezogenen, sozialen und organisatorischen Kompetenzen eingreift. Das
Netz fordert demnach eine Befähigung, die dem Umgang mit spezifischen technischen
Fertigkeiten und neuen methodologischen Prozessen nicht nur nicht ausweicht,
sondern diese konstruktiv mitgestaltet. Dieser Anforderung wird ein
Kompetenzaufbau nicht gerecht, der sich a priori für potenzielle Szenarien vollzieht,
sich aber dynamisch im sozialen Verbund mitentwickeln müsste.
2.3.3 NETZ-KOMPETENZ A L S HANDLU N G S- &
GESTALTUNGSKOMPETENZ
In der Netzwerkgesellschaft hat sich das Internet nicht nur zum entscheidenden
Medium weltgesellschaftlicher Kommunikation entwickelt, sondern es dient vielerorts
auch als grundlegendes Werkzeug für kulturelle, ökonomische und politische Prozesse.
Zudem hat sich das Web zu einem Kulturraum entfaltet, dessen wesentliche
Charakteristika sich in alle gesellschaftlichen Bereiche einweben (vgl. Marotzki 2003;
Rückriem 2010).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 98
Die Konsequenzen, die sich durch diesen in seinem Ausmaß erst langsam begreifbaren
Bedeutungsaufschwung des Internets für den Kompetenzbegriff ergeben haben,
werden unter verschiedenen Kompetenzfeldern diskutiert. Gemeinhin konzentrieren
sich diese Reflektionen auf die Werkzeug- und Medien-Komponente des Webs. Um
das Netz aber auch als Kulturraum begreifen und gestalten zu können, soll im
Folgenden mit „Netz-Kompetenz“ ein Begriff geprägt werden, der die begrifflich
bereits eingeführten IT-, Medien-, Informations-/Internet- und Netzwerkkompetenz
unter einem Dach subsumiert und damit die individuelle Handlungs- und
Gestaltungskompetenz an netzspezifische Anforderungen heranführen kann (vgl.
Abbildung 2).
2.3.3.1 IT-KOM P E TENZ
In der Expertise „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ werden in der
„Grundstruktur zur Allgemeinbildung“ in einer Matrix den „Modi der Weltbegegnung“
(als kanonisches Orientierungswissen) „basale Sprach- und
Selbstregulationskompetenzen“ (Kulturwerkzeuge) gegenübergestellt. Als Modi der
Weltbegegnung werden hiernach angeführt (Klieme u. a. 2007, 68):
Kognitiv-instrumentelle Modellierung der Welt (Mathematik, Naturwissenschaften)
Ästhetisch-expressive Begegnung und Gestaltung (Sprache/Literatur,
Musik/Malerei/Bildende Kunst)
Normativ-evaluative Auseinandersetzung mit Wirtschaft und Gesellschaft
(Geschichte, Ökonomie, Politik/Gesellschaft, Recht)
Probleme konstitutiver Rationalität (Philosophie, Religion)
Abbildung 2: Analyseleitende Kompetenzstruktur für diese Arbeit
Meth o d e n -
Kompetenz
Sozial-
Kompetenz
Selb s t -
Kompetenz
Kompetenz
Fach-
Komp e t e n z
Handlungs-/Gestaltungskompetenz
Netz-Kompetenz
IT-
Komp e t e n z
Medi e n -
Kompetenz
Internet-
Kompetenz
Netzw e r k -
Komp e t e n z
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 99
IT-Kompetenz gilt nach der Expertise als ein Kulturwerkzeug unter anderen
(Beherrschung der Verkehrssprache, Mathematisierungskompetenz, fremdsprachliche
Kompetenz, Selbtregulation des Wissenserwerbs), um der Welt auf verschiedenen
kanonischen Ebenen begegnen zu können. Mit IT-Kompetenz ist dabei sowohl der
„Gebrauch der Computer“ als auch der „Umgang mit Medien“ gemeint, die
Voraussetzungen für die „Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation“ sind (ebd.,
67).
Sofern Medien weniger als technische Apparaturen, sondern eher als „Programme zur
Aneignung von Welt“ (Wolf-Rüdiger Wagner 2004, 9) betrachtet werden, zeigt sich in
der historischen Betrachtung, dass Medien einerseits materialisierter Ausdruck einer
bestimmten konzeptionellen Aneignung von Wirklichkeit sind - andererseits aber auch
spezifische Weltsichten verstärken. Insofern kann eine Medienanalyse immer nur
relativen Charakter aufweisen.
2.3.3.2 MEDIENKOMPETENZ
Medienkompetenz stellt eine besondere Form der kommunikativen Kompetenz und
Handlungskompetenz dar (Treumann u. a. 2002, 39:20). Sie umfasst nicht nur den
spezifischen Nutzungsumgang mit der Medientechnologie, sondern vermag den
Zusammenhang von sozio-kultureller und sozio-medialer Entwicklung in den Blick
nehmen. Mit der Konsequenz für das Individuum, sich als Teil der entstehenden neuen
Kommunikationskultur zu begreifen und darin agieren zu können. In dieser
Perspektive erlangen Medien- und IT-Kompetenz den Status einer Basiskompetenz,
die als Werkzeuge der Weltaneignung begriffen werden sollten (Wolf-Rüdiger Wagner
2004, 9f.).
Der Medienbegriff beinhaltet traditionell drei verschiedene Bezugsebenen: Der
technisch-apparative Aspekt ist vom inhaltlichen zu trennen und hinzu kommt die
dem Medium zugeschriebene Funktion im gesellschaftlichen oder kommunikativen
Kontext. Statt aber eine strikte analytische Trennung der drei Ebenen vorzunehmen,
geht man heute beim Medienbegriff von einem engen Zusammenhang zwischen
Technik, Inhalt und Kommunikation aus (Wolf-Rüdiger Wagner 2004, 53f.).
Medienkompetenz als Kulturtechnik zielt also auf die Verbindung von technischer
Nutzungskompetenz und methodischer Anwendungskompetenz - dabei ist Ziel der
Medienkompetenzentwicklung eine Erweiterung der Ausdrucks- und Erlebnisfähigkeit
zu erlangen (ebd., 55). Medienkompetenz ist -vergleichbar zur Habermas'schen
kommunikativen Kompetenz- ein zentrales Sozialisationsziel: Sowohl die Teilhabe am
Arbeitsmarkt als auch die Forderungen nach Lebenslangem Lernen entsprechen einer
Zielsetzung (ebd., 179), die an das Individuum herangetragen wird, nicht primär aus
ihm selbst heraus generiert wird.
Dabei kann man mit der Medienpädagogin Ida Pöttinger (1997) die Medienkompetenz
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 100
analytisch unterteilen in Wahrnehmungs-, Nutzungs- und Handlungskompetenz. Oder
mit dem Erziehungswissenschaftler Dieter Baacke die Ebene der
Wahrnehmungskompetenz weiter aufschlüsseln in Medienkritik und Medienkunde,
neben der mit Pöttinger vergleichbaren Mediennutzung und Mediengestaltung
(Treumann u. a. 2002, 39:22). An diesem Punkt setzen klassische medienpädagogische
Konzepte an. Sie helfen Individuen aller Altersklassen mittels einer
Medienkompetenz-Erziehung, Untersuchungsgewohnheiten und Ausdrucksformen zu
entwickeln, die sie als kritische Geister, effektive Kommunikatoren und aktive
Weltbürger benötigen (Hobbs 2008, 18). Dies schließt technische Kompetenz ein -
reduziert sich aber nicht darauf. Vielmehr ist das Medium mit all seinen Ebenen
Gegenstand der pädagogischen Überlegungen.
Im Englischsprachigen entspricht die „media literacy“ -also die Medien-Lese- und
Schreibkompetenz- der deutschsprachigen „Medienkompetenz“ (zur Historie des
Literacy-Begriffs vgl. Sonia Livingstone 2007). Die Erweiterung der grundlegenden
Alphabetisierungstechniken auf den Medienbereich öffnet bereits sprachlich den
Horizont. Hier wird -in Fortführung der klassischen Lesekompetenz- ein erweiterter
Textbegriff angelegt, der jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung
umfasst, gleichgültig, ob es sich um einen sprachlichen oder nichtsprachlichen
Ausdruck handelt. Um diese Medien aber lesen zu können, bedarf es einer
entsprechenden Medienschreibkompetenz (Wolf-Rüdiger Wagner 2004, 180ff.). So
versteht das Arbeitspapier der Europäischen Kommission unter digitaler
Lesekompetenz:
„Digital literacy is the skills required to achieve digital
competence, the confident and critical use of ICT for work, leisure,
learning and communication. (…) It is underpinned by basic skills in
ICT and the use of computers to retrieve, assess, store, produce,
present and exchange information, and to communicate and participate
in collaborative networks via the Internet.“ (Bonfiglioli 2008, 4)
Die Definition der Medienkompetenz als Fähigkeit, über eine große Bandbreite an
Kontexten hinweg den Zugang zu und die Analyse, Evaluation bzw. Initiierung von
Medienprozessen zu ermöglichen, erscheint unter diesen Gesichtspunkten als
zielführend (Sonia M. Livingstone 2004, 1f.):
Zugang kennzeichnet dabei einen dynamischen und sozialen Prozess, der die
kontinuierliche Anpassung der Zugangsvoraussetzungen an bestehende
Entwicklungen beinhaltet und insofern nicht nur an der Person, sondern an den
sozio-ökonomischen Ungleichheiten ansetzt (ebd., 1). Unterschieden werden kann
dabei der grundlegende Zugang und Besitz, die Navigationskompetenzen, die
Kontroll-Kompetenzen und die Regulierungskompetenzen (Sonia Livingstone,
Couvering, und Thumim 2005, 13).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 101
Analyse setzt ein medienspezifisches Verständnis voraus, um die Potenziale des
Mediums ausschöpfen zu können (Sonia M. Livingstone 2004, 1).
Evaluation beinhaltet einige schwierige Fragen hinsichtlich der Grundlagen einer
kritischen „Lese-/Medienkompetenz“: Ästhetisch, politisch, ideologisch und/oder
ökonomisch gilt es zu entscheiden, wo das Ziel der Bemühungen liegen könnte
(ebd., 2). Vor allem offene Umgebungen des sog. Web 2.0 (wie z.B. Wikipedia)
erfordern und ermöglichen eine neue Kompetenzform der kritischen Evaluation: Da
in kollaborativen Kontexten z.B. der Content während des Entstehungsprozesses
sichtbar ist, kann sich jede/r an den Überlegungen beteiligen, welche Inhalte
wertvoll und welche zuverlässig sind (Brown und Adler 2008).
Contententwicklung ist eine Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für professionell
produzierte Inhalte zu erlangen (Sonia M. Livingstone 2004, 2). Darüber hinaus ist
Interaktion sowohl mit dem Medium als auch mit dem Content anderer eine
Voraussetzung, Kommunikationsprozesse zu initiieren (Sonia Livingstone,
Couvering, und Thumim 2005, 46ff.).
2.3.3.3 INFORMATIONS- UND INTERNETKOMPETENZ
Parallel zu der primär auf die Broadcasting- und audiovisuellen Medien konzentrierten
Medienkompetenz-Forschung entwickelte sich die Informationswissenschaft mit ihrer
Forderung, Informationskompetenz als zentrale Fähigkeit aufzubauen. Grundsätzlich
sind dabei die einzelnen Kompetenzbausteine mit denen der Medienkompetenz
vergleichbar. Im Unterschied zur linear geprägten Medienkompetenz konzentriert sich
die Informationskompetenz aber auf die dispersen, komplexen, digitalen Systeme, die
eine aktive Komponente beinhalten und Nutzer/innen selbst stärker fordern (Sonia
Livingstone, Couvering, und Thumim 2005, 11).
Diese differenzierte Entwicklung gilt es nach Livingstone in Form einer Konvergenz
der Medien- und Informationskompetenz-Forschung zusammenzuführen, um einen
konstruktiven Weg aufzuzeigen, was v.a. junge Menschen von heute beherrschen
sollten bzw. wie eine kongruente Internetkompetenz ausschauen könnte. Diese könnte
dann als Fähigkeit definiert werden, Zugang zu Online-Informations- und
Kommunikationsinhalte zu finden, diese zu verstehen und kritisch zu hinterfragen
bzw. selbst neuen Content zu entwickeln (Sonia Livingstone 2007, 110). Als
Handlungsebenen zur Herausbildung zeitgemäßer Internetkompetenz könnten dann
folgende an die Medienbildung gerichteten Zielvorgaben geeignet sein (Wolf-Rüdiger
Wagner 2004, 192):
1. Analyse- und Reflexionskompetenz, die die Beteiligung der Medien an der
Sinnproduktion und die Bedeutung der Medien für Individuum und Gesellschaft
zu analysieren vermag;
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 102
2. Methodenkompetenz, die die neuen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung,
Kooperation und Kommunikation aktiv zu nutzen vermag;
3. Lernkompetenz, die die „Nutzung der Medien zur Stärkung problemorientierter,
selbstorganisierter und kooperativer Lern- und Arbeitsformen im Hinblick auf die
Anforderung der Wissensgesellschaft“ (ebd.) i.S. einer neuen Lernkultur
kontinuierlich weiterzuentwickeln vermag;
4. Handhabungskompetenz, die als Grundlage die technischen Potenziale der neuen
Medien flexibel und dynamisch zum Zwecke der Information, Kommunikation und
Kooperation einzusetzen vermag.
Mit dieser Kompetenzpalette dürfte das Internet als Medium und als Werkzeug gut
nutzbar sein für Einzelne. In Zeiten des Web 2.0 müsste die Kompetenz-Debatte aber
auch den Kulturraum in den Blick nehmen, da sich hier bereits neue digitale
Verwerfungen auftun.
„Aside from tracking the differences in domestic and international
Internet growth rates, communication behaviors associated with post
adoption patterns, nature of online activity and informational
literacy have surfaced as newer variants of digital inequality.“
(Cheong 2005, 3)
Es könnte die These formuliert werden, dass erst die aktive Beteiligung an aktuellen
Medienentwicklungen einen Zugang zu weiterführenden Kompetenzmustern (wie z.B.
die Netzwerkkompetenz) ermöglicht. Erst aktives Handeln in einem bis dato
unbekannten Erfahrungsraum provoziert und produziert neue Lernformen (wie z.B.
der Informationsnavigationskompetenz) - weniger abstraktes Wissen (Brown 1999).
2.3.3.4 NETZWERKKOMPETENZ
Netzwerkkompetenz ist eine Fähigkeit, die von allen Jung-Unternehmer/innen zur
persönlichen Eignungsprüfung gefordert wird:
„Netzwerkkompetenz ist die grundlegende Fertigkeit, funktionale
Kontakte zu anderen Personen aufbauen und sie über die Zeit pflegen
zu können. Eine hohe Ausprägung in der Netzwerkkompetenz eröffnet
die Möglichkeit, bei Bedarf hilfreiche Beziehungen zu aktivieren, um
so erfolgreich Unterstützung zu erhalten. Niedrige Netzwerkkompetenz
zeigt sich in dem geringen Bemühen, für den beruflichen Erfolg
möglicherweise förderliche Beziehungen einzugehen.“ (Sonnenberg
2005)
In dieser funktionalen Sicht profitieren nicht nur Individuen, sondern auch
Unternehmen von dem zunehmend globalen Netzwerkmanagement, da Prozess-
Standardisierungen zu größerer Konkurrenz und damit potentiellen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 103
Wettbewerbsvorteilen für einflussreiche Akteure führen (Wente und Walther 2007).
Entsprechend dieser betriebswirtschaftlichen Kalkulation kommt es dabei v.a. auf die
Kontrolle des Netzwerkes nicht im Sinne von Macht, wohl aber im Sinne einer
Mehrwertsteigerung an. Die Erfahrungen und Problemlösungsfähigkeiten der
beteiligten Mitarbeiter/innen und die interpersonalen Fähigkeiten sind stabilisierende,
wie erfolgsbedingte Faktoren für das Gesamtnetzwerk. Soziale Kompetenzen werden
ergo gefordert, um die fachlichen Kompetenzen innerhalb des Netzwerkes qualitativ
erweitern zu können (ebd.).
Dabei entwickelt sich die Mitarbeit in einem Netzwerk umso besser, je mehr die
Beteiligten einen wechselseitigen Zugewinn wahrnehmen. Ein gemeinsames Produkt,
ein kollaboratives Projekt oder eine kooperative Initiative können Ziel und Instrument
der gemeinsamen Netzwerkarbeit darstellen (siehe Abbildung 1 in: Elsholz u. a. 2006,
11) - und weisen auf die Nähe dieses Netzwerkbegriffs zur Community of Practice hin
(ebd., 19). Die Kompetenzentwicklung selbst erfolgt in Netzwerken auf der Basis von
Erfahrungsaustausch und ist
„(...) eine Lernform, in der Netzwerkakteure Wissen und Know-how
einbringen, generalisieren, anwenden und reflektieren. So
unterstützen Netzwerke das individuelle und das organisationale
Lernen.“ (ebd., 14)
Neben die klassischen Fach-, Methoden-, Sozial- und Personalkompetenzen der
beruflichen Handlungskompetenz gesellt sich hier eine Querschnittskompetenz, die
sowohl individuelle, soziale, methodische wie fachliche Anknüpfungspunkte aufweist:
Die Netzwerkkompetenz kann weder bildungstheoretisch am Subjekt noch am
betriebswirtschaftlich geforderten Qualifikationsprofil des Status Quo angebunden
werden. Vielmehr gilt es, die veränderten IKT-Bedingungen zu konstatieren und
Möglichkeiten zu finden, wie auf globaler Basis die drängenden Problemfelder kreativ
gelöst werden können.
Eine der zentralen Komponenten, die innovativen Potenziale des neuen interaktiven
Internets herauszuarbeiten, ist die Selbstorganisationsfähigkeit der beteiligten
Personen und entstehenden „Smart Mobs“ (Rheingold 2003). Die individuelle
Fähigkeit, als Teil einer „kollektiven Intelligenz“ (Surowiecki 2007) zu agieren,
entwickelt sich in diesem Kontext zu einer Schlüsselkompetenz. Selbstorganisation
meint in diesem Kontext nicht nur die individuelle Fähigkeit, das persönliche
Wissensmanagement zu verfeinern und zu optimieren (Reinmann und Eppler 2008),
sondern diese individuellen Handlungskompetenzen mit kollektiven Prozessen zu
verknüpfen - nicht standardisiert, sondern problembezogen je nach Bedarf. Nicht
mehr die langfristige Ausbildung von anschlussfähigen, persönlichen Kompetenzen ist
in dieser Sichtweise das Ziel der Sozialisation, sondern die flexibel vernetzbare,
kommunikative Kompetenz, die sich dynamisch an kontinuierlich sich verändernde
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 104
Situationen anpassen kann.
„Participatory culture shifts the focus of literacy from one of
individual expression to community involvement. The new literacies
almost all involve social skills developed through collaboration and
networking. These skills build on the foundation of traditional
literacy, research skills, technical skills, and critical analysis
skills taught in the classroom.“ (Jenkins 2006, 4)
Nach Jenkins beinhaltet diese partizipative Kultur verschiedene allgemeine
Kompetenzformen (ebd., 8):
Mitgliedschaften in verschiedenen Online-Communities, die sich rund um
Medientechnologien organisieren;
Kreative, mediale Ausdrucksfähigkeit;
Kollaborative Problemlösungsfähigkeit in diversen kollektiven Zusammenhängen;
Fähigkeit, sich in den medialen Zirkulationsfluss einzubringen.
In dieser medientheoretischen Sichtweise leiten sich die Kompetenzen nicht normativ
aus einer ökonomisch verwertbaren oder individuell ethischen Zielsetzung ab, sondern
generieren sich aus der Macht des medial Faktischen. Eine Vielzahl an Personen
bewegt sich in den neuen, sozialen, zunehmend mobilen Medien und bildet neue
Kompetenzen aus, die wiederum zu neuen sozio-technologischen Entwicklungen
führen und derzeit in einer globalen Welle zu revolutionären sozio-ökonomischen wie
sozio-kulturellen Transformationen führen (wie von Castells hinreichend
beschrieben).
Die Medien (und erst recht die neuen sozialen Medien) wirken dabei als „evokative
Objekte“ (Sherry Turkle) und „mimetische Vehikel“ (Walter Benjamin) mit ihrer je
eigenen Logik. Sie sind keine neutralen Agenten, die in alte Umgebungen ohne
Rückwirkung auf die Umgebung implementiert werden können. Insofern aber die
alten Regulationsmechanismen nicht mehr wirken, entwickeln die medial aktiven
Personen Kompetenzen, die keiner bildungspolitischen Steuerung obliegen.
Resultierend haben sich so genannte „Cyborgs“, „post-humane“ Personen selbst
ausgebildet, die aufgrund ihrer Sozialisation in enger Verflechtung mit den
interaktiven, sozialen Medien ein eigenes Kompetenzprofil aufgebaut haben (Adams
2009). Diese Profile der digitalen Residents“ unterscheiden sich von denen der
digitalen „Aliens“, „Visitors“ und „Tourists“ unabhängig vom Alter oder Geschlecht
(JISC 2008, E8): Die Residents leben im Netz und ihre Erfahrungen wirken sich
bereits auf die Bildungsprozesse (z.B. Personal Learning Environments), die
Rechtssysteme (z.B. Creative Commons), die politischen Systeme (siehe die
revolutionären Bewegungen im Nahen Osten) und die sozio-ökonomische Struktur
(z.B. Restrukturierung der Medienindustrie) aus - unabhängig von einem repräsentativ
gebildeten, politischen Willen. Hier bedarf es seitens der Gesellschaft einer neuen,
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 105
normativen Einbindung.
Und dieser Prozess beschleunigt sich: Neue mediale Entwicklungen werden schnell
von Early Adopters zur Kulturtechnik ausgebaut - v.a. von jungen Menschen, weil sie
über diesen Weg das Regulationsregime der Erwachsenen umschiffen und gleichzeitig
eine spezifische Identität ausbilden können (Rheingold 2003, 25). Damit ist noch nicht
gesagt, die herausgebildeten Fähigkeiten passten mit dem sozial geforderten
Anforderungsprofil. Aber individuell bringt die Gaming Generation ein großes
Potenzial für medienpartizipative Kompetenzprofile mit, die sich laut Henry Jenkins
durch 11 Fähigkeiten auszeichnen (Michael Wagner 2008):
1. Experimentelles Spiel: Die Fähigkeit, spielerisch mit Problemlösungsstrategien
experimentieren zu können.
2. Spiel mit Identitäten: Die Fähigkeit, alternative Identitäten annehmen und
erforschen zu können.
3. Modellbildung und Simulation: Die Fähigkeit, dynamische Modelle realer Prozesse
konstruieren, anwenden und analysieren zu können.
4. Wiederverwendung von Inhalten: Die Fähigkeit, Medieninhalte auf kreative Weise
wieder verwenden zu können.
5. Adaptives Multitasking: Die Fähigkeit, die Umgebung global erfassen und bei
Bedarf jederzeit auf einzelne Details fokussieren zu können.
6. Verteilte Wahrnehmung: Die Fähigkeit, kreativ mit Systemen interagieren zu
können, die die Erweiterung kognitiver Kompetenzen ermöglichen.
7. Kollektive Intelligenz: Die Fähigkeit, kollektiv Wissen zur Verfolgung eines
gemeinsamen Ziels produzieren zu können.
8. Bewertung von Medieninhalten: Die Fähigkeit, Glaubwürdigkeit und ethische
Vertretbarkeit von Medieninhalten beurteilen zu können.
9. Transmediale Navigation: Die Fähigkeit, Erzählwelten über mediale
Systemgrenzen hinweg multimedial verfolgen zu können.
10. Informationsvernetzung: Die Fähigkeit, über Netzwerke Informationen und
Wisssen suchen, analysieren und publizieren zu können.
11. Umgang mit alternativen Normen: Die Fähigkeit, unterschiedliche
gesellschaftliche Wertesysteme verstehen und sich alternativen Normen anpassen
zu können.
Insofern hier ein Katalog an Befähigungen vorliegt, der sich aus der individuellen
Mediennutzung in sozialen Medien induktiv ableitet, wäre seitens der Gesellschaft zu
überlegen, wie sie dieses Potenzial sozio-kulturell wie sozio-ökonomisch nutzt - statt
deduktiv abstrakte, politische Erfordernisse zu formulieren, die über
medienpädagogisch abgesicherte Bildungsmaßnahmen an die Heranwachsenden
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 106
ausgeliefert werden. Es könnte darauf zulaufen, nicht nur die medial passiven
Personen auf den vernetzten Weg mitzunehmen, sondern gleichzeitig die Fähigkeiten
der medial aktiven Menschen gesellschaftlich sinnvoll zu kanalisieren. Auf politischer
und pädagogischer Ebene gilt es nach Jenkins gegen drei gesellschaftliche Spaltungen
zu intervenieren (Jenkins 2006, 12ff.):
Die Partizipationslücke betrifft den Zugang, die sozialen wie medialen Kompetenzen
und das Wissen, um an der Welt von morgen voll partizipieren zu können.
Das Transparenz-Problem, das das Bildungssystem von heute nicht den medialen
Realitäten Rechnung trägt und junge Menschen keine klare Orientierung erhalten,
wohin die Reise geht.
Die ethische Herausforderung, die daraus entsteht, dass die traditionellen
Sozialisationsprozesse die Heranwachsenden nicht auf ihre wachsenden,
öffentlichen Rollen als Medienmacher/innen vorbereiten.
In diesem Sinne weitet die Diskussion rund um die Netzwerkkompetenz den verengten
Blick von den einzelnen Internet-Nutzer/innen auf alle gesellschaftlichen
Netzwerkknoten. Die Autonomie des Einzelnen lässt sich in einer vernetzten Welt nur
über den sozialen Bezug wechselseitig garantieren. Es zeichnet sich ab, dass sich die
Bildungspolitik in der Netzwerkgesellschaft von ihrer funktionalen Fokussierung auf
die Passgenauigkeit des Individuums in das sozio-ökonomische Räderwerk lösen und
emergente sozio-kulturelle Prozesse als vernetzte Gesellschaft unterstützen sollte.
2.3.4 ZWISCHENFAZIT: KOMPETENZ F Ü R VERNETZTES LERNE N 43
Netz-Kompetenz ist kein umfassend eingeführter, wissenschaftlicher Begriff. Vielmehr
konzentriert sich das Gros der Fachliteratur zum Kompetenz-Thema auf
medienpädagogische Konzepte, um die webbasierte Informations- und
Medienkompetenz bestimmter Zielgruppen intervenierend zu begleiten. Im Internet
Literacy Handbook der UNESCO44 konzentriert man sich z.B. auf die Beschreibung
des Zugangs und der technischen Nutzung der einzelnen Internet-Funktionalitäten als
Medien.
Allerdings liegt einem solchen Medienbegriff ein lineares Mittelverständnis zugrunde,
das die Entstehung des neuen semantischen Raumes, den das Internet eröffnet,
vernachlässigt (vgl. hierzu Rückriem 2010). So führt beispielsweise die Allgegenwart
der Online-Technologien zu einer beispiellosen Konvergenz von bis dato getrennten
Bereichen (Öffentlichkeit vs. Privatleben, Arbeit und Freizeit, Bildung und
Selbstlernen, Information und Unterhaltung etc.) und damit zu einer Synthese bislang
43 Das folgende Kapitel enthält Auszüge aus meinem Buchbeitrag „Kompetenzentwicklung in vernetzten
Kontexten. Herausforderungen für die Bildungspolitik“ (Anja C. Wagner 2011).
44 http://www.coe.int/t/dghl/standardsetting/internetliteracy/hbk_en.asp
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 107
als getrennt wahrgenommener Fähigkeiten. Die Gesellschaft spaltet sich - entlang der
Bildung, entlang des Portemonnaies (ergo der technischen Ausstattung) und entlang
der sozio-technologischen Generationen.
Gleichzeitig jagen sich die medialen Entwicklungen in einem atemraubenden Tempo.
Die so genannte „net generation“ (Tapscott) ist nicht das Problem, sie nimmt die
neuen, technischen Hürden theoretisch recht schnell. In der praktischen sozialen
Vernetzung können zwar je nach sozio-kulturellem und sozio-ökonomischen
Background (boyd 2008) und je nach Bildungsgrad bzw. individuellem Interesse
(Schulmeister 2008) unterschiedliche Schwerpunkte festgestellt werden - aber das
subjektive Potenzial für die Möglichkeiten der neuen Medien ist gegeben. Den
gesellschaftlichen Kräften gelingt es jedoch kaum, diese Entwicklungen differenziert
und konstruktiv zu begleiten.
Kompetenzen lediglich als individuelle Modi der Weltbegegnung oder basale
Kulturwerkzeuge zu analysieren, vermag nicht die sozio-kulturelle Praxis netzwerk-
kompetenter Handlungen zu greifen. Und so wie Kompetenzen auf unterschiedlichen
Ebenen -von den technischen Grundlagen (Mausbedienung o.ä.) über die
intermediären Fertigkeiten (Internetsuche, Forumsaktivität o.ä.) bis hin zu
fortgeschrittenen Fähigkeiten (Kreativität, Selbstlernen, Partizipation, Kritik)-
konzeptualisiert werden können, so liessen sich diese Ebenen durch soziale Strukturen
fördern: Auf der grundlegenden Stufe gilt es, die Potenziale der Sozio-Technologien
zugänglicher zu gestalten; auf der intermediären Ebene müssen die Fertigkeiten durch
institutionellen Support gefördert und schließlich auf der anspruchvollsten Ebene
bedarf die Netz-Kompetenz gesellschaftlicher Aktivitäten und Diskurse auf politischer,
kultureller wie ökonomischer Ebene (Sonia Livingstone 2007, 114).
Und es bedarf radikaler Diskurse, denn kooperative Netzwerke bewegen sich an der
„Grauzone von Selbstpraktiken, Herrschaft und Macht“ (Reichert 2008, 13). Es
entstehen neue Zwänge der Visualisierung und Vernetzung, die Personen letztlich
keine autonome Entscheidung mehr für oder gegen die Online-Teilhabe garantiert.
Vielmehr erschaffen Medien die Subjekte und Subjekte die Medien wechsel- und
gegenseitig. Wissen basiert in der Konsequenz auf gegebenen Herrschafts- und
Machtbeziehungen (ebd., 23).
Für die Produktion von Wissen wird die Recherche, Analyse, Strukturierung,
Vermittlung und Verarbeitung von Informationen immer wichtiger. Doch
Informationen sind zwar in nie gekanntem Umfang vorhanden, jedoch nicht
uneingeschränkt zugänglich (Dewe und Weber 2007, 10). Hinzu kommt die Vielfalt an
medialen Zugriffsmöglichkeiten und Verarbeitungsroutinen im Zeitalter des Web 2.0,
die für den Informationskreislauf genutzt werden können. Und die letztlich dahin
führen, dass eine Unterscheidung zwischen Daten, Informationen und Wissen
angesichts der Dynamik heute nicht mehr relevant erscheint:
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 108
„Vom Computer produzierte Daten werden vom Subjekt unablässig
interpretiert, in sein Handeln integriert, so dass die selbst
keinerlei Bedeutung tragenden Signale in diesem Prozess zu Wissen
werden können.“ (Schelhowe 2007, 82)
Hier sind zukunftsfähige Kompetenzen gefragt, denn die Wissensproduktion hat sich
verändert: von technischem Wissen hin zu Wissen als soziale Produktion. Seit den
1970er Jahren hat sich in der Folge der Lernbegriff modifiziert vom Instruktionslernen
zum Konstruktionslernen und vom Paradigma des (Fakten-)Wissens zum Paradigma
des Umgangs mit den (Wissens-)Fakten (Göhlich und Zirfas 2007, 191).
Lernkompetenzen werden fortan für die gesamte Lebenszeit sich angeeignet bzw.
kontinuierlich an die individuellen Bedürfnisse angepasst (ebd.). Lernen kann in
diesem Sinne als Spannung zwischen sozial definierten Kompetenzen und persönlicher
Erfahrung definiert werden (Wenger 1999). In diesem „Zeitalter des permanent
unfertigen Menschen“ (Baltes, 2001) wird zudem die „adaptive Ich-Plastizität als
Schlüsselkompetenz“ erwartet als „vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung vom
Lernen fürs Leben zum lebenslangen Lernen“, andernfalls drohe der Ausschluss aus
der gesellschaftlichen Zukunft (Dewe und Weber 2007, 9).
Die Kompetenzdebatte fokussiert demnach auf die Person als zentrale Instanz der
Kompetenzentwicklung. Seitens gesellschaftspolitischer Instanzen wird über den
individualisierten Kompetenzbegriff großer Druck auf die Menschen ausgeübt, damit
diese problemorientiert auf flexible äußere Anforderungen reagieren können und die
nationalen Gesellschaften innovativ weiterentwickeln. Will man dagegen weniger die
funktionale Anbindung an von außen gesetzte Normen oder Ziele (wie staatliche
Entwicklung, Innovationen, persönliche Bildung o.ä.) in den Vordergrund rücken und
eher die Sicht des Einzelnen einnehmen, so kommt der individuellen Handlungs- und
Gestaltungsfähigkeit eine größere Bedeutung zu. Die persönliche Kompetenz zur
Gestaltung von Situationen ist eine andere als fach- oder methodenspezifische
Kompetenzen, um in bestimmten Situationen im Interesse der Wissensökonomie zu
agieren. Die Grundproblematik der gesamten Kompetenzdebatte liegt darin begründet,
dass die sich in einem bestimmten Moment konzentrierende Kompetenz einer Person
analytisch aufgeschlüsselt wird über verschiedene Eigenschaften (Fähigkeiten,
Fertigkeiten, Wissen, Haltungen, Werte), die wiederum als eigene Kompetenzen
beschrieben werden (vgl. dazu Müller-Ruckwitt 2008). Diese begriffliche Vielfalt gilt es
zu vergegenwärtigen, um individuelle Voraussetzungen erkennen zu können, die die
persönliche Handlungsfähigkeit zur aktiven Gestaltung selbstbestimmter
Netzwerkaktivität fördern helfen.
Als zentraler Angelpunkt der Kompetenzdebatte kann die OECD angeführt werden. Im
DeSeCo Project entwickelte sie einen Referenzrahmen für erforderliche
Schlüsselkompetenzen, der sich an vielfältigen Anforderungen und individuellen wie
gesellschaftlichen Zielen orientiert (OECD 2005). Es geht in diesem Verständnis um
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 109
individuelle Erfolgsfaktoren für ein besseres Leben. Dies bedeutet im OECD-Kontext,
dass die Prämissen von Wirtschaftswachstum und Wohlstand in Einklang zu bringen
sind mit nachhaltiger Entwicklung und sozialem Ausgleich (vgl. Rychen 2008, 16). Alle
von ihr entwickelten drei Schlüsselkategorien (Autonomes Handeln, Interaktive
Nutzung von (Medien-)Werkzeugen, Interagieren in sozial heterogenen Gruppen)
lassen sich in ihrer Abstraktheit auch für alternative Lernszenarien diskutieren. Will
man also den Top-Down-Diskurs von primär am globalen Wirtschaftswachstum
orientierten Kompetenzbildern in einen netzbasierten Bottom-Up-Modus überführen,
so könnte es hilfreich sein, die Diskussionen einzelner Schlüsselkompetenzen auf
bestimmte Persönlichkeitsfaktoren für das Netz zu transferieren.
Welche Voraussetzungen müssen Menschen mitbringen, um eine individuelle Netz-
Kompetenz aufzubauen, die es ermöglicht, neben den herrschenden
Netzwerkstrukturen alternative Netzwerke mit gestalten zu können?
1. Autonomes Handeln setzt ein Selbst, ein ICH, voraus. Selbstbestimmung,
Selbstregulation, Selbstorganisation und Selbstlernfähigkeiten sind
methodologische Befähigungen (vgl. kritisch dazu Kirchhöfer 2006, 31ff.), die für
eine individuelle, selbstbewusste Gestaltungskompetenz (de Haan und Harenberg
1999, 62f.) erforderlich sind. Für diese auf die Zukunft ausgerichtete Kompetenz
scheinen bestimmte Persönlichkeitsfaktoren förderlich zu sein: Neugierde und
Kreativität, Initiative und Autonomie, Lernfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein,
Frustrationstoleranz, Improvisationsgeschick und Risikobereitschaft sind
individuelle Voraussetzungen für informelles Lernen (Overwien 2007, 12f.) und
eventuell übertragbar auf autonom handelnde Personen.
2. Zur interaktiven Nutzung von (Medien-)Werkzeugen bedarf es zunächst einer
gewissen Medienkompetenz (vgl. u.a. Wagner 2004), die sich zusammensetzt aus
einer grundlegenden Medienalphabetisierung, d.h. der konkreten Handhabung,
und einer medienspezifischen digital literacy. Die digital literacy wiederum baut
auf dem konkreten Zugang zum Computerzeitalter mitsamt der
medienspezifischen Analyse-, Evaluations- und Contententwicklungs-Skills auf
(vgl. v.a. Livingstone, Couvering, und Thumim 2005). Im Zeitalter der sozialen
Medien erfährt die Informationskompetenz (ebd.) als intermediäre Fähigkeit eine
Komplexitätssteigerung, da jede einzelne Information im space of flows mitsamt
ihrer Umgebungsvariablen identifiziert und im kritischen Selbstdiskurs in das
eigene Wissensnetzwerk integriert werden muss. Damit ist bereits eine spezifische
Internetkompetenz (ebd.) angesprochen, die sich zunehmend mit dem dritten
geforderten Persönlichkeitsfaktor verstrebt.
3. Das Interagieren in sozial heterogenen Gruppen fordert von den Individuen, sich
vorausschauend, interdisziplinär, weltoffen, partizipativ, empathisch und kulturell
reflexiv einzubringen (siehe die Teilkompetenzen zur Ausbildung von
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 110
Gestaltungskompetenz nach de Haan 2004). Dies entspricht im Zeitalter der
Netzwerkgesellschaft einer Netzwerkkompetenz per medialer Verbindungen, die es
ermöglicht, sich problembezogen in temporären, flexiblen Umgebungen zu
bewegen und die individuellen autonomen Fertigkeiten im kollektiven Prozess
anzuwenden.
Allen drei Schlüsselkategorien der OECD liegen demnach -neben den neo-liberal
verkürzten nachhaltigen Prämissen- bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zugrunde,
die sich im vernetzten Zusammenspiel auch als positive Grundlage für ein spezifisches
Netz-Kompetenzprofil einer Person eignen. Denn letztlich entscheiden diese an das
Netz geknüpften, persönlichen Voraussetzungen mit darüber, ob ein Mensch in den
Netzwerken potenziell austauschbar ist oder spezifische, an die eigene Person
gebundene Eigenschaften entwickelt - und damit Netzwerke mit neuen Zielen
gestalten kann. Pädagogischer Unterstützung bedarf es mitunter -je nach
individuellem Talent und Persönlichkeitsstruktur- bei der Entwicklung der
fundamentalen Voraussetzungen, also der Förderung von z.B. individueller Neugierde
und Kreativität, der Ermöglichung von Medienalphabetisierung und der kritischen
Bewertung von medialen Informationen sowie dem Einüben globaler, kollaborativer
Praktiken bzw. der Entwicklung medialer Artefakte.
Ob dafür der betriebswirtschaftlich dominierte „Berater-Kapitalismus“, der u.a. die
internationalen Organisationen beherrscht und ihr eigenes Management- und
Beratungswissen zur gesellschaftlichen Qualität ernennt (Bittlingmayer 2006, 343),
mit formalisierbaren und zertifizierbaren Kompetenzen (mitsamt seiner ökonomisch
durchsetzten Bildungslogik) aufrechterhalten bleiben muss, bleibt fraglich. Vielfältig
vernetzte Communities of Practice (Wenger 1999) und Networks of Practice (Brown
und Duguid 2001), die emergent und freiwillig entstehen, öffnen in der
Netzwerkgesellschaft neue Lernräume und Lernzeiten, die sich über verschiedene
Lebensphasen und -bereiche hinweg informell skalieren.
Folgt man diesen Gedankengängen, entwickelt sich individuelle Netz-Kompetenz nicht
aufgrund formaler Bildungsangebote, sondern sie baut primär auf
Persönlichkeitsfaktoren auf - sofern ein Netzzugang gegeben ist. Das Kollektiv der
vernetzten Menschheit eignet sich die für ihre gewünschte Weiterentwicklung
erforderlichen Fähigkeiten unabhängig von Fachgremien an. Die individuelle
Gestaltungskompetenz überträgt sich hier auf den inter-subjektiven Austausch im
sozialen Diskurs. Durch die kollektive Netzwerkaktivität entsteht de facto eine soziale,
individuelle Kompetenz, die keinem ordnungspolitischen de jure-Programm folgt.
Kompetenz, in diesem Sinne verstanden, könnte demnach auf drei verschiedenen
Ebenen bildungspolitisch begleitet werden:
1. Auf individueller Ebene bedarf es bestimmter Basisfähigkeiten im Sinne einer
Netz-Kompetenz, die als Voraussetzung für den individuellen, nicht-
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 111
standardisierten Kompetenzaufbau im sozialen Netzwerk wirken könnte.
2. Auf sozialer Ebene bedarf es der kompetenten Anerkennung, dass individuelle
Kompetenzprofile u.a. mittels der Mediennutzung prä-konfiguriert werden und die
Gesellschaft sich daran ausrichten sollte - und nicht die Individuen an
gesellschaftlich herrschenden Interessen.
3. Auf ethischer Ebene bedarf es der gesellschaftlichen Kompetenz, innerhalb der
medialen Netzwerke durch aktive Mitarbeit nach einem Ausgleich der Interessen
und Potenziale zu suchen.
Für die Gesellschaft stellt sich die Herausforderung, die zunehmende individuelle
Verantwortung für die eigenen Lernvoraussetzungen, -prozesse und -ziele mit den
Anforderungen einer sozial ausgehandelten, kompetenten Handlungsethik in Einklang
zu bringen (vgl. Göhlich und Zirfas 2007, 193). Ob dieser ethische Maßstab als
persönlicher Output überprüfbar ist und eines pädagogischen Ordnungsrahmens
bedarf, bleibt zumindest zweifelhaft. Drängender erscheint die Frage, wie auf der
ethischen Ebene eine grundsätzliche, offene Debatte entstehen kann, um die
verschiedenen gesellschaftlichen Regulationsbereiche (Recht, Bildung, Politik) unter
den veränderten medialen Bedingungen und kollaborativen Potenzialen neu ordnen zu
können. Dabei lässt sich der normative Rahmen nicht mehr politisch konkret steuern -
vielmehr muss sich dieser an den sich real vollziehenden, medialen Entwicklungen
orientieren und gesamtgesellschaftlich eine kollektive Netzwerk-Kompetenz aufbauen,
die in einem dialektischen Verhältnis zur individuellen Netz-Kompetenz steht.
Abbildung 3: Individuelle Kompetenzen in Abhängigkeit von kollektiver Netzwerk-Kompetenz
Internet-
Komp e t e n z
Medien -
Komp e t e n z
IT-
Kompetenz
Netz-Kompetenz
Handlungs-/Gestaltungskompetenz
Selb s t -
Komp e t e n z
Sozial-
Komp e t e n z
Meth o d e n -
Kompetenz
Fach-
Komp e t e n z
Kollektive
Individuelle Netz-Kompetenz
Netzw e r k -
Komp e t e n z
Komp e t e n z
Netz w e r k -Kom p e t enz
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 112
2.4 ERSTES RESÜ M E E & OFFENE FRAGEN4 5
Das digitale Netz hat die Gesellschaft durchdrungen - es ist von einem Medium für die
Gesellschaft zum zentralen Lebenselexier und Werkzeug herangereift (Castells 2009a).
Netzfreie Inseln werden absehbar nicht mehr existieren (können) - eine größtmögliche
Verlagerung sozio-ökonomischer, sozio-kultureller und sozio-politischer Aktivitäten
ins Netz zeichnet sich bereits ab. Dabei verändern die sozio-kulturellen Auswirkungen
die Politik ebenso grundlegend wie die ökonomischen Prozesse und die persönliche
Identität. Insofern ist eine individuelle Netz-Kompetenz und eine kollektive Netzwerk-
Kompetenz erforderlich als sozio-technologische wie sozio-kulturelle Basis, um die
dynamischen Potentiale des global vernetzten Lernens für die gesamtgesellschaftliche
Weiterentwicklung nutzen zu können.
Lernen kommt hier einer sozial eingebundenen, produktiven, tagtäglichen
Auseinandersetzung der Lernenden mit dem Netz gleich (und entspricht damit dem
Aristoteles'schen Lernverständnis). Die Befähigung zum guten Handeln im Sinne einer
gerechteren Ordnung wird in der Netzwerkgesellschaft machtpolitisch über den
Austausch kultureller Codes und Praktiken im Netz ausgehandelt. Lebenslanges
Lernen geschieht hier alltäglich im sozialen Austausch, oftmals nicht-intentional und
by-the-way - sofern ein Netzzugang gegeben ist. Will man in diesen sozialen Prozess
möglichst viele Menschen einbinden, um Humboldts Ideal der humanen Ausbildung
hin zur Individualität, Totalität und Universalität nachzukommen, braucht es
moderner bildungspolitischer Maßnahmen, damit sich die neue Qualität des
vernetzten Lernens entfalten kann.
Bewegen sich einzelne Personen noch nicht aktiv im space of flows, bedarf es neben
den strukturellen Voraussetzungen ggf. einer extrinsischen Motivation, um sich
hineinzugeben in den Strom und sich die erforderlichen medialen wie sozialen Skills
anzueignen. Das soziale Umfeld ist dabei entscheidend als Schaltzentrale zwischen
Arbeiten, Lernen und Leben und der Verknüpfung der einzelnen Subjekte. In diesem
Umfeld entfaltet sich die Kompetenz und es entstehen Räume für soziale Innovationen
(Kirchhöfer 2006, 34). Im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft wird dieses soziale
Umfeld von lokalen wie vernetzten Räumen konfiguriert: Sowohl der space of flows als
auch der space of places beeinflussen das spezifische soziale Umfeld einer Person -
gleichgültig, ob diese sich aktiv in beiden Ausformungen bewegt oder nicht.46
Ist der Person -aus zugangsbedingten oder psychologischen Gründen (und damit ist
auch die sozio-kulturelle Bedingtheit des Lernens gemeint)- der Zugriff auf den
45 Im Resümee sind auch wieder einige Textstellen meines Buchbeitrages „Kompetenzentwicklung in
vernetzten Kontexten. Herausforderungen für die Bildungspolitik“ zu finden (Anja C. Wagner 2011).
46 Auch BäuerInnen in entlegenen Regionen fernab jedweden Netzwerk-Anschlusses sind z.B. über die
internationale Getreidebörse mit spekulativen Kursentwicklungen mit dem space of flows indirekt
verbunden - allerdings ohne eine Chance, diesen mitgestalten zu können.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 113
Informationsfluss nicht möglich, bedarf es zunächst eines space of places, der
Bildungsangebote bereitstellt, die den persönlichen Interessen entsprechen. Inwieweit
hier räumlich begrenzte Bildungseinrichtungen in einem befristeten Zeitfenster helfen,
einen space of places zu schaffen, der Menschen den Einstieg in den space of flows
ermöglicht, bleibt fraglich. Die Möglichkeit, in den space of flows zu springen, sollte
jederzeit, je nach individuellem Bedarf gegeben sein. Ohne Hürden, ohne Zeitfenster,
ohne Zwang.
Hier ist das selbstbestimmte Lernen gefordert, das im Gleichschritt zur
Selbstorganisation die Fähigkeiten des Einzelnen kontinuierlich an die Erfordernisse
der rasch ändernden Umwelt anpasst. Der kollektiven Netzwerk-Kompetenz kommt
dabei eine Funktion des gesellschaftlichen Sparringspartners zu, der die staatliche
Macht und Kontrolle des Lernprozesses an vernetzte Aktivitäten und die innere
Ordnung eines sich bildenden Menschheitskollektivs abgibt (vgl. dazu Reinmann
2009, 8). Die Frage, die sich stellt, ist eine nach dem Grad der Formalisierung der
Lernprozesse, um eine entsprechende Kompetenzentwicklung zu fördern. Reicht es
aus, pädagogische Multiplikatoren einzusetzen, um die erforderliche Dynamik
anzustoßen? Wohl kaum, sind mit der kollektiven Netzwerk-Kompetenz nicht nur
Personen, sondern auch soziale Prozesse gemeint, die sich in vielfältigen strukturellen
Netzwerkknoten -z.B. zugunsten von Liquid Democracy, Open Data oder Open
Education- äußern können.
In der UNESCO und der OECD hat sich bereits die Erkenntnis durchgesetzt, dass es
einer Verbindung formaler, non-formaler und informeller Bildungsformen bedarf, aus
denen selbstbestimmt Lernende auswählen können sollten (Gerlach 2000, 173). Auch
die Weltbank konstatiert:
„It was not and is not possible to extend lifelong learning with the
traditional model of secondary and higher education; the emerging
modalities open the possibility that a learning system driven by the
needs of learners can emerge.“ (The World Bank 2003, 55)
Andererseits werden informelle Formen der Weiterbildung -wie Radio, Fernsehen,
Internet, Mobile Devices- auch auf internationaler Bühne nur in einzelnen
Pilotprojekten gezielt zum Einsatz gebracht (Overwien 2004). Aber auf diese
Medienpalette muss seitens selbstbestimmt Lernender auch zugegriffen werden, um
grundsätzlich eine Bildungsdynamik anzustoßen, die zum Mainstream anschwillt und
die breite Masse längerfristig erreicht. Wie also begegnet man bildungspolitisch diesen
Anforderungen, wenn die Verantwortung von den Multiplikatoren auf die Lernenden
übertragen werden soll, damit diese selbstbestimmt im vernetzten Austausch zu den
aktiven Interagierenden aufschliessen können?
Beim derzeitigen Kenntnisstand lassen sich weltweit vier verschiedene
Personengruppen mit abnehmender Netz-Kompetenz identifizieren (angelehnt an
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 114
JISC 2008, E8), die sich in den einzelnen Schichten der arbeitsteiligen
Netzwerkgesellschaft -in Wechselwirkung zur kollektiven Netzwerk-Kompetenz- mit
unterschiedlichem Machtpotenzial entfalten:
1. Residents, die als Netz-ArbeiterInnen dynamisch im Netzwerk arbeiten und das
Netz v.a. als Werkzeug zur Gestaltung ihres neuen Kulturraumes nutzen.
2. Visitors, die als digitale ArbeiterInnen auf bestehende Wissensbestände zugreifen
und vorzugsweise ExpertInnen-basierte Medienangebote nutzen bzw. selbst
produzieren.
3. Tourists, die als gelegentliche Onliner ihre präferierten Medien lediglich zu
Freizeitzwecken nutzen.
4. Aliens, die als (Online-)Analphabet/innen entweder keinen Netzzugang haben
oder kein Interesse mitbringen.
Die konkreten Nutzungsszenarien können dabei individuell sehr unterschiedlich
ausgestaltet sein und lassen sich nicht pauschal einzelnen Altersgruppen zuordnen. 47
Wollen diese verschiedenen Gruppen eine netz-adäquate Lernkompetenz erfahren, so
gilt es zunächst nach Treml und Becker (2006), vier Dimensionen eines modernen
Lernbegriffs zu unterscheiden (Dewe und Weber 2007, 34):
Lernen muss von Einheit auf Differenz umstellen;
Lebenslanges Lernen ist erforderlich, um Unvorhersehbarkeiten des sozialen
Wandels begegnen zu können;
Lernen des Lernens, Kontextlernen und Reflexivwerden des Lernens sind
individuelle Faktoren, um sich der Komplexität der Umwelt anpassen zu können;
es kann kein einheitliches Lernziel mehr geben.
Dies spricht für ein individualisiertes Lernkonzept möglichst ohne Standardisierungen
und raum-zeitliche Prä-Konfigurationen im Stile eines Personal Learning
Environments (PLE). Das Netz mitsamt seiner sozio-kulturellen wie -ökonomischen
Dynamik prägt die globale Netzwerkgesellschaft. Den einzelnen Personen tritt es als
individuell gestaltbares System einer sozio-technologischen Umgebung entgegen, das
als aktives Lern- und Arbeitsökosystem im globalen Informations- und
Kommunikationsfluss genutzt werden kann. Diese Umgebung mit langfristiger
Wirkung seitens der Bildungsinstitutionen zu konzipieren, erscheint angesichts der
Netz-Dynamik als aussichtslos. Vielmehr müssen diese individualisierten,
technologischen Umgebungen die autonomen, medialen und sozialen Fähigkeiten
bündeln, während sie sich gleichzeitig alles durchdringend im Sinne des Ubiquitous
und Pervasive Computing ausbreiten. Der konkrete Umgang mit der Netztechnologie
im kollektiven Verbund ist entscheidend für das Leben als „(i)Cyborg“, als virtuelles
47 Siehe der PEW Internet-Report zu Generations Online 2010:
http://pewinternet.org/Reports/2010/Generations-2010/Overview/Findings.aspx (05.03.2011)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 115
Artefakt im realen Raum (Adams 2009). Diesen Prozess auf verschiedenen Ebenen
gesellschaftlich zu flankieren, wird die bildungspolitische Herausforderung der Neuzeit
sein.
Inwiefern sich dabei Personen ihr PLE als Zugang zu den sie individuell
interessierenden Communities und Networks of Practice selbstständig organisieren
und gestalten können, wird im folgenden Kapitel untersucht. Wie die persönliche
Weiterentwicklung dieser Umgebungen gesellschaftlich begleitet werden kann, um
einen geschützten (Lern-)Raum mit einem sozial sanktionierten Zeit-Kontingent im
Sinne Humboldts zu gewährleisten, soll im abschließenden Kapitel zur internationalen
Bildungspolitik diskutiert werden.
© acw User Experience als Flow-Analyse 117
3 USER EXPERIENCE ALS FLOW-ANALYSE
Zentrales Leitmotiv für die folgenden Überlegungen ist die Fragestellung, wie man die
technologischen Hürden so niedrig schwellig wie möglich setzen kann, um den ersten
Schritt, den persönlichen Zugang zur Netzwerkgesellschaft zu erleichtern. Welchen
Beitrag kann eine gute User Experience (UX) leisten, um sich in den Informationsfluss
hineinzubegeben und selbstbestimmt zu schwimmen? Zur Annäherung an diese Frage
empfiehlt es sich, analytisch zu unterscheiden zwischen den grundsätzlichen
Voraussetzungen des technologischen Zugriffs auf das Internet (Accessibility) und
einem nutzerfreundlichen Zugang zu den diversen Informations- und
Kommunikationskanälen (Usability). Wie kann letzterer gewährleistet werden ohne
direkten gestalterischen Einfluss auf das Gesamtangebot? Welchen Beitrag können die
einzelnen Personen selbst leisten? Können hier UX-Analysen weiterhelfen?
Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es eines Wechsels der traditionellen
Blickrichtung: Weg von der Perspektive einer gestaltenden Person, die die Erlebnis-
und Erfahrungswelt von Usern aufzubauen versucht - hin zur Perspektive der
tatsächlichen User, die selbstbestimmt ihre persönlichen technologischen
Umgebungen steuern und gestalten (müssen). Eine Betrachtung der klassischen
Human Computer Interaction (HCI)-Forschung über Barrierefreiheit-Ansätze und
Usability bis hin zu holistischen UX-Analysen zeigt aber: Ausgangspunkt aller Beiträge
ist der vorkonfigurierte Arbeits- oder Erfahrungsraum, der Nutzer/innen entsprechend
des konzeptionell intendierten Bedarfs entgegen kommen soll (Hinze-Hoare 2007).
Vor diesem Hintergrund wurden im Laufe der Jahre Normen, Richtlinien und
Empfehlungen formuliert, um den Gestaltungsprozess zu unterstützen (vgl. Reeps
2006, 85ff.). Es geht bei allen UX-Forschungen um die Frage, wie das Design
gebrauchstauglich und angenehm gestaltet werden kann, um Nutzer/innen mit dem
Anliegen möglichst effektiv und effizient zu bedienen. Insofern fügt sich die klassische
UX-Forschung passgenau in die Vorstellungen eines einheitlichen Wissenstransfers im
Sinne einer Erzeugungsdidaktik ein und nicht in die Notwendigkeit einer
Ermöglichungsdidaktik, die einzelne Menschen die Selbstverantwortung über ihr
Lernen gewährt.48
Angesichts dieser Sichtweise in der HCI-/UX-Forschung gilt es zu untersuchen,
welchen Beitrag deren Ergebnisse leisten könnten, um Usern mehr
Selbstverantwortung im Sinne einer optimalen User Experience zu ermöglichen. Wenn
alle einzelnen, gestalteten, digitalen Angebote seitens der DesignerInnen optimal
gebrauchstauglich, wohldosiert, lernfähig und barrierefrei zur Verfügung gestellt
würden, bleiben in Zeiten personalisierter, digitaler Lern- und Arbeitsumgebungen
weitere Detailfragen offen, die es in dieser Arbeit zu analysieren gilt:
48 vgl. Kap. 2.2.5
© acw User Experience als Flow-Analyse 118
Wie können Anwender/innen selbst ihren Informations- und Kommunikationszugang
über verschiedene Angebote hinweg personalisiert konfigurieren, so dass sie ihre
Vernetzung als positive Erfahrung und nicht als Information Overload erleben?
Können einzelne Kriterien der UX-Forschung für die persönliche Komposition
moderner Lernumgebungen herangezogen werden? Welche spezifische Kompetenz ist
erforderlich, um diese Gestaltungsspielräume für sich zu nutzen? Wie können
Personen ihre Selbstorganisation und Motivation in diesen selbst konfigurierten,
dynamischen, medialen „Lernökologien“ aufbauen? Schließlich: Wie könnte diese
gefördert werden - wenn keine auffallend e-kompetente Net Generation existiert
(Schulmeister 2008), aber Kommunikationsmedien solch eine Attraktivität in sich
bergen (Universal McCann 2008)?
Um diesen Fragen nachzuspüren, soll im ersten Schritt der persönliche Flow (Mihaly
Csikszentmihalyi 1990) -als mögliches Kennzeichen einer positiven UX- im Kontext
der Netzwerkgesellschaft eingeordnet werden. Hier sollen Anknüpfungspunkte
gefunden werden, welche persönlichen Eigenschaften förderlich sind, um eine Netz-
Kompetenz zur Gestaltung und Nutzung digitaler personalisierter technologischer
Umgebungen auf- und ausbauen zu können.
Anschließend wird untersucht, wo verschiedene UX-Forschungsansätze ansetzen, um
an der konkreten Mensch-Maschine-Schnittstelle (MMS)49 den persönlichen Flow von
Usern zu unterstützen, indem sie ihnen über das Design eine positive Erfahrung
ermöglichen. Schließlich gilt es, Ansatzpunkte zu finden, wie Menschen diese
Erkenntniswerte für den kontinuierlichen Ausbau ihrer individuellen Netz-Kompetenz
nutzen können.
Im nächsten Schritt soll der kulturelle Einfluss auf den Umgang mit den MMS -und
damit auf das persönliche Flow-Empfinden- analysiert werden. Dazu werden die inter-
kulturellen Forschungen zur „Software des Geistes“ herangezogen, um die Bedeutung
kultureller Werte für gesellschaftlich tradierte Lehr-/Lernkulturen zu verstehen (Geert
Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004). Mit Blick auf die derzeit entstehende globale
Web 2.0-Kultur werden daraufhin mögliche Veränderungspotenziale nationaler
Besonderheiten in der Netzwerkgesellschaft untersucht.
Im Resümee werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst, indem zunächst
optimale Voraussetzungen für möglichen Flow im space of flows auf verschiedenen
Ebenen festgestellt, aus denen dazu erforderliche persönliche Fähigkeiten abgeleitet
und schließlich mögliche äußere Hemmfaktoren identifiziert werden. Daraus lassen
sich dann offene Fragen generieren, die im folgenden Untersuchungsabschnitt einigen
ExpertInnen gestellt werden können, um bildungspolitische Ansatzpunkte zu finden,
wie sich die persönlichen Flow-Fähigkeiten in der Netzwerkgesellschaft unterstützen
lassen.
49 MMS als deutsche Übersetzung ist synonym zu verwenden mit der „Human Computer Interaction“ (HCI)
© acw User Experience als Flow-Analyse 119
3.1 FLOW-BEGR I F F BEI CASTELLS UND BEI
CSIKSZEN T M IHALY - EIN E GEGENÜBERSTELLUNG
Um persönliche Eigenschaften zu identifizieren, die in der Netzwerkgesellschaft
förderlich sind, sich in den space of flows hinzubegeben, diesen netz-kompetent
mitzugestalten und dabei motiviert die eigene technologische Umgebung entsprechend
auszurichten, empfiehlt sich bereits sprachlich der Flow-Begriff von Csikszentmihalyi.
Zwar erfährt der Flow-Begriff bei Castells und Csikszentmihalyi in der deutschen
Übersetzung eine je unterschiedliche Bedeutung: Kann der Castells'sche space of flows
als „Raum der Ströme“ bezeichnet werden, so charakterisiert Flow im
Csikszentmihalyi'schen Sinne das individuelle Aufgehen im Tun und liesse sich mit „im
Fluss sein“ übersetzen. Aber beiden Flow-Begriffen inhärent ist eine dynamische
Fliessbewegung. Von daher soll nunmehr der Frage nachgegangen werden, wie
Personen Flow für die aktive Gestaltung des space of flows aufbauen können.
Der Psychologe Csikszentmihalyi entwickelte das Flow-Modell im Rahmen der
„positiven Psychologie“ zur Untersuchung optimaler Erfahrungen. Seine vielfältigen
Forschungen in diesem Bereich analysieren die subjektive Erlebniswelt der Gedanken,
Gefühle und Empfindungen, die das persönliche Bewusstsein definieren (vgl. Pfister
2002, 11ff.). Das Flow-Modell ist ein in vielen Forschungskontexten gern zitierter
Ansatz, weil es am Menschen ansetzt und für viele Handlungsszenarien des
Alltagslebens nutzbar ist. Von daher eignet sich das Modell sowohl zur
Motivationsforschung in Lernprozessen als auch z.B. zur Analyse digital vernetzter
Personen. Um Schnittstellen zu erkunden zwischen der „objektiven“
Netzwerkgesellschaft und der „subjektiven“ Erlebniswelt der sich im Flow
befindlichen, digital vernetzten Menschen, soll nunmehr Csikszentmihalyis Flow-
Konzept erläutert und in Bezug gesetzt werden zum space of flows von Castells'.
Daraus lässt sich dann ggf. die erforderliche Kompetenz für den Flow im space of
flows ableiten.
3.1.1 FLOW AUTOTELISCHER PE RSÖNLICHK E I T E N
Das „Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein“ (Mihaly Csikszentmihalyi 2008a,
61) ist das deutlichste Anzeichen von Flow. Menschen im Flow-Zustand sind sich ihrer
(kontrollierten) Handlungen bewusst, nicht aber ihrer eigenen Person als Handelnde.
Teilt sich die Aufmerksamkeit wieder in eine dualistische Perspektive, sieht man sich
von außen, ist der Flow unterbrochen (ebd.). Flow kennzeichnet demnach einen
„optimalen Zustand innerer Erfahrung“ (Mihaly Csikszentmihalyi 2008b, 19), in dem
„Ordnung im Bewusstsein“ (ebd.) herrscht und die Tätigkeit um der Sache selbst
willen“ (ebd., 20) ausgeübt wird.
© acw User Experience als Flow-Analyse 120
„Dies tritt ein, wenn psychische Energie - oder Aufmerksamkeit - für
realistische Ziele verwendet wird und die Fähigkeiten den
Handlungsmöglichkeiten entsprechen.“ (ebd., 19)
Flow kann jederzeit entstehen, wenn mehrere Faktoren im aktuellen Erlebnishorizont
zusammentreffen. Aus den ersten qualitativen Interviews, die Csikszentmihalyi führte,
generierte er eine Reihe spezifischer Merkmale des Flow-Erlebens, die Regula Pfister
in ihrer Dissertation wie folgt zusammenfasst:
„Klare Anforderungen/Ziele und unmittelbare Rückmeldung zur
Qualität des Tuns.
Die Anforderungen der Tätigkeit sind relativ hoch, können aber
mit entsprechend hohem Können gemeistert werden. Anforderungen
und Können sind im Gleichgewicht.
Handlung und Bewusstsein verschmelzen, es findet keine
intellektuelle Reflexion über das Tun oder die eigene Person als
ausführende statt.
Die Aufmerksamkeit ist ausschliesslich auf das Tun fokussiert,
alles andere wird vergessen.
Potenzielle Kontrolle über die Situation, ohne sich dessen
bewusst zu sein oder sich über einen allfälligen Kontrollverlust
Sorgen zu machen.
Verlust des Bewusstseins über sich selbst, Überschreitung der
Grenzen des Selbst, Selbst-Transzendenz.
Veränderter Zeitsinn: Die Zeit scheint wie im Flug zu vergehen.
Das Erleben wird autotelisch: Wenn die Tätigkeit mehrere der
genannten Merkmale aufweist, wird sie autotelisch oder wert, um
ihrer selbst willen ausgeführt zu werden.“ (Pfister 2002, 21)
Diese Merkmale dienten als Grundlage für standardisierte Fragebögen, um den
jeweiligen Flow-Status zu erfassen. Csikszentmihalyi entwickelte die „Experience
Sampling Method“ (ESM) als Zeitstichprobenverfahren, mittels derer die Tätigkeiten
einer Person analysiert werden können, die dem Flow-Erleben nahe kommen. Mit
dieser Methode ist es möglich, aktuelle Alltagssequenzen auf das subjektive, affektive
Erleben zu untersuchen und „Zusammenhänge zum längerfristigen, allgemeinen
Wohlbefinden sowie zur Identitätsentwicklung“ (Pfister 2002, 14) herzustellen. Die
Probanden werden zu diesem Zweck mit für sie unkalkulierbarer Regelmäßigkeit eines
programmierten Signalgebers um eine Bewertung ihrer aktuellen Tätigkeit und ihres
Befindens befragt.
Aus diesen Untersuchungen leitete Csikszentmihalyi zunächst das Diagonalmodell
© acw User Experience als Flow-Analyse 121
(Abbildung 5) ab. In diesem Modell ist die Wahrscheinlichkeit für das Flow-Erleben
dann am höchsten, wenn die Anforderungen und das Können in einem ausgeglichenen
Verhältnis stehen. Allerdings zeigte sich im Laufe der Untersuchungen, dass das
Befinden beim Gleichgewicht von Anforderungen und Können nur dann als positiver
wahrgenommen wurde, „wenn das Gleichgewicht über dem individuellen Durchschnitt
von Anforderungen und Können in der Referenzzeit lag“ (Pfister 2002, 26). Im
Quadrantenmodell (Abbildung 4) wurde das Diagonalmodell entsprechend
weitergeführt (vgl. Mihalyi Csikszentmihalyi 1988).
Beim Quadrantenmodell schneiden sich die Achsen beim individuellen
Durchschnittswert der beiden Dimensionen Anforderungen und Können. Flow
entsteht nur bei einem Gleichgewicht hoher Anforderungen mit hohem Können.
Entsprechen die Fähigkeiten nicht den Anforderungen, baut sich Angst auf. Liegen die
geforderten Anforderungen unter dem persönlichen Durchschnitt, tritt entweder ein
entspannter Zustand ein (bei vorhandenem Können) oder die Person reagiert mit
Apathie oder Langeweile. In zahlreichen Untersuchungen konnte der Nachweis
erbracht werden, dass das Anforderungsprofil für den Flow-Zustand tatsächlich ein
positiveres affektives Erleben produziert als in den anderen Quadranten (Pfister 2002,
74ff. ).
Pfister kritisiert allerdings, dass weitere, oben in der Auflistung aufgeführte Flow-
Merkmale in diesen Untersuchungen nicht berücksichtigt werden und insofern der
Nachweis, ob ausschließlich ein positives Erleben im Flow-Quadranten den
gewünschten Flow-Effekt erzeugt, bislang nicht geglückt sei. Zwar seien
Herausforderungen und Können zentrale Determinanten zur Untersuchung einer
positiven Aktivierung, aber eventuell könnten sich einzelne Personen auch in anderen
Quadranten am wohlsten hlen. Eine Definition der affektiven Erlebensqualität sei
Abbildung 4: Diagonalmodell (vgl. ebd.)
Fähigkeiten
FLOW
Herausforderungen
Abbildung 5: Quadrantenmodell (vgl. ebd.)
Angst Flo w
Apathie/
Langeweile Entspannung
Können
Anforderungen
© acw User Experience als Flow-Analyse 122
erforderlich. Und die Abgrenzung zu anderen, ähnlich positiven Zuständen - unter
Berücksichtigung möglicher negativer Aktivierungseffekte und der Valenz. Dass Flow-
Effekte eher im Arbeitskontext als in der Freizeit entstünden, hänge allerdings primär
mit den Herausforderungen und dem Können zusammen (ebd., 232ff.).
Auch Csikszentmihalyi führt in seinen späteren Untersuchungen an, dass es -neben
einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Herausforderungen und Fähigkeiten- eines
größeren Erfahrungsschatzes in dem Bereich bedarf, in dem Flow entstehen soll,
zuzüglich einer Leidenschaft für die Sache und einer konzentrierten, intrinsisch
motivierten, gelassenen und klaren Fokussierung, die es ermöglicht, einen
ekstatischen Zustand zu erreichen, der eine alternative Realität für das Selbst eröffnet.
Entsteht dieser Flow-Zustand, sind die Voraussetzungen für den größtmöglichen
Lernerfolg geschaffen, da die Person über ihre Grenzen hinaus gehen kann (siehe
Mihaly Csikszentmihalyi 2004).
Schließlich baut Csikszentmihalyi auf dem Flow-Modell eine „Theorie der optimalen
Erfahrung“ (Mihaly Csikszentmihalyi 2008b, 16) auf, um Menschen aufzuzeigen, wie
sie selbst aktiv die „Kontrolle über die psychische Energie“ (ebd., 19) erlangen können.
Der Weg wird über das kontrollierte Bewusstsein beschritten und die daraus
resultierende Fähigkeit, konzentriert einer Aufgabe zu folgen, bis sie erledigt ist. Das
Bewusstsein wird in dieser Sichtweise als „absichtlich geordnete Information“ (ebd.,
45) verstanden, deren Gehalt individuell gefiltert werden muss, um den Inhalt des
eigenen Lebens qualitativ widerzuspiegeln. Entsteht eine Flow-Erfahrung, kann diese
im Nachhinein als Glück oder Freude empfunden werden und das Selbstbewusstsein
komplex stärken (ebd., 19). Allerdings entsteht ein optimales Erleben nur dann, wenn
die Anforderungen sukzessive steigen und die Weiterentwicklung der Fähigkeiten
entsprechend mithalten können (vgl. Mihaly Csikszentmihalyi 1995a, 392). Wichtig ist
also, dass Menschen in einer spezifischen Situation ihre Fähigkeiten voll einbringen
können, weil die situativen Anforderungen ein Wachstum neuer Fähigkeiten
stimulieren (vgl. Mihaly Csikszentmihalyi 2008a, 58ff.). Dabei wird Flow selten über
eine längere Zeitspanne erlebt, sondern es handelt sich um über den gewöhnlichen
Tagesablauf verteilte Mikrophänomene (vgl. Mitchell 1995, 65).
Um ein Flow-Erlebnis aufrechtzuerhalten und als Quelle reiner Freude zu erleben,
bedarf es einer spezifischen Persönlichkeitsstruktur, die Csikszentmihalyi als
„autotelische Persönlichkeit“ bezeichnet. Solche Persönlichkeiten verfolgen zielstrebig,
ihr Bestes zu geben, ohne primär ihren eigenen Interessen zu dienen (vgl. Mihaly
Csikszentmihalyi 2008b, 129). Sie entdecken mit Freude neue Herausforderungen und
eignen sich die dafür notwendigen Fähigkeiten an, während andere Personen eher die
Schwierigkeiten sehen. Eine theoretisch fundierte Definition der autotelischen
Persönlichkeit existiert bislang nicht. Wichtige Kennzeichen einer autotelischen
Persönlichkeit sind - neben diesem als Freude empfundenen Engagement bei neuen
Herausforderungen:
© acw User Experience als Flow-Analyse 123
„(...) ein gutes Selbstwertgefühl, ohne aber egozentrisch zu sein,
eine positive Lebenseinstellung und möglicherweise eine Fähigkeit
zur effizienten Informationsverarbeitung.“ (so Csikszentmihalyi zit.
n. Pfister 2002, 36)
Weitere Ergebnisse zeigen auf, dass autotelische Persönlichkeiten sich generell stärker,
begeisterter und glücklicher fühlen und weniger den Wunsch verspüren, etwas anderes
zu tun - unabhängig von den Herausforderungen und ihren persönlichen Fähigkeiten
(ebd., 38f.). Darüber hinaus empfinden Personen, die sich häufig im Flow befinden,
ihr Leben auch grundsätzlich als positiv (vgl. Mihaly Csikszentmihalyi 1995a, 383).
Inwiefern es jedem Menschen möglich ist, in einen solchermaßen positiv aktivierten
Flow-Zustand zu gelangen, der mit einem Glücks- oder Zufriedenheitszustand
einhergeht und sich möglichst noch auf das gesamte Leben dauerhaft auswirkt, hängt
vermutlich noch von weiteren Persönlichkeitsfaktoren ab, die es noch zu untersuchen
gilt (vgl. Pfister 2002, 249ff.). Und von den sozialen Rahmenbedingungen, überhaupt
aus der Trivialität des Alltags willentlich aussteigen zu können und dafür intrinsisch
belohnt zu werden (Mitchell 1995, 70). Erleben Menschen Entfremdung oder Anomie
in ihrem Alltag, ist das Gleichgewicht zwischen Herausforderungen und Fähigkeiten
gestört und es kann kein Flow entstehen (ebd., 51ff.).
Flow (…) ist überall möglich, wo Einsatz, Energie und Willenskraft
eine sinnvolle und wirkungsvolle Anwendung in der Welt sozialen
Erlebens finden.“ (ebd., 76)
In Kap. 2.1. wurden Castells Analysen zur Netzwerkgesellschaft mit Blick auf ihre
zentralen Aussagen zu a) Zeit und Raum, b) Identität, Kultur und Erfahrung, c)
Technologie und Entwicklung und d) Macht und Gegenmacht subsumiert. In den
folgenden Kapiteln soll Csikszentmihalyis Theorie der optimalen Erfahrung auf diese
Kategorien hin abgeklopft werden, um aus Sicht der Individuen auf die
Netzwerkgesellschaft zu schauen.
3.1.2 BEDEUTUNG VON ZEIT & RA U M IM FLO W
Csikszentmihalyi und andere konstatieren regelmäßig in ihren Untersuchungen einen
individuell gefühlten Zeitverlust beim Flow-Erleben (vgl. Mihaly Csikszentmihalyi und
Isabella S. Csikszentmihalyi 1995). Alle „objektiven“, gesellschaftlichen oder
natürlichen, Zeitkriterien verlieren ihre Bedeutung, weil die Aktivität selbst den
Rhythmus definiert. Zwischen dem Zeitgefühl während der Flow-Erfahrung und dem
tatsächlichen Zeittakt besteht dann kaum eine Beziehung. Diese „Freiheit von der
Tyrannei der Zeit“ (Mihaly Csikszentmihalyi 2008b, 97) lässt vielleicht die Erregung
pulsieren, ist aber nicht entscheidend für das Glücksempfinden während der Tätigkeit,
© acw User Experience als Flow-Analyse 124
in der man gerade aufgeht. Inwiefern dieser persönlich empfundene Zeitverlust
überhaupt zur positiven Qualität der Aktivität beiträgt, ist derzeit noch fraglich (ebd.).
Hingegen fördert Flow einen negentropischen Zustand (definiert als „Abwesenheit von
kognitiven Dissonanzen“ nach Heisig und Rossig), in dem sich ein harmonisches
Gleichgewicht zwischen den Inhalten des Bewusstseins und den individuellen Zielen
der Person einstellt. Da dieser Zustand als so angenehm empfunden wird, versucht
man immer wieder, diesen herbeizuführen (vgl. Schlütz 2002, 26:71). Dies ist
Kennzeichen einer intrinsischen Motivation, die Personen durch die tatsächliche Zeit
begleitet und sie ggf. ihre -der Flow-Erfahrung zugrunde liegende- Aktivität
professionalisieren lässt (vgl. Mihaly Csikszentmihalyi 1995a, 387ff.).
Auf persönlicher Ebene setzt dies allerdings die Fähigkeit voraus, die Elemente des
Alltagslebens zu erkennen und zu kultivieren, die zur psychischen Negentropie
beitragen, so dass möglichst viele Aktivitäten damit angereichert werden können.
Insofern nützt dem Menschen alle freie tatsächliche Zeit nichts, wenn die Qualität des
Erlebens -ggf. inklusive des Verlustes des Zeitgefühls- nicht entsprechend verbessert
wird (ebd., 393f.).
„So gesehen ist eine Gesellschaft, der es gelingt, sinnvolle
Vorkehrungen für die Nutzung ihrer psychischen Energien zu treffen,
eine Nutzung, die jede Handlung im täglichen Leben erfreulich macht
und so vielen Menschen wie möglich ein differenzierteres Bewusstsein
ermöglicht.“ (ebd., 394)
Erst dann herrscht Chancengleichheit, wenn objektive Handlungsmöglichkeiten mit
den subjektiven Fähigkeiten umgesetzt werden können und es der Person
ermöglichen, ihr Potential zu entfalten und sich im Gleichklang mit der Welt zu fühlen
(ebd.). Wenn diese gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sind, spielt die
objektive Zeit keine Rolle mehr - die Menschen bewegen sich im Zustand des
optimalen Erlebens und vergessen mitunter ihre Zeit.
Diese bewusste Auseinandersetzung mit der Aktivität, die sich nicht an externen
Faktoren orientiert, sondern zum Selbstzweck zumindest in diesem Augenblick führt,
entspricht der von Castells diagnostizierten zeitlosen Zeit ( timeless time), die die
Netzwerkgesellschaft charakterisiert. Die zeitliche Sequenzierung hat sich im mobilen
Netz verflüchtigt, weil der Informationalismus als technologische Basis der
Netzwerkgesellschaft verschiedene Netzwerke parallel existieren lässt, die -jede für
sich- wiederum einer eigenen Zeittaktung folgen. Für die Gesellschaft existiert keine
zeitliche Ordnung mehr, die als Orientierungsmarke gelten könnte. Insofern das
Projekt des einzelnen Netzwerkes als Orientierung dient, entsteht durch die
gemeinsame Zielsetzung der Netzwerkbeteiligten eine Verbundenheit, die als
Kommunikationsebene innerhalb des Netzwerkes dient. Jetzt oder Nicht-Jetzt lautet
die zeitliche Binarität jeden Netzwerkes. Dabei verfolgt jedes Netzwerk seine eigene
© acw User Experience als Flow-Analyse 125
Zeit, es entstehen (teilweise unbeabsichtigte) Interaktionen zwischen den einzelnen
Zeiten, die Störungen im flow of social time provozieren.
Indem jede Person aber verschiedenen sozialen Netzwerken angehört, entsteht ein
„vernetzter Individualismus“ (Wellman 2003) als soziales Muster, der das Zeiterleben
individuell synchronisiert. Denn aus der Perspektive der in verschiedenen sozialen
Netzwerken aktiven Person entsteht eine Binnenansicht, die einen individuell
zugeschnittenen Zusammenhalt offenbart - zumindest, wenn sie sich in einem Flow-
Zustand befindet und von daher in einem geordneten Bewusstseinszustand agiert. Ist
dieser Flow-Zustand unterbrochen, schlägt die binäre räumliche Logik Castells' zu; die
Person sieht von außen auf die verschiedenen Netzwerke und stört sich vielleicht an
den unterschiedlichen Zeitrhythmen.
Eine Zusammenfassung der Zeithorizonte sähe wie folgt aus:
Neben der synchronen Zeit (Tag/Nacht, 24/7) existiert eine zeitlose Zeit der
Netzwerkgesellschaft, vernetzte Zeiten mit jeweiliger Eigendynamik und eine
individuelle Zeit, die zwischen den persönlich involvierten, vernetzten Zeiten switcht
und möglichst die eigenen (Netzwerk-)Aktivitäten in einen Flow ohne Zeitempfinden,
eine eigene zeitlose Zeit, fallen lässt. Die inter-subjektive Zeit wird in der
Netzwerkgesellschaft von den individuellen Zeiten gesetzt, die als einzige eine
verbindliche Synchronisation der sozialen Interaktion erlauben - wenn auch mitunter
vermittelt über asynchrone Verbindungen der Netzwerke.
Gleichzeitig lässt die Netzwerklogik nach Castells eine veränderte Verortung entstehen,
die in einer nonlinearen Organisation mündet. Die Menschen interagieren in ihren
diversen Netzwerken mit unterschiedlichen Zeitrhythmen und gestalten so den space
of flows als primär geteilten Raum, der konsequenterweise auch den space of places
verändert: Nur die Plätze, die ideale Sprungbretter in den space of flows bieten, sind
geeignet, Netzwerkknoten zu bilden.
Da Individuen in der Netzwerkgesellschaft nicht umhin kommen, sich als
Netzwerkknoten anzubieten, um die Netzwerke mitzugestalten, ist zu untersuchen, wie
hier ein individueller Flow entstehen kann. Voraussetzung wäre wohl, dass die Person
überhaupt erst einmal andocken kann in der fragmentierten geographischen Ordnung,
die der space of flows geschaffen hat. Dabei gilt es, die schwarzen Löcher individuell zu
umgehen oder sozio-politisch zu überbrücken. Im digitalen Raum bedeutet dies, dass
die individuelle Zielsetzung der Aktivität, die ein Merkmal des Flow-Begriffs
Csikszentmihalyis ist, anschliessen können muss am physischen IKT-Netzwerk, um
sich dort überhaupt als Netzwerkknoten eines zweckgerichteten, temporären
Netzwerkes einrichten zu können. Erst dann kann sich der temporäre, persönliche
Raum des Menschen im Flow-Zustand in den space of flows begeben und die
individuelle Zeit kann über verschiedene Orte mitfliessen.
Nun meint Castells, dass sich Menschen im lokalen Raum in einer anderen Zeit
© acw User Experience als Flow-Analyse 126
bewegen als die Informationseliten - ohne dass es gemeinsame Schnittstellen gäbe.
Diese Aussage lässt sich in der Sichtweise Csikszentmihalyis nicht aufrechterhalten: Im
Flow-Zustand existieren keine elitären Zugänge - sowohl BergbäuerInnen als auch
Wallstreet-Broker können Flow-Erlebnisse generieren (vgl. Mihaly Csikszentmihalyi
1995a, 378ff.). Deren zeitlose Zeit ist vom persönlichen Empfinden her vergleichbar -
allerdings nicht in der Kompatibilität ihrer Auswirkungen. Die zeitlose Zeit der
Netzwerkgesellschaft verbindet die Menschen nicht mehr - die Verbindung muss über
Netzwerkknoten laufen, die in mehreren Netzwerken wirken.
In der Konsequenz bleibt festzuhalten, dass Flow aus subjektiver Sicht auch
unabhängig vom space of flows entstehen kann. Einfluss auf die gesellschaftlich
prägenden Netzwerke der Netzwerkgesellschaft aber kann nur ausüben, wer über den
space of places in den space of flows einsteigt und die persönliche Zielsetzung mit
mindestens einem Netzwerk verbindet. Erst dann lässt sich Flow im space of flows
erleben.
Seitens der einzelnen Person muss dieser Einstieg nicht zwangsläufig über digitale
Schnittstellen geschehen, wohl aber über die Einflussnahme auf die
Verbindungspunkte verschiedener Netzwerke - und diese sind zunehmend digitalisiert.
3.1.3 IDENTITÄT UND MACH T BEI AUTOTE L I S C HEN
PERSÖNLIC H K E ITEN
Wie also kann man als Person Einfluss nehmen auf die Gestaltung der
Netzwerkgesellschaft? Nach Castells kann Macht genau an den Verbindungspunkten
ausgeübt werden, die u.a. die zeitlose Zeit der Netzwerkgesellschaft zu synchronisieren
vermag.50 Dabei entspricht Macht in der Netzwerkgesellschaft einer symbolischen
Gewalt über die kulturellen Codes und Protokolle. Kultur, verstanden als Prozess und
nicht als Inhalt. Dieser Prozess ist strukturell determiniert: Die verschiedenen
Netzwerkknoten bedingen sich wechselseitig, sowohl was die Identität des Einzelnen
als auch des Netzwerkes angeht. Ist ein spezifischer Netzwerkknoten für das Gesamt-
Netzwerk nicht mehr von Bedeutung, wird er umgangen. Diese potentielle
Bedeutungslosigkeit jedes einzelnen Netzwerkknotens, und im Zweifel auch jeden
Individuums als Netzwerkknoten, bedarf einer stabilen individuellen Identität.
Die Gestaltungsspielräume individueller Identitätsentwürfe haben durch das Internet
erheblich zugenommen. Erzählte Netzidentitäten stehen archivierten Netzprofilen
gegenüber und erobern sich einen Autonomieanspruch gegen die Vereinnahmung der
Herrschaftsstrukturen der Netzwerkgesellschaft. Das Selbst setzt sich gegen das Netz
zur Wehr - und nur diese selbst konstruierte, primäre Identität, die sich selbst erhält,
über Raum und Zeit hinweg, bietet den Menschen in der Netzwerkgesellschaft einen
50 Siehe Kapitel 2.1.5
© acw User Experience als Flow-Analyse 127
Sinn.
„Die 'digitale Elite' setzt sich aus Akteuren zusammen, die
mehrheitlich am Projekt einer personalen Identität festhalten. Wer
in diesem Kreis nach Vertretern einer postmodernen Ich-Auflösung
sucht, sollte sich auf Enttäuschungen gefasst machen. Es mag paradox
klingen, aber allem Anschein nach entsteht eine besonders stabile
Identität gerade im Umgang mit einer Maschine, die ungeahnte
Spielräume der Kontingenz und der Verunsicherung öffnet.“ (Ellrich
2002, 110)
Gleichzeitig sind die sich herausbildenden, kulturellen Charakteristika für eine Person
im Rahmen der geteilten Kultur konstitutiv und beeinflussen deren Identität. Im
Kontext des Wandels (re-)konfiguriert sich der stabile Kern ständig weiter und führt
zur Individuation“ (Giddens). Indem ständig neue Symbole und kulturelle Codes
produziert und in die sozialen Organisationen und Institutionen diffundiert werden,
entsteht das Machtpotential der „realisierten Virtualität“ (Castells). Castells
diagnostiziert die oppositionellen, sozialen Bewegungen als Hauptquelle kollektiver
Identität und als Schlüsselmotor sozialer Innovation.
Neben der kulturellen Hegemonie auf gesellschaftlicher Ebene kennzeichnet Macht in
der Netzwerkgesellschaft eine temporäre Beziehung, verwaltet in kurzfristigen
Projekten. Macht demonstriert sich in der Einflussnahme auf die Zielsetzung des
Netzwerkes oder in der Fähigkeit, als Verbindungsglied zwischen verschiedenen
Netzwerken strategisch zu wirken, um Synergien zu entwickeln bzw. zu kontrollieren.
Fehlt diese Möglichkeit, sich in der Netzwerkgesellschaft identitätsbildend
einzubringen, ist die Gefahr gegeben, Opfer tradierter Werte und Codes zu werden, die
von den Machtbeziehungen des space of places dominiert sind.
Die IKT-Flows gewinnen dabei an Bedeutung, weil sie in die Institutionen
hineinreichen und über deren Vermittlung neue Symbole der Sinnstiftung einfliessen
können.51 Hier konkurrieren auf globaler Ebene die Netzwerke des Wohlstands, der
Macht, der Informationen und der Bilder, die im space of flows zirkulieren. Die
technischen Potenziale der neuen Medien unterlaufen traditionelle Vermachtungen im
space of places. Die „Internet-Galaxis“ mit ihrer zufälligen Mischung an Bedeutungen
fordert die Subjekte heraus, ihre eigene Bedeutung zu finden und sich im
kommunikativen Austausch von Symbolen auf elektronischer Grundlage einzubringen.
Die alte „Gutenberg-Galaxis“ ist abgelöst und auch das alte Urheberrecht ist fortan
nicht mehr an die Person gebunden, sondern an den Zeitgeist, der die Medien sich
stetig verändernd im Kulturraum Internet kursieren lässt. Digitale Informationen
können nicht mehr als geistiges Eigentum weitergereicht werden, da sie sich im
zeitlichen Fluss bewegen - als Symbol, das sich zeitlich verändert und nicht mehr als
51 Vgl. dazu Castells in Kap. 2.1.3
© acw User Experience als Flow-Analyse 128
statische Einheit, die verkauft oder lizenziert werden kann.52
Die Frage, die sich nun aufdrängt, ist die, ob autotelische Persönlichkeiten in der
Netzwerkgesellschaft generell einen stabileren Identitätskern ausbilden und ggf. die
Machtmechanismen für ihre Zielsetzungen nutzen. Es spricht einiges dafür, denn die
Fähigkeit einer autotelischen Person, sich intrinsisch zu belohnen, demonstriert eine
klare Abgrenzung des Selbst vom Netz. Zudem nutzt eine solchermaßen aktive
Persönlichkeit die Netzwerke funktional für ihre Zwecke. Sie kontrolliert ihre
Netzwerktätigkeiten und es ist davon auszugehen, dass diese Person versucht, die
Netzwerke in ihrem Sinne zu transformieren.
Was aber ist Sinn? Nach Csikszentmihalyi bedeutet Sinn,
„(...) Ordnung in den Inhalt des Bewusstseins zu bringen, indem die
Handlungen eines Menschen zu einer einheitlichen Flow-Erfahrung
gefügt werden“ (Mihaly Csikszentmihalyi 2008b, 283).
Der konkrete Inhalt ist dabei gleichgültig. Einen Lebenssinn vermag jedweder
einheitliche Zweck vermitteln - im Rahmen des sozio-kulturellen Kontextes. Denn jede
Kultur und jeder Mensch verfügt über diverse Kombinationen an sinnlichen und
ideatischen Weltsichten. Eine sinnliche Kultur organisiert ihre Ziele nach ihren
Sinnen, die die Realität befriedigen soll - an Herausforderungen setzen Menschen
dieser Kultur sich Ziele, das Leben angenehmer, bequemer und lustvoller zu gestalten.
Demgegenüber betonen ideatische Kulturen die nichtmateriellen, idealistischen Ziele.
Zentrale Herausforderungen drehen sich um die spirituelle Ordnung (ebd., 287).
Psychologisch gesehen, durchlaufen Menschen während ihres Lebens verschiedene
Stadien der Sinnstiftung entlang einer Spirale der Komplexität, basierend auf einer
dialektischen Spannung zwischen Differenzierung und Integration. Das individuelle
Leben besteht in dieser Sichtweise aus einer Reihe verschiedener Schritte, die
unterschiedlichen Zielen und Herausforderungen folgen, die sich mit der Zeit und der
persönlichen Weiterentwicklung verändern. Komplexität entsteht durch die
Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und den Kräften ausserhalb der eigenen
Individualität (ebd., 291f.).
In der Spiegelung dieser psychologischen Sinndeutung auf die Sinnstiftung des
vernetzten Individuums lässt sich ermessen, welche Bedeutung einer erzählten
Identität zukommt: Das Selbst dokumentiert seine Entwicklung hin zu einer
komplexeren Persönlichkeit. Insofern es sich um eine autotelische Persönlichkeit
handelt, wird sie diese erzählte Identität zur Verfolgung der eigenen Interessen und
Zielsetzungen nutzen. Sie bietet sich als Netzwerkknoten im grossen Spiel der
Netzwerkgesellschaft an und kann ggf. über ihre Vermittlungsrolle im Stile der sich
konnektivistisch durchsetzenden Remix-Kultur Einfluss nehmen auf die von ihr
52 Die Bedeutung des geistigen Eigentums als identitätsstiftendes, politisches Äquivalent zum materiellen
Eigentum ist ein seit der Aufklärung wesentliches Charakteristikum der westlichen Ideengeschichte.
© acw User Experience als Flow-Analyse 129
bespielten Netzwerke.
Vielleicht besteht die Gefahr, im Machtspiel selbst eine Flow-Erfahrung zu generieren,
so dass der Machterhalt oder gar die Machtausdehnung zur zentralen Antriebsfeder
werden. Allerdings zeichnet eine autotelische Persönlichkeit aus, nicht die Kontrolle
über andere, sondern das Eintauchen in eine autotelische Aktivität als zentrales Motiv
des Handelns anzustreben. Indem Flow-Erfahrungen zwar ein Feedback verlangen,
um das intendierte Ziel zu erreichen, könnten kontrollierte Personen vielleicht als
positive Belohnung verstanden werden - dies aber nur als Mittel zum Zweck. Es liesse
sich daraus schliessen, dass nicht die konkrete Machtausübung zum Flow-Erleben
einer autotelischen Person beiträgt, wohl aber das Machtstreben, das sich bereits im
Moment des Zielerfolges selbst überholt hat. Macht als Selbstzweck kann kein Flow-
Erleben provozieren - lediglich als temporäres Mittel.
Andererseits besteht die Gefahr, langfristige Ziele nicht realisieren zu können, da die
Person die Rahmenbedingungen des Tuns aus den Augen verliert und in den
konkreten autotelischen Aktivitäten aufgeht. Diese weltvergessene Verfolgung eigener
Ziele kann allerdings bei einer autotelischen Persönlichkeit nur im Stadium der
selbstbezogenen Integrität zutreffen - im Zuge ihres eigenen Komplexitätsaufbaus wird
die Person sich bald der Welt außerhalb ihrer eigenen Grenzen zuwenden. Ein auf sich
zentriertes Selbst kann demgegenüber nicht komplexer werden, weil es aufgrund der
Konzentration auf die unmittelbaren Ziele an psychischer Energie fehlt, Neues zu
lernen.
Bleibt die Frage, ob das Flow-Erleben kulturell bestimmt oder universale Gültigkeit für
sich beanspruchen kann: Csikszentmihalyi meint, die Dynamik des Erlebens, die
Freude hervorbringt, sei in allen Kulturen vergleichbar. Es könnten lediglich
interkulturelle Unterschiede konstatiert werden, was die konkreten Inhalte der
Aktivitäten anbelange, die Flow hervorbringen. Das Prinzip selbst gelte universell,
denn es handelt sich beim Flow um „Konfektionsware des Lebens“ und kein
Luxusempfinden (Mihaly Csikszentmihalyi 1995a, 379).
„Die wichtigsten Dimensionen des Flow-Erlebnisses - das intensive
Eingebundensein, die hohe Konzentration, die Eindeutigkeit der Ziele
und der Rückmeldungen, der Verlust des Zeitgefühls, die
Selbstvergessenheit und Selbst-Transzendenz, die alle zusammen zur
autotelischen, d.h. zur intrinsisch belohnenden Erfahrung führen -
gehören in mehr oder weniger der gleichen Form zum Erfahrungsgut von
Menschen in aller Welt.“ (ebd., 378)
Zusammengefasst deutet sich an, dass autotelische Persönlichkeiten ideale
Netzwerkknoten in der Netzwerkgesellschaft sind. Aufgrund ihrer selbst definierten
Zielsetzungen grenzen sie ihre zusehends komplexer werdende Identität gegen den
Herrschaftsanspruch des Netzes ab. Sie nutzen Netzwerke, wann immer es ihren
© acw User Experience als Flow-Analyse 130
Zielen dient und werden diese wahrscheinlich zu ihren Gunsten gestalten. Insofern
bringen sie ihre Interessen als Netzwerkverteiler zwischen diversen Netzwerken ein
und fungieren damit als Machtspieler/innen. Kulturelle Codes und Protokolle werden
sie mitgestalten, nicht um ihr Ego zu glorifizieren, sondern um ihr Flow-Erleben zu
optimieren.
3.1.4 EI N FLUSS V O N TECHNOLOGIE & EN T WI CK LU NG A U F
FLOW-ERLEBE N
Castells zeigt auf, wie sich die globale Ökonomie nach der Wirtschaftskrise in den
1970er Jahren im Sinne einer internationalen Arbeitsteilung restrukturiert hat.53 Vor
allem die westlichen Industriestaaten mutierten zu Wissensgesellschaften, deren
wesentliche Antriebskraft und Mehrwert generierende Facette die Innovation darstellt.
Zentraler Motor der sozialen Dynamik stellen Technologien dar, die von verschiedenen
technologischen Eliten mit unterschiedlichen Interessen vorangetrieben werden.
Reguliert wird diese neue Weltwirtschaftsordnung von den globalen Finanzmärkten,
die sich als „Automaton“ (Castells) von der Realwirtschaft gelöst haben und die
Spielregeln zugunsten flexibler Netzwerke forcieren. In der Konsequenz entstand in
der Netzwerkgesellschaft mit ihren globalen Netzwerkknoten ein neues, international
anzulegendes Schichtenmodell entlang der neuen räumlichen Flows. Diese Schichten
lassen sich nicht mehr regional, sondern global über alle space of places
segmentieren.54 In welchem Segment einzelne Menschen landen, hängt von sozio-
kulturellen Einflussgrößen, sozio-ökonomischen Verschiebungen und dem
individuellem Aufstiegspotenzial ab - neben den sozio-technologischen Möglichkeiten.
Die IKT-Technologien verbinden die Netzwerkknoten und im Umgang mit diesen
Technologien manifestiert sich, welcher Schicht die Person zukünftig angehört bzw.
welchen Einfluss diese Person auf die Weiterentwicklung der Netzwerke ausüben
kann. Denn grundsätzlich stehen die IKT-Technologien allen Personen in allen
Schichten zur Verfügung - sofern ein physikalischer Zugang gegeben ist. Sie können
sich je nach persönlicher Netz-Kompetenz als Residents, Visitors, Tourists oder Aliens
(JISC) in den Netzen bewegen.55 Wollen Menschen also Einfluss auf die
Netzwerkgestaltung nehmen, so müssen sie die Kultur der „realen Virtualität“
(Castells) als aktive Residents mit gestalten. Nur so lassen sich alternative Flows
zwischen den Netzwerkknoten generieren, so die erweiterte These Castells'. Der
Kulturraum Internet lässt sich demnach nur von Personen im Sinne einer gerechteren
Weltordnung mit gestalten, die dort aktiv leben. Alle anderen schauen -mehr oder
53 Siehe Kap. 2.1
54 Siehe Kap. 2.1.4
55 Siehe Kap. 2.4
© acw User Experience als Flow-Analyse 131
weniger interessiert- zu, wie sich herrschende sozio-ökonomische und sozio-politische
Interessen auch in diesem Raum versuchen durchzusetzen. Aber, wie entsteht die
erforderliche intrinsische Motivation, nicht nur existierende Mensch-Maschine-
Schnittstellen als Visitors oder Tourists zu nutzen, sondern auch die persönliche
Fähigkeit aufzubauen, autotelische Aktivitäten in digitalen Netzen zuzulassen?
Daniela Schlütz zeigt in einer Untersuchung des Flow-Erlebens beim Computerspiel
auf, dass das Spielen eine autotelische Handlung ist, die intentional und
selbstzweckhaft ausgeübt wird. Handlung ist Voraussetzung für Flow-Erleben, um
einen negentropischen Zustand zu erreichen. Insofern bedarf es der Interaktivität, um
als Bildschirmspiel eine handelnde Auseinandersetzung zu ermöglichen. Erst wenn
Handelnde die Steuerung über ihre Spiel-Agenten erhalten, ist Immersion möglich
(vgl. Schlütz 2002, 26:28f.). Wie könnten diese spielerisch generierten Flow-Zustände
auch in anderen Zusammenhängen erlebt werden? Mihaly Csikszentmihalyi führt der
Kulturhistoriker Johan Huizinga (1939) an, der erkannte, dass alle „ernsthaften“,
gesellschaftlichen Institutionen (Wissenschaft, Jurisprudenz, Künste, Religion,
Militär) als Spiele starteten. So resultierte die Wissenschaft in jeder Kultur aus dem
Rätselwettstreit, der einen wesentlichen Teil des Opferkultes darstellte und in dem
Menschen sich wechselseitig herausforderten, größtenteils unter Einsatz ihres Lebens
(Huizinga 1987, 13). Auch der Soziologe Richard G. Mitchell, Jr. zeigt auf, wie die
wissenschaftliche Neugier sich aus derselben Quelle speist wie das ursprüngliche Spiel:
„Kreative Handlungen jeder Art und jedes Niveaus (...) setzen eine
Bereitschaft voraus, sich auf flüchtige, fließende Prozesse
einzulassen und das eigene Selbst Kräften zu überlassen, die nicht
unter der eigenen Kontrolle stehen.“ (Mitchell 1995, 74)
Insofern sei jedes kreative Leben sowohl anspruchsvoll als auch herausfordernd und
anstrengend zugleich. Das Leben in Sicherheit ohne Stress ermögliche kein Flow-
Erleben (ebd., 75). Eine autotelische Persönlichkeit rdert die Entstehung von
Kreativität, weil sie sich nicht an extrinsischen Belohnungen orientiert - vielmehr
motiviert sie sich intrinsisch (Mihaly Csikszentmihalyi 1995a, 388). Flow entsteht
dann, wenn eine Erfahrung als Selbstzweck gemacht wird. Jede primäre
Instrumentalisierung des Flow-Konstrukts als Mittel zur Erreichung anderweitiger
Ziele, muss nach Mihaly Csikszentmihalyi zum Scheitern verurteilt sein bzw. geht in
dem Moment das Flow-Erlebnis verloren (ebd., 389).
„Klare Ziele, überdurchschnittliche Anforderungen, abgestimmt auf
die eigenen Fähigkeiten, und eindeutige Rückmeldungen tragen
zusammen dazu bei, daß eine Person in ihrer Aktivität aufgeht. (…)
Dies ist der geordnete, negentropische Bewusstseinszustand, den wir
Flow genannt haben.“ (Mihaly Csikszentmihalyi 1995b, 48)
Dieser Zustand bestätigt dem Menschen in vergnüglicher Weise die Ordnung des
© acw User Experience als Flow-Analyse 132
Selbst. Und das ist der Grund, warum die Person versuchen wird, diesen Zustand
wiederholt herbeizuführen. Der Wiederholungsprozess führt wiederum zu einer
kulturellen Auswahl, da im kollektiven Gedächtnis solch positiv assoziierten Praktiken
die größte Chance haben, sich zu verankern.
Flow ist ein Gefühl, das der Mensch entwickelt hat, um
Handlungsmuster zu erkennen, die es sich zu kultivieren und den
Nachkommen weiterzugeben lohnt.“ (ebd., 49)
Vermag eine nennenswerte Anzahl an Individuen „im Vollzug ihrer jeweiligen sozialen
Rollen das Flow-Erlebnis nicht integrieren“ (Mihaly Csikszentmihalyi 1995a, 383),
dann wird die Weitergabe kultureller Werte und Praktiken behindert. An diesem Punkt
stehen wir heute in vielen Themenfeldern - u.a. dem der Bildung.
„Auf lange Sicht kann ein langweiliges System schlicht nicht
bestehen. Jede Gesellschaft ist wesentlich dadurch gekennzeichnet,
wie sie Möglichkeiten für Erfahrungen kreativen Selbstausdrucks
institutionalisiert.“ (Mitchell 1995, 74)
Das Flow-Prinzip zu begreifen, erleichtert es zu erkennen, welche Institutionen eher
Ordnung im Bewusstsein hervorrufen und welche eher Unordnung initiieren. Aus
diesen Analysen liesse sich dann die Richtung der soziokulturellen Evolution erahnen
(vgl. Massimini, Mihaly Csikszentmihalyi, und Delle Fave 2008).
Zusammengefasst bedeutet dies: Flow ist ein entscheidender Faktor zur
Weiterentwicklung der kulturellen Entwicklung. Sollen Menschen selbstbestimmt ihre
Chancen zur Teilhabe an der Netzwerkgesellschaft wahrnehmen, ist nicht nur ein
offener Umgang mit aktuellen IKT-Technologien notwendig, sondern eine intrinsisch
motivierte Entwicklung spezifischer, an der Person haftender Persönlichkeitsfaktoren
und das Einbringen der eigenen Kreativität in die Netzwerkgesellschaft gefordert. Über
die kontinuierliche Anpassung neuer Fähigkeiten an wachsende Herausforderungen
entsteht Ordnung im individuellen wie kollektiven Bewusstsein, das institutionell
störende Faktoren zu identifizieren vermag und entsprechende Alternativen für die
eigene Weiterentwicklung sucht. Über diesen Weg könnten sich auch „strukturell
irrelevante“, sozial exkludierte Personen und Producers of high volume wieder aktiver
als Residents der digitalen Netze ins Spiel einbringen. Auch um die weitere
Entwicklung der Weltgesellschaft nicht den herrschenden oder technologischen Eliten
der Producers of high value zu überlassen, die persönlich mitunter selbst nur als
Visitors, Tourists oder gar Aliens in den Netzen aktiv sind und lediglich den
Regelkreisen des Automaton folgen.
© acw User Experience als Flow-Analyse 133
3.1.5 ZWISCHENFAZIT: ERFORDERLICHE KOMPETENZ FÜR DE N
FLOW IM FL O W
In der Netzwerkgesellschaft verbinden sich vielschichtige Netzwerkknoten zu einem
neuronalen Dickicht. In diesem Dickicht fliessen die Informationen -von Knoten zu
Knoten- transportiert über das digitale Netz der IKT-Technologien. Es generiert sich
ein space of flows, der den Lauf der Weltgeschichte auf verschiedenen Ebenen
definiert: In der Finanzwirtschaft ebenso wie in der Konfiguration global verteilter
Unternehmensnetzwerke oder dem diskursiven Austausch einzelner Personen in
zentralen oder dezentralen sozialen Netzwerken.
Voraussetzung zur persönlichen Teilhabe an diesen fließenden Informationen -und
somit am Schicksal der eigenen Vernetzung und Einflussnahme- ist zunächst der
physikalische Zugang zum Netz. Zudem bedarf es bestimmter Fähigkeiten, um sich als
Person im space of flows flexibel bewegen und aktiv beteiligen zu können. Da die
Netzwerkverbindungen selbst wichtiger sind für die soziale Integration der Personen
als der spezifische, fliessende Content, ist eine individuelle Netz-Kompetenz
erforderlich, sich in diesen Fluss hineinzubegeben und sich aktiv an der Zirkulation
der Informationen zu beteiligen. Wie in Kap. 2.4 beschrieben, kann eine bestimmte
Komposition an Persönlichkeitsmerkmalen förderlich sein zum Auf- und Ausbau
dieser Netz-Kompetenz.
Die Forschungen Csikszentmihalyis laufen auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur
zu, die sich intrinsisch zu motivieren vermag, um die Möglichkeiten der
Netzwerkgesellschaft aktiv zu nutzen. Autotelische Persönlichkeiten können die sich
ständig neu stellenden Herausforderungen als Handlungsmöglichkeiten für sich selbst
wahrnehmen und sich in ihrem Tun intrinsisch belohnen. Der Flow entsteht durch die
subjektive Zielsetzung innerhalb des möglichen Handlungsrahmens und die
Anpassung der eigenen Fähigkeiten an diese Herausforderungen. Die Konsequenzen
der eigenen Handlungen lassen sich über Feedback-Schleifen reflektieren, die bei
Fehlentwicklungen die Zielsetzungen ggf. flexibel korrigieren helfen. In diesem
Kreislauf der eigenen Anpassung an sich ständig wandelnde Rahmenbedingungen
bewegt sich das autotelische Selbst konzentriert und vertieft im space of flows. Indem
die individuellen Ziele sich nicht an kurzfristigen Erfolgen, sondern an langfristigen
Horizonten orientieren, erlebt ein solchermaßen ausgerichteter Mensch ein mit Sinn
gefülltes Leben.
Wie gelingt es nun, autotelische Personen auszubilden, die sich in den space of flows
einzubringen vermögen?
Oben wurde angeführt, dass Kompetenzbildung sowohl die sozio-kulturelle Praxis als
auch die individuelle Entwicklung umfasst.56 Im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft gilt
56 Vgl. Kap. 2.3.4
© acw User Experience als Flow-Analyse 134
es, eine persönliche Netz-Kompetenz auszubilden, die als Querschnittskompetenz über
verschiedene Anknüpfungspunkte mit der kollektiven Netzwerk-Kompetenz
verbunden ist. Diese Punkte werden im space of flows kulturell ausgehandelt.
Temporär entstehende „Smart Mobs“ (Rheingold 2003) mit „kollektiver Intelligenz“
(Surowiecki 2007) kombinieren dabei problembezogen die vorhandenen individuellen
Fähigkeiten mit kollektiven Prozessen. Ziel dieser dynamischen Strukturierungswellen
ist es, eine flexibel vernetzbare, kommunikative Verbindung aller beteiligten
Netzwerkknoten (Daten, Individuen, CoPs, Institutionen etc.) herzustellen. Personen
fühlen sich dann kompetent, wenn sie sich aufgrund ihrer Qualifikationen und
Fähigkeiten den Anforderungen dieser ausbalancierten dynamischen Spannung
gewachsen erleben. Dieses Gefühl ist eine zentrale Voraussetzung für Flow:
Flow tritt auf, wenn selbstgewählte und überschaubare, realistische
und sinnvolle Aufgaben mit vollem Einsatz des eigenen Könnens und
der eigenen Kreativität angegangen werden.“ (Mitchell 1995, 59)
Umgekehrt können Personen auch an ihren Aufgaben wachsen und ein Flow-Erlebnis
entstehen lassen, wenn die Fähigkeiten sich an den Herausforderungen orientieren
und entsprechend aufgebaut werden. Insofern lässt sich die persönliche Kompetenz,
Flow zu erleben, in der Aktivität erlernen. Csikszentmihalyi führt einen Vier-Stufen-
Plan an, der das Kompetenzprofil einer autotelischen Persönlichkeit konfiguriert
(Mihaly Csikszentmihalyi 2008b, 275ff.):
1. Ziele selbst setzen, die sich an Herausforderungen orientieren, für die neue
Fähigkeiten entwickelt werden müssen. Menschen mit autotelischem Selbst
wissen, dass sie ihre Ziele selbst gewählt haben und ihre Tätigkeiten nicht von
außen bestimmt werden. Dieser Fähigkeit zur Wahrnehmung von
Herausforderungen und sich daran orientierender, aktiver Zieldefinition stellt die
autotelische Person ihre -ggf. noch zu lernenden- Fähigkeiten gegenüber, die einer
ständigen Feedback-Kontrolle unterliegen.
2. Sich in die Handlung vertiefen, indem die Anforderungen der Umwelt mit der
eigenen Handlungsfähigkeit möglichst eng verbunden werden. Nach der Wahl des
Handlungssystems vertieft sich die autotelische Persönlichkeit in ihre Tätigkeiten.
Eine ständige Adaption der Fähigkeiten an die Herausforderungen passt die eigene
Handlungsfähigkeit kontinuierlich an die Anforderungen der Umgebung an.
Kontrolle über das eigene Bewusstsein zu erlangen, ist eine wesentliche
Voraussetzung, um konzentriert die Aufmerksamkeit zu steuern.
3. Aufmerksamkeit auf das Geschehen richten, um die Vertiefung konzentriert
beizubehalten. Die Vertiefung beizubehalten ist eine Fähigkeit des autotelischen
Selbst - ohne Selbstbewusstheit oder Befangenheit. Dadurch wird das Selbst
komplexer, weil das autotelische Selbst über die Grenzen der Individualität
hinauswächst. Psychische Energie fliesst in ein System ein, an dem die Person
© acw User Experience als Flow-Analyse 135
selbst Anteil hat.
4. Lernen, sich an der unmittelbaren Erfahrung zu freuen, führt zu einem
Lebensgenuss, unabhängig von den Umständen. Die Steuerung des Bewusstseins
vermag alles Geschehen als Quelle der Freude umzuwandeln. Um Freude
geniessen zu können, bedarf es der Notwendigkeit, immer höhere Fähigkeiten zu
entwickeln - und damit die Entwicklung der Kultur voranzubringen.
Sind diese vier Faktoren gegeben, stellt sich ein Flow-Erleben ein. Die dem Flow
zugrunde liegende autotelische Persönlichkeitsstruktur scheint dabei eine gute
Voraussetzung für die Aus-Bildung einer individuellen Netz-Kompetenz zu sein. Sie
scheint erforderlich zu sein, um sich in flexibel re-organisierenden Netzwerken
bewegen und sich die digitalen (Lern-)Umgebungen personalisiert zuschneidern zu
können. Dabei lässt sich über den Vierstufen-Plan zur Selbstregulation über
ePortfolios (Zielsetzung, Selbst-Monitoring, strategische Handlungsorientierung,
Selbst-Assessment)57 ggf. eine Hilfskonstruktion aufbauen, die Flow-fördernd wirken
kann. Darüberhinaus lassen sich solch optimale Erfahrungen bereits im „autotelischen
Familienkontext“ unterstützen, wenn fünf Eigenschaften zutreffen (Mihaly
Csikszentmihalyi 2008b, 124f.):
1. Klarheit: Ziele und Feedback innerhalb der Familie sind eindeutig.
2. Zentrierung: Die Gefühle und Erfahrungen des Kindes sind wichtiger als die
funktionale Wirkung.
3. Wahlmöglichkeit: Auswahlmöglichkeiten des Kindes, ggf. auch ein Regelbruch mit
der Bereitschaft, die Konsequenzen zu tragen.
4. Bindung: Vertrauen, sich auf interessierte Themen zu konzentrieren und dazu
Verteidigungsbarrieren zu senken.
5. Herausforderung: Eltern stellen ihren Kindern zunehmend komplexere
Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung.
Neben diesen familiären Rahmenbedingungen sind weitere strategische Maßnahmen
und Tools erforderlich, die die sozialen Bedingungen und Informationsströme
dahingehend verändern, dass sie Flow-förderlicher gestaltet werden und sich vom
Paradigma des Broadcasting-Konsums zur vernetzten, produktiven Relevanz
verändern (vgl. dazu auch boyd 2010). Denn gesamtgesellschaftlich betrachtet ist es
mit den individuellen Dispositionen nicht getan. Kreativität, Neugierde, Initiative,
Autonomie, Lernfähigkeit, Verantwortungsbewußtsein, Frustrationstoleranz,
Improvisationsgeschick und Risikobereitschaft als individuelle Voraussetzungen für
informelles Lernen und die verschiedenen Teilkompetenzen der
Gestaltungskompetenz sind Komponenten, die auch an strukturelle Grenzen stoßen,
die sowohl sozio-technologisch wie sozio-kulturell bedingt sind. Die
57 Vgl. Kapitel 2.3.2
© acw User Experience als Flow-Analyse 136
Bewusstseinsordnung störende Faktoren müssen auf allen Ebenen identifiziert und
behoben werden.
Im Hinblick auf die technischen Schnittstellen zur Netzwerkgesellschaft soll nunmehr
untersucht werden, ob Forschungen zur User Experience (UX) ggf. Ansätze aufzeigen,
wie sich persönliche Lern- und Arbeitsumgebungen individuell gestalten liessen, so
dass die technologische Umgebung Flow-unterstützend und weniger Flow-hemmend
wirken kann. Daran anschließend werden dann sozio-kulturelle Potenziale und
Grenzen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Gestaltung digitaler Umgebungen
analysiert - und welchen Einfluss die Ausbreitung einer globalen Web 2.0-Kultur auf
die handlungsleitenden Codes und Praktiken ausübt.
3.2 UX-FORSCHUNGSANSÄTZE UND IHR BEIT R A G ZUR
FLOW-ANALYSE
Die westlichen Wissenschaften durchzieht seit Platon eine lange Tradition, zu
erkunden, wann Menschen Emotionen im Allgemeinen, Genuss und Vergnügen im
Besonderen empfinden. Ein kohärenter Ansatz hat sich bislang nicht herausgebildet -
zu unterschiedlich sind die wissenschaftlichen Ansätze, in und zwischen den
Disziplinen. Die Erforschung der Human Computer Interaction (HCI) kann als späte
Fortsetzung dieses Diskurses begriffen werden (Mark Blythe und Peter Wright 2004,
XIIIf.).
Gestartet ist die HCI-Forschung über eine interdisziplinäre Annäherung der
Computerwissenschaften an die kognitive Psychologie. Vor allem die traditionelle
Usability-Forschung beschäftigte sich mit der Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit,
die eine Produktnutzung hervorruft, in Form der Abwesenheit von Schmerzen -
negativ getestet, inwiefern das Produkt die User frustriert. Eine positive Wendung,
inwiefern Produkte Vergnügen bereiten können, bedurfte u.a. eines Verständnisses
affektiver Momente, die nicht im kognitiven Bereich sichtbar werden - die User
Experience (UX)-Forschung war geboren (ebd., XVI ff.).
UX ist ein Begriff, der ab 1993 eine Popularisierung erfuhr, als sich der Usability-
Spezialist Don Norman selbst zum „User Experience Architekten“ bei Apple Inc.
ernannte. Viele Technologiefirmen nutzten fortan den UX-Begriff, um ihren
Angeboten einen qualitativ exklusiven Anstrich zu geben. Gleichzeitig eroberte der
Begriff die HCI-Forschung und eine Welle an Publikationen, die „UX“ im Titel trugen,
überschwemmte daraufhin die Bücherregale der aufkommenden New Economy
(Knemeyer und Svoboda 2009).
In der UX-Literatur lassen sich drei Richtungen ausmachen, die alle zusammen die
User Experience konfigurieren.
1. Ein Strang beschäftigt sich mit den menschlichen Bedürfnissen, die ein Produkt
© acw User Experience als Flow-Analyse 137
über den rein instrumentellen Charakter hinaus erfüllen soll, um eine holistische
HCI zu ermöglichen. Die Forschungen konzentrieren sich auf verschiedene
Herausforderungen, denen moderne Angebote gerecht werden sollten: von
ästhetischer Schönheit über Überraschungsmomente, Diversität und Intimität bis
hin zu den hedonischen Aspekten wie Stimulation, Identifikaton und Evokation
(Hassenzahl und Tractinsky 2006, 92f.).
2. Eine andere Richtung fokussiert auf das affektive System, da diesem eine grosse
Bedeutung in vielen Bereichen des menschlichen Handelns
(Entscheidungsfindung, Wohlbefinden) zukommt. In der UX-Forschung werden
Affekte in ihrer Rolle als Bedingung, Konsequenz und Vermittler der konkreten
Technologienutzung untersucht. Während klassische HCI-Forschung sich um die
Prävention vor Fehlern oder Unzufriedenheit bemühte, rückt in der UX der Fokus
auf die positiven emotionalen Momente (ebd., 93f.).
3. In der dritten Blickrichtung werden v.a. Kontext und temporärer Charakter der
Technologienutzung betont. Gemütszustand, Erwartungen, Zielsetzungen
beeinflussen sich hier wechselseitig und generieren im Zusammenspiel die
konkrete Erfahrung (ebd., 94f.).
Die Konnotation, die der UX-Begriff mit sich führt, variiert demnach sehr stark, je
nachdem, ob er im Marketing, der Informationstechnologie oder der HCI-Forschung
verwendet wird. Allen gemeinsam ist die holistische Perspektive, die die bis dato
vorherrschenden Qualitätsmodelle um nicht-utilaristische Konzepte erweitert - wie
beispielsweise „fun“, „joy“, „pleasure“ etc. (Hassenzahl 2004, 31). Zusammengefasst
setzt sich UX aus dem subjektiven Zustand des Users (Prädispositionen, Erwartungen,
Bedürfnissen, Motivation, Gemütszustand etc.), den Bausteinen des designten Systems
(Usability, Zielsetzung, Komplexität, Funktionalität etc.) und dem
interaktionsumgebenden Kontext (sozio-kulturelle Rahmenbedingungen, Bedeutung
der Aktivität, Freiwilligkeit der Nutzung etc.) zusammen (Hassenzahl und Tractinsky
2006, 95).
Eine gefällige UX bedeutet, dass alle Interaktionen des Users im Laufe der
Produktnutzung zufriedenstellend verlaufen - vom Marketing-Versprechen über den
Kauf bis hin zum Support und Upgrade (Väänänen-Vainio-Mattila, Väätäjä, und Vainio
2009, 118). Ziel der UX-Forschung ist es demnach, die Nutzer/innen eines Angebotes
in den Fokus zu rücken, um die Arbeit von (Informations- oder
Produkt-)Designer/innen zu verbessern und deren Beitrag zum Aufbau einer positiven
Erfahrung und Assoziation beim User qualitativ zu erweitern. Dieser Aspekt ist
grundsätzlich ein wichtiger, um Angebote nutzungsfreundlich zu entwickeln und damit
den Flow der Nutzer/innen zu unterstützen. Allerdings lässt die UX-Forschung bislang
außer Acht, dass Informationsangebote in einer durch Web 2.0 unterstützten
© acw User Experience als Flow-Analyse 138
Netzwerkgesellschaft zunehmend diversifizieren und kaum noch seitens eines
zentralen Designs gesteuert werden können.
Daher soll in dieser Arbeit untersucht werden, welchen Beitrag ein gutes UX-Design
zur Unterstützung persönlichen Flow-Erlebens in personalisierten Web 2.0-
Umgebungen leisten kann. Konkret lässt sich fragen, inwiefern UX-
Forschungsergebnisse zur Kompetenzentwicklung herangezogen werden können, um
die persönliche Komposition moderner Lernumgebungen unter Flow-Gesichtspunkten
zu optimieren. Es soll analysiert werden, wie User selbst zu DesignerInnen des eigenen
Personal Learning Environments heranwachsen können.
3.2.1 USER EXPERIENCE ALS BENUTZERFOKUSSIERTES MODELL
Die verschiedenen UX-Forschungsansätze werden derzeit unter Begrifflichkeiten wie
„Joy of Use“ (Reeps 2006), „Funology“ (M.A. Blythe u. a. 2003) oder Emotional
Design“ (Norman 2003) zusammengefasst (weitere analog verwendbare Begriffe siehe
Reeps 2006, 23f.). Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass Funktionalität und
Usability nicht alleiniger Maßstab für die Entwicklung gebrauchstauglicher Angebote
sein sollte, da hier die Zweckorientierung und Zielfindung der Nutzung zu sehr im
Mittelpunkt steht. Diese für die HCI-Konzeption zentralen Aspekte stoßen an ihre
betriebswirtschaftlichen Grenzen, wenn Nutzer/innen sich für ein Alternativangebot
entscheiden aufgrund persönlicher Faktoren, die neben der Effektivität und Effizienz
des Handelns von Bedeutung sind.
Vor allem Apples Marktdurchdringung führte vielen Design-Interessierten vor Augen,
welche Bedeutung ästhetischen und interaktiv humanen Prinzipien zukommt bei der
Kaufentscheidung - neben den als selbstverständlich erachteten Funktionen. Die
Frage, die sich die UX-Forschung stellt, ist folglich, wie Menschen Produkte oder
Informationsangebote positiv erfahren und wie diese Nutzung seitens des UX-Designs
beeinflusst werden kann. Es geht zunächst darum, Einflussfaktoren zu identifizieren,
die an der HCI-Schnittstelle wirken und sich auf das spaßvolle oder freudige Erleben
auswirken. Die Beantwortung dieser Frage überschreitet den technologischen Horizont
und greift in die Konzeption technologisch angereicherter Designs aller
Fachrichtungen ein, mit denen Menschen interagieren (also auch die Konzeption von
Lernumgebungen). Dabei setzt User Experience eine Erfahrung voraus. Was ist eine
Erfahrung? Und wann wird eine solche als positiv angesehen? Diesen Fragen soll im
Folgenden nachgegangen werden.
3.2.1.1 KONZEPTUALISIERUNG VON POSITIVER ER FA H R UNG
John Dewey kritisierte schon früh (1934) die Reduktion des Erfahrungsbegriffes auf
die private, subjektive Erfahrung. Stattdessen konstituiere sich Erfahrung erst durch
© acw User Experience als Flow-Analyse 139
die Beziehung zwischen Selbst und Objekt, wobei das Selbst bereits vorher engagiert
sei und sich aufgrund persönlicher Interessen und Ideologien in Situationen hinein
begebe. Die Einheit der Erfahrung selbst ist beweglich, fragil und ein flüchtiges
Ereignis, denn durch die Erfahrung werden Menschen und Situation verändert - und
damit auch der Erfahrungswert für zukünftige Beziehungen zwischen Subjekt und
Objekt. Als selbstgenügsame, emotionale Einheit kann eine subjektive Erfahrung nur
dann gemacht werden, wenn sie der allgemeinen Erfahrung eine ästhetische Qualität
abringt. Aufgrund der Abhängigkeit der allgemeinen Erfahrung von dem persönlichen
Engagement lassen sich subjektive, positive Erfahrungen nicht am Reißbrett
entwickeln - lediglich lässt sich ein Kontext schaffen, in dem diese Erfahrungen
theoretisch gemacht werden könnten (Peter Wright, McCarthy, & Meekison 2004, 46).
Jede subjektive Bedeutung einer Erfahrung ist wechselseitig angeregt durch den
Diskurs mit anderen. Angelehnt an die Überlegungen zur vernetzten
Kompetenzentwicklung liesse sich ableiten: Indem vielfältige Diskurse zwischen
Mensch und Objekt und zwischen Mensch und Mensch vollzogen werden, entsteht
eine Matrix, die jeden einzelnen Diskurs im Netzwerk und damit sie alle miteinander
im Dialog hält. Subjektive Erfahrung kann -nach Dewey- niemals auf seine
wesentlichen Elemente reduziert werden, sondern immer nur durch seine Beziehungen
existieren (ebd., 45f.), da „experience is essentially holistic, situated and constructed.“
(ebd., 46)
Die UX-ForscherInnen Wright, McCarthy und Meekison entwickelten dennoch ein
Framework, wie Erfahrung sich generell konzeptualisieren liesse, mittels dessen
zumindest über Erfahrung gesprochen werden kann. Sie markierten dafür vier
Stränge, die zusammen genommen als ein Geflecht Erfahrungen konstituieren (ebd.,
46ff.):
Der kompositorische Strang, der als roter Faden die Erfahrung zusammenhält (z.B.
Narration, Farbmodell o.ä.).
Der sinnliche Strang, der unseren Sinnesapparat innerhalb einer gegebenen
Situation in Aktion versetzt.
Der emotionale Strang folgt nicht als passive Antwort auf eine Situation, sondern
kann über die Kontrollausübung kontrolliert werden.58
Der raum-zeitliche Strang bindet Aktionen und Ereignisse an eine bestimmte Zeit
und einen bestimmten Ort und speichert im Erfahrungshorizont, ähnliche
Verbindungen zukünftig zu suchen.
Menschen konstruieren demnach durch einen aktiven Prozess der Sinnstiftung ihre
Erfahrungen: Sie antizipieren, verbinden, interpretieren und reflektieren die Situation
entlang der vier Stränge. Sie eignen sich die Erfahrung durch die Bezugnahme zu
58 wie auch Csikszentmihalyi in seinem Flow-Konzept darlegte
© acw User Experience als Flow-Analyse 140
früheren oder späteren Erfahrungen an, um schließlich von der gewonnenen
Erfahrung dialogisch zu berichten (ebd., 49f.). Die eigentliche, bewusste Erfahrung ist
so klar strukturiert: Zum einen enthält sie einen Fokus und eine klare Umrandung,
zum anderen unterscheidet sie zwischen dem Selbst und dem Nicht-Selbst (Apter
1989, 5). Diese konkrete Struktur wandelt sich im Laufe der Zeit und entwickelt ein
Muster, das der Motivationsforscher Michael J. Apter mit seiner Reversal Theory für
verschiedene Erfahrungsräume zu untersuchen vermag. Apter identifizierte zwei meta-
motivationale Zustände, die den individuellen Erfahrungsraum strukturieren:
Zum einen kann mit steigendem Erregungspegel in Korrelation mit dem
Vergnügungsgrad entweder eine anhaltende Anregung oder wachsende Angst
generiert werden, so dass Individuen je nach zu erwartendem Ergebnis entweder die
Erregung suchen oder meiden (ebd., 19). Zum anderen kann ein positives Vergnügen
aus zwei verschiedenen Zuständen sich entwickeln: Entweder leitet es sich aus einer
(der Erfahrung zugrunde gelegten) Zielorientierung ab oder die Aktivität selbst
entwickelt sich zum paratelischen Ziel. Im telischen Modus werden Aktivitäten also
zugunsten des Zieles instrumentalisiert, während im paratelischen Modus die zentrale
Aktivität ggf. zugunsten verschiedener Ziele wirken kann (ebd., 39).
Flow kann beide Modi bedienen und ein tiefes Glücksempfinden hervorrufen, wenn
Menschen bereit sind, an bzw. über ihre Grenzen zu gehen und dies im reflexiven
Nachgang als Glück zu identifizieren vermögen. Doch viele Menschen suchen eher die
kurzfristige Erregung denn nachhaltige Vertiefung. Eine Differenzierung von Spaß
(fun) und Vergnügen (pleasure) könnte ggf. zum Verständnis beitragen (Mark Blythe
und Hassenzahl 2004).
Der Spaß-Begriff kam im Zuge der industriellen Revolution als politischer Begriff auf -
er beschrieb den Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Vereinnahmung durch die
Arbeit und gleichzeitig die Fortführung der Arbeit in Form der mechanisierten
Reproduktion. Im Gefolge schufen die Unterhaltungsindustrie und Massenmedien
eine Welt der Spektakel. Spaß konnte man fortan kaufen und konsumieren, darauf
wies bereits die Frankfurter Schule hin (ebd., 92f.). Aber auch passiven,
konsumierbaren Aktivitäten kann eine kurzfristige, belohnende Funktion zukommen
und Freude aufkommen lassen, die wiederum als Glücksempfinden reflektiert werden
kann. Denn Freude charakterisiert lediglich eine Beziehung zwischen aktuellen
Aktivitäten und dem individuellen Seelenzustand (ebd., 94).
Vergnügen ist eine weitere spezifische Ausprägung von Freude und ist analytisch vom
Spaß zu unterscheiden. Vergnügen wird auch von Csikszentmihalyi im Sinne
Aristoteles' als durch kontinuierlich steigende Herausforderung verursachte
Stimulation verstanden. Während Spaß vom Selbst ablenkt, ermöglicht ein durch
Aktion verursachtes, absorbierendes Gefühl ein Vergnügen, das einem tieferen
Empfinden von Freude gleichkommt. Vergnügen weist eine direkte Verbindung zum
© acw User Experience als Flow-Analyse 141
Selbst auf und kann auch in schwierigen Situationen hervorgerufen werden. Dagegen
lässt sich Spaß niemals nachhaltig in einer ernsthaften Aktion hervorrufen, maximal in
einem seriösen Kontext als Mikrophänomen (ebd., 94f.). Blythe und Hassenzahl
stellen vier Gegensatzpaare auf, um die Eigenschaften von Spaß und Vergnügen im
Hinblick auf ihre unterschiedliche Wirkung auf das Selbst untersuchen zu nnen
(siehe Tabelle 3 mitsamt der folgenden Erläuterungen).
Fun / Distraction Pleasure / Absorption
1 Triviality Relevance
2 Repetition Progression
3 Spectacle Aesthetics
4 Transgression Commitment
Tabelle 3: Experiental and cultural connotations of fun and pleasure (ebd., 95)
1. Nur relevante, absorbierende Aktivitäten oder Objekte sind persönlich
bedeutungsvoll - erst dann werden sie zum Teil der Selbstdefinition, der Identität.
Relevanz erfährt eine Aktivität oder ein Objekt, wenn es zum persönlichen
Wachstum beiträgt oder in der persönlichen Erinnerung positiv verankert ist oder
antizipierende Wirkung im Sinne vermuteten Glücksempfinden hervorruft (ebd.,
96f.).
2. Überraschungen kennzeichnen den Unterschied zwischen Zufriedenheit und
Vergnügen. Wiederholungen können eventuell Spaß verursachen - Vergnügen
hingegen erfahren nur diejenigen, die neue Muster erobern. Die
Entwicklungsdynamik scheint eine wesentliche Voraussetzung für
Herausforderungen zu sein (ebd., 98).
3. Spaß erfordert das intensive Engagement der Sinne - ergo ist das Spektakel, dessen
Ästhetik auffällig und flüchtig ist. Abstraktere ästhetische Kriterien tragen dagegen
zum Vergnügen bei, v.a. wenn sie sich in sozialer Tradition herausgebildet haben
und mit anderen geteilt werden können.
4. Sichere Grenzüberschreitungen mit klaren kontextuellen Grenzen können Spaß
erzeugen, wohingegen die Verbindlichkeit Vergnügen stiftet, da sie die Person in
der Aktivität aufgehen lässt (ebd., 99).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen stellt Spaß im edukativen Kontext einen
recht schwierigen Themenkomplex dar, da Vertrauen in eine Tätigkeit erschlichen
wird, die nur dann vergnüglich wäre, wenn sie die Seele der Lernenden vollständig
© acw User Experience als Flow-Analyse 142
absorbieren könnte - nicht funktional, sondern als Selbstzweck (ebd., 96).
„Das durchrationalisierte Spiel (…) bringt recht häufig kritische
Selbstbeobachtung und Angst vor möglichen Abweichungen mit sich.“
(Mitchell 1995, 72)
Hier könnten PLEs im Vorteil sein, wenn sie nicht seitens eines didaktischen Designs
dargereicht, sondern selbstgesteuert zum eigenen (sinnlichen, sozialen, psychischen
oder ideellen) Vergnügen zusammengestellt werden. Welche Erkenntnisse der UX-
Forschung könnten User darin unterstützen, ihre technologische Umgebung an die
eigenen Bedürfnisse anzupassen? Wie bewegen sich Menschen in diesen
Umgebungen? Wann entsteht dort Vergnügen und wie lässt sich dort eine
vergnügliche Erfahrung gestaltend unterstützen? Diesen Fragen soll jetzt
nachgegangen werden.
3.2.1.2 UX AUS US E R-PERSPEKTIVE
Analog zum holistischen Flow-Empfinden kann die gesamte UX eines Users
verstanden werden als ein Kontinuum, das sich als Ergebnis einer Serie kleinerer UX-
Einheiten formte (Väänänen-Vainio-Mattila, Väätäjä, und Vainio 2009, 125). Das
emotionale System der User arbeitet dabei unabhängig vom rationalen Denken - doch
Affekt und Kognition hängen zusammen und beeinflussen sich wechselseitig. Es
existieren sogar Beweise, dass angenehme Angebote schneller erlernbar und einfacher
zu händeln sind und schließlich ein harmonischeres Ergebnis erzielen als andere
(Norman 2002a).
Aus Sicht der User tritt ihm/ihr ein spezifisches Angebot (z.B. ein User Interface oder
ein Produkt) mit seinen offensichtlichen Features (Inhalt, Präsentationsform,
Funktionalität, Interaktionsstil) entgegen, mit pragmatischen und hedonischen
Facetten, die zusammen genommen den Produktcharakter beschreiben (Hassenzahl
2004, 34ff.):
Ein pragmatisches Angebot verfolgt eine primär instrumentelle, extrinsisch oder
intrinsisch generierte Zielsetzung, um die Umgebung der Person manipulieren zu
können. Sowohl die Funktionalität (Utility) als auch die Wege, diese Funktionalität
zu erreichen (Usability) sind in diesem Zusammenhang relevant. Die emotionale
Verbindung zwischen einem pragmatischen Angebot und dem User ist nur dann
sehr hoch, wenn eine hohe persönliche Relevanz gegeben ist.
Dagegen unterscheiden sich Angebote, die hedonische Aspekte betonen, von
pragmatischen Angeboten, weil sie ein größeres Potenzial an Vergnügen stiftenden
Konsequenzen beinhalten, die sich wiederum in drei verschiedene Teilgruppen
unterteilen lassen:
1. Stimulation: Von Angeboten erwarten User, dass diese neue Eindrücke,
© acw User Experience als Flow-Analyse 143
Gelegenheiten oder Erkenntnisse vermitteln oder anstoßen, um sich persönlich
weiterzuentwickeln. Diese Anregung aufgrund neuer, aufregender
Funktionalität, Präsentationsformen, Inhalte oder Interaktionsstile, vermag
indirekt die pragmatische Zielfindung unterstützen. Indem solch anregende
Angebote die Aufmerksamkeit erhöhen, vermögen sie ggf. eine
Motivationslücke zu schliessen, die zum Erreichen externer Ziele erforderlich
ist oder neue Problemlösungen ermöglichen.
2. Identifikation: Objekte entsprechen der Repräsentation des Selbst im sozialen
Gefüge. Insofern müssen Angebote die Identität der Person -möglichst
vorteilhaft- kommunizieren helfen.
3. Evokation: Angebote können Erinnerungen wachrufen, die dem Individuum
wichtig sind.
Welchen Nutzungszusammenhang einzelne User präferieren und welche Aspekte
einem Angebot individuell zugeschrieben werden, hängt von der spezifischen
Bedeutung ab, mit der diese Person dem Angebot zu einem gegebenen Zeitpunkt
entgegen tritt. Je nach Nutzungskontext variieren die persönlichen Konsequenzen, die
der offensichtliche Angebotscharakter auf das Verhältnis User zu Angebot hat. So
entscheidet die jeweilige Situation über die subjektive Beurteilung des Angebotes, die
emotionalen Konsequenzen (wie Vergnügen oder Befriedigung einer
Erwartungshaltung) und die Folgen des weiteren Verhaltens (wie z.B. ein weiteres
zeitliches Investment in die Nutzung des Angebotes) (ebd., 36).
Die Situationen unterscheiden sich durch verschiedene, mentale Nutzungsmodi, wie
Apter mit seiner Reversal Theorie dokumentierte (siehe vorheriges Kapitel): Während
im Goal Modus das aktuelle Ziel im Vordergrund steht und alle Handlungen
determiniert, dem Angebot also ein primär instrumenteller Charakter zugeschrieben
wird, steht im Action Modus die Handlung selbst im Vordergrund, die Ziele am
Wegesrand sind flüchtig. Im Action Modus beschreiben sich die Akteure als spielerisch
und spontan - ein hoher Erregungspegel wird angestrebt, der als Aufregung erfahren
wird. Sinkt die Erregung, tritt Langeweile an die Stelle (ebd., 39f.).
Während dieser subjektive Nutzungsmodus über die Zeit hinweg variieren kann, lässt
sich aber auch feststellen:
„Usage modes can be chronic, i.e., a part of an individual self-
concept, too; to be in a particular usage mode becomes a stable
personal trait.“ (Hassenzahl 2004, 40)
Die Wahrnehmung des Angebotcharakters als primär pragmatisch oder hedonisch ist
nicht von den Nutzungsmodi beeinflusst, vielmehr vermittelt der Nutzungsmodus
zwischen dem Angebotscharakter und den Konsequenzen auf das User-Angebot-
Verhältnis (ebd.). Im Zeitalter des Web 2.0 verändert sich dieses Verhältnis: Viele
digitale Angebote enthalten lernende, dynamische Applikationen, soziale Medien oder
© acw User Experience als Flow-Analyse 144
benutzergenerierten Content, die einen neuen Kulturraum entstehen lassen. Das
Angebotsdesign obliegt hier nicht mehr der alleinigen Kreation eines Anbieters,
sondern die Nutzer/innen selbst gewinnen zunehmend Macht in der Gestaltung des
Angebotes - nicht nur mit aktiven Beiträgen, sondern auch durch die Generierung
einer Vielzahl an Datenspuren, die gemeinsam die User Experience aller Beteiligten
steigern (Väänänen-Vainio-Mattila, Väätäjä, und Vainio 2009, 118f.). Es stellt sich die
Frage, ob neben dem Web als Werkzeug im Goal Modus und dem Web als Medium im
Action Modus im neuen Kulturraum Internet nicht ein neuer Nutzungsmodus
entstehen wird.
Neben diesen Überlegungen zur UX aus Sicht der User soll nunmehr die Perspektive
von DesignerInnen herangezogen werden, um zu verstehen, welche Bedürfnisse diese
bei der Gestaltung technologischer Umgebungen aus ihrem Erfahrungsschatz heraus
zu befriedigen suchen.
3.2.1.3 UX AUS DESIGNERIN N EN-PERSPEKTIVE
Aus Design-Sicht geht es grundsätzlich darum, das conceptual model der Designerin
über die Abbildung im system image an das mental model des Users heranzutragen
(Norman 2003, 76). Genau genommen kreist die UX-Forschung ausschließlich um die
adäquate Gestaltung nutzerfreundlicher, vergnüglicher Angebote aus Sicht einer
allmächtigen Designerin, die möglichst den Gemütszustand des Users vorwegnimmt
oder wenigstens ihn positiv beeinflusst. Die Bedürfnisse der User gilt es in dieser Sicht
gleichermaßen zu bedienen wie die Zielsetzungen der AuftraggeberInnen.
Vor diesem Hintergrund ist es seitens des Designs erforderlich, funktionale
Spezifikationen und inhaltliche Anforderungen zu definieren, die sich im interaktiven
Workflow über die Applikationen und im Informationsfluss niederschlagen. Diese
beiden systemischen Flow-Komponenten münden dann in einem Informationsdesign,
das Usern ein besseres Verständnis ermöglicht und sich in einem möglichst
gelungenen Interface- und Navigationsdesign abbildet. Auf der visuellen Ebene
resultiert dies in einem spezifischen Look & Feel bzw. einer bestimmten Art, Texte,
Grafiken und Navigation zu organisieren (siehe v.a. das „Original Diagram“ von Jesse
James Garrett 2000). Diese Visualisierung sollte dabei möglichst dem Informations-
und Kommunikationsbedürfnis des Users entgegen kommen und ihm eine
vergnügliche Erfahrung bereiten.
Nach Donald Norman besitzt das menschliche Gehirn drei Verarbeitungsstufen, die in
jedem Design enthalten sind, sich aber unter Gestaltungsgesichtspunkten nicht
gleichermaßen berücksichtigen lassen, da sie unterschiedlich bespielt werden sollten
(Norman 2003, 63ff.):
Visceral Design: Die Erscheinung eines Artefaktes lässt einzig die Sinne des Users
reagieren - ohne kognitives Zutun.
© acw User Experience als Flow-Analyse 145
Behavioral Design: Der effektive, interaktive Gebrauch eines Angebotes wird vom
User als kognitives, freudvolles Erlebnis wahrgenommen.
Reflective Design: Das Produkt löst einen Reflexionsprozess beim User aus und
setzt die Person in Beziehung zum Angebot.
In diesem magischen Dreieck des Designs bewegt sich demnach jede Gestaltung eines
Angebotes, also auch die einer technologischen Umgebung. Für DesignerInnen lässt
sich als Gestaltungsmaxime für ein erfolgreiches Joy-of-Use-Angebot, das alle drei
Verarbeitungsstufen gut bedient, die Auseinandersetzung mit dem späteren User auf
drei Ebenen empfehlen (Reeps 2006, 30f.):
1. Eine gute, bestimmungsgemäße, einfach zu bedienende Funktionalität ist
Voraussetzung.
2. Auf der emotionalen Ebene sind die im Zusammenhang der Aufgabe
angemessenen Gefühle zu bedenken (z.B. Sicherheit beim Bankingterminal).
3. Die Produktsprache schließlich drückt einen gewissen Lifestyle des Users aus.
Es geht also nicht darum, lediglich attraktive, funktionale oder schöne Angebote zu
gestalten. Denn in Fortführung der oben angeführten Unterscheidung zwischen Spaß
und Vergnügen, kann Attraktivität als ein Phänomen der viszeralen Ebene und
Schönheit als Resultat der reflektierten Ebene analysiert werden (ebd., 56).
Funktionalität wiederum ist ein wesentlicher Faktor im Behavioral Design, ohne das
sich kein Vergnügen aufbauen kann. Für einen verführerischen Designprozess
bedeutet dies nach Norman, sich an die von Khaslavsky und Shedroff vorgeschlagenen
drei Basisschritte anzulehnen:
„Verlockung, Beziehung und Erfüllung: ein emotionales Versprechen
machen, dieses kontinuierlich erfüllen und die Erfahrung in einer
erinnerbaren Art beenden lassen.“ (Reeps 2006, 57)
Diese Herausforderung ist im Zeitalter allgegenwärtiger Medien, die auf der viszeralen
Ebene die Menschen gerne unterbrechen und sie zu sozialer Interaktion animieren,
deutlich gestiegen. Denn die soziale Interaktion kann auf der reflektierten Ebene eine
Bewusstseinsspaltung zwischen realer und distanzierter Welt produzieren, da im
Evolutionsprozess solche Überlagerungen an Distanzen nicht angelegt waren (Norman
2003, 155). So können diese Interferenzen auf der Verhaltensebene zu Störungen
führen, die den holistischen Zusammenhang zwischen User, Objekt und Situation
potenziell zerlegen - und damit die Einheit der allgemeinen Erfahrung zerstören.
Andererseits verlangen nicht alle Handlungen kontinuierlich volle Aufmerksamkeit, so
dass es den Menschen per Multitasking möglich ist, verschiedene Aufgaben parallel
bzw. verzahnt zu bewältigen (ebd., 156).
Ob Personen diese evolutionären Verzerrungen im inter-subjektiven Austausch der
technologischen Möglichkeiten selbst austarieren können, um weiterhin Flow zu
© acw User Experience als Flow-Analyse 146
empfinden, wird entscheidend von ihrer Netz-Kompetenz abhängen. Gleichzeitig gilt
es seitens der UX-Forschung, diese anspruchsvollen Anforderungen für modernes
Design zu reflektieren und in neue Konzepte zu übersetzen. Wie gestaltet man als
DesignerIn neue Angebote, die sich an selbstbestimmten Usern orientieren?
Einen Ansatz bieten die Design-Research-Maps von der Designforscherin Liz Sanders
(Sanders 2008). Danach lassen sich im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft vier
Quadranten erkennen, die den UX-Forschungskontext prägen (Sanders und Chan
2007):
1. Critical Design
2. User-Centered Design
3. Participatory Design
4. Generative Design Research
Je nachdem, ob die Forschung im Vordergrund steht (2 + 3) oder das tatsächliche
Design (1 + 4), und je nachdem, ob eher die Bedeutung der Expertise (1 + 2) oder der
Partizipation (3 +4) die Sichtweise auf die User dominiert, konfigurieren sich die
Forschungsmethoden und damit auch die Design-Ergebnisse recht unterschiedlich.
Sanders führt aus, wie sich in diesem Rahmen sowohl multiple Forschungs-,
Abbildung 6: Emerging Trends in Design Research - poster 1 (ebd.)
© acw User Experience als Flow-Analyse 147
Innovations- wie Change-Prozesse initiieren lassen als auch neue, sinnvolle Tools
denken (ebd., 17). Allerdings ist allen Szenarien gemein: Die Initiative geht von
Expert/innen aus - seien sie nun eher aus der Forschungs- oder aus der
Anwendungsecke kommend.
Übersetzt auf edukative Kontexte bedeutet dies, dass sich diese Überlegungen sowohl
für die Instrumentalisierung im Sinne eines Instructional Designs ( User als Subjekte)
als auch für konstruktivistische Lernzusammenhänge (User als Partner) eignen.
Gedanklich fortgeführt in emergente, benutzergenerierte wie -initiierte
Zusammenhänge -also konnektivistische Lernnetzwerke- wäre zu überlegen, welche
Folgerungen sich aus diesen Überlegungen für die Gestaltung benutzergenerierter
Arbeits- und Lernumgebungen ableiten lassen. Überhaupt ist zu fragen, welchen
Beitrag die UX-Forschungen insgesamt zu leisten vermögen, um das Flow-Empfinden
von Usern zu steigern bzw. zu unterstützen.
3.2.2 BEITRAG DES UX-DESIGNS AUF FL O W-EMPFIN D E N
DES USE R S
Nach dem in der Arbeits- und Organisationspsychologie gerne verwendeten
Anforderung-Kontrolle-Unterstützung-Modell des Soziologen Robert Karasek steigert
sich z.B. die Job-Zufriedenheit und das Wohlbefinden, wenn die Anforderungen des
Jobs, die Entscheidungsfreiheit innerhalb des Jobs und die soziale Unterstützung hoch
sind. Dieses Modell lässt sich gut auf die HCI-Forschung zum Joy of use übertragen
(Brandtzaeg, Folstad, und Heim 2004). Csikszentmihalyis oben angeführte
Herausforderungen sind dabei eine Facette, die eine positive Sicht auf die
Anforderungen eines Jobs charakterisieren. Aus Design-Sicht müssen diese
Herausforderungen eine gewisse Variationsbreite umfassen, die damit über statische
Angebote hinausweisen und eine die Erwartungen des Users übertreffende
Unvorhersehbarkeit dynamisch entfalten. Soll zudem eine spaßige Umgebung
entstehen, sollten Überraschungsmomente oder sich widersprechende Ereignisse
mitgedacht werden (ebd., 58). Und die Fähigkeiten, die zur Bewältigung der nächsten
Stufe erforderlich sind, sind rechtzeitig zu vermitteln - andernfalls droht eine
Unterbrechung des Flows. Diese Erkenntnis lässt sich aus der Spieltheorie ableiten: In
Spielen, den klassischen Spaß-Generatoren, sollte jede kleinste Einheit zum Spielerfolg
beitragen, nichts Überflüssiges die Spieler/innen beschäftigen (Koster 2005, 132).
Ist häufiger eine gewisse Bandbreite an dramaturgisch gesetzten Interaktionen und
eine effektive Einflussnahme auf das Geschehen möglich, steigt das Engagement der
User an (Laurel 1993). Damit steigt auch die Bereitschaft zur Ausbildung neuer
Fähigkeiten, die in einem solchermaßen engagierten Umfeld gefordert sind. Diese
Fähigkeiten zu nutzen und weiterzuentwickeln, setzt Selbstvertrauen beim User
voraus, das wiederum seitens des Designs von Angeboten unterstützt oder unterlaufen
© acw User Experience als Flow-Analyse 148
werden kann. So können ungewünschte Komplexität oder mangelnde Kenntnis der
Zielgruppen als Defizit des Selbstvertrauens ausgelegt werden (Brandtzaeg, Folstad,
und Heim 2004, 59).
Neben der Entscheidungsmacht der User ist v.a. die Personalisierung der Technologie
von entscheidender Bedeutung für die Nutzerkontrolle des Geschehens, glichst
flankiert von sozialer Unterstützung in Form von Ko-Aktivitäten und sozialer Kohäsion
(ebd., 60f.). Insofern sollte das Design humaner Technologien eine Vielzahl sozialer
Gelegenheiten schaffen, um angenehme Erfahrungen zu ermöglichen (ebd., 62).
Zusammengefasst erfordert aus Sicht der User eine genussvolle Interaktion mit der
Technologie ein gutes Verhältnis zwischen Herausforderung und Gebrauch. Das
Angebot sollte die Entwicklung erforderlicher Fähigkeiten rdern, eine bestimmte
Vielfalt an Interaktionsmöglichkeiten bereitstellen und die Autorität des Users, selbst
Entscheidungen zu fällen, unterstützen. Entsprechend muss das Design ausgerichtet
sein und folgende Prinzipien beherzigen (ebd., 62f.):
Kontrolle und Partizipation durch die Nutzer/innen - mit angemessenen
Herausforderungen;
Variation und vielfältige Gelegenheiten - die Erwartungen der User übertreffen;
soziale Gelegenheiten in Form von Ko-Aktivität und sozialer Kohäsion schaffen.
Wie kann nun das UX-Design das Flow-Empfinden des Users konkret beeinflussen?
Es existieren eine Vielzahl an Design-Prinzipien und Usability-Heuristiken, die
Orientierung bieten, nach welchen Kriterien potenziellen Usern die Angebote
dargereicht werden sollten. Daraus entstanden oftmals Normen und Standards, die
vermeiden helfen sollen, negative Assoziationen mit dem Angebot zu verbinden.
Persönlicher Flow wird über diesen Weg nur selten unterstützt. So hat sich
beispielsweise erwiesen, dass in Spielen explizite Verstöße gegen klassische
Heuristiken existieren und gerade diese Regelverletzungen erst den Spiel- Flow
ermöglichen (Reeps 2006, 161). Auch bei klassischer Lernsoftware ist Erfolg und Flow
wahrscheinlicher, wenn Irrtum und Fehler möglich sind (ebd., 162). Erst wenn die
Lücken eines bestehenden Regelsystems erkannt und modifiziert werden können
durch die aktive Kontrolle des Users, erst dann sind seitens des Systems die
Voraussetzungen für Flow gegeben (ebd., 163). Diese benutzergenerierten „Hacks“
eines designten Ablaufs, die zum Flow beitragen, lassen sich allerdings nur schwer
planen. Hier kommt die Gestaltungskraft des Users ins Spiel.
Doch nicht voraussetzungslos: Neben dem persönlichen Flow der selbst ermächtigten
User lassen sich aus UX-Design-Sicht vier weitere Flow-Dimensionen in der Mensch-
Maschine-Interaktion unterscheiden: Analog zu dem UX-Designer und -Autor Alan
Cooper können zum einen der Usability Flow, der Workflow des Users und die
Transparenz der Software benannt werden. Der Medienwissenschaftler Martin
Lindner identifiziert darüber hinaus -neben dem persönlichen Flow- den impliziten
© acw User Experience als Flow-Analyse 149
Flow der konkreten Medienumgebung (Lindner 2008b, 50).
Für die hier vorliegende Untersuchung liesse sich aus diesen Analysen ableiten, wie
der Flow-Prozess in seiner Gesamtkomposition vielfältig ineinander greift (vgl.
Abbildung 7):
Diese fünf Flow-Dimensionen konfigurieren sich im Rahmen vielfältiger Endgeräte
und multipler kleiner Applikationen, die Raum und Zeit zu überwinden vermögen
(ebd., 51). Aus Sicht der User werden dann in der individuellen Zeitschiene diverse
Endgeräte und Applikationen genutzt, die die Person mit den verschiedenen,
vernetzten Zeiten der zeitlosen Zeit der Netzwerkgesellschaft individuell verbindet und
den space of flows re-generiert. Glückt es der Person, über verschiedene, kurzfristige,
spaßvolle Mikroflow-Einheiten sich vom Selbst abzulenken und ggf. diese Mikroflow-
Einheiten in einen wiederkehrenden Fluss zu überführen, kann ein langfristiges,
vergnügliches Flow-Empfinden entstehen, das eine direkte Verbindung zum Selbst
herstellt. Dann befindet sich der Mensch im negentropischen Zustand. Das
Bewusstsein enthält „absichtlich geordnete Information“, während es sich gleichzeitig
mittels eines komplexen Filterprozesses regelmäßig neue herausfordernde
Anforderungen sucht. Action Modus und Goal Modus wechseln sich ab und vermitteln
zwischen den Angeboten und den Konsequenzen auf das User-Angebot-Verhältnis.
Voraussetzung ist allerdings, dass das Ich als räumliche Instanz in der physischen Welt
andocken kann über den space of places. Die Frage, ob in diesen fliessenden Zeiten
standardisierte PLEs als digitale Anlaufstellen geeignet erscheinen, um in den space of
flows einzutauchen, ist angesichts des „vernetzten Individualismus“ fraglich. Vielmehr
scheint es heute angesichts der dynamischen sozio-technologischen Entwicklungen
erforderlich, Menschen als potentielle Netzwerkknoten aufzubauen, so dass ein
subjektives Andocken in der fragmentarischen, geographischen Ordnung möglich
wird. Eine positive UX kann User dabei unterstützen, Flow zu generieren - die
Zielsetzung der konkreten Aktivitäten muss allerdings von der Person als persönliche
Herausforderung akzeptiert werden. Neben den Bausteinen des designten Systems ist
der Nutzungskontext und der subjektive Zustand des Users von entscheidender
Bedeutung für eine positive UX. Autotelische Persönlichkeiten, die sich intrinsisch zu
belohnen vermögen, sind hier im Vorteil.
Während also Micro-Flow durch visceral design entstehen kann, bedarf es im Web
2.0-Zeitalter eines individuellen behavioral designs, um einen subjektiven Flow zu
Abbildung 7: Flow-Dimensionen
Medienumgebung Transparenz Usability Workflow Person
© acw User Experience als Flow-Analyse 150
generieren. Im reflective design treten die User dann aus dem Flow-Zustand heraus
und stellen eine Verbindung her zum selbst gefilterten Angebot - in diesem Kontext
entsteht der individuelle und sozio-kulturelle Lernprozess. Flow stellt ein kulturelles
Gefühl für Handlungsmuster her, die es weiterzureichen lohnt.
Zusammengefasst resultiert Flow aus den Aktionen möglichst autotelischer
Persönlichkeiten, die sich in gegebenen Situationen kompetent fühlen. Ein
Kompetenzgefühl stellt sich her, wenn mit wachsenden Herausforderungen über kleine
Lernerfolge die Fähigkeiten adäquat ausgebaut werden. In der Netzwerkgesellschaft
mit den ihr inhärenten digitalen, technischen Schnittstellen, kommt der UX eine
zentrale Bedeutung zu, diesen Lernprozess zu fördern. Bislang wurde diese UX von
ExpertInnen gestaltet. Angesichts der Entwicklungen hin zu personalisierten Arbeits-
und Lernumgebungen muss nunmehr gefragt werden, was Individuen bei der eigenen
Gestaltung von der bisherigen UX-Forschung lernen können, um ihre individuelle
Kompetenz auszubauen und damit ihren Flow-Genuss zu steigern.
3.2.3 ZWISCHENFAZIT: UX-FORSCHUNG UND
KOMPETENZENTWICKLUNG
In Kapitel 2.4 wurde dargelegt, wie sich die kollektive Netzwerk-Kompetenz durch den
inter-subjektiven Austausch im sozialen Diskurs entfaltet und diese Sozio-Kultur
wiederum auf die individuelle Netz-Kompetenz zurück strahlt. Mit Blick auf die
Mensch-Maschine-Schnittstellen (MMS) setzt sich dieses Prinzip fort: Nach dem
Designprinzip der gegenseitigen Abhängigkeit von Interface- und kognitiven
Funktionen beeinflusst jede Veränderung eines Interfaces die kognitiv
wahrgenommenen Features eines Systems. Im konkreten Zusammenspiel von
Mensch-Maschine können bestimmte Prozesse die kognitiven Funktionen der
beteiligten Personen unterstützen. Gleichzeitig werden spezifische Benachteiligungen
der kognitiven Leistungsfähigkeit idealer Weise vom System erkannt, so dass es mit
einer funktionalen Reduktion reagieren kann (Cañas 2009, 56).
Die traditionelle Perspektive, in der standardisierte Angebote mit one size fits all-
Ideologie vorherrschten, wird derzeit in der UX-Forschung abgelöst durch maximal
dynamische Entwicklungen, die möglichst individualisierte Anpassungen ermöglichen
und unterschiedlichen Nutzertypen wie Nutzungsmodi gerecht werden. Ein
persönliches Kompetenzgefühl an der Mensch-Maschine-Schnittstelle (MMS) entsteht
in dieser Blickrichtung aus dem Zusammenspiel persönlicher Talente und Interessen,
gestalteter Angebote und kontextueller Variablen. Erst diese Melange generiert
konkrete (Inter-)Aktionen eines spezifischen Individuums. Individuelle Kompetenz
baut sich auf, wenn alle drei Faktoren eine Balance zwischen Herausforderungen und
Fähigkeiten entstehen lassen.
© acw User Experience als Flow-Analyse 151
Dabei sind die Schnittstellen immer weniger sichtbar - die Maschinen treten in den
Hintergrund, und die sozialen Verbindungen treten nach vorne. Wie diese Faktoren
sich wechselseitig bedingen und beeinflussen, wird deutlich, wenn ein Blick auf die
zunehmend ubiquitären Medien, derzeit v.a. die mobilen Technologien und ihren
Einfluss auf den sozio-kulturellen Alltag geworfen wird (Anja C. Wagner 2009). Indem
die soziale Interaktion der alltäglichen Welt zunehmend von Interaktionen mit der
entfernten Welt unterbrochen wird, vollzieht sich ein dialektischer Wandel der
sozialen Akzeptanz. Zum einen scheint die mediale Überlagerung während
gemeinschaftlicher, aktivitätsgesteuerter Handlungen sozial akzeptiert zu sein. Zum
anderen sorgen einzelne Personen innerhalb zielorientierter, sozialer Interaktionen
vor, die Unterbrechungen möglichst zu vermeiden (Norman 2003, 158). Hier wird ein
Wertewandel vollzogen, der nicht zuletzt neue Maßstäbe interaktiver Höflichkeit setzt.
Gleichzeitig hat sich eine innovative Spirale herausgebildet: Den wachsenden
Anforderungen der vielfältig kommunizierenden wie interagierenden Individuen
stellen sich neue Technologieangebote gegenüber, die wiederum von den globalen
Prozessen der Netzwerkgesellschaft vorangetrieben werden. Die Attraktivität sozialer
Online-Netzwerke mit qualitativ verbesserter UX greifen die sozialen Wünsche der
aktiven Personen auf und ermöglichen über diverse Technologien hinweg nahezu
unbegrenzte soziale Interaktionen. Sofern die individuellen Fähigkeiten sich den
neuen Herausforderungen sukzessive anpassen, baut sich das persönliche Flow-
Empfinden weiter auf. Denn dieses Gefühl setzt kein spezifisches Wissenskontingent
voraus. Vielmehr kann präzises, situationales Verhalten an der MMS auch aus
unpräzisem Wissen entstehen, da die Verhaltensalternativen aus verschiedenen
Gründen begrenzt und insofern das erforderliche Wissen in einer Handlungssituation
überschaubar ist (Norman 2002b, 55ff.):
1. Das individuelle Verhalten wird durch eine Kombination aus erinnerter
Information und ubiquitär verfügbaren Informationen beeinflusst. Informationen
befinden sich bereits in der Welt - zumal in der vernetzten Welt.
2. Präzises Verhalten ist nur selten erforderlich, da das Wissen nur einen
ausreichenden Hinweis bieten muss, welches Verhalten jetzt das angesagte ist.
3. Die Spannbreite möglicher Interaktionen wird durch die physischen Eigenschaften
des Objekts und seine „Affordance“ (siehe zur Diskussion des Affordance-Begriffes
Norman 2007, 66ff.) begrenzt.
4. Zahlreiche künstliche, sozio-kulturelle Konventionen geben dem sozial
akzeptierten Verhalten einen Rahmen.
Die Aussage wiederholt sich in den verschiedenen theoretischen Bezügen:
Handlungsfähigen Menschen in der vernetzten Welt stehen Informationen in den
pipes zur Verfügung und relativieren die Bedeutung persönlicher Wissensbestände -
auch zur Gestaltung der eigenen MMS. Individueller Spass stellt sich durch
© acw User Experience als Flow-Analyse 152
Grenzüberschreitungen her, Vergnügen durch regelmäßige micro flows aufgrund
wachsender Herausforderungen. Die wechselseitige Durchdringung der „realen“ mit
der „virtuellen“ Ebene lässt einen modernen Kulturraum entstehen, der ggf. neue
Nutzungsmodi generiert, die über eine funktionale Goal- oder animierende Action-
Dimension hinausgehen. Indem Menschen sich in diesem Kulturraum aktiv bewegen,
gestalten sie diesen für ihre Zwecke im sozialen Verbund mit. Damit wachsen die
Handlungs- und Gestaltungskompetenz als individuelle Netz- wie kollektive Netzwerk-
Kompetenz im interaktiven Austausch generisch mit. Von der sozialen Komponente
völlig unabhängige individuelle Entwicklungen und Anforderungen an moderne MMS
werden es zukünftig sehr schwer haben.
Gleichwohl müssen Menschen jederzeit das Gefühl haben, die Interaktion beeinflussen
zu können. Ein Kontrollgefühl über die sozio-technologischen Eigendynamiken scheint
eine wesentliche Voraussetzung zum Überleben im „digitalen Klimawandel“ (Lindner)
zu sein. Der Mensch muss Herrscher/in seiner technologischen Auswüchse sein - und
dieser Maxime gilt es seitens des Designs zu folgen (Norman 2003, 159). Und da alle
Menschen ihre Umgebung mit designen (ebd., 224ff.) -in der Wohnung, im Lebensstil,
auf der Website oder im Personal Learning Environment- sind die Empfehlungen der
DesignerInnen für die Gestaltung gebrauchstauglicher Angebote, die eine positive UX
unterstützen, auch Netzarbeiter/innen für ihren persönlichen Flow anzuraten.
Funktionalität, Emotion und Lifestyle sind Komponenten, die gleichermaßen von
jedem Design zu bedienen sind, um eine Aktivität als eine vergnügliche verarbeiten zu
können. Angelehnt an die Design-Research-Map von Liz Sanders59 sollte die
persönliche technologische Umgebung dabei verschiedene Szenarien bedienen:
ExpertInnen-basierte oder partizipative Kompositionen sollten sich abwechseln -
ebenso der experimentelle mit dem ästhetisch abgerundeten Grundcharakter des
Designs. Diese Kompositionen an der MMS liessen sich z.B. auf verschiedenen Ebenen
der Technologieumgebung temporär und thematisch begrenzen, die je nach
Tagespräferenz fokussiert werden können. Voraussetzung wäre dann eine persönliche
Befähigung zur Aktivierung eines zielorientierten Nutzungsmodus', um die geeignete
Ebene je nach Stimmung und Kontext anzusprechen. Entweder intrinsisch motiviert
als subjektiv gesetzte Herausforderung im Stile einer autotelischen Persönlichkeit.
Oder auch extrinsisch motiviert: Neben klassischen arbeits- oder lerninduzierten
Zielsetzungen könnten paratelische Nutzungsmodi eine individuelle Zielsetzung
forcieren.
Da Aktivierungen auch über die sinnliche Wahrnehmung auf der viszeralen Ebene auf
den User einströmen, das Ziel also nicht aus dem kognitiven Prozess intrinsisch
entfaltet werden muss, kann die konkrete Interaktion an der MMS auch als Reaktion,
Regulierung oder Beginn eines Lernprozesses begriffen werden (Dubberly, Pangaro,
59 Siehe Kap. 3.2.1
© acw User Experience als Flow-Analyse 153
und Haque 2009, 8f.). Denn Kennzeichen mobiler NetzarbeiterInnen ist eine
Verhaltensweise, die sich lernend mit verschiedenen, gleichzeitigen Aufgaben
beschäftigt. Diese „Continous Partial Attention“ -wie die Microsoft-Forscherin Linda
Stone bereits 2005 meinte- entspricht einer ins Positive gewendeten Sicht auf ein
Phänomen, das von Personen in tradierten Umgebungen als Information Overload
wahrgenommen wird (Lindner 2008b, 43). Die Fähigkeit, adäquate
Filtermechanismen zu entwickeln, ist eine Anforderung an Menschen im vernetzten
Zeitalter, die sich aus dieser Mediennutzung ableiten lässt. Diese Befähigung ist
wesentlich, um ein individuelles Kompetenzgefühl aufbauen zu können (ebd., 44).
Dabei kann sie an bereits vorhandene Eigenschaften anschliessen, denn das
Informationshandling im Web 2.0 nähert sich Modellen des realen Lebens an:
Informationen erlangen in ihrem Kommunikationsfluss in selbst gesetzten Rhythmen
die Sinne des Individuums (ebd., 48).
Zusammengefasst ermöglichen benutzergenerierte Arbeits- und Lernumgebungen
einem Individuum, seine persönlichen Fähigkeiten an die Herausforderungen im
Rahmen extern gesetzter Möglichkeiten vorgegebener Angebote anzupassen, so dass
das Potenzial für die persönliche Kompetenzentfaltung wachsen kann. Der Vierstufen-
Plan zum selbstregulativen Kompetenzaufbau über ePortfolios kann dabei
unterstützend wirken. Für die optimale Gestaltung solcher Umgebungen sind
spezifische UX-Kenntnisse von Vorteil, um die Informationen und Applikationen
sinnvoll zu strukturieren und zu arrangieren.
Die (selbst) gestalteten Mensch-Maschine-Schnittstellen beeinflussen den möglichen
Handlungsrahmen einer Person, in dem sie agieren kann. Da die aktive Nutzung
webbasierter Technologien eine wesentliche Voraussetzung zur Teilhabe an der
Netzwerkgesellschaft ist, rückt die Frage, ob Technologie eher als extrinsisch
motiviertes Werkzeug oder als intrinsisch motiviertes Spielzeug genutzt wird (vgl. dazu
Brandtzaeg, Folstad, und Heim 2004, 55), eher in den Hintergrund. Wichtig scheint
aus Sicht der Kompetenzentwicklung zunächst zu sein, dass ein möglichst
ungehinderter Zugang möglich ist und die Person sich je nach Entwicklungsstand und
gewünschtem Nutzungsmodus interaktiv einbringen kann. Das System hinter der MSS
muss allerdings lernfähig sein, um ggf. neuen, individuell gewünschten Zielsetzungen
des Users begegnen und wachsenden Herausforderungen den erforderlichen Aufbau
an Fähigkeiten oder Kenntnissen ermöglichen zu können. Dies setzt auf sozio-
technologischer Ebene eine Netzwerk-Kompetenz voraus, die weit über Usability-
Gesichtspunkte hinausreicht und die gesamten Prozesse im Hintergrund mit
einbezieht (vgl. die 95 Thesen des Cluetrain Manifestes - „Märkte“ können beim Lesen
auch ersetzt werden durch „Bildung“, „Politik“ o.ä.: Levine u. a. 2000, 16ff.).
Für die Beantwortung der Frage, was einzelne Personen von der UX-Forschung lernen
können, scheint sich eine Empfehlung herauszuschälen, sich zunächst persönlich als
User entlang der UX-Forschung besser kennenzulernen. Entsprechend der
© acw User Experience als Flow-Analyse 154
persönlichen Präferenzen kann dann ein geeigneter Mix aus zielgerichteten und
spaßigen Elementen dynamisch zusammengestellt werden, der sich den wachsenden
Herausforderungen anpasst, bereits vorhandene Fähigkeiten aber nicht vernachlässigt.
Im Goal-Modus können die Flow-fördernden Faktoren einer autotelischen
Persönlichkeit als Leitfaden herangezogen werden, um langfristiges Vergnügen
aufzubauen. Im Action-Modus kann der kurzfristige Spieltrieb ausgelebt und für
auflockernde Kompensation sorgen.
Um Flow möglichst dauerhaft zu erfahren, scheint ein individueller funktionaler
Rhythmus förderlich zu sein, der sich an eigens gesetzten Zielen orientiert und die
persönlichen Arbeitsweisen entsprechend regelmäßig aktualisiert. Damit sollten die
individuellen Voraussetzungen für die Netz-Kompetenz dynamisch gegeben sein.
Welchen Einfluss diese Kompetenz über die interaktive Gestaltung des neuen
Kulturraums Internets auf die komplementäre, soziale Netzwerk-Kompetenz ausüben
kann, hängt nicht zuletzt von sozio-kulturellen Faktoren ab. Und diesen widmet sich
das folgende Kapitel.
3.3 INTERKULTURELLE DIM EN SIONEN VO N FL O W-
ERLEBNISSEN
Bislang wurden globale Tendenzen und universalistisch gültige Bedingungen
aufgezeigt, um Flow im space of flows generieren zu können. Im Folgenden soll der
Frage nachgegangen werden, welche kulturellen Einflussfaktoren auf die individuelle
UX in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen einwirken. Diese Frage lässt
sich über eine Sammlung an Detailfragen aufschlüsseln:
Wie bilden sich regionale Lernkulturen aufgrund ihrer sozio-kulturellen Präferenzen
aus - und damit nationale Bildungssysteme? Von welchen Indikatoren werden sie
maßgeblich beeinflusst? Wie ist das Verhältnis von tradierten Kulturen, sozialen
Milieus und Web 2.0-Kultur? Welche Schnittmengen können zwischen diesen sozio-
kulturellen Facetten ausgemacht werden? Lassen sich interkulturelle Unterschiede im
Flow-Empfinden identifizieren? Neigen bestimmte Kulturen eher zu Flow als andere?
Oder kann eine spezifische, universal gültige Web 2.0-Kultur identifiziert werden?
Handelt es sich dabei vielleicht um eine intersubjektive, kolonialistische Übernahme
eines kulturell bedingten, als attraktiv wahrgenommenen Lebensstils? Oder ist diese
Entwicklung techno-naturgesetzlich determiniert aufgrund der emergenten, digitalen
Vernetzungsstrategien?
© acw User Experience als Flow-Analyse 155
3.3.1 DIE INTERKULTURELLE SOFTWAR E DE S GEISTES
Geert Hofstede, Kulturanthropologe mit Schwerpunkt Management und
Organisationen, untersuchte zwischen 1967 und 1972 die national bedingten
Unterschiede im internationalen Unternehmen IBM. Aus dieser Studie leitete Hofstede
vier Kulturdimensionen ab, denen er später eine fünfte hinzufügte (Geert Hofstede
und Gert Jan Hofstede 2004).
1. Machtdistanz, gemessen über den „Power Distance Index“
2. Individualismus vs. Kollektivismus („Individualism Index“)
3. Maskulinität vs. Feminität („Maskulinity Index“)
4. Unsicherheitsvermeidung („Uncertainty Avoidance Index“)
5. Langzeitorientierung vs. Kurzzeitorientierung („Long-Term Orientation Index“)
In Designkreisen wird diese Klassifikation gerne zur Untersuchung kultureller
Einflüsse auf Ausgestaltung und Wahrnehmung der Mensch-Maschine-Schnittstelle
herangezogen, da sich die Dimensionen entlang klarer statistischer Indizes für
interkulturelle Vergleiche anbieten (vgl. z.B. Oshlyansky 2007). Von daher sollen hier
die Indizes herangezogen werden, um die kulturelle Prägung bestimmter
Lehr-/Lernmethoden zu verstehen und den Einfluss einer möglicherweise universalen
Web 2.0-Kultur auf verschiedene nationale Kulturen und deren Adaption moderner
Lernszenarien zu untersuchen.
Kultur definiert Hofstede als
„(...) collective programming of the mind that distinguishes the
members of one group or category of people from others.“ (Geert
Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004, 4)
Er bezieht sich dabei auf das Habituskonzept von Pierre Bourdieu (Knoblauch 2005,
219). Demnach bestimmen die konkreten Lebensbedingungen den Habitus als opus
operatum (strukturierte Struktur); gleichzeitig generiert der Habitus als modus
operandi (strukturierende Struktur) die soziale Praxis (Barlösius 2011, 57ff.). Der
Habitus ist die Software der Praxis und erzeugt als solche einen spezifischen Lebensstil
als Gesamtkomplex von Kleidung, Sprache, Mobiliar und körperlicher Haltung. Dieses
System der Zeichen unterscheidet Personen nach ihrer sozialen Klassenzugehörigkeit
(Knoblauch 2005, 221ff.). Aber nicht nur als Distinktionsmerkmal verschiedener
sozialer Gruppen wirkt der Habitus, sondern v.a. als netzwerkverbindendes
Sozialkapital und als „immaterielle Infrastruktur“ des gesellschaftlichen Lebens, das
auf Produktion und Tausch aufbaut (Gulas 2007, 76).
Habitus wirkt auf der erlernten Ebene der Kultur, die auf der ererbten, menschlichen
Natur aufbaut, aber auch im spielerischen Kampf individuell beeinflusst werden kann.
So können sich Personen vertikal durch die Sozialstruktur bewegen, indem sie den
© acw User Experience als Flow-Analyse 156
Habitus erlernen oder die Handlungen anderer nachahmen (Mimesis) (Fröhlich 2007,
44) - oder auf einem alten Habitus eines sozialen Milieus beharren, selbst wenn die
realen Lebensumstände überholt sind (Knoblauch 2005, 225). Das Feld der Kämpfe
sind v.a. Kämpfe um die kulturelle Deutungsmacht, den Alltagsverstand und die
legitime Benennung, die als zentrale Herrschaftsinstrumente wirken. Gruppen zu
formieren, die die „objektiven“ Strukturen der Gesellschaft manipulieren, sind
gleichbedeutend mit einem Kampf um die politische Macht (Hauck 2006, 174). Das
einzigartige, mentale Programm einer Person wiederum setzt sich aus genetischen und
gelernten Komponenten zusammen - gelernt aufgrund des Einflusses kollektiver
kultureller Programmierung und aufgrund spezifischer persönlicher Erfahrungen
(Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004, 5).
Kulturelle Unterschiede entstehen durch verschiedene Werte und Praktiken (Rituale,
Helden, Symbole). Während Werte sich bereits früh in der -zumeist unbewussten-
Sozialisationsphase etablieren, kommt im Laufe des Schul- und Arbeitslebens der
bewussten Aneignung kultureller Praktiken immer größere Bedeutung zu (ebd., 6ff.).
Aufgrund der frühen, unbewussten Ausbildung kultureller Werte und der elterlichen
Neigung, ihre persönliche Erziehung zu repetieren, reproduziert sich die Kultur
weitestgehend selbst (ebd., S.10). Innerhalb einer Person konkurrieren teilweise
widersprüchliche mentale Programme verschiedener kultureller Ebenen
(Nationalstaat, Region/Religion, Gender, Generation, soziale Klasse, Job) miteinander
(ebd., 11).
Vor diesem Hintergrund sind die fünf Kulturdimensionen von Hofstede einzuordnen,
deren Aussagekraft durch Untersuchungen anderer, seinen IBM-Fragenkatalog
replizierender Studien weitestgehend bestätigt wurden (ebd., 25f.). Im Ergebnis
mündeten diese Studien in konkreten Indizes kultureller Ausprägungen, die einen
durchschnittlichen Vergleich nationaler Gesellschaften erlauben (ebd., 27). Einige
Kritiker stellen die Validität der erzielten Ergebnisse und die Aussagekraft für
nationale Kulturen in Frage; denn jede einzelne darin lebende Person vermag sich von
einzelnen Indizes unterscheiden (vgl. z.B. Bolten 2001). Zudem befinden sich Kulturen
im ständigen Fluss, sind offen verbunden mit anderen Kulturen und zeitlich wie
räumlich dynamisch (zur allgemeinen Diskussion des Kulturbegriffes vgl. Hauck 2006,
178ff.; Khan-Svik 2008, 24). Als kulturell gelernte und weitergereichte Komponente
aber, wirkt die durchschnittliche nationale Kultur dennoch auf die meisten Individuen
ein. In welchem Ausmaß die anderen kulturellen Ebenen ihren Einfluss auf die
persönliche Entwicklung ausüben, bleibt im Einzelfall zu prüfen. Für die hier
verfolgten Fragestellungen kann allerdings mit dem durchschnittlichen User gearbeitet
werden. Zudem scheint sich das Verhältnis der Kulturen zueinander mit den Jahren
wenig verändert zu haben (Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004, 28). Insofern
soll hier nun der Frage nachgegangen werden, mit welchen Widerständen, Hürden,
Problemen einerseits und welchen Potenzialen andererseits kulturelle Regionen
© acw User Experience als Flow-Analyse 157
ausgestattet sind, um die Chancen wahrzunehmen, die die Netzwerkgesellschaft für
kompetente User bereit stellt?
3.3.1.1 POW E R DISTA NCE IN D E X (PDI)
Im Power Distance Index (PDI) drückt sich aus, wie Personen mit Ungleichheit
innerhalb einer Gesellschaft umgehen und wie weit sie sich von der Macht im Land
entfernt fühlen. Hofstede selbst definiert den Index der Machtdistanz als
„(...) the extent to which the less powerful members of institutions
and organizations within a country expect and accept that power is
distributed unequally.“ (Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004)
Hier werden die Abhängigkeitsverhältnisse sichtbar, die sich in verschiedenen
gesellschaftlichen Bereichen (Bildung, Behörden, Teamorganisation etc.)
widerspiegeln. Je nach Bildungsgrad, sozialer Klasse und beruflicher Ebene variieren
die Umfrageergebnisse zum Teil erheblich: Innergesellschaftlich lässt sich feststellen,
dass, je höher Status und Bildungsgrad sind, desto geringer fällt der individuelle PDI
und desto höher der interkulturell unterscheidbare nationale Anteil aus (ebd., 48ff.).
Im Appendix (Kap. 8.1.1) werden die erzielten Untersuchungsergebnisse r eine
Auswahl an Staaten im regionalen Vergleich von der Autorin zusammengeführt. Erst
im relativen Verhältnis der von Hofstede untersuchten 74 Staaten/Regionen
zueinander drückt sich dabei der spezifische, angeführte Indexwert aus (ebd., 43f.).
Beim kulturellen Vergleich des PDI gilt demnach: Je höher das Ranking, desto
geringer ist die Machtdistanz. Dabei scheinen die Wurzeln des mentalen Programms
der Machtdistanz z.B. in Europa bis in die Zeiten des römischen Reiches vor 2000
Jahren zurückzureichen. Während romanische Sprachregionen einen mittleren bis
hohen PDI aufweisen, errechnete sich für die germanischen Sprachen ein niedriges
Indexfeld und damit ein hohes Ranking in der Tabelle (ebd., 66ff.). Zudem scheint die
Machtdistanz tendenziell geringer auszufallen mit höherem Breitengrad und größerem
Wohlstand. Eine größere Machtdistanz tritt bei Staaten mit einer großen Bevölkerung
auf (Jandt 2007, 174). Bei der hier vorgenommenen Auswahl im Appendix heisst dies:
In Österreich herrscht die geringste Machtdistanz, in Russland die höchste.
Was bedeutet dieser Index für das jeweilige Bildungssystem? In der Schulausbildung
setzt sich nach Hofstede der bereits in der Eltern-Kind-Beziehung deutliche
Unterschied im (Un-)Gleichheitsbezug fort. Der Bildungsprozess ist mit hohem PDI
zunehmend lehrenden-zentriert - die Lernergebnisse sind entsprechend abhängig von
der Qualität der Lehrenden. Ist der PDI dagegen geringer, werden Lernende progressiv
als gleichberechtigte Partner verstanden, die ihre eigenen intellektuellen Wege suchen.
Der Lernprozess ist eher unpersönlich angelegt - Fakten und überprüfbare Wahrheiten
machen den Lernerfolg vom Lehrenden weniger abhängig. Hofstede interpretiert, dass
in Staaten mit einer geringen Machtdistanz, Lernende mit zunehmender Qualifikation
© acw User Experience als Flow-Analyse 158
immer unabhängiger von den Lehrenden werden. Entsprechend seien in solchen
Ländern Studierende aus Arbeiterklassen im Nachteil innerhalb universitärer
Bildungssysteme, da sie von Haus aus einer Subkultur mit höherer Machtdistanz
entstammen und von daher Schwierigkeiten mit dem herrschenden Lehrsystem
hätten. Bildungspolitisch fokussieren Staaten mit geringer Machtdistanz auf höhere
Schulen, während der Fokus in Kulturen mit einem hohen PDI auf den Universitäten
liegt (Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004, 53.ff.) . Eine globale
Homogenisierung der mentalen Programme hält Hofstede auf absehbare Zeit nicht für
möglich (ebd., 72).
3.3.1.2 INDIVIDUALISM IN D EX (IDV)
Im Individualismus-Index bildet sich das Beziehungsgefüge und das soziale Verhalten
der nationalen Mitglieder untereinander ab. Kollektivistische Gesellschaften mit
erweiterten Familien-Strukturen rücken die Macht der Kohäsionsgruppe in den
Vordergrund. Hier wird im Gegenzug zum Schutz durch die Gruppe eine lebenslange
Loyalität des Individuums erwartet. Demgegenüber stehen individualistische
Gesellschaften mit kleinen Kernfamilien, die innergesellschaftlich locker miteinander
verbunden sind und deren Bildungssystem darauf ausgerichtet ist, Kindern das Leben
auf eigenen Füßen zu ermöglichen (ebd., 74f.).
Auch der Individualisierungsgrad wird in der Tabelle im Appendix (Kap. 8.1.1) im
relativen Verhältnis der Staaten/Regionen untereinander als Ranking angezeigt.
Nationaler Wohlstand und klimatisch begünstigte geographische Regionen scheinen
demnach den kulturellen Grad des Individualismus zu beeinflussen. Demgegenüber
deuten hohe Geburtenraten und/oder eine konfuzianische Tradition auf
kollektivistische Kulturen hin (Jandt 2007, 162). Es herrscht eine tendenziell negative
Korrelation zwischen dem Ranking der Machtdistanz und dem Individualismus-Index
vor.
Für das Bildungssystem bedeutet dies, dass individualistische Gesellschaften dazu
tendieren, den Lernenden zu zeigen, wie sie selbst lernen und als Individuen unter
anderen leben können. In kollektivistischen Gesellschaften sei das Ziel, Personen zu
gut funktionierenden Gruppenmitgliedern auszubilden. Diplome und Zertifikate
dienen im individualistischen Falle dazu, die Selbstachtung und den ökonomischen
Wert zu steigern; in kollektivistischen Kontexten dagegen zollt man diesen Papieren
seitens der Gesellschaft einen großen Respekt, die einen Aufstieg in eine höhere
Gesellschaftsschicht ermöglichen (Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede 2004, 98f.).
Im politischen Kontext setzt sich die universale versus partikulare Sichtweise fort:
Während in individualistischen Gesellschaften alle Gesellschaftsmitglieder als
gleichberechtigt betrachtet werden, differenzieren kollektivistische Gesellschaften je
nach Gruppenzugehörigkeit (ebd., 105f.). Individuelle Gleichheit ist gleichwohl eine
© acw User Experience als Flow-Analyse 159
der Freiheit nachzuordnende Kategorie in individualistischen Gesellschaften (ebd.,
107). Während also ein hoher Individualismus-Index für die Wertschätzung von
Selbstverwirklichung, individueller Leistung, Freiheit oder Wettbewerb steht, folgen
kollektivistische Gesellschaften eher den harmonischen Interessen der sozialen
Gruppe. Die persönlichen Verhaltensformen unterscheiden sich zwischen einerseits
kollektiv beziehungsorientiert und andererseits individuell aufgabenorientiert (ebd.,
103). Entsprechend herrscht in kollektivistischen Gesellschaften eine hohe
Kontextabhängigkeit der Kommunikation vor. Botschaften werden weniger explizit
ausgedrückt, sondern ergeben sich durch die physikalische Umgebung oder die
kulturellen Codes. Demgegenüber müssen individualistische Gesellschaften mit
niedrigem Kontext ihre Botschaften explizit ausdrücken (ebd., 89).
3.3.1.3 MASKULINITY IN DEX (MAS)
Im Maskulinitäts-Index wird sichtbar, welche Wertemodelle auf der Basis
vorherrschender Geschlechterrollen sozio-kulturell betont werden. Auch dieser Index
ist nur im relativen Vergleich sinnvoll. Die Rangliste im Appendix (Kap. 8.1.1) zeigt an,
in welchen Ländern Maskulinität das Rollenverständnis die Gesellschaft eher prägt als
in anderen. Feminine Kulturen scheinen demnach in klimatisch gemäßigten Regionen
vorherrschend zu sein und einen mäßigenden Einfluss auf die Geburtenrate auszuüben
(Jandt 2007, 172). Hofstede definiert eine maskuline Gesellschaft als eine, in der die
emotionalen Geschlechterrollen klar abgegrenzt sind, während in femininen
Gesellschaften die Rollen sich eher überlappen (Geert Hofstede und Gert Jan Hofstede
2004, 120). Eine klare Zuordnung zum nationalen Wohlstand scheint nicht
vorzuliegen. Während maskuline Kulturen eher dem Prinzip „leben, um zu arbeiten“
folgen, orientieren sich femininere Kulturen eher an dem Leitsatz „arbeiten, um zu
leben“ (ebd., 144).
In der MAS-Rangliste lässt sich ablesen, ob eher das Ego oder eher die
zwischenmenschlichen Beziehungen betont werden - unabhängig von vorliegenden
Gruppenverbindungen und insofern unabhängig vom Individualismus-Index (ebd.,
123). Dabei scheinen individualistische, feminine Gesellschaften eher das
Wohlbefinden zu betonen, während kollektivistische, maskuline Gesellschaften eher
das Überleben favorisieren (ebd., 124). Innergesellschaftlich geben die Reflexionen der
Männer den Ausschlag, ob eine Gesellschaft stärker maskulin oder feminin
wahrgenommen wird (ebd., 125). Zudem tendieren ältere Personen eher zu sozialen,
also femininen Interessen, während jüngere Menschen eher maskuline, technische
Interessen verfolgen (ebd., 126).
Im Bildungskontext wird in femininen Gesellschaften der durchschnittliche
Studierende als Norm herangezogen. Die soziale Anpassung der Studierenden wird
von freundlichen, sozial kompetenten Lehrenden idealtypisch entlang der
© acw User Experience als Flow-Analyse 160
intrinsischen Interessen der Lernenden bedient. In maskulinen Gesellschaften gelten
dagegen die besten Studierenden als Norm; die Brillanz der Lehrenden und die
akademische Reputation sind zentrale Kernfelder, wie dem Karrierebedürfnis der
Lernenden begegnet wird. Während in maskulinen Gesellschaften zumeist Frauen in
Schulen und Männer in Universitäten zu finden sind, ist das Geschlechterverhältnis in
femininen Kulturen eher ausgeglichen (ebd., 135ff.). In der internationalen
Arbeitsteilung sind die Länder verhältnismäßig am erfolgreichsten, in denen die
kulturellen Präferenzen der Bevölkerung sich in den Aktivitäten widerspiegeln (ebd.,
146).
3.3.1.4 UNCERTAINTY AVOIDANCE IND E X (UAI)
Als vierten Index führt Hofstede die Unsicherheitsvermeidung an, die das Ausmaß
kennzeichnet, inwiefern unklare oder mehrdeutige Situationen zu Verunsicherung und
Ängsten führen. Die Rangliste der Unsicherheitsvermeidung (siehe Appendix, Kap.
8.1.1) zeigt an, welche Kulturen die größten Ängste aufweisen. Zwar können
uneindeutige Situationen in allen Kulturen zu Unsicherheit führen. Aber auf diese wird
kulturell bedingt unterschiedlich reagiert - mit Technologien, Gesetzen oder der
Religion. Staaten und Regionen mit einem hohen Listenplatz können besser mit
Unsicherheiten umgehen. Prägend sind hierbei vor allem die Religion und sozio-
historische Institutionalisierungen (Jandt 2007, 175). Hier herrscht eine größere
Risikobereitschaft und Offenheit gegenüber Ambiguität, Neuem und Zufälligem.
Existiert hingegen ein kulturelles Erbe der gefühlten Unsicherheit, kann sich dies in
Jobängsten ausdrücken, die sich aus der Hoffnung nach einem reglementierten
Rahmen und einer langfristigen Karriere speisen (Geert Hofstede und Gert Jan
Hofstede 2004, 167). Ängstliche Kulturen mit hoher Unsicherheitsvermeidung neigen
zudem dazu, sich als ausdrucksstarke Kultur zu präsentieren. Glück -in Kap. 3.2.1.1 als
reflektiertes Flow-Empfinden diagnostiziert- korreliert interkulturell am stärksten mit
dem UAI: Bei einer innergesellschaftlichen Feinanalyse können sehr glückliche
Menschen sowohl in Ländern mit hohem als auch mit niedrigem Index gefunden
werden; sehr unglückliche Menschen dagegen findet man dagegen v.a. in Kulturen mit
hohem UAI (ebd., 177).
Im Bildungsverständnis fordern Studierende in Ländern mit hohem UAI strukturierte
Lernumgebungen mit klaren Lernzielen, detaillierten Aufgaben und eindeutigen
Zeitplänen. Sie suchen gerne nach der korrekten Antwort und möchten für ihre
Genauigkeit belohnt werden. Sie fordern Lehrende, die alle Antworten besitzen, eine
akademische Sprache ist respektiert. Demgegenüber verschmähen Studierende in
Kulturen mit niedrigem UAI zu viel Struktur und präferieren eher offene
Lernsituationen. Sie möchten für ihre originellen Antworten belohnt werden - insofern
sind Single-Choice-Aufgaben für sie inakzeptabel. Von Lehrenden erwarten sie eine
© acw User Experience als Flow-Analyse 161
verständliche Sprache und einen kritischen Diskurs, der Gegenstandpunkte erlaubt
(ebd., 179).
Ein ähnliches Bild ergibt die Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien.
Während in weniger ängstlichen Regionen eine schnelle Akzeptanz neuer Produkte
und technologischer Entwicklungen gegeben ist, zögern Regionen mit einem hohen
UAI bei der Einführung entsprechender Angebote (ebd., 181). Diese Reserviertheit
schlägt sich negativ auf die Innovationsfähigkeit eines Landes aus (ebd., 184), aber
positiv auf die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen auf der Basis
grundlegender Innovationen aus anderen Regionen (ebd., 186). Demgegenüber scheint
die Selbstständigkeit keine signifikante Korrelation mit einem niedrigen UAI
aufzuweisen, sondern ist offenbar stärker durch Unzufriedenheit motiviert (ebd., 185).
In individualistischen Kulturen mit hohem UAI werden Regeln in explizite Gesetze
gegossen - es herrscht eine low-context communication. Dagegen dominiert in
kollektivistischen Kulturen mit hohem UAI eine high-context communication, die sich
aus impliziten, traditionellen Regeln ableitet (ebd., 191). Beide Kulturen tendieren
insgesamt eher zum Konservatismus. Dagegen sind Länder mit niedrigem UAI
tendenziell eher liberal ausgerichtet, mit einem positiven Jugendbild. Entsprechend ist
dort die Bürger-Kompetenz stärker ausgeprägt. Sie fühlen sich auf lokaler Ebene
ermächtigt, politisch zu partizipieren (ebd., 192). Aufgrund der hohen Korrelation von
Ängsten und Kriegserfahrung, ist auch in konservativen Regionen mit einem liberalen
Anstieg zu rechnen, je weiter der letzte Krieg zurückliegt (ebd., 205).
3.3.1.5 LON G -TERM ORIENTATION IN D E X (LTO)
Der fünfte Index ist die Langzeitorientierung, der auf einem kulturell
unterschiedlichen Zeitverständnis beruht und das langfristige, nachhaltige Denken
bewertet. Das Denken, der Umgang mit Erfahrungen und die Strategie zur
Problemlösung sind von der Wahrnehmung der Zeit betroffen. Die Rangliste der
Langzeitorientierung (siehe Appendix, Kap. 8.1.1) führen die Länder und Regionen an,
die sehr zukunftsorientiert sind. Im Gegensatz zu den ersten vier Indizes basiert dieser
Index v.a. auf dem Chinese Value Survey (CVS) von dem Sozialpsychologen Michael
Harris Bond - zuzüglich einiger Wiederholungen des Untersuchungsdesigns (ebd.,
211).
Während Kulturen mit einem hohen LTO-Index ein großes Talent für angewandte
Wissenschaften mitbringen, die auf Fleiß aufbauen, sind Länder oder Regionen mit
kurzfristiger Orientierung eher theoretisch abstrakt talentiert. Studierende rechnen
hier den (Miß-)Erfolg dem individuellen Glück zu (ebd., 217). Arbeit und Familie sind
strikt getrennt, während langfristig orientierte Kulturen eine Synergie der Bereiche
anstreben (ebd., 218). Ein großes persönliches Netzwerk ist hier Voraussetzung für
Erfolg und wird nicht für kurzfristige Gründe auf's Spiel gesetzt (ebd., 221). Große
© acw User Experience als Flow-Analyse 162
Unterschiede im sozio-ökonomischen Zugang zur Welt sind nicht erwünscht, während
kurzfristig orientierte Kulturen eine Differenzierung entlang der Fähigkeiten
befürwortet (ebd., 221).
Zudem weisen alle Kulturen entweder ein monochrones oder ein polychrones
Zeitverständnis auf, so zeigen die Analysen von Hall & Hall. Sind in monochronen
Kulturen Tätigkeiten in einer sequentiellen Abfolge mit klarem Plan strukturiert,
springen polychrone Kulturen zwischen parallelen Tätigkeiten hin und her. Das
Erreichen der Ziele mit bestimmten Personen steht im Vordergrund, nicht die
konkrete, vorab definierte Lösungsstrategie. Es handelt sich um eine High-Context-
Kommunikation, denn polychrone Menschen leben in einem See von Informationen
(vgl. hierzu Kamentz 2006, 49f.).
3.3.1.6 LERNKULTUREN IM VERGLEICH
Alle nationalen Kulturen variieren entlang der von Hofstede identifizierten fünf
Dimensionen. Für einen interkulturellen Vergleich kann die durchschnittliche Matrix
der Länder/Regionen über alle fünf Indizes herangezogen werden, um zu erkennen, in
welchen Punkten sich die jeweiligen Kulturen bis hin zu je eigenen Lehr-/Lernstilen
unterscheiden.
In dem im Appendix (Kap. 8.1.1) gewählten inner-regionalen Vergleich lässt sich
diagnostizieren, dass tendenziell eine homogene Struktur der dimensionalen Indizes
auffällt - allerdings mit einzelnen, eindeutigen Ausreißern. So springt innerhalb Asiens
vor allem der individuelle Anspruch Indiens und die maskuline Kultur Japans ins
Auge. In Afrika scheint der Westen eine höhere Machtdistanz aufzuweisen als der
Osten des Kontinents. Europa zeigt eine auffallend ängstliche Kultur in Russland mit
hoher Machtdistanz und einem hohen Maskulinitätsindex in den deutschsprachigen
Ländern. Im Nahen Osten unterscheidet sich die arabische Region von Israel v.a.
durch ihre hohe Machtdistanz. Nord-Amerika und Ozeanien weisen erstaunlich
ähnliche Werte auf, während im südamerikanischen Kontinent sich die Werte extrem
unterscheiden.
Um tiefer in den Ländervergleich hinein zu zoomen, lassen sich -trotz vermeintlicher
Homogenisierung- selbst innerhalb einzelner Regionen aus den berechneten Indizes
einige interessante kulturellen Thesen ableiten:
So lässt sich z.B. in Europa beim Vergleich Deutschland zu Frankreich recht schnell
erkennen, dass die französischen Bewohner/innen eine höhere Machtdistanz
aufweisen, etwas individueller und langfristiger orientiert sind und mit Unsicherheiten
weniger gut umgehen können. Dagegen sind sie innergesellschaftlich femininer
aufgestellt und wissen das savoir-vivre zu schätzen.
© acw User Experience als Flow-Analyse 163
PDI IDV MAS UAI LTO
Deutschland 63 - 65 18 11 – 13 43 25 - 27
Frankreich 27 - 29 13 – 14 47 - 50 17 - 22 19
Übersetzt auf das Bildungssystem lässt sich aus diesen Indizes interpretierend
ableiten, dass in Frankreich Autoritäten und Elitenbildung auf exklusiven
Hochschulen eher akzeptiert sind. Darüber hinaus gelten als Maßstab nicht die
leistungsorientierten, sondern die durchschnittlichen Studierenden. Der Lehrstil ist
eher unterstützend angelegt und baut auf der intrinsischen Motivation der Lernenden
auf. Gleichwohl ist die Unterrichtsgestaltung lehrenden-zentrierter organisiert - das
Wissen der Lehrenden gilt es sich zu erarbeiten und mit richtigen Antworten seitens
der Lernenden zu bestätigen. Eine strukturierte Lernumgebung wird von den
Studierenden erwartet. Die Wahrscheinlichkeit, auch in Universitäten Frauen in
gehobenen Positionen vorzufinden, müsste höher ausfallen.
Hingegen zeigt sich bei einem Vergleich von Deutschland mit den USA, dass lediglich
der Individualismus-Index und die Unsicherheitsvermeidung einen etwas auffälligeren
Unterschied aufweisen. Demnach sind die Deutschen deutlich kollektivistischer
ausgerichtet, was recht gut mit der ängstlicheren kulturellen Natur einhergeht.
PDI IDV MAS UAI LTO
Deutschland 63 - 65 18 11 – 13 43 25 - 27
USA 57 - 59 1 19 62 31
Im Bildungssystem müsste sich der Unterschied darin bemerkbar machen, dass in
Deutschland die Lernenden vermutlich eher zu sozial kompatiblen Bürgern
ausgebildet werden. Zertifikate bzw. Diplome ermöglichen hier ggf. einen
gesellschaftlichen Aufstieg in eine höhere Schicht und dienen weniger der
Selbstachtung. In diesem interkulturellen Vergleich werden deutsche Studierende eher
eine akademische Sprache der Lehrenden und strukturiertere Lernumgebungen mit
klaren Lernzielen und Zeitplänen wünschen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im nationalen Vergleich der Kulturen die
Indizes von Hofstede typologisierend zu Hilfe genommen werden nnen, um
grundlegende Unterschiede z.B. im Bildungssystem aus dieser kulturellen
Differenzierung abzuleiten. Allerdings stoßen die stereotypischen Aussagen auf, da
sowohl subkulturelle als auch individuelle Unterschiede die konkrete
innergesellschaftliche Interaktion bestimmen. So könnten sicherlich für Ost- und
Westdeutschland differenzierte kulturelle Werte analysiert werden, zwischen urbanen
© acw User Experience als Flow-Analyse 164
und ruralen Gebieten unterschiedliche Indizes sich herausbilden oder klassen-,
schichten- oder milieuspezifische Besonderheiten identifiziert werden. Gleichwohl
geben die makroanalytischen Kulturdimensionen von Hofstede den individuellen
Unterschieden ein grundlegendes, national spezifisches Wertegerüst mit. Indem die
Individuen primär im lokalen, regionalen oder nationalstaatlichen Rahmen sozial
interagieren, drücken sich deren gemeinsame kulturelle Codes weiterhin in national
spezifischen Handlungspraktiken aus. Damit kultivieren sie ihre regional spezifischen,
Flow-generierenden Präferenzen bzw. werden über diese kulturellen Codes bestimmte
Lernkulturen weiter tradiert.
3.3.2 WEB 2.0 AL S SOZIALE KULTU R
Die Frage, die sich jetzt stellt, ist die, ob sich in der globalen Netzwerkgesellschaft in
verschiedenen Ländern und Regionen vergleichbare Subkulturen herausbilden, die
quer zu ihrer nationalen Sozialisation bestimmte Lebensstile ausprägen und
interkulturell vergleichbare Werte und Normen entwickeln, die über diesen Weg auf
die nationalen Politiken einwirken. Dieser Frage soll nun mit Blick auf eine womöglich
globale, horizontale Web 2.0-Kultur nachgegangen werden.
3.3.2.1 BEGRIFFSBESTIMMUNG WE B 2.0
Viel ist geschrieben worden zum Thema „Web 2.0“ und zum sozio-kulturellen Wandel,
der in diesem Begriff mitschwingt. Kennzeichen des von Tim O'Reilly im Jahre 2004
ausgerufenen Web 2.0-Phänomens sind aus seiner ökonomischen Perspektive die
Dynamik des Social Software-Marktes, eine Aufwertung der Dateninformationen, die
Nutzung kollektiver Intelligenz, die Entwicklung geräteübergreifender Angebote und
die Bereitstellung individualisierbarer Dienste (O’Reilly 2005). Eine globale
Innovationswelle wurde ausgelöst, die zwischenzeitlich über die Integration mobiler,
lernender Systeme das Web in die Welt hinausgetragen hat. Das World Wide Web hat
die Welt durchdrungen, von Menschen produzierte Metadaten ergänzen die Intelligenz
der Daten, die wiederum als kollektive Intelligenz das soziale Leben aufwerten.
Informelle Systeme schaffen hier einen größeren Mehrwert als formale Systeme, die
auch auf die soziale Kultur übergreifen (z.B. Obama-Wahlkampf, Government 2.0-
Strategien, Healthcare-Social Networks o.ä.) (O’Reilly und Battelle 2009). Insofern
wird das Web 2.0 aus sozio-kultureller Sicht auch gerne als Social Web bezeichnet, das
die Nutzer/innen in den Mittelpunkt rückt, eine emergente bottom-up-Netzstruktur
aufweist mit sozialem Feedback, einen Fokus auf die Informationsstruktur legt und
eine gruppenorientierte Kommunikation zulässt, aufbauend auf personalen
Verbindungen (vgl. Hajo Hippner zit. n. Baumgartner und Himpsl 2008).
© acw User Experience als Flow-Analyse 165
3.3.2.2 KU LTUR DER NETZWERKGESELLSCHAFT & WEB 2.0
Im Zuge der Entstehung einer globalen Netzwerkgesellschaft hat sich eine sozio-
historische Notwendigkeit ergeben, individuelle Vernetzungen entlang gemeinsamer,
partikularer, temporärer Interessen zu suchen und nachhaltig zu etablieren. 60 Das so
genannte Web 2.0 scheint für diese Anforderungen wie geschaffen und optimal
anpassbar zu sein - unabhängig davon, welcher globalen Gesellschaftsschicht man
derzeit angehört, sofern ein Zugang zum Netz existiert.
Zwar gesteht Hofstede dem globalisierten Siegeszug der IKT-Technologien keinen
Einfluss auf die kulturell bedingte mentale Software zu (Geert Hofstede und Gert Jan
Hofstede 2004, 330). Aus Sicht der Individuen aber fliesst jede Handlung und
Erfahrung in die habituellen Muster und Schemata einer Kultur ein. Die Schemata
vereinigen differentes Wissen in unterschiedlicher Tiefe als Metakonzepte. In einer
spezifischen Situation liefern sie, ggf. im Wechselspiel mit anderen Schemata, die
handlungsleitenden Reaktionen. Indem Kultur verbal und non-verbal
intergenerational weitergereicht und gleichzeitig immerfort ausgehandelt wird, prägt
sie die Personen, die sich am Diskursprozess beteiligen (Khan-Svik 2008, 53f.).
Während früher v.a. der geographische Raum seine Bevölkerung entlang einer
geteilten Kultur der Werte und Praktiken als Community prä-konfigurierte,
dominieren heute v.a. die vielfältig vernetzten kulturellen Praktiken der Netz-
ArbeiterInnen die individualisierte, kommunikative Struktur - zumindest bei den
Personen, die an der Netzwerkgesellschaft aktiv beteiligt sind. Die Kultur als
identitätsstiftendes Moment hat sich dort vom Kollektiv auf das Individuum verlagert.
Zwar prägen weiterhin verschiedene kulturelle Ebenen das mentale Programm der
individuellen Identität. Indem aber jede Person in der Netzwerkgesellschaft
verschiedenen, temporären Netzwerken angehört, ist die individuelle Identität die
einzige, die über Zeit und Raum Sinn stiftet (wie in Kap. 3.1.3 angeführt).
Da sich diese Netzwerke von kleinen Gruppen zu diffusen sozialen Netzwerken
wandeln, wird die konkrete identitätsstiftende Kultur des Einzelnen u.a. im
diskursiven Prozess der Web Cloud ausgehandelt. Menschen tauschen sich jetzt auf
globaler Ebene webbasiert aus, vernetzen sich und lernen informell. Im Zeitalter der
„Internet-Galaxis“ (Castells) und der Welt als Web“ (O'Reilly) ergänzen sich die
Menschen und Daten zu einem Hypertext im semantischen Kontext, der in der
Konsequenz nur noch eine Kommunikation auf elektronischer Grundlage zulässt.
Jedes physikalische Objekt führt zwischenzeitlich seinen eigenen
„Informationsschatten“ (Kuniavsky) im Web mit sich - zumindest in der vernetzten
Welt. Menschen, Bücher, Lieder weisen dort eine Offline- und eine Online-Identität
auf, die sich zusehends überlagern (O’Reilly und Battelle 2009). Die kommunikative
60 Vgl. Kap. 2.5
© acw User Experience als Flow-Analyse 166
Kultur verweist über den space of places auf den space of flows und die kulturellen
Ebenen werden zusehends von globalen Netzwerken infiltriert.
In der Netzwerkgesellschaft erlangt ein space of places lediglich als Sprungbrett oder
Backbone Bedeutung für den sozio-ökonomisch relevanten space of flows. Indem sich
die vernetzten Personen auf der sozialen Ebene über die schwachen Verbindungen des
Web 2.0 im space of flows austauschen, bilden sie interkulturelle Codes aus,
aufbauend auf diskursiv ausgehandelten Werten und Praktiken. Die sozialen Medien
ermöglichen lokale Kommunikationsstrukturen auf globaler Ebene (Downes 2007) -
über diese „Zeit-Raum-Kompression“ (Harvey) entsteht eine eigene, transformative
Web 2.0-Kultur. Nicht losgelöst von physikalischen Prozessen, aber ergänzt um
virtuelle Eigenheiten. Treibendes Subjekt der Veränderung sind dabei bestimmte
soziale Bewegungen, die als kollektiver Schwarm neue Codes und Praktiken etablieren
und damit eine kulturelle Hegemonie auf der Basis gemeinsamer Ideen
herausarbeiten. Im Web 2.0 als Social Web sind dies kulturelle Werte wie Emergenz,
Offenheit, Transparenz, soziale Teilhabe und kollektive Intelligenz. Im Web 2.0 als
Social Software sind dies Nutzerorientierung, kollaborative Praktiken, Eigeninitiative
und kollektive Intelligenz der Daten.
Gleichzeitig wirken diese globalen Prozesse und entstehenden Organisationseinheiten
wieder zurück in die nationalen Kulturen. Sie entfalten eine gesellschaftliche Relevanz,
wenn in den neuen kulturellen Praktiken ggf. neue Quellen der Sinnstiftung gesehen
werden. In der „realisierten Virtualität“ werden diese Werte dann über die IKT in die
Institutionen und sozialen Organisationen hineingetragen. Die Kultur der
Nationalstaaten ändert sich, da sich diese Prozesse außerhalb des staatlichen Zugriffs
bewegen. Die neuen Medien unterlaufen die traditionelle Macht im space of places.
Denn die heutige Medienumgebung ist eine sehr intensive Umgebung. Sie entspricht
einer Materialisierung subjektiver Informationen als Kommunikationsraum, nicht von
extensivierten Objekten, sondern von intensiven Subjekten, die kontinuierlich Zeichen
aussondern, entlang derer sich andere orientieren (Lash und Lury 2007, 14).
Wahrnehmungen und Erfahrungen sind dabei nicht mehr objektivierbar, sondern sind
individuelle Erfahrungen von Intensitäten. Kultur stellt demnach keinen separaten
Bereich mehr dar, sondern durchdringt die Wirtschaft und den Erfahrungsalltag
komplett (ebd., 3) als virtueller Kapitalismus (ebd., 183).
3.3.2.3 ALLGEMEINE WE B 2.0-KU LT U R
Um nun die spezifische Web 2.0-Kultur in die Kulturdimensionen von Hofstede
einzuordnen, lassen sich diese aus den kulturellen Praktiken vernetzter Individuen
ableiten. Flexible Filterprozesse sind in der Welt der vernetzten Information Worker
und digitalen Nomaden erforderlich, um sich in prekären, agilen Projektteams lernend
mit verschiedenen, gleichzeitigen Aufgaben beschäftigen zu können (Lindner 2008b).
© acw User Experience als Flow-Analyse 167
Um multiple Informationskanäle zu bündeln, fordert diese mediale Vernetzung eine
langzeitorientierte, individualistisch geprägte, kollektivistisch fördernde Kultur mit
schwachem Unsicherheitsfaktor und einer niedrigen Machtdistanz, die sich eher
feminineren Werten der intrinsischen Motivation zuwendet. Zudem bedarf die Kultur
des Web 2.0 einer polychronischen Zeitkultur, da in der Netzwerkgesellschaft parallel
verschiedene Netzwerke mit je eigener Zeittaktung existieren. Eine sequentielle Zeit ist
nicht mehr gegeben. Hier können Spannungen entstehen, da der space of places mit
den „einfachen“ Leuten im lokalen Raum einer anderen Zeitmessung folgen als die
globalen Netzwerkkulturen im space of flows. Vor allem in kollektivistischen Kulturen
mit hohem UAI, die in einer High-Context-Kommunikation den impliziten,
traditionellen Regeln folgen, werden die Spannungen sehr stark sein. Auch autoritäre,
klar strukturierte, am kurzfristigen Erfolg oder Karrieredenken orientierte,
individualistische Ansätze ohne kollektivistischen Bezug haben im Social Web an
Boden verloren.
Übertragen auf die interkulturellen Indizes von Hofstede lassen sich von daher
folgende Ranglistenplätze idealtypisch ableiten:
PDI IDV MAS UAI LTO
Web 2.0 75 37 75 75 1
Im Vergleich dieser identifizierten kulturellen Werte mit der Kulturdimensionen-
Matrix im Appendix (siehe Kap. 8.1.2), lassen sich über diesen Weg ggf. ideale
kulturelle Voraussetzungen zur nationalen Adaption der Web 2.0-Kultur identifizieren.
Dabei wird deutlich, dass kein Staat bzw. keine Region dem Idealtypus der vermuteten
Web 2.0-Kultur entspricht. Am ehesten weisen Japan, Finnland, Israel, Ostafrika und
Schweden auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine starke Affinität zur Web 2.0-Kultur
aus und es ist zu vermuten, dass sich in diesen Staaten ein offener Zugang zum Web
2.0 manifestiert.
3.3.2.4 NATIONALE OD ER REGIONALE WE B 2.0-KU LTUR
Als weiteres Indiz für eine lebendige Partizipationsgesellschaft kann auf kultureller
Ebene der Nutzungsgrad von Web 2.0-Diensten gelten. Nach einer Auswertung
europäisch vergleichender Studien zur Web 2.0-Nutzung lassen sich vier Ebenen
nationaler Einflussfaktoren auf die Web 2.0-Akzeptanz unterscheiden (Frank Thomas,
Vittadini, und Gómez-Fernández 2009): Neben den sozialen Werten und Haltungen
sind dies sozio-demographische Einflüsse, kulturelle Aktivitäten & Konsumption und
soziales Verhalten. Werden diese Faktoren auf das durchschnittliche nationale Web
2.0-Verhalten angelegt, konnte die Auswertung aufzeigen, wie sich die zirkuläre
© acw User Experience als Flow-Analyse 168
Entertainment-Kultur als mediales Broadcasting in Europa kulturübergreifend
durchsetzen konnte. Hingegen ist die kreative Beteiligung an der Content-Produktion
in analogen, kulturell aktiven, konsumstarken Ländern und die Beteiligung in sozialen
Netzwerke in nicht-sozialen aktiven Ländern sehr verbreitet. Die Autor/innen führen
an, dass sich die Resultate zu 53% aus der partizipativen und kulturellen Aktivität
eines Landes herleiten lassen, zu 13% aus der Bedeutung, die dem funktionalen
Beziehungsmanagement und dem Internet als symbolische Integrationskraft
beigemessen wird und zu 8% aus den Werten, die einer egalitären Gesellschaft
förderlich sind, aufbauend auf interpersonalem Vertrauen und engen Freundschaften
(ebd.). Schließlich folgern Thomas, Vittadini und Gómez-Fernández, dass auf globaler
Ebene drei verschiedene Modelle der Web 2.0-Aneignung unterschieden werden
können (ebd.):
Das flache Modell, in dem einzelne Länder dem gesamten Web 2.0-Angebot sehr
aufgeschlossen und homogen gegenüber treten, da es die sozialen und kulturellen
Aktivitäten eines Landes unterstützt. Hier ist die aktive Beteiligung recht hoch
(Creative Internet).
Im Kulturgüter-orientierten Modell wird das Web 2.0 primär als Multiplikator für
zirkuläre Entertainment-Produkte gesehen - das soziale Leben bleibt dem realen
Leben vorbehalten (Circular Entertainment).
Schließlich das Kulturperformance-orientierte Modell, in dem der kulturellen
Aktivität durch Web 2.0-Dienste eine zentrale Bedeutung zukommt, um ein
aktiveres soziales Leben aufzubauen (Social Computing).
Insofern die Autor/innen zugestehen, dass bei jungen Menschen die nationalen
Unterscheidungen eventuell kaum zu identifizieren sind, soll hier dieser kollektiven
Perspektive, die den Einfluss von Durchschnittswerten einer (nationalen) Kultur auf
soziale Prozesse untersucht, eine individualisierte Sicht auf kulturelle Codes gegenüber
gestellt werden, die sich v.a. über soziale Praktiken im space of flows ausbildet. Da hier
die These vertreten wird, die nutzerfokussierte, auf gruppenorientierte
Kommunikation ausgerichtete, informationsgesättigte, emergent vernetzte Web 2.0-
Kultur entspräche einer globalen Schicht, können einzelne Kulturkreise, soziale
Milieus oder Individuen innerhalb einer nationalen Kultur sowohl der Web 2.0-Kultur
als auch der nationalen Kultur angehören - unabhängig von ihrem Alter.
Interessant wäre in diesem Zusammenhang, wie sich die individuell gelebte Web 2.0-
Kultur je nach regionalem Herkunftsmodell unterschiedlich ausgestaltet. Führt z.B.
das flache Modell zu einer aggressiveren Forderung nach Open-Data? Werden im
Kulturgüter-orientierten Modell mehr Medien (illegal) getauscht oder re-produziert?
Dominiert im Kulturperformance-Modell z.B. das Social Networking und bilden sich
neue Identitätsmuster aus? Im globalen space of flows durchmischen sich zwar diese
sozialen Web-Praktiken und lassen eine annähernd vergleichbare globale Kultur
© acw User Experience als Flow-Analyse 169
entstehen - dies erklärt die von Thomas et. al. identifizierten, international
vergleichbaren Nutzungsformen v.a. bei jungen Menschen. Die Frage ist aber: In
welcher Geschwindigkeit wirkt diese entstehende, horizontale, globale Kultur vertikal
in die nationalen Kulturen hinein? Welche Unterschiede können hinsichtlich der drei
regionalen Aneignungsmodelle identifiziert werden?
Erste Indizien, wie sich die Geschwindigkeiten der weltweiten Technologie-
Durchdringung in das alltägliche Leben national unterscheiden, hat eine Intel-
Untersuchung herausgearbeitet: Nicht die durchschnittlichen Einkommen sind
ausschlaggebend für die technologische Durchdringung, sondern die staatlichen
Anpassungen, das Aufbauen auf starken sozialen Offline-Netzwerken und eventuelle
historische Umbrüche, die schnell überwunden werden wollen (Nafus 2008). Um aber
diese Ergebnisse mit den von Thomas, Vittadini und Gómez-Fernández entwickelten
vier für die Web 2.0-Akzeptanz entscheidenden gesellschaftlichen Faktoren (soziale
Werte & Haltungen, sozio-demographische Einflüsse, kulturelle Aktivitäten &
Konsumption und soziales Verhalten) sowie den drei Web 2.0-Dimensionen (Creative
Internet, Social Computing, Circular Entertainment) zu verbinden, fehlt es derzeit an
Forschungsergebnissen. Generell fehlt es noch an differenzierten internationalen
Statistiken, um einen nationalen Social Media-Aktivitätsindex pro Land/Region
abzuleiten und damit eine Zuordnung zu den drei national präferierten Web 2.0-
Aneignungsmodellen (Kulturunterstützung, Kulturgüterorientierung,
Kulturperformance) zu ermöglichen. Zwar können die von Hofstede identifizierten
Indizes für jedes Land eine gewisse Orientierung bieten, wie sich voraussichtlich die
durchschnittliche Web 2.0-Aktivität darstellt. Gleichwohl entspricht diese
Vorgehensweise einer sehr spekulativen Analyse mit wenig Prägnanz, wie die Zahlen
im Appendix demonstrierten.
Um die hier vertretene These einer globalen Web 2.0-Kultur zu unterstützen, sei
mangels breiter Statistiken zunächst auf die internationale Verbreitung sozialer
Netzwerke -also einem Baustein des Social Computings- verwiesen. So hat die Nielsen
Company im März 2009 eine Social Networking Studie veröffentlicht, die
dokumentiert, dass 2/3 der globalen Online-Bevölkerung so genannte „Member
Communities“ (Social Networks und Blogs) besucht - und damit die E-Mail-Nutzung
überholt hat. Die größten Zuwachsraten sind in der Altersstufe zwischen 35 und 49 zu
verzeichnen und der Erfolg lässt sich inhaltlich eher auf das Beziehungsmanagement
und weniger auf die Entertainment-Leistungen zurückführen (Nielsen Company
2009). Zudem zeigt die von Vincenzo Cosenza61 -auf der Basis der Web-Statistiken von
Alexa62 und Google Trends63- entworfene Weltkarte der sozialen Netzwerke ein
differenziertes Bild. Während Facebook den größten geographischen Verbreitungsgrad
61 http://www.vincos.it/world-map-of-social-networks/ (05.03.11)
62 http://www.alexa.com/ (05.03.11)
63 http://www.google.de/trends (05.03.11)
© acw User Experience als Flow-Analyse 170
aufweist, dominieren im asiatischen Raum andere soziale Netzwerke. Inwiefern hier
adäquatere kulturelle Muster bedient werden, bliebe einer weiteren Untersuchung
vorbehalten. Auffallend ist, dass ganze Landstriche in Afrika mangels Masse überhaupt
nicht in den Statistiken auftauchen.
Da Afrika von einem massiven Anbindungsproblem an die globalen Datenströme
gekennzeichnet ist, verwundert dies wenig.64 Nur 3,4% aller Internetnutzer/innen
leben in Afrika - die Internet-Durchdringung belief sich am 16.07.2009 kontinentweit
auf 5,6%.65 Und dennoch existiert dort eine Web 2.0-Kultur: Vergleicht man z.B.
verfügbare Nutzerzahlen von Facebook und stellt diese in Relation zur
Internetnutzung, so deuten sie in den erfassten afrikanischen Staaten auf eine
deutlichere Social Computing-Durchdringung der Internet-Szene hin als z.B. in
Deutschland (siehe Appendix, Kap. 8.1.3). Doch wenn man der Argumentation von
Thomas, Vittadini und Gómez-Fernández folgt, so müsste es sich bei den afrikanischen
Staaten um nicht-soziale, aktive Länder handeln. Beim Vergleich mit den hohen
kollektivistischen Werten in Hofstedes Untersuchung liegt hier ein Widerspruch vor.
Um also weiter der Frage nachzugehen, inwiefern z.B. die Web 2.0-Kultur in Afrika mit
der in Deutschland oder USA vergleichbar ist, bedarf es weiterer Indikatoren als die
Durchdringung der Internetnutzer/innen mit (proprietären) sozialen Netzwerken (à la
Facebook). Weitere Hinweise auf eine aktive Web 2.0-Nutzung könnte die Produktion
von amateurhaften Inhalten (z.B. Fotos, Videos, Dateien, Blog-Inhalten) und die
Verlagerung der Entertainment-Kultur ins Web sein.
In diesem Kontext sind die Studien des World Internet Projects von Interesse.
3.3.2.5 WOR L D INTERNET PR O J E C T & WEB 2.0-NUT Z U N G
Im World Internet Project66 werden in ausgewählten Staaten seit dem Jahre 2000
regelmäßige Daten zum nationalen Internetverhalten gesammelt. Der Gesamtbericht
für das Jahr 2009 ist für 500 Euro käuflich erwerblich. 67 Auf deren Website stellen
einige Länder ihre Ergebnisse online zur Verfügung. Wie diese öffentliche
Bereitstellung der nationalen Zahlen gehandhabt wird, lässt Rückschlüsse auf deren
national geprägten, interkulturellen Umgang mit der Web 2.0-Kultur zu. So stellen
Deutschland, Italien und Singapur völlig veraltete Zahlen online zur Verfügung,
während z.B. die USA alle jährlichen Berichte in einer übersichtlichen
Zusammenfassung präsentiert. Um eventuelle Rückschlüsse hinsichtlich der
tatsächlichen nationalen Web 2.0-Nutzung tätigen zu können, wurden die
vorliegenden Hinweise für die hier interessierenden Aktivitäten aus den Jahren 2007
64 http://www.telegeography.com/product-info/map_internet/index.php (05.03.11)
65 http://www.internetworldstats.com/stats1.htm (05.03.11)
66 http://www.worldinternetproject.net/ (05.03.11)
67 Leider nicht erschwinglich und die Ergebnisse stehen auch nicht über Bibliotheken zur Verfügung.
© acw User Experience als Flow-Analyse 171
oder 2008 interkulturell verglichen (siehe dazu im Appendix, Kap. 8.1.4).
Alle von der World Internet Society über acht Jahre untersuchten Länder belegen
einen deutlichen, kontinuierlichen Anstieg online ermöglichter Kommunikation und
sozialer Vernetzung. Global setzen sich soziale Medien durch und gewinnen an sozialer
Bedeutung. Auch bezüglich der Attraktivität multimedialer Entertainment-Angebote
ist eine ähnliche Tendenz festzustellen. Lediglich hinsichtlich des Austauschs kreativen
Contents und der mobilen Nutzung können Unterschiede festgestellt werden:
So scheint in China das Foto-Sharing kein zentrales Thema des sozialen Austauschs
zu sein bzw. ist es politisch unerwünscht. Flickr wurde angesichts der politischen
Kraft visueller Dokumentationen kurzerhand abgeschaltet. Inwiefern dennoch das
Internet der individuellen Kreativität im multimedialen chinesischen Raum
Auftrieb verleiht, bedürfte weitergehender Recherchen. Die verhältnismäßig hohe
Anzahl privater Blogger/innen deutet auf kreative Produktionen hin - und auf eine
eher männliche Kultur, in der sich einzelne Personen gerne präsentieren.
Andererseits deuten die Ergebnisse an, dass in individualistischen Ländern mit weit
entwickelter Online-Tradition die Bedeutung des Mobiltelefons nicht so stark
ausgeprägt ist. Hier scheint (bislang) die Kontaktaufnahme am heimischen Rechner
für den sozialen Austausch ausreichend zu sein.
Wenn diese zaghaften Schlüsse mit den interkulturellen Indizes von Hofstede
verglichen werden (siehe Appendix, Kap. 8.1.4.8), fällt zunächst auf, dass alle
untersuchten Länder eine gemeinsame Stärke eint: Es herrscht allerorten wenig
Unsicherheit hinsichtlich der Nutzung sozialer Medien - und in den meisten Staaten
eine geringe Machtdistanz. Hingegen deutet die hohe chinesische Machtdistanz
vielleicht die mediale Zensur an. Zudem weist der hohe kollektivistische Wert der
chinesischen Kultur -und tendenziell auch der Schwedens- auf die Bedeutung
zwischenmenschlicher Kontakte hin. Die Handynutzung und ständige Erreichbarkeit
führt die sozialen Netzwerke zusammen. Gleichzeitig legen die Schweden -vermutlich
aufgrund ihrer femininen Kultur- wenig Gewicht auf das Bloggen.
3.3.2.6 DA S WE B 2.0-PO T ENZ I A L AM BEISPIEL AFRIKA
Überträgt man die im vorherigen Kapitel angeführten Schlussfolgerungen auf den
afrikanischen Kontinent, so lässt die wenig ängstliche Kultur voraussichtlich den
sozialen Medien eine grosse Chance zukommen (vgl. Appendix, Kap, 8.1.4.9).68
Gleichzeitig wird sich Bloggen aufgrund der eher feminineren Kultur wohl nicht zum
zentralen Web 2.0-Indikator herausbilden. Hingegen ist das Bedürfnis nach
alltäglicher Kontaktaufnahme in den sozio-kulturellen Werten angelegt - hier deutet
sich bereits die intensive mobile Nutzung an. Es steht zu erwarten, dass in Westafrika
68 Selbstverständlich erfolgt auch diese kulturelle Zuordnung sehr holzschnittartig und entspricht nur sehr
grob gefassten Durchschnittswerten.
© acw User Experience als Flow-Analyse 172
staatliche Zensurmaßnahmen den multimedialen Veröffentlichungsgrad zu lenken
versuchen, während in Ostafrika ggf. etwas legerer mit dem kreativen Content
umgegangen wird.
Afrika weist die größten Zuwachsraten im mobilen Sektor auf - und dies im globalen
Maßstab.69 Angesichts einer schwachen elektrischen Durchdringung des Kontinents
-und in Folge weniger Computer- kommt dem mobilen und Wireless-Internet-Markt
eine grosse Bedeutung zu. Die Attraktivität der mobilen Kommunikation -im
alltäglichen Gebrauch starker Verbindungen oftmals sprach- wie textlos, stattdessen
per Klingelcode- eröffnet ein kostengünstiges Andocken an die Netzwerkgesellschaft
(Donner 2007). Das Handy wird zum Informations- wie Kommunikationsmedium.
Gleichzeitig eröffnen Prepaid-Karten die Türen zum Mobile Commerce, da sie als
vielfältiges Micro-Zahlmittel und Bankersatz eingesetzt werden können. Die
Nutzungskonzepte wachsen über die klassischen medialen Zusammenhänge hinaus
(United Nations 2009). Und die Bedeutung des Computerinternets tritt in
Kombination mit der Radiotechnologie hinter das mobile Netz zurück - auch wenn sich
der mobile Markt angesichts geringer Ertragsraten für die
Telekommunikationsindustrie nicht ganz so schnell entwickelt wie potenziell
möglich.70 Gleichwohl können in der Folge mobil nutzbare Dienste (wie z.B. Twitter
per SMS) ein besserer Indikator für Social Computing sein als „klassische“ Social
Networking-Dienste (Mumba 2007).
Zudem existiert in Afrika eine lebendige Web 2.0-Startup-Szene (Macha 2009), die
sich von ihren Ausdrucksformen und genutzten Informations- wie
Kommunikationskanälen nicht von westlichen neuen Businessformen unterscheidet.71
Facebook72, Twitter73, LinkedIn74, Blogs75, Wikis76 und fachspezifische soziale
Netzwerke77 zählen hier ebenso zum Standard-Instrumentarium wie Barcamps 78, E-
Learning-Symposien79 und wissenschaftlicher Austausch in internationalen,
informellen Kontexten.80 Der sozio-kulturelle Habitus der Web 2.0-Kultur hat sich hier
in seinen Diskursformen und Austauschformaten global angeglichen.81 Es ist davon
69 http://www.itu.int/newsroom/press_releases/2008/10.html (05.03.11)
70 http://www.heise.de/newsticker/Heisses-Pflaster-Afrika-Mobilfunkriese-Zain-will-sich-
zurueckziehen--/meldung/142562 (05.03.11)
71 http://whiteafrican.com/2007/11/21/africas-web-20-sites-with-links/ (05.03.11)
72 http://www.readwriteweb.com/archives/facebook_developers_garage_uga.php (05.03.11)
73 http://twitter.com/#!/wdboer/africa (05.03.11)
74 http://www.africanews.com/ (05.03.11)
75 http://blogafrica.allafrica.com/ (05.03.11)
76 http://ecyg.wikispaces.com/Africa+and+the+Middle+East (05.03.11)
77 http://www.kabissa.org/ (05.03.11) oder http://www.vc4africa.com/ (05.03.11)
78 http://www.barcampghana.org/ (05.03.11) oder http://barcampafrica.com/ (05.03.11)
79 http://www.elearning-africa.com/ (05.03.11)
80 http://science-connect.net (05.03.11)
81 http://www.africandigitalart.com/ (05.03.11) oder http://afrigator.com/ (05.03.11)
© acw User Experience als Flow-Analyse 173
auszugehen, dass die konkreten Geschäftsideen sich den regional wie national
spezifischen Besonderheiten anpassen - wie bereits erste Entwicklungen
demonstrieren.82 Eine typische Herausforderung wird die Anbindung der ruralen,
infrastrukturell wenig erschlossenen Gesellschaft83 an den afrikanischen Knoten84 der
Netzwerkgesellschaft im Allgemeinen, die Austauschpotenziale des Social Webs im
Besonderen sein.85 Kombinierte Online-/Offline-Konzepte werden bereits entwickelt,
um die kollektive Intelligenz maximal auszureizen - auch um den hohen
Analphabetismus und/oder die fehlende Medienkompetenz auszugleichen.86
In Afrika ist absehbar, wie komplexere Web 2.0-Strategien eine Integration klassischer
Medien (Radio) und kreativer mobiler Konzepte 87 ermöglichen, um die Potentiale
sozialer Vernetzung in die Gesellschaft hinein- und wieder heraustragen können.
Indem die Beteiligten dieser Entwicklung einen Mehrwert zusprechen,88 wird sich der
Wert einer transparenten Gesellschaft in den sozio-kulturellen Code einschreiben und
als flaches Modell des offenen Zugangs zum Web voraussichtlich auch auf das sozio-
politische Geschehen ausdehnen.89
Mitbestimmung und Abstimmung der Zielsetzungen, freier Austausch von
gesellschaftlichem Wissen bzw. Entwicklungen und Durchlässigkeit der Strukturen
sind sozio-kulturelle Indikatoren, die sich als globale Web 2.0-Kultur in die nationalen
Kulturen voraussichtlich durchsetzen - so die sich hier entwickelnde Hypothese. Da
das Medium der Web-Galaxis die Botschaft ist, die einen neuen Kulturraum ausbildet,
mutieren die Botschaften wieder zu tatsächlichen Botschaften. Eine mediale
Instrumentalisierung dieser Botschaften durch nationale Einflussgrößen gestaltet sich
immer schwieriger. Der globale Strukturwandel wird insofern kaum aufzuhalten sein.
3.3.3 ZWISCHENFAZIT: SOZIO-KULT URELLE R EINFL U S S AUF
FLOW-EMPFIN D E N
Um als Person Flow zu empfinden bedarf es regelmäßiger Herausforderungen, die
mittels kontinuierlicher Kompetenzsteigerung bewältigt werden können - nicht als
linearer, sozio-kulturell vorgezeichneter Weg, sondern als persönlich konfigurierbarer,
der aus eigener, freier Entscheidung resultiert. Entscheidungsfreiheit setzt bestimmte
82 http://dotsub.com/view/7a64255a-02e7-4d70-9d2a-48bef0aeda2d (05.03.11)
83 http://www.infrastructureafrica.org (05.03.11)
84 http://www.engineeringnews.co.za/article/closing-the-digital-divide-2009-05-01 (05.03.11)
85 http://cc.fullcirc.com/africa/ (05.03.11)
86 http://ictupdate.cta.int/en (05.03.11)
87 http://aiti.mit.edu/ (05.03.11)
88 Siehe deskriptiv: http://dotsub.com/view/7a64255a-02e7-4d70-9d2a-48bef0aeda2d (05.03.11)
89 Geschrieben VOR dem sich revolutionären Umbruch im Nahen Osten
© acw User Experience als Flow-Analyse 174
sozio-kulturelle Bedingungen voraus, die sich sozio-historisch weiterentwickeln.
Zunächst bedarf es am space of places eines physikalischen Zugangs zum Netz des
space of flows als Grundvoraussetzung zur Teilhabe an der Netzwerkgesellschaft. Wird
Hofstedes Indexdenken als Maßstab angelegt, so lässt sich vorhersagen: Je höher die
nationale Machtdistanz ausfällt, desto schwieriger und abhängiger gestaltet sich der
Netzzugang. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, in welchem
Ausmaß und welcher Geschwindigkeit die offene, transparente, wenig
machtdistanzierte Kultur der Netzwerkgesellschaft über die Netzwerkknoten am space
of places und die global vernetzte Medienkultur auf die nationalen Kulturen einwirkt
und die sozio-kulturellen Codes und Praktiken zumindest in diesem Punkt nachhaltig
prägt. Hier üben noch die nationalen Unterschiede hinsichtlich des präferierten
medialen Kulturmodells (Kulturunterstützung, Kulturgüterorientierung,
Kulturperformance) ihren derzeit noch vorherrschenden Einfluss aus, über welche
spezifischen Kanäle die Infiltration und damit der Netzzugang sich vollzieht.
Eine weitere wichtige Grundvoraussetzung, um zumindest theoretisch Flow im space
of flows empfinden zu können, stellt die individuelle Netz-Kompetenz als
Querschnittskompetenz dar. Auch hier wird das nationale, mediale Kulturmodell
individuelle Präferenzen vorgeben, in welcher konkreten Web 2.0-Dimension
(Circular Entertainment, Creative Production, Social Computing) sich die persönliche
Netzaktivität zunächst vollzieht. Inwiefern klassische interkulturelle Kompetenzen in
einer sich angleichenden globalen Netzkultur hilfreich sind, bliebe zu diskutieren.
In Kap. 3.2.3 wurde zusammenfassend festgestellt, dass die sozialen Verbindungen in
der Netzwerkgesellschaft wichtiger sind als der je konkrete, zirkulierende, sich ständig
transformierende Content. Fortan kommt dem Vertrauensfaktor eine entscheidende
Bedeutung zu, sich in die Netzwerke aktiv einzubringen. Für die Annahme einer
Herausforderung ist aufgrund der High-Context-Kommunikation im Web 2.0-System
sowohl das persönliche als auch das Systemvertrauen eine wesentliche Voraussetzung.
Nach dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann ist Vertrauen eine Reduktion sozialer
Komplexität, indem die Unsicherheit auf ein noch tragbares Maß erhöht wird
(Mafaalani 2008, 16). Auch das Vertrauen in Technik ist soziales Vertrauen, also
Systemvertrauen, da anderen Personen vertraut werden muss (ebd., 25). Dabei wird
die Fähigkeit, Vertrauen entwickeln zu können, sozio-kulturell erlernt. Kulturen mit
einer hohen Unsicherheitsvermeidung und einer klaren Rollenverteilung haben höhere
Hürden zu überwinden, um zu vertrauen.
Schließlich bedarf es einer autotelischen Persönlichkeitsstruktur, um Flow empfinden
und wahrnehmen zu können - mitsamt der daran gekoppelten Fähigkeit, diesen Wert
in den sozio-kulturellen Code aufzunehmen und weiterzureichen. Kennzeichen einer
autotelischen Persönlichkeit sind -neben der Fähigkeit, eigene Zielsetzungen zu
verfolgen- die Selbstvergessenheit, die intrinsische Belohnung und eine langfristige
© acw User Experience als Flow-Analyse 175
Orientierung. Je nach kultureller Herkunft bringen einzelne Personen mehr oder
weniger optimale Bedingungen mit. Selbstvergessenheit fällt vielleicht
individualistischeren Kulturen schwerer als kollektivistischen; intrinsische
Belohnungen müssen ängstliche Kulturen eventuell erst abstreifen, um
Selbstbewusstsein erfahren und leben zu können; und langzeitorientierte Kulturen
werden eine langfristige Orientierung der persönlichen Zielerfüllung eher nahelegen
als kurzzeitorientierte Kulturen.
Lässt man diese interkulturellen Anforderungen für das individuelle Flow-Empfinden
Revue passieren, fällt auf, dass die im vorherigen Kapitel hergeleitete Web 2.0-Kultur
exakt diesen Anforderungen entspricht. Insofern scheinen nationale Kulturen, die
diese idealtypischen Voraussetzungen für die Web 2.0-Kultur und das Flow-
Empfinden möglichst breit abbilden, besser prädestiniert zu sein, in ihren
gesellschaftlichen Institutionen eine kollektive Netzwerk-Kompetenz auszubilden -
zumindest im Rahmen ihres national präferierten, medialen Kulturmodells. Erst dann
sind erste Voraussetzungen geschaffen, vielfältige Netzwerkknoten in der globalen
Netzwerkgesellschaft aufzubauen und über die aktive Mitgestaltung des Netzwerkes
auch konstruktiv bildungspolitisch zu agieren. Nicht als Selbstzweck, sondern um dem
sozio-kulturellen Wandel hin zum Social Web begegnen zu können, der einerseits in
der Entwicklung der Netzwerkgesellschaft angelegt ist, andererseits forciert wird durch
die Möglichkeiten einer technologisch innovativen, ökonomisch wirkenden Praxis, der
Social Software.
Die sozio-kulturelle Praxis, die sich durch diese sich ergänzenden Entwicklungen
-Netzwerkgesellschaft und Social Software- im Rahmen des national präferierten
medialen Kulturmodells ausprägt und den Entwicklungsprozess dynamisch an die
Bedürfnisse und kreativen Nutzungsarten der User anpasst, lässt sich kaum seitens des
Designs unter interkulturellen Gesichtspunkten steuern. Wohl aber lässt sich die
interkulturell unterschiedliche Nutzung und Präferenz einzelner Social Software-
Dienste erklären (siehe im Appendix Kap. 8.1.4.7). Über diesen Weg vermag eine
interkulturelle Forschung ggf. die kulturelle Neigung einzelner Personen in einem
konkreten space of places erklären, sich z.B. bestimmten Web 2.0-Diensten
zuzuwenden. Sie vermag allerdings kaum den Einfluss einer trans-kulturellen
Entwicklung auf einzelne (nationale) Kulturen zu analysieren oder gar die Entfaltung
einer globalen Netzkultur - mit ihren nationalen Schieflagen. Die Frage, inwiefern
adaptive Systeme mit interkultureller Differenzierung (Design, Navigation, Cultural
Markers etc.) im space of flows das Flow-Empfinden unterstützen helfen, muss hier
bezweifelt werden, da die Personen selbst ihre asymmetrischen, temporären
Netzwerke regelmäßig re-konfigurieren. Im space of places können lediglich
interkulturell optimierte Systeme als Trittleiter Sinn stiftend sein. Denn nach dem UX-
Forscher Donald Norman kann Design auf drei Ebenen der individuellen Nutzung
wirken (siehe Kap. 3.2.1.3):
© acw User Experience als Flow-Analyse 176
1. Auf der viszeralen Ebene reagieren die Sinne interkulturell vergleichbar auf starke
emotionale Signale der Umwelt. Ein ansprechendes Design, eine Tonlage oder das
provozierte Gefühl kann als universale ästhetische Dimension eines Angebotes
wirken. Zwar üben kulturell präferierte Farben, Icons oder Symbole einen Einfluss
auf das ästhetische Vergnügen aus - die kognitive Interpretation der
mitschwingenden Bedeutung erfolgt allerdings auf der nächsten Ebene. Hier
dagegen wirkt nur die sinnliche Ansprache - entweder spricht deren Ästhetik das
kulturelle Wertegefühl des Individuums unbewusst an oder eben nicht.
2. Auf der Verhaltensebene dagegen unterscheidet sich die konkrete Nutzung
hinsichtlich Funktion, Verständnis, Usability und physikalischem Zugang je nach
individuellem, kulturellem Background. Hier ist die Bedeutung eines interkulturell
kompetenten Designs nicht zu unterschätzen, denn die mentalen Modelle von
Designern und Usern sind stark von kulturellen Einflüssen geprägt.
Viele Studien wurden zwischenzeitlich veröffentlicht, die interkulturelle Ansprüche
an Websites oder Informationsangebote formulieren, um den individuellen
Anforderungen an gebrauchstaugliche Gestaltung gerecht werden zu können (vgl.
Kamentz 2006, 117ff.). So erwartet -in Extrapolation des Hofstede'schen Ansatzes-
eine Kultur mit niedriger Machtdistanz z.B. eher unterstützende Meldungen als
eine unsichere Kultur mit hohem MAS-Wert, die klare, strikte und restriktive
Meldungen bevorzugt. Auch das Look & Feel der gesamten Anwendung und die
verwendeten Metaphern und Hierarchien lassen auf die gefühlte Machtdistanz und
das Rollenverständnis einer Kultur zurück schliessen. Und im Navigationsdesign
unterscheiden sich die Anforderungen je nach der kulturellen
Langzeitorientierung. Entsprechend der in Kap. 3.3.2 diagnostizierten Web 2.0-
Kultur und der von Kamentz zusammengetragenen Web-Ausprägungen je nach
kulturellem Index (Kamentz 2006, 118ff.), lassen sich folgende Social Web-
Features induktiv ableiten, die sich aufgrund des nationalen, medialen
Kulturmodells graduell unterscheiden werden:
Der teils individualistische, teils kollektivistische Stil des Web 2.0 führt zu
einer ambivalenten Motivationsförderung. Sowohl die Betonung persönlicher
Leistung als auch die Gruppenarbeit motivieren Menschen zum Mitmach-
Web. Gleichzeitig dominiert ein dialektisches Verhältnis zur Veröffentlichung
wie zum Schutz der eigenen Daten. Hingegen führt das Web 2.0 eine klar
individualistische Komponente, indem kontroverse Meinungen gefördert
werden; und eine klar kollektivistische Ausrichtung, da soziale Beziehungen
einen hohen moralischen Wert mitbringen.
Die geringe Machtdistanz im Social Web führt über die spezifischen Kanäle
der regionalen Netzpräferenzen zu einer zunehmend flachen Struktur der
Inhalte, zu einer Wahrnehmung der Bürgerinteressen als gleichberechtigte
© acw User Experience als Flow-Analyse 177
PartnerInnen und zu einer transparenten Informationsforderung.
Die schwache Unsicherheitsvermeidung lässt eine individualisierte User-
Kontrolle über das Navigationsgeschehen zu. Kontextspezifische Hilfesysteme
sollten dem Verständnis der Funktionalität dienen, weniger der Anleitung zur
konkreten Problemlösung.
Die feminine Web 2.0-Kultur betont Werte wie Kooperation, Unterstützung
und gegenseitigen Austausch und fördert die kommunikative Lenkung der
Aufmerksamkeit durch ästhetische Kriterien der Informationsaufbereitung.
3. Auf der reflektierenden Ebene wiederum hilft ein wechselseitiges interkulturelles
Verständnis, um die Botschaft und Kultur eines Angebotes zu verstehen bzw.
universalen Ansprüchen anzupassen. An diesem Punkt ist die interkulturelle
Kompetenz seitens der User und der Gesellschaft gefordert. Nicht als Soft Skill,
sondern im Sinne eines prozessspezifischen Konzepts als „erfolgreiches
ganzheitliches Zusammenspiel von individuellem, sozialem, fachlichem und
strategischem Handeln in interkulturellen Kontexten“ (Bolten 2007, 759). Eine
Trennung von harten zu weichen Faktoren ist im Zeitalter des Web 2.0 nicht mehr
zeitgemäß.
Die spezifische Soziokultur übt einen grossen Einfluss auf Wahrnehmungsprozesse aus
- und das auf allen drei Stufen der Perzeption: Auf der Selektionsstufe wirken
soziokulturell erlernte Filterprozesse, die Ebene der Organisation folgt tradierten
Ordnungsmustern und auf der interpretativen Stufe werden Informationen nach den
kulturellen Codes individuell dekodiert. Alle drei Stufen folgen dabei keinem
kulturellen Determinismus, sondern ermöglichen individuelle Interventionen. Dieses
Potenzial konnte erst das Web 2.0 komplett erschliessen. Im Zuge der medialen
Durchdringung der soziokulturellen Entwicklungen hin zum Social Web stellen
personalisierte RSS-Feeds oder die Nutzung der Folksonomy (Selektion),
aggregierende RSS-Reader oder Personal Learning/Information/Knowledge
Environments (Organisation) und emergentes, soziales Networking (Interpretation)
Kulturtechniken dar, die zwar universal funktionieren, aufgrund ihrer individuellen
Gestaltung aber sonstigen kulturellen Einflüssen einen Spielraum bieten, den jede/r
nach eigenem Ermessen ausfüllen kann. Inwiefern sich global agierende, sozial
vernetzte Personen ihrer interkulturellen Nuancen bewusst sein sollten, um sich
optimaler in Systeme aus einem anderen kulturellen Background hineindenken zu
können, bleibt angesichts der kulturellen Angleichung und Entwicklung neuer sozio-
kultureller Werte eher fraglich.
Was bedeutet dies für die persönliche Gestaltung benutzergenerierter, digitaler
Lernumgebungen?
Flow-Empfinden setzt die Aneignung erforderlicher Fähigkeiten zur Bewältigung je
neuer Herausforderungen voraus. Je nach tradierter nationaler Kultur durchläuft jede
© acw User Experience als Flow-Analyse 178
Person einen Erziehungsstil, der sich sozio-kulturell ausprägt und sich in die
individuelle Agenda des persönlichen Lernens einschreibt (Kamentz 2006, 39ff.).
Klassische Lehrszenarien -auch E-Learning- zielen darauf ab, kulturell geprägte
Lehreinheiten für verschiedene Kulturen lokalisierbar zu gestalten, um den
Informations- wie Wissenstransfer zu optimieren (vgl. dazu Caroli 2005). Diese
Entwicklung entspricht der von Ulrich Beck diagnostizierten „ersten Moderne“, die
sich durch geschlossene Strukturen, Steuerungsbemühungen, Kohärenzstreben und
exkludierende Denkmuster auszeichnete. Im derzeitigen Übergang zur „zweiten
Moderne“ treten Emergenz, Diversität und ein win-win-Bewusstsein in den
Vordergrund, die einer transnationalen Identitätsbildung Vorschub leisten und durch
Prozessorientierung, Networking, inkludierendes Denken und
globalisierungsorientierte Handlungen gekennzeichnet ist (Bolten 2007, 757). Die
„zweite Moderne“ korrespondiert mit dem individuellen Lernen im Web 2.0 -
personalisierte Lernszenarien in benutzergenerierten Lernumgebungen können diese
Anforderungen ggf. besser adaptieren.
Zumal die benutzergesteuerte wie benutzerinitiierte Adaptivität von intelligenten
Systemen (Kamentz 2006, 130ff.) im Zeitalter des Web 2.0 einen spürbaren Fortschritt
gegenüber Vorgängermodellen aufweist - nicht zuletzt aufgrund der „Kommunikation
der Dinge“ und der kollektiven Intelligenz der Daten. Diese Entwicklung führt zur
Verbesserung der Usability, die den Bedürfnissen der User besser gerecht wird. Um
aus User-Sicht das eigene Flow-Empfinden zu optimieren, ist es erforderlich,
individuell die Vorteile solcher adaptiver Systeme wahrzunehmen und entsprechend
dynamisch das eigene PLE auszurichten. Dann könnte es möglich sein, den
Herausforderungen der Netzwerkgesellschaft mittels regelmäßiger Anpassungen zu
begegnen - und interkulturell auszutauschen, da jede einzelne Person ihren
persönlichen Zugriff mit ihren eigenen „Cultural Markers“ (Barder/Badre) und
„Design Patterns“ (Hall) anpassen kann. „Culturability“ (Barber und Badre 1998) -eine
Symbiose aus Kultur und Usability- kann im Zeitalter benutzergenerierter Gestaltung
der Nutzerpräferenz überlassen bleiben. Seitens des Designs von Social Software muss
lediglich die Adaptivität des Systems an die persönlichen Bedürfnisse gewährleistet
sein.
Die transkulturelle Kompetenz der „zweiten Moderne“ gleicht die kulturellen Codes
und Praktiken der beteiligten Netzwerkknoten in der Netzwerkgesellschaft immer
weiter an, hebt die tradierten Unterschiede aber nicht gänzlich auf. Sozio-historisch
bedingte, regionale Spezifika werden weiterhin an den Übergängen zwischen space of
places und space of flows wirken. Über die je spezifischen Schnittstellen der
asymmetrischen Netzwerke entwickeln sich allerdings sozio-kulturelle Mischformen,
die v.a. der Web 2.0-Kultur und den ihr inhärenten Wirkmechanismen geschuldet
sind. Über diesen Weg infiltriert das globale Netz auch die Sozio-Kultur am space of
places, an dem die Netzbürger/innen in den space of flows einsteigen. Sofern
© acw User Experience als Flow-Analyse 179
autotelische Persönlichkeiten mit einer Befähigung zur transkulturellen Netz-
Kompetenz sich aktiv in die Netzwerkgesellschaft einbringen können, entsteht für sie
die optimale Erfahrung, die optimale User Experience (UX) - sie empfinden Flow,
sofern die kollektive Netzwerk-Kompetenz dem nicht entgegensteht.
3.4 ZWEITES RESÜMEE & O F F E NE FRAGEN
In diesem dritten Kapitel wurde der Frage nachgegangen, wie der persönliche Zugang
zur Netzwerkgesellschaft unter UX-Gesichtspunkten so gestaltet werden kann, dass
Nutzer/innen den Schritt in den Informations- und Kommunikationsfluss nicht als
Hürde empfinden, sondern sich gerne hinein begeben. Da in Zeiten des Social Webs
die Nutzer/innen selbst ihre digitale Umgebung auf ihre individuellen Bedürfnisse
zuschneiden (müssen), ist zu fragen, welcher Voraussetzungen es bedarf, um diesen
Zustand als positiv motivierend wahrnehmen zu können.
Csikszentmihalyis Flow-Konzept konnte als geeigneter Rahmen für die Analyse einer
positiven UX herausgearbeitet werden, zumal sich seine Theorie der optimalen
Erfahrung mit Castells space of flows-Ansatz gut kombinieren lässt. Während
klassische UX-Analysen aus Sicht von Designer/innen auf die Gestaltung einer
benutzerfreundlichen Umgebung blicken, kann das Flow-Konzept als personaler
Anknüpfungspunkt dienen, um Indikatoren zu identifizieren, welchen Einfluss die
User selbst auf einen optimierten Zugang zu ihrer digitalen Schnittstelle zur globalen
Netzwerkgesellschaft haben. Im Ergebnis hat sich herausgestellt, dass eine
autotelische Persönlichkeitsstruktur eine gute Voraussetzung ist, um individuelle Netz-
Kompetenz aufzubauen und am Ausbau der kollektiven Netzwerk-Kompetenz
mitzuwirken.
Bei der Gestaltung der digitalen Arbeits- und Lernumgebungen gilt es dann seitens der
User, ihren technologischen Handlungsrahmen an die persönlichen Bedürfnisse
anzupassen, damit sich die Fähigkeiten immer wieder an neuen Herausforderungen
orientieren können. Dabei scheint es bedeutsam zu sein, den individuellen Zuschnitt
der technologischen Ebenen dem persönlich favorisierten Mix an Goal Modus und
Action Modus anzupassen. Vergnügen entsteht dann, wenn spaßige Elemente sich mit
zielgerichteten Komponenten abwechseln. Emotion, Funktion und Lifestyle sollten
sich dabei in der sozio-technologischen Nutzung widerspiegeln. Deren spezifische
Ausprägung ist dann kontinuierlich an die sich entwickelnden Bedürfnisse
anzupassen, um den dynamisch wachsenden Herausforderungen gewachsen zu sein.
Soweit zu den persönlichen Voraussetzungen, um in einen Flow im space of flows zu
gelangen.
Am Beispiel von Hofstedes kulturellen Indizes konnten darüber hinaus einige grob
geschnitzte, nationale Indikatoren identifiziert werden, die eine größere Adaptivität
einiger Kulturen gegenüber dem Web 2.0 nahelegen als andere: Kulturen, die eher
© acw User Experience als Flow-Analyse 180
langfristig orientiert sind, sowohl individualistische als auch kollektivistische Werte
schätzen, einen schwachen Unsicherheitsfaktor und eine niedrige Machtdistanz
aufweisen, und zudem eher feminineren Werten der intrinsischen Motivation
zugewandt sind, werden sich womöglich schneller mit dem Kulturmodell des Social
Webs anfreunden können. Allerdings bleibt der nationalen Kultur, und damit den
staatlichen Machtstrukturen, nur noch eine Transformationsfrist, sich den global
wirkenden kulturellen Codes entgegen zu stellen. Das Web generiert derweil eine
vernetzte Online-Gesellschaft, die quer zu tradierten, interkulturellen Werten eine
neue globale Kultur entstehen lässt - das „Medium ist [hier] die Botschaft“ (McLuhan).
Allerdings generiert der neue semantische Raum des Webs auch einen inter-
subjektiven Kulturraum, der sich erst entlang der vernetzten Aktivitäten konfiguriert -
hier werden die „Botschaften wieder zu Botschaften“ (Castells) und damit die
Möglichkeiten netz-kompetenter Personen angedeutet, die an der kollektiven
Netzwerk-Kompetenz feilen.
Zentrale Fragestellung dieser Arbeit ist, welcher individuellen Möglichkeiten,
Notwendigkeiten und Fähigkeiten es bedarf, um Personen zu ermächtigen, auf ihre
sozio-kulturelle Entwicklung im globalen, kooperativen Diskurs einzuwirken. Dabei
wurde oben festgestellt, dass die individuelle Netz-Kompetenz einer
korrespondierenden kollektiven Netzwerk-Kompetenz bedarf, um sich vollends
ausbilden zu können. Den kompetenten Menschen kommt sowohl eine persönliche wie
soziale Verantwortung zu, hier für entsprechende Rahmenbedingungen zu sorgen.
Mit Blick auf die bislang angeführten theoretischen Überlegungen liesse sich fragen:
Wie können die beteiligten Menschen konkret den space of flows aktiv gestalten? Vor
dem theoretisch erarbeiteten Hintergrund lassen sich verschiedene Flow-Kriterien für
die UX-Analyse aus Sicht der Nutzer/innen ableiten. Bei der Reflexion der oben
angeführten Bedingungen wie Konsequenzen eines netzwerkgelebten Flow-Erlebens
kristallisiert sich eine Matrix heraus, entlang derer sich ggf. spezifische UX-
Fähigkeiten der Netz-Kompetenz ableiten lassen. Auf der einen Seite konnten sechs
Flow-Zustände identifiziert werden, die aus Sicht der User in ihrem Zusammenspiel
eine optimierte, individuelle UX konfigurieren. Auf der anderen Seite lassen sich drei
Ebenen definieren, die auf die Flow-Kategorien einwirken (siehe Tabelle 4).
Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die bisherigen theoretischen Stränge
hermeneutisch zusammenzuführen und das weitere Vorgehen zu systematisieren.
Dazu sollen zunächst die theoretischen Schlussfolgerungen als Voraussetzungen für
Flow im space of flows formuliert und entlang der einzelnen Kriterien der Matrix kurz
beschrieben werden. Dann gilt es, daraus erforderliche individuelle Fähigkeiten
abzuleiten, um diese Voraussetzungen vernetzt beeinflussen zu können. Schließlich ist
zu untersuchen, wie das erforderliche Kompetenzprofil ggf. von außen unterstützt
werden könnte, um einen individuellen wie kollektiven Ausgleich zu ermöglichen. Zu
diesem Zweck werden mögliche Hemmfaktoren, die der Ausbildung entsprechender
© acw User Experience als Flow-Analyse 181
Fähigkeiten entgegen stehen, in Form offener Fragen angeführt, deren Beantwortung
für eine moderne Bildungspolitik ggf. relevant sein könnten. Diese Fragen werden
dann später in einer ExpertInnen-Befragung evaluiert.
Flow-
Kategorien
Individuelle
Ebene
Sozio-kulturelle
Ebene
Sozio-
technologische
Ebene
Person 1. Autotelische
Persönlichkeit
7. Kultur als Software
des Geistes
13. Medium als
Botschaft
Workflow 2. Sinnvolle
Identitäten
8. Communities of
Practice
14. Networks of
Practice
Medienumgebung 3. PIM / PKM /
PLE
9. Netzwerk-
Kompetenz
15. Social Media
Umgebungen
Usability 4. Don't make
me think
10. Culturability 16. Personability
Transparenz 5. Recht auf
geistiges
Eigentum
11. Freie Fahrt für
freie BürgerInnen
17. Open Source
space of flows 6. Alles im Fluss 12. Netzwerk-
gesellschaft
18. Social Web
Tabelle 4: Matrix der Flow-Kategorien
3.4.1 VORAUSSE T Z U N G EN F Ü R FLOW I M SPACE OF FLOWS
3.4.1.1 INDIVIDUELLE EB E NE
Die individuelle Ebene kennzeichnet die persönlichen Anforderungen, um sich aktiv an
der Gestaltung des space of flows beteiligen zu können:
1. Autotelische Persönlichkeiten, die sich selbst als im dauerhaften Flow mit ihren
Zielsetzungen im Rahmen der modernen Entwicklungen empfinden und einen
Zugang zum space of flows haben, scheinen ideale Netzwerkknoten in der globalen
Netzwerkgesellschaft zu sein. Indem sie sich im Austausch mit anderen
© acw User Experience als Flow-Analyse 182
Netzwerkknoten weiterbilden und ihre Aktivitäten auf langfristige Zielsetzungen
ausrichten, können sie interagierend Einfluss auf die Gestaltung der beteiligten
Knoten ausüben. Das Ich kann hier als erweitertes vernetztes Ich verstanden
werden.
2. Sinnvolle Identitäten: Um Flow empfinden zu können, sollten Personen in ihrem
eigenen Handlungskontext die verschiedenen Netzwerk-Rhythmen koordinieren,
an denen sie beteiligt sind, indem sie selbstbestimmt ihrem eigenen Arbeitsablauf
folgen. Zugleich sollten sie ihre persönliche Identität aus einem selbstreflexiven
Sinnstiftungsprozeß heraus definieren, der sich in Abgrenzung und Integration mit
den beteiligten Netzwerkknoten komplex weiterentwickelt. Identität wird für solch
vernetzte Personen nicht mehr vom primär regional definierten kulturellen
Kollektiv abgeleitet, sondern als individuell sinnvolle Aktivität in der globalen
Netzwerkgesellschaft konstruiert.
3. Personal Information / Knowledge Management / Learning Environment: Im
Zeitalter des Social Webs resultiert dieser vernetzte Identitätsprozess im
persönlichen Aufbau einer auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen
Medienumgebung mit Schnittstellen für die Netzwerke. Diese flexible Umgebung
sollte dabei den persönlichen Prioritäten in unterschiedlichen Lebens- und
Gemütslagen gerecht werden und in jeder gegebenen Situation den persönlichen
Zugriff auf die vernetzte Kompetenz ermöglichen. Um die einfliessenden
Informations- und Kommunikationskanäle je nach temporärem, persönlichem
Bedarf kompetent organisieren zu können, wird ein hohes Maß an
Selbsterkenntnis vorausgesetzt. Der Einfluss autokratisch wirkender, extern
gesetzter Umgebungen wird zurückgedrängt.
4. Don't make me think: Soll die inhaltliche Arbeit nicht von technischen Grenzen
eingeschränkt werden, die den Flow stoppen könnten, sind die persönlichen
Medienumgebungen nach eigenen Usability-Kriterien zu gestalten, um
Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit zu gewährleisten. Dies setzt eine
regelmäßige Beschäftigung mit der umgebenden Kultur und den sozio-
technologischen Potenzialen voraus - und den Willen zur ständigen Re-
Strukturierung. Idealerweise wird der globale Kontext fortan als dynamischer
Möglichkeitsraum einer digital angereicherten, physischen Realität verstanden, die
den individuellen Interessen angepasst werden will.
5. Recht auf geistiges Eigentum: Explizites und implizites Wissen rotiert in den
Informations- und Kommunikationskanälen, wird vielfältig von verschiedenen
Personen angereichert und weitergereicht. Es entstehen globale, soziale
Wissenseigentümer, die lediglich in Premium-Formaten zu finanziell erfolgreichen
Gütern und Dienstleistungen ausgebaut werden können. Indem vernetzte
Personen für die Bewältigung ihrer Herausforderungen sich vorzugsweise in
© acw User Experience als Flow-Analyse 183
transparenten, offenen Strukturen bewegen, um im wechselseitigen Prozess sich
weiterzuentwickeln, wird der Austausch kostenpflichtiger Produkte ohne
Netzwerkanbindung immer weiter zurückgehen. Der space of flows wird zu guter
Letzt alle Dinge, Atome, Bits und Personen vielfältig miteinander vernetzen. Ob es
möglich sein wird, einzelne sozio-kulturelle oder sozio-technologische Inseln von
der digitalen Netzwerkgesellschaft fernzuhalten, bleibt fraglich.
6. Alles im Fluss: Um eine Erfahrung positiv zu erleben und in einen persönlichen
Flow zu geraten, bedarf es eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen
Herausforderungen und Fähigkeiten. Der UX-Bedürfnis-Pyramide folgend,
entsteht persönlicher Flow allerdings erst auf der höchsten Ebene, wenn den
eigenen Handlungen eine Bedeutung, ein Sinn zukommt (Stephen P. Anderson
2006, 15). Flow kann z.B. entstehen, wenn sich die eigene Medienumgebung je
nach persönlicher Zielsetzung anpasst, ggf. neue Fähigkeiten mit aufbauen hilft
und den Menschen sich kompetent fühlen lässt. Vielfältige Feedbackschleifen sind
dann erforderlich, um sicherzustellen, dass die persönliche User Experience
regelmäßig optimiert wird. Glückt dies im vernetzten Kontext und richten solch
autotelische Persönlichkeiten ihre Aktivitäten möglichst transparent aus, kann sich
über die inter-subjektive Vernetzung ein gesellschaftlicher Druck aufbauen, der
den nötigen sozio-kulturellen Wandel forciert, um möglichst vielen Menschen
Flow im space of flows zu ermöglichen.
3.4.1.2 SOZ I O -KULTURELLE EB E N E
Die sozio-kulturellen Ebenen der verschiedenen Flow-Kategorien definieren den
Einfluss und Gestaltungsrahmen, der seitens der Gesellschaft von außen auf die
individuellen Flow-Erfahrungen einwirkt und den Spielraum der Flow-Empfindung
im space of flows definiert.
7. Kultur als Software des Geistes: Flow ist ein Glückszustand, der von Personen in
allen Kulturkreisen dieser Erde empfunden und dann sozio-kulturell vererbt
werden kann. In Ländern mit einem hohen Unsicherheitsfaktor bedarf es
allerdings hoher selbstreflexiver, individueller Kräfte, um Flow generieren zu
können. Und auch der Flow im space of flows bedarf einer Sicherheit im space of
places - mindestens in Form der Abwesenheit von Repression, idealerweise in
Form kulturell honorierender Strukturen.
8. Communities of Practice: Der individuelle wie kollektive Workflow ist
entscheidend geprägt von sozio-kulturellen Faktoren. Darin spiegeln sich die
Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen, die Form des beruflichen
Selbstverständnisses, die individuellen beruflichen Zielsetzungen, die Kreativität
der beteiligten Personen, das nationale, mediale Kulturmodell und die
netzwerkbedingte Komplexität wider. Um individuellen Flow im space of flows
© acw User Experience als Flow-Analyse 184
dauerhaft empfinden zu können, braucht es einer gewissen Gestaltungsfreiheit und
flexibler Strukturen, die auf die persönlichen Anforderungen individuell anpassbar
sind.
9. Netzwerk-Kompetenz als Querschnittskompetenz sozio-kultureller Praxis und
individueller Entwicklung bedarf eines gesamtgesellschaftlichen Change-
Management-Prozesses, der sämtliche (primär) staatlichen Abläufe und
Institutionen umfasst. Dabei wäre es hilfreich, die sozio-kulturell bedingten
Grenzen des eigenen medialen Kulturmodells zu erkennen und über angemessene
sozio-politische Maßnahmen zu transformieren. Flow im space of flows setzt
Vertrauen voraus - in andere Personen, in Strukturen, in die Flexibilität und
Intelligenz selbst generierter Medienumgebungen. Dieses Vertrauen muss im
wechselseitigen Verständnis zwischen sozio-kultureller und individueller
Umgebung aufgebaut werden.
10. Culturability: Der sozio-kulturelle Einfluss auf gesamtgesellschaftliche
Vorstellungen von Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit kann entscheidend sein
hinsichtlich der individuellen Autonomie, sich selbstbewusst eine auf die
persönlichen Bedürfnisse zugeschnittene digitale Umgebung zu schaffen. Insofern
Social Media-Angebote vom wesentlichen Anspruch her auf Gebrauchstauglichkeit
und unmittelbares Feedback -sei es systemisch oder kommunikativ- ausgerichtet
sind, erklärt dieser Aspekt die Attraktivität dieser Entwicklung. JedeR kann heute
seiner Kreativität Ausdruck verleihen und sich in den Informations- und
Kommunikationsfluss hineinbegeben. Es sind keine grundlegenden Ausbildungen
erforderlich. Der space of flows ist zumindest im Webkontext sehr
gebrauchstauglich.
11. Freie Fahrt für freie BürgerInnen: Offene und transparente Strukturen sind
wesentliche Faktoren, um Flow im space of flows erfahren zu können.
Herrschende sozio-ökonomische wie -kulturelle Positionen beeinflussen die
Bereitstellung und Offenlegung von öffentlichen Daten. In weniger dynamischen
Gesellschaften sich als Individuum am globalen Fluss der Informationen und
Kommunikation zu beteiligen, stellt eine Herausforderung dar.
Zivilgesellschaftliche Kräfte sind hier erforderlich, den sozio-kulturellen Druck
aufzubauen, um diese Grenzen abzubauen.
12. Netzwerkgesellschaft: Die sozio-kulturellen Ebenen der verschiedenen Flow-
Kategorien sind die bestandswahrenden Faktoren, die für Kontinuität in der
gesellschaftlichen Entwicklung sorgen und gegenüber denen die am Flow
interessierten Personen ggf. ihren Freiraum erkämpfen müssen. In Ländern und
Regionen, die sozio-kulturell bedingt den Flow fördern, vermag der individuelle
Einstieg in den space of flows schneller gelingen, sofern die Region physikalisch an
die Netzwerkgesellschaft angeschlossen ist. Da die Telekommunikationsleitungen
© acw User Experience als Flow-Analyse 185
allerdings an sozio-ökonomisch uninteressanten Regionen vorbei führen, sind die
dort existierenden, individuellen Anstrengungen umso höher einzustufen.
3.4.1.3 SOZ I O -TECHNOLOGISCHE EBEN E
Die sozio-technologischen Ebenen kennzeichnen die Wechselwirkungen zwischen
Entwicklung und Akzeptanz neuer technologischer Möglichkeiten auf der einen Seite
und den gesellschaftlichen Voraussetzungen auf der anderen Seite.
13. Medium als Botschaft: Jede neue Technologie schafft neue soziale Verbindungen
und Folgeentwicklungen für die Gesellschaft. In den sozialen, digitalen
Entwicklungen der neueren Zeit, die hier unter dem Begriff Web 2.0 subsumiert
werden, steckt -im Gegensatz zur bestandswahrenden Soziokultur- eine emergente
Veränderungsdynamik. Gleichgültig, welches mediale Kulturmodell sozio-kulturell
präferiert wird: Sukzessive werden durch die neuen Sozio-Technologien sämtliche
kommunikativen, sozialen und ökonomischen Prozesse reorganisiert. Individuelle
Wirklichkeiten lösen die massenmediale Konsensbildung ab. Im space of flows
wird kein digitales Gut an seiner Geburtsstätte liegen bleiben. Diese globale
Dynamik zu verstehen -als Individuum und Gesellschaft- wird zur
Überlebensstrategie, um die Netzwerkgesellschaft aktiv mitgestalten zu können.
14. Networks of Practice: In der „Globalisierung 3.0“ bildet sich aufgrund der Nutzung
von Social Software eine globale Social Web-Kultur aus, die sich in die sozio-
kulturellen Bedingungen vor Ort einschreibt. Indem die attraktiven, neuen
kulturellen Werte und Normen sukzessive in die gesamtgesellschaftlichen
Subsysteme eindringen, verdrängen diese teilweise die bisherigen Werte- und
Normenmuster. Der space of flows mit seiner Web 2.0-Kultur verbindet vernetzte
Individuen global miteinander. Die Individuen tragen fortan die Kultur in sich und
nicht mehr das Kollektiv - die „Virtualität realisiert sich“.
15. Social Media Umgebungen: Globale Informations- und Kommunikationskanäle
mit ihrem impliziten Wissen prägen die heutigen Medienumgebungen. Kulturelle
Subtexte, die in explizitem Wissen mitschwingen, verlieren an Bedeutung, da in
den schnellen Bahnen des space of flows die Halbwertzeit von klassischem Content
schwindet. Kreative Ko-Produktionen und soziale Netzwerke treten neben das
klassische Entertainment - als internationale (Aus-)Tauschbörse. An der
Netzwerkgesellschaft beteiligte Personen benötigen insofern eine transkulturelle
Netz-Kompetenz, die sich in globalen Zusammenhängen zu bewegen vermag.
16. Personability: Die Technologien des Web 2.0 verfolgen den Anspruch, ihre
Infrastruktur den agierenden Personen maximal gebrauchstauglich zur Verfügung
zu stellen. Zwar sind aufgrund der Entwicklungsdynamik mitunter temporäre
Inkonsistenzen zu vermerken, doch die Auswertung der systembedingten
Datenflut lässt das System sich immer wieder an aktuelle Anforderungen der User
© acw User Experience als Flow-Analyse 186
anpassen. So entstehen weniger Angebote, die seitens eines externen Designs den
Menschen zur Nutzung dargeboten werden, sondern im iterativen Prozess wird das
Design benutzergeneriert angepasst. Sowohl systemisch als auch später am
eigenen User Interface. Die je persönliche Adaption eines Systems im
Zusammenspiel mit anderen, individuell gewählten Systemen, lässt NutzerInnen
zu DesignerInnen heranwachsen. Über soziale Features können gut bewertete
Anpassungen viral zu Personen finden, die eine ähnliche Ästhetik oder
Interaktivität wünschen. Der space of flows wird fortan von den aktiven Menschen
gestaltet, nicht von externen Kräften.
17. Open Source: Zentrale Bestandteile der Internetlogik sind der Hypertext und das
Zerschlagen von Atomen in Bits. Aus dieser Logik entspringt die
Schwarmintelligenz der Daten, die sich ihr Ziel suchen entsprechend individueller
Aufforderungen. Im space of flows fliessen diese Bits und formen sich an den
Netzwerkknoten zu immer neuen Atomen zusammen, bevor sie wieder zerschlagen
und auf die Reise geschickt werden. Sofern Menschen mit welcher Technologie
auch immer auf diese Bitstrukturen zugreifen können, werden sie diese anfordern
und für ihre Zwecke einsetzen. Autotelische Persönlichkeiten werden diese Bits für
ihre Aktivitäten nutzen und entlang der technologischen Möglichkeiten ihre sozio-
kulturelle Umgebung gestalten.
18. Social Web: Ohne die sozio-technologischen Entwicklungen zur digital prägenden
Kultur kann der space of flows nicht verstanden werden. Vor allem seit der
Entwicklung hin zum Web 2.0 steht es den Individuen global frei, die
Netzwerkgesellschaft aktiv mitzugestalten. Und in dieser Entwicklung steckt viel
kreatives Potential, da die kollektive Intelligenz der Web 2.0-Kultur -ähnlich wie
die traditionellen Kulturen- nur erfolgreiche Modelle weiterreicht. Die
selbstregulativen Kräfte, die für den Erhalt der Kultur wichtig sind, wirken, da die
beteiligten aktiven Menschen den Mehrwert der globalen Vernetzung am eigenen
virtuellen Leib spüren. Um die gesamtgesellschaftlichen Potentiale des Social
Webs also nutzen zu können, müssen v.a. die sozio-kulturellen
Rahmenbedingungen modifiziert werden. Die Voraussetzungen für den Zugang
zum space of flows und für die transkulturelle Netz-Kompetenz gilt es aufzubauen.
3.4.2 IND IV I DU E LL E FÄ HI G KE I TE N FÜR FL O W IM S PACE O F
FLOWS
Kapitel 2.4 gelangte zu dem Schluss, dass die Kompetenzentwicklung den kollektiven
Kräften der vernetzten Menschen anvertraut werden sollte, um die sozio-kulturelle
Evolution als kollektive Intelligenz gestalten zu können. Welche konkreten
individuellen Basisfähigkeiten erforderlich sind, um die subjektive Handlungs- und
Gestaltungskompetenz im Web 2.0-Zeitalter mit Leben zu füllen und gleichzeitig im
© acw User Experience als Flow-Analyse 187
Sinne einer positiven UX die Motivation und Kreativität aufbauen zu helfen, sollte in
Kapitel 3 einer Antwort entgegen geführt werden.
Individuelle, transkulturelle Netz-Kompetenz, so das bisherige Ergebnis, kann
zwischen sozio-kultureller Bestandswahrung und sozio-technologischer
Entwicklungsdynamik vermitteln. Um diese Kompetenz als solche zu empfinden,
bedarf es eines kontinuierlichen Aufbaus von Fähigkeiten, die den wachsenden
Herausforderungen gerecht werden und den Menschen in einen Flow-Zustand
versetzen. Indem Personen nicht nur auf ihr Selbst, sondern über diesen Weg auch auf
ihre Workflows, ihre Medienumgebung, die Usability und die Transparenz einwirken,
erfahren sie eine auf ihre Bedürfnisse optimierte User Experience. Darüber hinaus
üben sie über diesen Weg Einfluss aus auf die Gestaltung und zukünftige Ausformung
des space of flows, um diese positive UX weiter zu steigern. So kann ein
Automatisierungsprozess entstehen, der durch die selbst gesetzte UX ggf. auch
extrinsisch auf das Selbst einwirken kann, falls sich z.B. die autotelische Persönlichkeit
in einer temporären Krise befindet. Die verschiedenen Flow-Ebenen stützen sich dann
gegenseitig.
Aus diesen Überlegungen lassen sich an individuellen Fähigkeiten zur Generierung von
vergnüglichen Flow-Erfahrungen unter UX-Kriterien folgende Punkte -in Fortführung
der in Kap. 2.4 dargelegten Grundlagen für die individuelle Netz-Kompetenz- ableiten:
I. Um den individuellen Einfluss auf den space of flows auszureizen, können an
Persönlichkeitsmerkmalen benannt werden:
1. Autotelische Persönlichkeit: Selbstreflexion und Netz-Kompetenz, um sich als
aktiver Knoten im vernetzten Kontext wahrzunehmen.
2. Sinnvolle Identitäten: Eine die Workflows definierende, unabhängige
Identitätsbildung.
3. PIM / PKM / PLE: Autonome Gestaltung der flexiblen Medienumgebung.
4. Don't make me think: Selbstverantwortung für die digitale Anreicherung der
persönlichen Realität.
5. Recht auf geistiges Eigentum: Kollaborationsfähigkeit und Bereitschaft zur
Ko-Produktion transparenten, sozialen Eigentums.
6. Alles im Fluss: Fliesst ein Individuum in allen Flow-Zuständen mit, formt es
den space of flows in seinem Sinne mit.
II. Um den sozio-kulturellen Einfluss auf die individuelle Kompetenz ggf. unterlaufen
zu können, bedarf es folgender Fähigkeiten:
7. Kultur als Software des Geistes: Kenntnis der eigenen sozio-kulturellen
Herkunft und Grenzen.
8. Communities of Practice: Mitgestaltung flexibler Strukturen, die auf
persönliche Bedürfnisse angepasst werden können.
© acw User Experience als Flow-Analyse 188
9. Netzwerk-Kompetenz: Aufbau von Vertrauensfähigkeit - auf individueller,
sozio-kultureller und sozio-technologischer Ebene.
10. Culturability: Abbau unreflektierter Hemmungen gegenüber neuen
Technologien und Bereitschaft, neue gebrauchstaugliche Umgebungen für den
eigenen Bedarf regelmäßig anzupassen.
11. Freie Fahrt für freie BürgerInnen: Austausch und Transparenz im eigenen
Umfeld pflegen.
12. Netzwerkgesellschaft: Gestaltungswille, die konkrete Ausprägung der sozio-
kulturellen Rahmenbedingungen im space of flows konstruktiv zu formen.
III. Um die sozio-technologischen Potenziale für die persönliche wie sozio-kulturelle
Entwicklung sinnvoll nutzen zu können, bedarf es weiterer Fähigkeiten:
13. Medium als Botschaft: Verständnis für die sozio-technologische Entwicklung
und Bereitschaft zum Aufbau individueller Wirklichkeiten.
14. Networks of Practice: Bereitschaft zum gesamtgesellschaftlich vernetzten
Diskurs neuer Werte und Normen und zur Mitarbeit, diese an die „reale Welt“
anzudocken.
15. Social Media Umgebungen: Aufbau einer digital verbundenen,
transkulturellen Netzwerkgesellschaft - im Austausch mit anderen.
16. Personability: Technologische Offenheit, eigene Prozesse immer wieder zu re-
organisieren.
17. Open Source: Fähigkeit, mit digitalen Bits und Atomen zu arbeiten, diese ggf.
kreativ anzureichern und der Gesellschaft wieder zuzuführen.
18. Social Web: Selbstverständnis, die positiven Werte des Social Webs als
„realisierte Virtualität“ auf andere gesellschaftliche Subsysteme zu übertragen.
Bei der Reflexion dieser „Befähigungen“ stellt sich heraus, dass sich in der
Netzwerkgesellschaft jeder einzelne der angeführten Punkte nur in Kombination von
subjektiver, autonomer Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit, individueller,
transkultureller Netz-Kompetenz und sozialer Netzwerk-Kompetenz realisieren lässt.
Diese komplexe Kompetenz lässt sich im space of flows nicht mehr differenzieren. Für
die Sicherstellung einer individuellen UX sind zu jedem Zeitpunkt alle drei von der
OECD definierten Schlüsselkategorien (autonomes Handeln, interaktive Nutzung von
(Medien-)Werkzeugen und Interagieren in sozial heterogenen Gruppen) in
Kombination erforderlich. Nicht als abgeschlossene, abstrakt gelernte Vorbedingung,
auf der Menschen aufsetzen, sondern als integraler Bestandteil einer reflektierten,
sozialen Netzwerkstrategie. Netzwerkaktiven Personen gelingt es ggf. über ihre
personalisierten, vernetzten, technologischen Umgebungen, diese Faktoren zu bündeln
und evolutionär weiterzuentwickeln - für sich und für die sozio-kulturelle Umgebung.
Hier realisiert sich Castells' Analyse: Nicht mehr die ExpertInnen sind die treibende
© acw User Experience als Flow-Analyse 189
Kraft der Entwicklung, sondern die Technologien und die daraus abzuleitende Arbeit
(Webster 1995, 115).
3.4.3 OFFENE FRAGEN F Ü R DIE BILDUNGSPOLITIK
Der Mensch als soziales Wesen stößt bei der Ausbildung seiner individuellen
Persönlichkeitsmerkmale auf äußere Rahmenbedingungen, die Chancen und Risiken
für die persönliche Entwicklung bieten. Um darauf konstruktiv Einfluss nehmen zu
können, braucht es bestimmter individueller Fähigkeiten, die im vorigen Kapitel
angeführt wurden. Gleichzeitig fliessen von außen weitere Hemmfaktoren auf die
Personen ein, die sie behindern, die entsprechenden Fähigkeiten auszubilden. An
welchen Punkten könnten Probleme auftreten? Und könnten diese ggf. mittels einer
politischen Unterstützungsleistung behoben werden?
I. Individuelle Ebene
1. Wie können autotelische Persönlichkeiten gefördert werden, wenn im
familiären Kontext keine idealen Bedingungen herrschen?
2. Wie lassen sich unabhängige, starke, individuelle Identitäten herausbilden,
die sich gleichzeitig als kollektivistische Entitäten verstehen?
3. Welche Auswirkungen hat es, wenn der Zugang zur Netzwerkgesellschaft
nicht optimal gewährt ist oder nicht möglich ist, weil die Menschen nicht
unterstützt werden, sich aktiv einzubringen?
4. Wie kann die digitale Kompetenz unterstützt werden, wenn gängige Software-
und Hardware-Produkte im alten Denken verhaftet sind?
5. Ist Transparenz ein ästhetisches Gut, das auf viszeraler Ebene einen
schnelleren Zugang zum Individuum findet als geschlossene Systeme? Und
wie können kollektive Eigentumsrechte gefördert werden, wenn auf sozio-
ökonomischer Basis das Recht auf individuellem Eigentum vorherrschend
ist?
6. Wie lassen sich Netzwerk-Inseln vermeiden, die den space of flows in ihre
Richtung lenken und wenige Anknüpfungspunkte suchen?
II. Sozio-kulturelle Ebene
7. Verschiedene Kulturen fördern verschiedene Aspekte des Flow-Zustandes.
Autotelische Persönlichkeiten müssen sich in je unterschiedlicher Form von
ihrer umgebenden Soziokultur abgrenzen bzw. diese integrieren. Universale
Blaupausen sind offenbar unmöglich. Können interkulturell angepasste
Standardrezepte die Ausbildung von autotelischen Persönlichkeiten fördern?
8. Wie konfiguriert sich Gesellschaft, wenn jede Person einem eigenen
Zeitrhythmus folgt? Zwar koordiniert jede einzelne Person ihr Time-
© acw User Experience als Flow-Analyse 190
Management über ihre Netzwerkknoten in verschiedenen Netzwerken, aber
welche Auswirkungen hat dieses dynamische Geflecht auf die
Gesamtgesellschaft?
9. Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um Vertrauen auf
individueller wie kollektiver Ebene aufzubauen? Welchen Einfluss hat Politik
auf das je spezifische sozio-kulturelle Muster?
10. Es besteht die Gefahr, die nicht am Netzwerk beteiligten Personen aufgrund
des Digital Divide abzukoppeln von der gesamtgesellschaftlichen
Entwicklung. Hier kann ein guter Resonanzboden für tradierte Werte und
Codes entstehen, die von Machtbeziehungen am space of places definiert
werden. Wie nimmt man möglichst alle Menschen mit auf den digitalen Weg?
11. Am Flow interessierte Personen meiden Institutionen, die ihren Flow
unterbinden. Institutionen, die eher Ordnung im Bewusstsein hervorrufen,
bestimmen die Richtung der sozio-kulturellen Evolution. Welche
Institutionen sind dies in der aktuellen Zeit?
12. Im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft können netzaktive Menschen die
tradierten Flow-generierenden Muster nicht mehr in ihren persönlichen
Flow integrieren. Die sozio-historische Weitergabe wird dadurch behindert.
So ergeht es heute u.a. dem Bildungssystem - es wird als Flow hemmend
wahrgenommen. Kann öffentliche Bildungsarbeit noch flowgenerierend
wirken?
III. Sozio-technologische Ebene
13. Welchen Einfluss haben ordnungspolitische Maßnahmen auf das Medium als
Botschaft und wie kann sichergestellt werden, dass individuelle
Wirklichkeiten nicht von äußeren Zwängen abhängig sind?
14. Welche Möglichkeiten der Übertragung virtueller Normen und Werte auf das
„reale Leben“ bestehen? Müssen regulative Instanzen über die Entwicklung
wachen? Wie kann man eventuellen Negativspiralen entgegenwirken? Wie
organisiert man Politik in diesen Zeiten?
15. Was geschieht, wenn das „System“ dicht macht? Welche Folgen hat es, wenn
Verwertungsgesellschaften zugunsten ihrer traditionellen, sozio-
ökonomischen Interessen wirken und Urheberrechte, Patente, proprietäre
Systeme fördern und politisch absichern wollen?
16. Welcher Rahmenbedingungen bedarf es, um Menschen die Sicherheit zu
geben, sich beständig neu zu orientieren? Welche Arbeitsorganisationsformen
existieren, um diesen lebenslangen Prozess qualitativ zu unterstützen?
17. Offene Standards und Daten sind Voraussetzung, um Innovation auf Basis
der Bits zu forcieren. Wie kann man diesen Prozess auf politischer Bühne
© acw User Experience als Flow-Analyse 191
fördern?
18. Die netzbasierten Medien haben unseren Alltag erreicht - nicht als
Ausnahme, sondern als Standard für fast alle Menschen. Die Frage wird sein:
Wie reagieren die schwarzen Löcher? Kann man davon ausgehen, dass
selbstregulative Kräfte wirken, wenn der technologische Zugang geschaffen
ist?
Den hier angeführten Fragen soll in einer ExpertInnen-Befragung nachgegangen
werden, um vor diesem Hintergrund die bildungspolitischen Potenziale abschließend
diskutieren zu können.
© acw ExpertInnen-Befragung 193
4 EXPERTINNEN-BEF RAGUNG
Um Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen Einfluss genommen werden könnte
auf die Voraussetzungen für ein positives UX-Erlebnis in benutzergenerierten,
digitalen Umgebungen, bedarf es einer Voraussicht auf zukünftige Entwicklungen.
Eine international angelegte, interdisziplinäre ExpertInnen-Befragung stellt eine
wissenschaftliche Methode der Zukunftsforschung dar, um den vielfältigen offenen
Fragen nachzugehen, die in den theoretischen Überlegungen keine abschließenden
Antworten fanden.
Im Folgenden soll zunächst analysiert werden, ob eine ExpertInnen-Befragung nach
der Delphi-Methode ein geeignetes, ggf. methodisch zu erweiterndes Instrumentarium
sein könnte, um qualitative Trendannahmen für bildungspolitische Überlegungen zu
gewinnen. Anschließend wird das konkrete Untersuchungsdesign dargelegt und erste
Ergebnisse für die weitere bildungspolitische Diskussion präsentiert.
4.1 METHODENDISKUSSION
„Wer Visionen hat, sollte lieber gleich zum Arzt gehen!“ (Alt-
Bundeskanzler Helmut Schmidt über Willy Brandts Visionen im
Bundestagswahlkampf 1980, zitiert im Spiegel 44/2002, S.26)
4.1.1 ZUKUNFTSFORSCHUNG
Bei der Zukunftsforschung handelt es sich nicht um die Entwicklung von Visionen,
sondern um systematische, wissenschaftliche Methodiken, um aktuell sich
abzeichnende Entwicklungen in die Zukunft fortzuführen und auf ihre Wirksamkeit als
Orientierungswissen hin abzuschätzen. Ein mittelfristiger Betrachtungszeitraum
umfasst 5 bis 20 Jahre, ein langfristiger 20 bis 50 Jahre. Ziel ist es,
Handlungsorientierungen für die zukünftige Gesellschaft zu bieten, deren Wandel sich
zunehmend beschleunigt. Tatsächlich aber prägen wesentlich kurzfristigere Rhythmen
der Legislaturperioden, Shareholder-Value-Erwartungen in Aktiengesellschaften und
die sich verkürzenden Innovationszyklen der Produkte und Dienstleistungen unseren
Alltag (Kreibich 2006, 8). Insofern der Verlust einer langfristigen Perspektive
verantwortlich zeichnet für viele Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte (Graf
2004, 25), ist es höchste Zeit, auch die mittel- wie langfristige Zukunft ins Visier zu
nehmen. Dabei geht es auch darum, neben der Prognose eine Strategie zu entwerfen,
wie die Zielsetzung unter verschiedenen Rahmenbedingungen durchgesetzt werden
kann (ebd., 23).
Die Anfänge der Zukunftsforschung als verhältnismäßig eigenständiger Disziplin
gehen in die 1940er Jahre zurück. Einerseits wurde das kalifornische RAND-Institut
© acw ExpertInnen-Befragung 194
gegründet, um v.a. technokratische, politisch orientierte Studien zu erstellen.
Andererseits setzte der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Ossip K. Flechtheim
im Jahre 1942 im amerikanischen Exil den Begriff „Futurologie“ in die Welt, um einen
holistischen, interdisziplinären Ansatz aus philosophischen, prognostischen und
planungswissenschaftliche Forschungsfragen zu etablieren (Giro 2008, 8f.). Seitdem
wird die Zukunftsforschung von zahlreichen wissenschaftstheoretischen
Untersuchungen begleitet, die sich hinsichtlich ihres Zugangs unterscheiden:
philosophisch-erkenntnistheoretisch, sozialkritisch, politikwissenschaftlich und
wirtschaftswissenschaftlich-unternehmensbezogen (Steinmüller 1997, 15).
Grundsätzlich lässt sich die Zukunftsforschung differenzieren in einen explorativ-
forschenden Strang, der zurückblickt auf die Vergangenheit, um Trends für die
Zukunft zu erkennen, und einen normativen Ansatz, der eine Zielvorstellung definiert,
um erforderliche Maßnahmen zu eruieren (Giro 2008, 11f.). In Deutschland
unterschied bereits Ende der 60er Jahre der Philosoph und Pädagoge Georg Picht drei
Grundaspekte der Zukunftsforschung, die als Grundformen der menschlichen
Antizipation gelten:
„Kurz gefaßt ist Prognose die Antizipation der Zukunft durch
Theorie, Planung die Antizipation der Zukunft für die Praxis, Utopie
eine Antizipation des durch das Handeln zu verwirklichenden
Zustandes.“ (Steinmüller 1997, 12)
Im englischsprachigen Raum lassen sich entsprechend verschiedene methodische
Schulen identifizieren, die je nach Zielsetzung eine geschlossenere oder offenere
Methodik nahelegen. So steht der Begriff „forecasting“ für eine deterministische
Prognose i.S. einer deskriptiven, prädiktiven Früherkennung, die auf den Modalitäten
der Notwendigkeit, glichkeit, Wahrscheinlichkeit und Kontingenz aufbaut mit
einem indikativen Aussagemodus (ebd., 14). Demgegenüber setzt die Futurologie
voraus, dass die Zukunft nicht festgelegt, sondern im Rahmen möglicher oder
gewünschter „futures“ als Alternativszenarien gestaltbar ist (ebd., 22). Schließlich
umschreibt der Begriff „foresight“ eine offene Vorausschau, die auf der Basis einer
breiten gesellschaftlichen Beteiligung realistische Szenarien für die Zukunft abzuleiten
versucht (Cuhls 2000, 3). Welche Form der Zukunftsforschung in einzelnen
Weltregionen präferiert wird, hängt auch von dem sozio-kulturell geprägten Zeitbegriff
ab. Denn dieser ist -mitsamt der daraus abzuleitenden Zeittopologien für die Zukunft-
ein seit Aristoteles intensiv diskutierter Aspekt (Steinmüller 1997, 20ff.), der
interkulturell je nach sozio-historischer Tradition zu unterschiedlichen
Zukunftsperspektiven führt.
Inhaltlich sind in der Zukunftsforschung die Themenfelder recht breit gestreut,
konzentrieren sich aber auf globale Herausforderungen und regionale
Risikopotentiale. So erfahren auch neue Bildungs- und Erziehungssysteme eine
© acw ExpertInnen-Befragung 195
häufige Analyse- und Publikationsdichte (Kreibich 2006, 9). Typische Arbeitsformen
der Zukunftsforschung umfassen sowohl Zukunftsstudien als auch Zukunftsprojekte,
die kreativ und phantasievoll Betroffene und Beteiligte mit einbeziehen (ebd., 3f.).
Diese Entwicklung verlief in den USA schneller und offener als in Deutschland, da die
Abgrenzungen traditioneller Fachgebiete in dieser Perspektive überwunden werden
müssen (ebd., 6). Zwischenzeitlich haben sich auch in Deutschland einzelne Institute
etabliert, die sich wissenschaftlich mit Zukunftsforschung beschäftigen.
Als transdisziplinäre Disziplin bedarf die Zukunftsforschung einer Methodologie, die
auf Erfahrungen der Einzeldisziplinen aufbaut und sie integrierend zusammenführt.
Aus diesem Anforderungsprofil erwuchs eine Methodenvielfalt, die sich teilweise aus
klassischen Methoden natur-, ingenieur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher
Disziplinen ableiten lassen; zum anderen auf eigenen Methoden aufbauen - wie
Kreativitätstechniken, ExpertInnen-Befragungen, Szenario-Techniken,
Mediationsverfahren oder Methoden zur Technikvorausschau (Dürr 2004, 29). Dabei
hat sich keine durchgängige, konsistente Klassifikation über verschiedene
Klassifizierungsversuche durchgesetzt, die als Maßgabe für den sinnvollen
Methodenmix im Kontext eines pragmatischen Forschungsdesigns Orientierung bieten
kann (ebd., 30).
„So können in den für die Zukunftsforschung typischen
Forschungsschritten Datenerhebung, Analyse, Erarbeitung von
Projektionen bzw. Szenarien, Entscheidungsfindung und Gestaltung
jeweils verschiedene quantitative und qualitative, normative und
explorative Methoden zur Anwendung kommen. Oft werden diese
Methoden-Kombinationen selbst wieder als Methode, Technik oder dgl.
bezeichnet.“ (ebd., 41)
Gleichwohl hat sich in letzter Zeit eine methodische Tendenz herausgebildet, die auf
die Erfahrungen vergangener Forschungen zurückblicken kann. Demnach setzen sich
zusehends komplexere Prognose- und Prospektivverfahren auf der Basis qualitativer
Forschungsansätze durch. Die Zukunftsforschungsmethodik ist darin geprägt von
normativen Vorgehensweisen, projektiven Techniken und explorativen Verfahren, die
um kommunikative und partizipative Forschungsansätze erweitert werden (Kreibich
2006, 11).
Derzeit lassen sich vier grundlegende Vorgehensweisen identifizieren, die sich
hinsichtlich Explikation und Nutzung des Zukunftswissens unterscheiden (ebd., 11f.):
Exploratives empirisch-analytisches Vorgehen
Normativ-intuitives Vorgehen
Planend-projektierendes Vorgehen
Kommunikativ-partizipativ gestaltendes Vorgehen
© acw ExpertInnen-Befragung 196
Explorative Untersuchungsdesigns werden gerne zu Beginn von Forschungsprozessen
eingesetzt und sind zumeist anderen Forschungsphasen vorgelagert. Sie haben „(...)
u.a. die Aufgabe zu erkunden, welche Gesetzmäßigkeiten, Regelmäßigkeiten,
Erklärungsmodelle oder Erfahrungswerte geschätzt, plastisch beschrieben,
hochgerechnet, geplant oder gemeinsam gestaltet werden können.“ (Schüll 2009, 225)
Demgegenüber folgt normative Forschung -wie z.B. die evolutionär orientierte
Zukunftsforschung (Mittelstaedt 2009)- einer auf Wertvorstellungen basierenden Soll-
Zielsetzung, die sich moralisch rechtfertigen lässt und insofern gerne mit konkretem
Praxis-Bezug eingesetzt wird (Schüll 2009, 227). Planend-projektierendes Vorgehen
liesse sich in diesem Verständnis ebenso wie das normativ-intuitive Vorgehen der
normativen Forschung zuordnen, während das kommunikativ-partizipativ gestaltete
Vorgehen als Methodik sowohl der explorativen wie normativen Forschung zugeordnet
werden kann. Überhaupt lassen sich die eingesetzten Methoden nur selten den
verschiedenen Vorgehensweisen exklusiv zuordnen. Bei der Auswahl des Methoden-
Mix empfiehlt der Zukunftsforscher Rolf Kreibich:
„Die Auswahl der Methoden sollte sorgfältig an der Thematik, den
Zielen und Rahmenbedingungen der Zukunftsstudien bzw.
Zukunftsprojekte orientiert werden. Grundsätzlich müssen die
Prämissen, die Randbedingungen und möglichen Reichweiten der
Forschungsaufgabe und der zu erwartenden Forschungsergebnisse
expliziert und im Hinblick auf die Methodenauswahl transparent
gemacht werden.“ (Kreibich 2006, 12).
Zum Kernbestand der Methodik der Zukunftsforschung können heute „Befragungen
und Delphi-Techniken, Cross-Impact-Analysen, Modell- und Systemanalysen,
Simulationsmodelle, Szenarien sowie Zukunftswerkstätten und Kreativ-Workshops“
(ebd., 13) zählen. Steinmüller zählt auch die Szenariomethoden, die Kreativmethoden,
die ExpertInnen-Befragungen und die Prognoseverfahren zum Methodenkern der
Zukunftsforschung (Steinmüller 1997, 47f.). Bei der konkreten Methodenwahl wie
-kombination sind demnach die Zielstellung, die Verfügbarkeit von Informationen, die
einzubeziehenden Akteure und der Zeit- bzw. Finanzrahmen zu berücksichtigen (ebd.,
43). Im Sinne einer stärkeren Gestaltungs- und Akteursorientierung werden heute
offenere Verfahren und multiple Perspektiven bevorzugt (ebd., 48). Die Nutzung
kollektiver Intelligenz schlägt sich erst langsam in neueren Methoden nieder.
Im Folgenden sollen neben der Delphi-Methode weitere Methoden der
Zukunftsforschung vorgestellt werden, um die klassische Delphi-Analyse unter dem
Gesichtspunkt der Netzwerk-Gesellschaft einordnen und ggf. ergänzen zu können. Ziel
ist, explorative Ansatzpunkte zu finden, wie den offenen Fragen aus Kapitel 3.4.3 über
bildungspolitische Maßnahmen entgegen gewirkt werden könnte.
© acw ExpertInnen-Befragung 197
4.1.2 MÖGLICHE ME T H O D E N DER ZUKUNFTSFORSCHUNG
Um die Eignung und Anpassungsfähigkeit der Delphi-Methode im Rahmen dieser
Arbeit evaluieren zu können, sollen zunächst Potenziale wie Grenzen dieser Methode
kurz dargestellt werden. Anschließend sollen entlang von Prediction Markets und der
Real-Time-Delphi-Methode die Möglichkeiten eruiert werden, ExpertInnen-
Befragungen mittels moderner Netztechnologien durchzuführen. Ziel der gesamten
Arbeit ist es, auf der Basis der erzielten Expertise bildungspolitische Richtlinien zu
diskutieren, um Menschen auf dem Weg in die Netzwerkgesellschaft konstruktiv
begleiten zu können. Szenarien bieten eine Möglichkeit, normative Vorgaben auf der
Basis der theoretischen Überlegungen zu formulieren, die als diskussionswürdige
Grundlage dienen können. Insofern soll diese Methode einerseits allgemein vorgestellt
und andererseits die Bedeutung von Leitbildern zur Entwicklung von Szenarien
diskutiert werden. Vor diesem Hintergrund kann schließlich eine Entscheidung zum
konkreten Methodendesign entwickelt werden - nicht ohne der Fokussierung auf
ExpertInnen das Konzept der kollektiven Intelligenz gegenüber zu stellen und deren
Potenzial für eine fortschrittliche Untersuchung mitzudenken.
4.1.2.1 DELPHI-METHODE
Die Delphi-Methode wurde in den 1950er bis 1960er Jahren an der im militärischen
Forschungskomplex agierenden RAND Corporation entwickelt. Intentionales Ziel war
es, einen „methodisch reinen Experten“ zu schaffen, der seine Persönlichkeit vom
ExpertInnen-Wissen zu lösen vermag, um ein auf Konsens ausgerichtetes
ExpertInnen-Panel zu erheben.
„Anonymität sollte eine von individuellen Persönlichkeitszügen
unbeeinflusste „Debatte“ ohne Rhetorik und gegenseitige Belehrungen
ermöglichen.“ (Steinmüller 1997, 70)
Die Diskussion wird in der Delphi-Methode ersetzt durch einen mehrstufigen
Rückkopplungsprozess, in dem anonyme, schriftliche Befragungen statistisch
ausgewertet werden und diese Ergebnisse als Grundlage der nächsten schriftlichen
Befragungsrunde dienen (ebd.). Dabei lässt sich die Delphi-Methode als Verfahren zur
Steuerung von Gruppenkommunikation oder zur Erforschung bestimmter
Sachverhalte heranziehen (Häder 2002, 19ff.) und wird zwischenzeitlich auch als
politisches Instrument oder zur Entscheidungsfindung herangezogen (Zipfinger 2007,
20ff.).
Ziel einer Delphi-Analyse ist immer die Bewertung zukünftiger Ereignisse durch
ExpertInnen, die aufgrund ihres fachlichen Zugangs diese gut einschätzen können.
Dabei handelt es sich um eine subjektiv-intuitive Methode der Vorausschau i.S. einer
offenen Foresight, die auf strukturierten Gruppenbefragungen aufbaut und die intuitiv
© acw ExpertInnen-Befragung 198
verfügbaren Informationen der TeilnehmerInnen nutzt (Cuhls 2009, 209).
„Die Delphi-Methode ist im Kern ein relativ stark strukturierter
Gruppenkommunikationsprozess, in dem Fachleute Sachverhalte
beurteilen, über die naturgemäß unsicheres und unvollständiges
Wissen vorhanden ist.“ (Aichholzer 2002, 1)
Kommunikation, Konzentration, Koordination, Konsens, Kommissorium und
Komprehension lauten die sechs K's des Foresight-Prozesses, auf die bei Delphi-
Studien vor allem in der Technologie-Vorausschau zurück gegriffen wird. Es geht
darum, strategische Forschungsausrichtungen zu identifizieren, um die
technologischen Möglichkeiten optimal zu nutzen und nicht deterministisch zu
verfolgen (Cuhls 2000, 13ff.). An möglichen Fragetypen lassen sich dabei
unterscheiden (Theodore J. Gordon 2009a, 5):
Die Vorhersage zum Eintreffen zukünftiger Entwicklungen.
Die Wünschbarkeit eines zukünftigen Zustandes.
Die Maßnahmen, um einen zukünftigen Zustand zu erreichen oder zu vermeiden.
Während alle drei Fragetypen in einer Delphi-Analyse integriert werden können,
haben sich über die Zeit verschiedene Delphi-Typen mit eigenem methodischem Profil
herausgebildet, die im Forschungsdesign spezifische Anforderungen stellen (Häder
2002, 29):
1. Delphi-Befragungen zur Ideenaggregation: Dieser Typ dient der qualitativen
Sammlung und Auswertung von Ideen zur Entwicklung erster
Problemlösungsstrategien.
2. Delphi-Befragungen zur Vorhersage möglichst diffuser Sachverhalte: Hier wird die
klassische Prognose bedient, die eher deterministisch angelegt ist und auf einer
großen Anzahl an ExpertInnen aufsetzt.
3. Delphi-Befragungen zur Ermittlung und Qualifikation von ExpertInnen-
Meinungen über einen speziellen Gegenstand: Dieser Befragungstyp ist der am
häufigsten verwendete Modus und dient dem kommunikativen Austausch - z.B.
zur Feststellung von weiterem Forschungsbedarf. Vor allem der technologischen
Früherkennung dienen diese Delphi-Panels - allerdings mit divergierenden
Ergebnissen: Einige beeindrucken durch präzise Prognosen, während andere
Vorhersagen ihr Ziel völlig verfehlen (Steinmüller 1997, 71). An bekannten Delphi-
Analysen im Bereich der höheren Bildung ist international der alljährlich
erscheinende Horizon-Report des New Media Consortiums (NMC) in Kooperation
mit EDUCAUSE Learning Initiative (ELI) ein viel beachtetes Ereignis.90 Über
mehrere Monate werden Trends von einer Vielzahl an AkademikerInnen
analysiert, gewichtet und gewertet, um sie schließlich in ein Profil der
90 http://www.nmc.org/horizon (05.03.2011)
© acw ExpertInnen-Befragung 199
aufkommenden Technologien zu überführen. Eine weitere Delphi-Studie namens
„The Future of the Internet III“ des Pew Internet & American Life Projektes und
der Elon University befragte über 1.000 ExpertInnen zu zukünftigen Szenarien des
Internets.91 Ein drittes Beispiel einer Delphi-Studie ist die „EDUCAUSE Top
Teaching and Learning Challenges 2009“.92 Hier wurde von verschiedenen
ExpertInnen diverser Fokusgruppen ein aggregiertes Modell möglicher
Schlüsselpunkte im Bildungssektor identifiziert (Alexander 2009, 13f.).
4. Delphi-Befragungen zur Konsensbildung: Typ 4 löst gezielt Gruppenprozesse aus -
auch partizipatorische. Konsensorientierte -oder um mit Hofstede zu sprechen:
kollektivistische- Kulturen mit technologischem Entwicklungsinteresse neigen
eher zu solchen Delphi-Studien als individualistische Kulturen, so eine These, die
sich aus den Ausführungen Steinmüllers zur interkulturellen Nutzung von Delphi-
Analysen ableiten liesse (Steinmüller 1997, 72ff.). Dabei geht es z.B. in japanischen
Delphi-Studien weniger um eine exakte Prognostizierung künftiger Ereignisse als
um die Identifizierung möglicher technologischer Trends (ebd., 73).
Grundsätzlich sollte das Delphi-Verfahren als mindestens zweistufiges Verfahren
durchgeführt werden (ebd., 75). Wichtigste Erfolgsfaktoren für eine gelungene Analyse
stellen die Auswahl eines kooperativen, fachkompetenten ExpertInnen-Kreises und die
konkreten -prädiktiven, normativen oder instrumentellen- Fragestellungen dar (ebd.,
76). In Technologie-Delphis werden gerne zukünftige Ereignisse als potentielle oder
reale Leitbilder vorgegeben, die sich aus Technologie-Angebot wie -Nachfrage
zusammensetzen. Es handelt sich dann um ein reales Leitbild, wenn ExpertInnen eine
schnelle Realisierung mit hoher Relevanz einräumen - andernfalls entspricht das Bild
einer Vision oder einem Fernziel (ebd., 77).
Bei der Formulierung der Fragestellungen ist auf Klarheit, Eindeutigkeit und
Verständlichkeit zu achten, auch wenn die semantische Bezeichnung angesichts
zukünftiger Entwicklungen Schwierigkeiten bereitet. Um Verständigungsproblemen
vorzubeugen, empfiehlt sich ein Pretest. Es sollten ExpertInnen rekrutiert werden, die
mit ihrer Kompetenz angemessen urteilen können und sich dem anonymen,
psychologischen Prozess auszusetzen bereit sind (Häder, zit. n. Cuhls 2009, 209).
In der statistischen Auswertung von Schätzwerten hat sich herausgestellt, dass die
Extremwerte den Mittelwert zu stark beeinflussen. Heute werden Median und unterer
bzw. oberer Quartil in die zweite ExpertInnen-Runde hineingereicht, um ggf. eine
Konvergenz der Meinungen zu provozieren. Je nach Zielsetzung der Studie kann es
allerdings sinnvoller sein, extreme Positionen begründet gegenüberzustellen und
keinen Konsens anzustreben (Steinmüller 1997, 78).
„Werden Delphi-Studien primär als ein Kommunikationsinstrument zur
91 http://www.pewinternet.org/Reports/2008/The-Future-of-the-Internet-III.aspx (05.03.2011)
92 http://www.educause.edu/eli/Challenges (05.03.2011)
© acw ExpertInnen-Befragung 200
Selbstverständigung der forschungspolitischen Community über
Prioritätssetzungen und Forschungsperspektiven verstanden, erübrigt
sich eine marginale Verbesserung der prognostischen
Treffsicherheit.“ (ebd., 78)
An problematischen Aspekten einer Delphi-Untersuchung können v.a. die von
Linstone formulierten acht Probleme angeführt werden, die es methodisch
aufzufangen gilt (ebd., 81f.):
1. Unterschätzung der fernen Zukunft
2. Drang zur Vereinfachung
3. Prognosen um jeden Preis
4. Scheinkompetenz
5. schlampige Durchführung
6. Bias durch die Fragebogengestaltung
7. bewusste oder unbewusste Manipulation
8. Delphi für alles
Das zentrale Problem von Delphi-Studien besteht nach dem Delphi-Experten
Theodore Jay Gordon, geeignete ExpertInnen für die Befragung zu finden bzw. die
Fachkompetenz jedes Einzelnen hinsichtlich der befragten Inhalte einzuschätzen
(Theodore J. Gordon 2009a, 7ff.). Als Ergebnis ist dabei weniger die exakte
Prognostizierung der Zukunft, sondern oftmals ist der diskursive
Kommunikationsprozess der beteiligten ExpertInnen der entscheidende Maßstab für
die Qualität einer Delphi-Studie (Cuhls 2009, 214). Der Methoden-Experte Michael
Häder führt zudem einige kognitionspsychologische Grundlagen an, die die
Urteilsbildung von ExpertInnen in Delphi-Studien beeinflussen (Häder 2002, 37ff.),
die bei Planung (ebd., 75ff.), Design (ebd., 85ff.), Auswertung (ebd., 173ff.) und
Evaluation (ebd., 191ff.) zu berücksichtigen sind und im konkreten Forschungsverlauf
der Durchführung Beachtung finden. Alles in allem können Delphi-Analysen eine
machtvolle Methode sein, wenn die Fragen gut gestellt und die Expertise der
beteiligten Personen für die Fragestellungen geeignet sind. Eine wesentliche Schwäche
der Methode allerdings ist ihre Langwierigkeit. Oftmals ziehen sich rundenbasierte
Delphi-Analysen über mehrere Monate hin (Theodore J. Gordon 2009a, 11).
4.1.2.2 PREDICTION MARKETS
Eine mögliche Alternative zur Delphi-Methode stellen Prediction Markets dar, die als
Informationsmärkte auf zukünftige Ereignisse „wetten“. In Prediction Markets lassen
sich Werte (z.B. Technologieentwicklungen, Durchsetzungsfähigkeit von Ideen,
Ereignisse, Marktnischen etc.) mit einer spielerischen Währung auf einer virtuellen
© acw ExpertInnen-Befragung 201
Futures-Börse anonym handeln. Über den kollektiven Rückkopplungseffekt generiert
sich dann im Median ein Wahrscheinlichkeitswert pro Item. Die schnelle
Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen der Rahmenbedingungen ermöglicht eine
Flexibilität, die sich dynamisch in der Zeitleiste entfaltet (Steinmüller 1997, 83f.). Im
Vergleich zu den möglichen Zielsetzungen einer Delphi-Untersuchung sind Prediction
Markets eindeutig zum Typ 4 -der Konsens-Methode- zu zählen, da sie recht schnell
die Meinungen der beteiligten Personen ausbalancieren. Dabei existieren eine Vielzahl
an unterschiedlichen Prediction Markets in verschiedenen Themenfeldern (Alexander
2009, 18):
Bereits 2003 strebte die US-amerikanische Defense Advanced Research Projects
Agency (DARPA) einen Policy Analysis Market an, auf dem auf zukünftige politische
Ereignisse im Nahen Osten gewettet werden sollte. Dieses konkrete Projekt wurde
aufgrund fragwürdiger ethischer Grundsätze vom Pentagon schon bald eingestellt
(Rhode und Strumpf 2004, 19). Anschließend probierten sich andere Ideenmärkte
in der politischen Vorhersage93 (z.B. Popsci Predictions Exchange94 oder American
Action Market95). Auch diese beiden wurden nach einer kurzen Testphase
geschlossen, da massive Kritik an der Aussagefähigkeit der Ergebnisse aufkamen.
Erfolgreicher verlief die Entwicklung in unternehmensinternen Kontexten. So
wurden Vorhersage-Märkte bereits 2006 von mindestens 25 großen Unternehmen
genutzt (King 2006). Auch Unternehmen wie z.B. Google unterhalten
betriebsinterne Prediction Markets, um die Unternehmenspolitik daran
auszurichten (Colbs, Lakhani, und McAfee 2008).
Prediction Markets spiegeln jedoch keine neue Methode wider. Vielmehr waren sie
bereits Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. in den USA sehr populär, um den
Ausgang der Präsidentenwahlen vorherzusagen (Rhode und Strumpf 2004). In Zeiten
der technologisch unterstützten „kollektiven Intelligenz“ (Levy 1998) erfuhr diese alte
Methode eine Wiederauferstehung und kann heute unter bestimmten Bedingungen als
eine Weiterentwicklung der klassischen Delphi-Methode herangezogen werden. So
existieren einige Forschungen zu dieser Methode, die z.B. untersuchen, welche
evolutionären Potentiale im Aufbau spielerischer Ideenbörsen stecken und wie diese
funktionieren (Hanson 2005). Auch existieren ökonomische Berechnungen über die
variierende Zuverlässigkeit von Prediction Markets, die sich je nach gehandelter
Börsenware und gewünschter Vorhersage unterteilen lassen in Binary Options, Index
Futures und Spread Betting (Wolfers und Zitzewitz 2006).
An Vorteilen dieser Methode lassen sich die spielerische Faszination, die
Anpassungsfähigkeit und die Durchsetzung einer konsensualen, kollektiven Meinung
93 http://en.wikipedia.org/wiki/Policy_Analysis_Market (05.03.2011) und
http://informationfuturesmarkets.blogspot.com/ (05.03.2011)
94 http://www.popsci.com/ppx (05.03.2011)
95 http://www.americanactionmarket.org/ (13.10.2010)
© acw ExpertInnen-Befragung 202
benennen (Alexander 2009, 18). Gleichzeitig ist den Märkten inhärent, abweichende
Meinungen zu honorieren statt der Gefahr einer gruppendynamischen Konsensbildung
in Delphi-Studien. Auch können Märkte besser Entscheidungsumschwünge aufzeigen,
da die Werte über einen längerfristigen Zeitraum immer wieder geändert werden
können im Gegensatz zum temporären Delphi. Und die Suche nach adäquaten Delphi-
Teilnehmer/innen kann sich schwierig gestalten, während Prediction Markets von den
interessierten Teilnehmer/innen aufgesucht werden, die sich beteiligen möchten.
Insofern weisen Prediction Markets unter bestimmten Voraussetzungen einige
Vorteile gegenüber der Delphi-Methode auf (Green, Armstrong, und Graefe 2007, 4).
An Nachteilen muss die erforderliche, große Grundgesamtheit und die Notwendigkeit,
die Items genau zu bezeichnen, angeführt werden. Von daher zeitigen Delphi-Studien
auch einige Vorteile gegenüber Prediction Markets auf (ebd., 4f.): So lassen sich
Delphi-Methoden vielfältiger einsetzen, da sie z.B. den kommunikativen Austausch
unter den beteiligten AkteurInnen fördern. Sie sind aufgrund ihrer Textorientierung
verständlicher und eignen sich für komplexere Sachzusammenhänge, so dass sich die
Zufriedenheit mit den ermittelten Ergebnissen besser abbildet. Spekulationen haben
weniger Einfluss auf das Ergebnis. Gleichzeitig kann jede/r ExpertIn neue Aspekte in
die Diskussion mit einbringen. Da die Argumente wechselseitig einsehbar sind, lassen
sich sachlichere Analysen durchführen, die zudem von einer geringen Anzahl qualitativ
geeigneter ExpertInnen (5-20 Personen) zu einem guten Ergebnis führen können.
4.1.2.3 RE A L -TIME-DELPHI
Eine andere Möglichkeit, schnellere Ergebnisse zu erzielen als in der klassischen
Delphi-Methode, stellt im Zeitalter digitaler Technologien die Real-Time-Delphi-
Methode dar. Hier verzichtet man auf den rundenbasierten Austausch und ermöglicht
-aufbauend auf den Kernelementen Anonymität und Feedback einer Delphi-Analyse-
einen Austausch von ExpertInnen in Echtzeit.
Historisch lässt sich die Methode bis in die 1970er Jahre zurückverfolgen. Bereits 1970
wurde die erste asynchrone Real-Time-Delphi Konferenz mit 20 Experten online
durchgeführt (Zipfinger 2007, 9f.). In Finnland entwickelten einige ForscherInnen seit
1996 die erste webbasierte Software (eDelfoi) (Theodore J. Gordon 2009b, 1f.). Eine
weitere Real-Time-Studie ist 1999 als synchrone Präsenzveranstaltung bekannt. Doch
erst seit 2004 wurde das Konzept einem weiteren Kreis als wissenschaftliche
Fortführung klassischer Delphi-Studien bekannt (Zipfinger 2007, 10).
Im September 2004 beauftragte die Forschungsstelle der US-amerikanischen
Streitkräfte, das Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), die Firma
Articulate Software, Inc., eine Delphi-Methode zu entwickeln, die in Echtzeit
wesentlich effizientere Ergebnisse auf Fragestellungen geben könne, wenn schnelle
Entscheidungsprozesse erforderlich sind. Nachdem sich Prediction Markets als wenig
© acw ExpertInnen-Befragung 203
tauglich für die politische Entscheidungsfindung erwiesen hatten, wurde als weitere
Anforderung formuliert, dass die Delphi-Methode auch funktionieren solle für wenige
ExpertInnen mit unterschiedlicher Expertise (ca. 10-15 Personen), aber auch skaliert
werden kann mit asynchroner Partizipation und über längere Zeiträume - die Real-
Time-Delphi (RTD) Methode war geboren. Eine weitere Anforderung, die bislang eher
den Zukunftsstudien zuzurechnen ist, war die Nutzung fortgeschrittener künstlicher
Intelligenz und Sprachverarbeitung, um qualitative Ergebnisse besser auswerten zu
können. In der vom UNO-Millenium-Projekt genutzten, webbasierten Software
werden diese Komponenten verwendet, um Widersprüche und Redundanzen in der
Studie einzufangen (Theodore Gordon und Pease 2006).
Konkret werden den einzelnen ExpertInnen in der webbasierten UNO-RTD-Technik
die Durchschnittswerte bisheriger Antworten und die Begründungen anderer
anonymisierter ExpertInnen fortwährend angezeigt. Bei Eingabe deutlich
divergierender numerischer Daten erscheint eine Aufforderung, die abweichende
Meinung zu begründen, die fortan allen anderen Teilnehmer/innen in Echtzeit zur
Lektüre zur Verfügung steht. Die eingetragenen Werte und Begründungen lassen sich
beliebig oft bis zu einem vom Administrator definierten Stichtag verändern, so dass
explizite Runden obsolet werden. Die Methode kann sowohl synchron wie asynchron
genutzt werden (ebd.). Die Auswahl der Fach-ExpertInnen stellt auch in dieser
Variante die größte Herausforderung dar (ebd.).
Regelmäßig angewendet wird die Methode in der alljährlich erscheinenden Studie des
Millenium Projects96 zum „State of the Future“. In diese Studie fliessen die
Forschungsergebnisse einer Vielzahl internationaler Knoten ein. Auf interdisziplinärer
Basis werden hier mögliche Einflussfaktoren und potentielle internationale
Krisenindikatoren für globale Herausforderungen identifiziert, um diesen Problemen
ggf. begegnen zu können. Auch stellt das Millenium Project seine RTD-Software
einzelnen Institutionen für ihre Untersuchungen kostenpflichtig zur Verfügung (Glenn,
Theodore J. Gordon, und Florescu 2009).
Die Frage, die die Wirtschaftsinformatikerin Sabine Zipfinger antreibt, ist die, warum
sich trotz vorhandener Breitbandverbindungen die Real-Time-Delphi-Methode bis
heute nicht breiter durchsetzen konnte (Zipfinger 2007, 13). Um dieser Frage
nachzugehen, befragte Zipfinger verschiedene Expert/innen mit identischem
Fragebogen in zwei verschiedenen computerbasierten Methoden: einer
rundenbasierten klassischen Delphi-Analyse und einer Real-Time-Delphi-
Untersuchung. Das befragte Thema kreiste um kritische Aspekte der Delphi-Methode
selbst (Definition, Motivationsfaktoren, Fluktuation, ExpertInnen-Zahl, Anonymität,
zeitliche Begrenzung, rundenbasiert oder in Echtzeit, Feedback zu numerischen
Antworten, Kommentare für Antworten, Selbsteinschätzung der ExpertInnen,
96 http://www.millennium-project.org/ (05.03.2011)
© acw ExpertInnen-Befragung 204
Einflussfaktoren auf Antworten, Internetnutzung) (ebd., 93ff.). Im Ergebnis
unterschieden sich die beiden Untersuchungen nicht wesentlich. Während im Real-
Time-Verfahren mehr qualitative Antworten von weniger ExpertInnen gegeben
wurden, konnte das rundenbasierte Verfahren durch wiederholte Besuche und
Überdenken der ursprünglichen Antwort überzeugen. Zipfinger selbst schliesst aus
ihrer Untersuchung auf methodische Irritation der ExpertInnen aufgrund fehlender
Erfahrung mit der Real-Time-Methode und eine erhöhte Monitoring-Kompetenz der
analysierenden Person(en), um den Prozess zu unterstützen. Zum gegenwärtigen
Zeitpunkt scheint beim Gros der ExpertInnen-Befragungen die rundenbasierte Delphi-
Methode die adäquatere Form zu sein (ebd., 109f.). Zudem besteht bei RTD-Methoden
die Gefahr, dass dominante Personen einen größeren Einfluss auf andere TN haben
(Cuhls 2009, 219).
Bei der Einordnung der Real-Time-Delphi-Methode in die Typen-Klassifizierung von
Häder (s.o.), ergibt sich ein vielschichtiges Bild: War die Intention der DARPA, eine
schnelle Methode zur Entscheidungsfindung zu beauftragen, so schwingt durch das
realisierte unmittelbare Feedback im direkten Vergleich der vollzogenen Antworten die
Hoffnung auf einen konsensualen Abgleich der Antworten mit. Tatsächlich weist die
Analyse von Zipfinger aus, dass in rundenbasierten Delphi-Studien die korrigierten
Aussagen höher ausfielen als im Real-Time-Verfahren (Zipfinger 2007, 86). Das mag
auf die fehlende Netz-Kompetenz der beteiligten ExpertInnen zurückzuführen sein,
bedarf aber einer weiteren Untersuchung. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung
handelt es sich bei der RTD-Methode eher um einen Typ 3 -die Aggregation
verschiedener ExpertInnen-Meinungen-, der die Bandbreite möglicher Gesichtspunkte
aufzuzeigen vermag und insofern als theoretische Grundlage zur
Entscheidungsfindung herangezogen werden kann.
4.1.2.4 SZENARIENTECHNIK
Ergänzend zu den explorativen Erhebungsmethoden hat sich die Szenarientechnik seit
den 1990er Jahren zu einem Kernkonzept der Zukunftsforschung entwickelt, um einen
kommunikativ-partizipativen Prozess unter ExpertInnen anzustossen. Szenarien
definieren hier als normative Orientierung einen Soll-Zustand, in dessen Kontext
ExpertInnen befragt werden können, um Planungsschritte zu identifizieren, die zur
Realisierung dieser Zielsetzung geeignet erscheinen. Unter Rückgriff auf andere
Methoden lassen sich dabei verschiedene Szenario-Techniken nutzen, um
Zukunftsalternativen bereitzustellen, entlang derer sich die strukturelle
Veränderungsdynamik und die Anpassungsfähigkeit der Akteure untersuchen lassen
(Graf 2004, 21f.).
„Die Szenariotechnik versucht, Phänomene und Zusammenhänge einer
Quantifizierung zuzuführen, bei denen ausreichende theoretische
© acw ExpertInnen-Befragung 205
Grundlagen fehlen und/oder die reine Empirie versagt.“ (ebd., 22)
Ein Szenario kann demnach als Beschreibung wesentlicher Elemente einer
hypothetischen, möglichen Zukunftssituation definiert werden, inklusive des
Entwicklungspfades, um diese Situation zu erreichen (Kosow und Gaßner 2008, 1).
Um eine Entscheidungsfindung in einem unsicheren Umfeld herbeizuführen, haben
sich die optionalen Alternativen der Szenario-Methode gegenüber der klassischen
Prognose-Methode durchgesetzt.
Die Szenario-Methode ist dabei vom Erkenntnisinteresse her ein …
„(...) Hauptinstrument, um
alternative Entwicklungspfade zu identifizieren und zu
beschreiben,
Entscheidungspunkte und Handlungsmöglichkeiten zu ermitteln,
Folgen möglicher Handlungen zu analysieren.
Im Verwertungsinteresse dienen Szenarien u.a. dazu
strategisches Denken (in Unternehmen, Verwaltungen usw.) zu
fördern,
Leitbilder und Zielvorstellungen zu identifizieren oder zu
verdeutlichen
und allgemein um futurologisches Orientierungswissen und (sic!)
zur Diskussion zu stellen.“ (Steinmüller 1997, 50f.)
Je nach Zielsetzung der konkreten Analyse sind verschiedene Szenarien-Typologien
zur Konkretisierung des Forschungsvorhabens und Gestaltung des Forschungsdesigns
heranzuziehen, die an dieser Stelle nicht angeführt werden sollen (vgl. dazu ebd.:54ff.).
Gegenüber der Prognose-Methode bieten Szenarien dann einen methodischen Vorteil,
wenn in Planungsprozessen unsichere, diskontinuierliche Aspekte berücksichtigt
werden sollen, die auf vorwiegend qualitativer oder ungenügender Information
aufbauen (ebd., 58).
Abschließend lässt sich feststellen, dass die Szenario-Methode ein sehr komplexes
Verfahren der Planungstechnik ist, das sich in verschiedenen Methoden-
Kombinationen über den gesamten Forschungsprozess von der Problemidentifikation
über sektorale Vorhersagen und Wechselwirkungsanalysen bis hin zum konkreten
Szenario-Writing erstrecken kann. An allgemeinen Qualitätskriterien können
Glaubwürdigkeit, Zweckmäßigkeit, Nachvollziehbarkeit, Konsistenz, Konsequenz und
Transparenz angeführt werden. Handelt es sich nicht um ein Einstiegsszenario, kann
auch Vollständigkeit ein Qualitätskriterium sein (ebd., 63). Die Delphi-Methode
wiederum lässt sich im Rahmen der Szenario-Methode v.a. im Kontext der sektoralen
Vorhersagen einsetzen, um Trendannahmen zu identifizieren.
© acw ExpertInnen-Befragung 206
4.1.2.5 LEITBILDER
Eine Möglichkeit, potentielle Szenarien zu entwerfen, stellen Leitbilder dar. Ein
Leitbild kennzeichnet einen übergeordneten Begriff, der verschiedene theoretische
Modelle, Forschungs- und Entwicklungskonzepte beinhaltet. Allen gemeinsam ist eine
„zukunftsgerichtete und handlungsrelevante Vorstellung davon, was erstrebt wird oder
als erstrebenswert und zugleich als realisierbar angesehen wird“ (Giesel 2007, 38).
Unterscheiden lassen sich die Leitbild-Typen entlang ihrer Erscheinungsform (mentale
Vorstellungsmuster oder manifeste Dokumentationen) und ihrer
Handlungswirksamkeit (bereits praktizierte Leitbilder oder propagierte Leitbilder als
zukünftige Norm) (ebd., 39f.). Als sozialwissenschaftliches Instrument sind Leitbilder
umstritten, da sie zur Analyse herrschender Werte und Normen überfordert seien,
wenn sie mit breit interpretierbaren Metaphern einen neuen Entwurf vorbringen.
Dann lassen sich dem aktuell vorherrschenden gesellschaftlichen Selbstverständnis
kaum mögliche Wertvorstellungen mit normativer Kraft entgegen stellen (Heesen
2005, 88f.).
So werden in der Technikforschung unter Leitbildern „Vorstellungen über gleichzeitig
erwünschte und für machbar gehaltene technische Zukünfte verstanden, die das
Denken und Handeln der Akteure prägen“ (Giesel 2007, 167). Sie sollen in der
Technikgenese sowohl Orientierung, Koordinierung als auch Motivation bieten.
Gleichzeitig dienen sie in der Technikentwicklung als Verständigungsprozess
hinsichtlich einer konsensual als sinnvoll erachteten Zielsetzung, da sie eine kulturelle
„Übereinkunft mit hoher Verbindlichkeit und kollektiver Projektionskraft“ (ebd., 168)
leisten können. „Leitbilder sind damit kollektiv geteilte, denk- und handlungsleitende
technikbezogene Zukunftsentwürfe“ (ebd., 184), die aber nur ex-post entworfen
werden können, wenn technische Entwicklungen bereits etabliert sind (vgl. Heesen
2005, 89). Allerdings erleichtert das Leitbildkonzept „die theoretische Fundierung
einer systematischen Ausarbeitung von Wertannahmen im Zusammenhang der
Technikentwicklung“, die „auch für die Entstehung der anderen gesellschaftlichen
Teilsystemen von grundlegender Bedeutung sind“ (ebd., 89).
Mit der Delphi-Technik oder der Szenario-Methode lässt sich der Leitbild-Ansatz gut
verbinden. Inhaltlich unterscheiden sich Leitbilder von wertneutralen
Zukunftsszenarien aufgrund ihres normativen Gehalts. Sie „fallen begrifflich
zusammen, wo Leitbilder nur als realisierbare, als mögliche Zukunftszustände
beschrieben werden, nicht aber als anzustrebende oder erwünschte“ (Giesel 2007, 148,
Anm. 144).
© acw ExpertInnen-Befragung 207
4.1.3 ZWISCHENFAZIT: KONSEQ U E N Z E N AU S D E R
METHODENDISKUSSION
Im Gegensatz zum Forecasting schauen Foresight-Methoden offen in die Zukunft.
Dabei können Befragungen zur Vorausschau je nach Zielsetzung unterschiedlicher
Natur sein. Kleine Samples beinhalten z.B. verschiedene Techniken wie
Brainstorming, Brainwriting, ExpertInnen-Gespräche oder individuelle Interviews.
Größere oder große Samples lassen sich über Meinungsumfragen, Befragungen zu
rationalen Erwartungen (Fakten), Befragungen mit Feedback (Delphi + RT Delphi),
Prediction Markets, Wetten oder Einschätzungsspiele realisieren (Cuhls 2009, 208).
Im Vergleich der hier vorgestellten explorativen Forschungstechniken kommt sowohl
der Szenarientechnik als auch den Prediction Markets eine Rolle bei der Planung von
Entscheidungen zu. So können Szenarien Orientierung bieten in einem unsicheren
Umfeld, während Prediction Markets aufgrund ihrer Konsensfindung eine
Entscheidungsgrundlage bieten können (Green, Armstrong, und Graefe 2007, 4). Vor
diesem Hintergrund und der hier verfolgten Forschungsfrage, zwar eine Grundlage für
die Planung zukünftiger bildungspolitischer Maßnahmen entwerfen zu wollen,
zunächst aber einen interdisziplinären Austausch unter Fach-ExpertInnen zu
initiieren, um Trendannahmen zu identifizieren und ggf. weiteren Forschungsbedarf
zu eruieren, soll hier eine Delphi-ExpertInnen-Befragung im Rahmen der Szenario-
Methode die Maßnahme der Wahl sein. Denn die Delphi-Methode lässt sich sehr
sinnvoll mit der Szenarien-Technik kombinieren, indem z.B. ein Szenario als Input für
eine Delphi-Studie oder zwecks Visualisierung des (bisherigen) Delphi-Ergebnisses
entworfen wird (Kosow und Gaßner 2008, 87ff.).
In diesem Sinne soll hier ein explizites, normatives Leitbild entworfen werden, das als
„Verständigungsmedium über wünschbare und mögliche Zukünfte“ (Giesel 2007, 195)
dienen kann, über das sich ggf. ein echtes Leitbild gesellschaftlich verankern lässt. Das
Leitbild dient damit als Gestaltungsinstrument, das der Planung ebenso förderlich ist
wie der Zielfindung und der Steuerung. Es sollte als prognostisches Szenario auf den in
den Kapitel 2 und 3 erarbeiteten, theoretischen Überlegungen mit einem
mittelfristigem Betrachtungszeitraum aufbauen. Gleichzeitig sollte es als Grundlage
dienen, über eine ExpertInnen-Befragung gliche alternative Verlaufsszenarien zu
identifizieren, die zur Realisierung des Leitbildes beitragen könnten.
Nun stellt sich die Frage, ob angesichts der von Castells prognostizierten,
schwindenden Bedeutung innovationstreibender ExpertInnen zugunsten der
vernetzten, kollektiven Intelligenz gerade ExpertInnen eine geeignete Prognose oder
Vorausschau auf die v.a. sozio-technologisch bedingten Veränderungsprozesse leisten
können, die von einer einzelnen Person ausgewählt wurden. Oder liesse sich über eine
stärkere Subjektorientierung in der Zukunftsforschung die Diskrepanz zwischen Laien-
© acw ExpertInnen-Befragung 208
und ExpertInnen-Meinung überbrücken und dadurch bessere Rückschlüsse für
politische Gestaltungsspielräume eruieren (Gerhold 2009a, 242)? Kann eine Delphi-
Analyse als Smart Swarming organisiert sein (Neef 2003)?
Über einen Exkurs zur kollektiven Intelligenz soll diesen Fragen kurz nachgegangen
werden, um abschließend das Methoden-Design der folgenden Untersuchung
vorzustellen.
4.1.3.1 EXKURS: KOLLEKTIVE INTELLIGENZ
Kollektive Intelligenz, Schwarmintelligenz oder Crowdsourcing werden derzeit im
Alltagsgebrauch synonym verwendet, charakterisieren aber unterschiedliche
Phänomene.
Bereits 1994 führte Pierre Lévy aus, welchen Einfluss der Cyberspace auf die sozio-
kulturellen Rahmenbedingungen und Werte nimmt und eine kollektive Intelligenz
entstehen lässt, die sich aus dem individuellen Wissen der beteiligten Personen
generiert - im Gegensatz zur Schwarmintelligenz, in der die Individuen über ein starres
Regelwerk austauschbar als Einzelne bleiben (Levy 1998). Während also in der
Schwarmintelligenz viele dumme Einzelne über Regelwerke Ordnungsmuster formen
und damit eine sehr niedrige Intelligenzform evozieren, kennzeichnet kollektive
Intelligenz die Vernetzung intelligenter Einzelner, die über ihre Interaktion eine
übergeordnete Intelligenz schaffen. Dieses Phänomen ist nichts Neues, sondern
Kennzeichen jeder höheren Kultur (Kruse 2009). Neu ist die netzbedingte Möglichkeit
einer erweiternden Unterstützung der synästhetischen Prozesse, die es ermöglicht, der
wachsenden Komplexität einfliessender Informationen intelligente Ordnungsmuster
entgegen zu stellen - als Kombination aus sozio-technologischer Entwicklung und
„Emergenz“ (Steven Johnson 2001). Der Rhythmus der kollektiven Intelligenz lässt die
Zeichen selbst beginnen zu leben, denn sie wachsen und wuchern unabhängig von der
Intention einzelner AutorInnen oder InterpretInnen. Während Lévys Beschreibung zur
Zeit seiner Entstehung noch utopischen Charakter aufweist, kann heute im Zeitalter
der sozialen Medien registriert werden, wie sich die klar unterscheidbaren Ebenen
eines Textes zugunsten „eines flüssigen, kontinuierlichen Milieus auflösten, in dem der
Forschungsreisende immer das Zentrum besetzt“ (Levy 1998, 118).
„Aus der Zirkulation, Verbindung und Metamorphose denkender
Gemeinschaften entsteht und erhält sich der Raum des Wissens. (...)
Die Mitglieder einer kollektiven Intelligenz produzieren,
strukturieren und verändern ständig die virtuelle Welt, die Ausdruck
ihrer Gemeinschaft ist: Die kollektive Intelligenz hört nicht auf zu
lernen und zu erfinden.“ (ebd., 159)
Als mediengestützte kollektive Intelligenz hat sie einen neuen anthropologischen
Raum eröffnet, der fließend zwischen den Sphären und Intelligenz navigiert und eine
© acw ExpertInnen-Befragung 209
„subjektive Zeitlichkeit der kollektiven Intelligenz“ (ebd., 233) schafft, und der die
reale Zeit der Handelsnetze verändert. Der Raum des Wissens ist „ein ortloser Raum
der nomadisierenden kollektiven Intelligenz“, ein selbstorganisiertes Jenseits der
menschlichen Gemeinschaften, fernab von Territorien oder ExpertInnen, die Macht
aus ihrem Wissen ableiten (ebd., 235f.) - oder um mit Castells zu sprechen: In der
Netzwerkgesellschaft formen sich die Botschaften wieder zu Botschaften.
Bei der Schwarmintelligenz handelt es sich hingegen um eine kollektive Intelligenz der
Verbundenen, die mittels kontinuierlicher -verbaler oder nonverbaler-
Kommunikation feste Reaktionsmuster auf bestimmte Kommunikationssignale
aussenden (Aulinger 2007). Im Original sparen über diesen natürlichen Modus Vögel
Energie, Ameisen begeben sich auf effiziente Futtersuche, Termiten bauen komplexe
Bauwerke und Fische nutzen diese kollektive Kraft zur Gefahrenabwehr (ebd., 3).
Mögliche Anwendungsfelder in humanen Verbundsystemen sind „Social Swarming“
und „Social Mobs (Rheingold 2003), die sich in temporären, thematischen
Netzwerken spontan mittels moderner Kommunikationsmedien verbinden. Dieses
dynamische Verbindungspotenzial einzelner Personen mit einer Vielzahl sich
wandelnder, sozialer Netzwerke kommt im Umkehrschluss einem Kontrollverlust
einzelner netzwerkspezifischer Soziokulturen auf die individuellen Normen und Werte
gleich. Im Zeitalter der pervasiven Medien ist das individuelle Netzwerkkapital -neben
dem Finanz- und Sozialkapital- zu einem entscheidenden Kapitalfaktor in der heutigen
Welt herangereift (ebd., 195).97
Dieser dynamisch sich wandelnden, temporär eng verbundenen Schwarmintelligenz
steht die kollektive Intelligenz der Unverbundenen gegenüber, die sich durch
Vielfältigkeit, Unabhängigkeit und Dezentralität auszeichnet und im Ergebnis für
qualitative Situationsbeschreibungen und Prognosen geeignet ist. An möglichen
Anwendungsfeldern in Verbundnetzwerken können hier Marktprognosen oder
Netzwerk-Evaluationen angeführt werden, die durch Untersuchungen des
Kommunikationsverhaltens, Meinungsumfragen, Prediction Markets oder Text-
Mining technologisch unterstützt werden können (Aulinger 2007, 4f.). Dabei können
nach Surowieckis populären Ansatz der „Weisheit der Vielen“ Personengruppen mit
unterschiedlichen Standpunkten, aber gemeinsamer Motivation, bessere
Entscheidungen herbeiführen als klassische wissenschaftliche Methoden mit
Expert/innen (Surowiecki 2007). Grundsätzlich sind drei Typen der Weisheit der
Vielen“ zu unterscheiden:
Kognition: Ein kollektiver Austausch von Ideen auf Ideen-Märkten kann schnellere
Entscheidungsprozesse herbeiführen als ExpertInnen(-Befragungen).
Koordination: Die interpersonale Abstimmung ermöglicht ein natürliches
Miteinander im sozio-kulturellen Fluss.
97 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Web 2.0 als soziale Kultur in Kap. 3.3.2
© acw ExpertInnen-Befragung 210
Kooperation: Vertrauen kann sich besser in freien Märkten ohne zentrales
Regelwerk entfalten.
Um zu positiven Entscheidungen der Weisheit der Vielen zu gelangen, sollten
allerdings gewisse Rahmenbedingungen gegeben sein (ebd.):
1. Diversität: Heterogene Gruppen mit jeweils individuellem Kenntnisstand sind eine
wesentliche Voraussetzung kollektiver Intelligenz.
2. Unabhängigkeit: Die einzelnen Meinungen sollten nicht von anderen Personen
abhängig sein.
3. Dezentralisierung: Lokales und spezialisiertes Wissen des Einzelnen ist
erforderlich, um die Weisheit der Vielen aufzubauen.
4. Aggregation: Konkrete Mechanismen ermöglichen die Synästhesierung des
kollektiven Wissens aus den verschiedenen Einzelmeinungen.
Während kollektive Intelligenz eher dem theoretisch analytischen, philosophischen
Raum entspringt, beschreibt Crowdsourcing die Übernahme von Open-Source-
Prinzipien auf sozio-kulturelle Phänomene aus pragmatischer Perspektive. So lassen
sich z.B. Jobs in einer offenen Ausschreibung outsourcen, so dass diese Aufgabe statt
einer klar definierten Person von einer unspezifizierten Personengruppe erledigt
werden kann (Howe 2008). Oder über ein kollektives Ausbalancieren von persönlichen
Erfahrungen und Datenspuren lassen sich den einzelnen NutzerInnen die maschinell
ausgelesenen und algorithmisch als Empfehlung zusammen gefügten Daten als
Mehrwert darreichen (Segaran 2008).
Abschließend lässt sich in diesem Rahmen feststellen: Um die kollektive Intelligenz
temporär verbundener Personen im Rahmen strukturierter wissenschaftlicher
Methoden nutzen zu können, bedarf es einiger Grundregeln. Im nächsten Kapitel soll
abschließend diskutiert werden, wie die hier interessierenden Fragestellungen im
Rahmen der vorliegenden Arbeit methodisch bewältigt werden können.
4.1.3.2 ABSCHLIESSENDES METHODEN-DESIGN
Oben wurde festgestellt, dass in dieser Arbeit eine Delphi-ExpertInnen-Befragung im
Rahmen der Szenariotechnik eine geeignete Forschungsmethode darstellt, um eine
erste Orientierung zu erhalten, wie sich die offenen Fragen aus Kapitel 3.4.3
tendenziell beantworten liessen. Angesichts der interdisziplinären Anlage dieser Arbeit
und dem Bedeutungsrückgang von persönlicher Expertise in der Netzwerkgesellschaft,
gilt es anschließend, die subjektiven Vorstellungen einzuordnen in die „objektiven“
bildungspolitischen Rahmenbedingungen.
Vor diesem Hintergrund wäre jetzt zu fragen, wie sich eine selbstorganisierte,
emergente ExpertInnen-Gruppe für eine Delphi-Studie finden liesse, die zwar
zentralen, von der Autorin vorgegebenen Fragestellungen folgt, ihre spezifische
© acw ExpertInnen-Befragung 211
Diskurs-Form aber selbst wählt. Sofern für die vorliegende Analyse keine Möglichkeit
besteht, digitale Netzwerkeffekte aufgrund algorithmischer Formeln oder
technologischer Systeme zu nutzen, schliessen sich große, webgestützte Samples aus.
Eine Real-Time-Delphi-Analyse als webbasierte Kommunikationsplattform einer
interdisziplinären ExpertInnen-Gruppe mit kollektiver (Schwarm-)Intelligenz
ermöglicht einen guten Kompromiss.
Zum einen entspricht die Delphi-Methode einer kontrollierten Debatte einer
begrenzten Gruppe und dient weniger der Wahrheitssuche, sondern der Bewertung
bzw. dem Austausch. Insofern wird der Frage der Zusammensetzung der gezielt
zufälligen Gruppe eine entscheidende Bedeutung zukommen.
Zum anderen ermöglicht ein webbasierter Zugang einen offenen Austausch der
Meinungen sowohl in flexibler, archivierter, jederzeit modifizierbarer Form als auch
in Echtzeit. Indem einer asynchronen Runde eine synchrone Online-Ko-
Präsenzrunde angeschlossen wird, können die Vorteile der anonymen Delphi-
Methode mit dem unmittelbaren Feedback der anderen ExpertInnen in einem
überschaubaren Zeitrahmen verknüpft werden.
Des Weiteren besteht die Möglichkeit bei der Auswahl der beteiligten ExpertInnen,
diese selbst weitere Personen für die Untersuchung vorschlagen zu lassen, um eine
heterogene Gruppe zusammenzustellen.
Als Projektionsfläche der interdisziplinären RTD-Untersuchung soll ein hypothetisches
Szenario dienen, das auf den theoretischen Ausarbeitungen der Kap. 2 und 3 beruht.
Dieses Szenario wird in Form eines zukünftigen Leitbildes formuliert, um eine
Vorausschau zu ermöglichen, in dessen Zeitrahmen sich noch politische
Handlungsempfehlungen formulieren lassen. Für dieses szenarische Leitbild werden
dann aus den in Kapitel 3.4.3 aufgeworfenen offenen Fragen konkrete Thesen
abgeleitet, die sich mittels eines standardisierten Fragebogens evaluieren lassen.
Anschließend werden die sich aus dieser Untersuchung generierenden
Maßnahmenpakete im Kontext der internationalen Bildungspolitik-Forschung
reflektiert. Schließlich sollen die Ergebnisse als Fundus für die Entwicklung
alternativer Szenarien aufbereitet werden, die als Grundlage für mögliche
bildungspolitische Interventionen dienen können und auch neue Forschungsfragen
formulieren helfen.
4.2 VORBEREITUNG DER REAL-TIM E -DELPHI-
UNTERSUC H UNG
Die leitende Frage dieser Arbeit lautet: Welche (globalen) bildungspolitischen
Maßnahmen sind erforderlich, um sozial exkludierten Personen den Kompetenzerwerb
zu ermöglichen, der benötigt wird, um über eine positive UX in benutzergenerierten,
© acw ExpertInnen-Befragung 212
digitalen Lernumgebungen am globalen Informations- und Kommunikationsfluss
selbstbestimmt teilzuhaben? In den Kapiteln 2 und 3 konnten die Fähigkeiten
erarbeitet werden, die theoretisch zu vergnüglichen Flow-Erfahrungen im space of
flows und zur selbstverantwortlichen Kompetenzentwicklung in der
Netzwerkgesellschaft führen können. In der Praxis entsprechen die Menschen und die
Umstände nicht unbedingt den idealtypischen Vorstellungen der Theorie (siehe offene
Fragen in Kap. 3.4.3), so dass einige internationale ExpertInnen im Rahmen einer
Real-Time-Delphi-Untersuchung um ihre Einschätzung gebeten wurden, wie
möglichst viele Personen auf den Weg mitgenommen werden könnten.
4.2.1 ZIELSE T Z U N G DER STUDIE
Zentrales Ziel dieser RTD-Untersuchung ist es, persönliche Einschätzungen eines
internationalen ExpertInnen-Kreises zu Zukunftsthesen einzuholen und Hinweise zu
erhalten, wo bildungspolitische Ansatzpunkte zu finden sind bzw. Forschungsbedarf
besteht, um entsprechende Voraussetzungen baldmöglichst zu schaffen. Dabei sollte in
diesem Zusammenhang die Delphi-Methode „weniger als ein Verfahren zur Erzeugung
von mehr oder weniger gesicherten Prognosen oder zur Herstellung eines stabilisierten
Konsenses in der Experten-Gruppe über mögliche zukünftige Ereignisse angesehen
werden.“ Vielmehr wird die Methode als „spezifisches diskursives Verfahren genutzt,
das den Diskurs über Leitbilder und Entwicklungswege“ anzustossen (bzw. zu diesem
beizutragen) vermag. Die Informationssammlung ist hier ebenso wichtig wie die
Bewertung (vgl. dazu Steinmüller 1997, 85). Insofern ist sekundäres Ziel dieser
Untersuchung, über eine offene Partizipationsmethode die ExpertInnen zum
diskursiven Austausch über divergierende Einschätzungen zu bewegen und über
diesen Weg die zentralen Knackpunkte der Diskussion für bildungspolitische
Weichenstellungen zu identifizieren. Bei dieser geschlossenen Befragung handelt es
sich um den explorativen Typ 3 nach (Häder 2002, 32ff.): Es werden ExpertInnen-
Meinungen zu einem unsicheren Sachverhalt ermittelt und qualifiziert.
Von daher gehen in die Befragung nur Thesen mit Zukunftsbezug ein, deren
Realisierung noch unsicher ist (vgl. Oertzen, Cuhls, und Kimpeler 2006, 17).
Untersuchungsleitend dient ein szenarisches Leitbild als Vorschlag einer
mittelfristigen Vorhersage, um aus Sicht der betroffenen Individuen -und nicht der
sozialen Entitäten- die optimalen Rahmenbedingungen für die Zukunft zu eruieren.
Gewünschtes Ergebnis ist es, möglichst viele Menschen an dieser normativ definierten
Entwicklung partizipieren zu lassen, damit deren kreatives Potenzial mit eingebracht
werden kann.
© acw ExpertInnen-Befragung 213
4.2.2 LEITBILD DIESE R STUDIE F Ü R 2020
Vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen und offenen Fragen soll die nun
folgende RTD-Analyse auf einem potentiellen Leitbild für das Jahr 2020 aufsetzen:
Im Jahre 2020 wird von allen Menschen erwartet, sich in
benutzergenerierten, digitalen Umgebungen zu orientieren, um
selbstbestimmt an den Möglichkeiten der Netzwerkgesellschaft zu
partizipieren.
2020 erscheint als geeigneter Zeithorizont der Vorausschau, da alle darüber
hinausgehenden Prognosen angesichts der sozio-technologischen
Entwicklungsdynamik zu undifferenzierten Spekulationen führen würden, während
gleichzeitig diese mittelfristige Entwicklung absehbar erscheint und noch einen
Spielraum für Interventionen eröffnet. Insofern setzt das hier entworfene Leitbild
primär auf den theoretisch erarbeiteten Überlegungen98 auf, ist sich aber u.a. der
aktuellen Studien des Gartner Hype Cycles 2009 (Gartner, Inc. 2009), des Horizon
Reports 2009 (L. Johnson und R. Smith 2009, 6), der Untersuchung zu „The Future of
the Internet III“ (Janna Quitney Anderson und Rainie 2008, 2), den „EDUCAUSE Top
Teaching and Learning Challenges 2009“ (EDUCAUSE Learning Initiative 2009), der
FAZIT-Studien zur Frage „Wie nutzen wir Informations- und
Kommunikationstechniken im Jahr 2020“ (Oertzen, Cuhls, und Kimpeler 2006) und
zu den „Zukünftigen Informations- und Kommunikationstechniken“ im Jahr 2020
(Cuhls und Kimpeler 2008), der internationalen Studie zur „Zukunft und
Zukunftsfähigkeit der Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien“
für das Jahr 2030 (Kessel, Gerneth, und Wolf 2009) und natürlich dem „State of The
Future 2009“ des Millenium Projects (Glenn, Theodore J. Gordon, und Florescu 2009)
sehr bewusst. Grundsätzlich bauen die erarbeiteten theoretischen Überlegungen auf
den dort analysierten technologischen Trends auf, setzen aber bei den Konsequenzen
für die Bildungswelt eine andere Brille auf. Da der in den angeführten Studien
geworfene Blick immer ein institutioneller ist, unterscheiden sich die gesetzten
Prioritäten teilweise stark von der in dieser Untersuchung gewählten Perspektive: Der
individuelle Blick v.a. von sozial exkludierten Personen entspricht einem Blickwinkel,
der leider in keiner der Autorin bekannten und mit der vorliegenden Arbeit
vergleichbaren Studie eingenommen wird.
4.2.3 EIGENE R THESE N K ATA L O G MIT FRAGEBOGEN
Bei einer Delphi-Untersuchung gilt es, exakte Fragestellungen auszuarbeiten, um klar,
eindeutig, verständlich und konkret die Thematik zu erfassen. Konkret lassen sich zu
98 Vgl. Kapitel 2 und 3
© acw ExpertInnen-Befragung 214
einzelnen, provokativen Thesen einzelne Fragen zu prädiktiven Vorhersagen,
normativen Zukunftszuständen und instrumentellen Möglichkeiten zur Zielerreichung
unterscheiden (Steinmüller 1997, 77). Standardfragen sind die nach der
Selbsteinschätzung hinsichtlich der Fachkompetenz und der Einschätzung des
Zeitraums der Verwirklichung der zugrunde gelegten These. Allerdings haben sich
solche Versuche, die Wahrscheinlichkeiten des Eintreffens einschätzen zu lassen, nur
bedingt als realisierbar erwiesen. Hingegen konnten mit Fragen nach Wichtigkeiten,
Hemmnissen, zu ergreifenden Maßnahmen oder offenen Kommentarmöglichkeiten als
gut auswertbare Ergebnisse erzielt werden (Cuhls, S.216).
Je nach Befragungsziel existieren eine Vielzahl an Untersuchungsdesigns (vgl. z.B.
Häder 2002, 229ff.), die jeweils unterschiedliche Fragekonstellationen erfordern. In
dieser Arbeit legen das Forschungsdesign und die generierten offenen Fragen (siehe
Kap. 3.4.3) einen Thesenkatalog entlang der sechs Flow-Kategorien nahe. Jede
Kategorie bildet in der Untersuchung ein separates thematisches Kapitel, innerhalb
dessen eine kurze szenarische Einführung in das Jahr 2020 einstimmt und zu einer
komplexen These überleitet mit je einer individuellen, einer sozio-kulturellen und
einer sozio-technologische Ebene. Zu jeder These werden die Einschätzungen der
ExpertInnen mittels eines standardisierten Fragenblocks erbeten, so dass
unterschiedliche Gewichtungen innerhalb der einzelnen Kapitel ggf. differenzierte
bildungspolitische Ansätze nahelegen können.
Aufgrund der internationalen Anlage der Studie werden in der Online-Version alle
Texte in der englischen Sprache präsentiert und keine deutsche Übersetzung angezeigt.
Folgende Thesen lassen sich vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen
und des darauf aufbauenden Leitbildes für das Jahr 2020 aus den offenen Fragen aus
Kapitel 3.4.3 operationalisieren:99
4.2.3.1 THEMENBLOCK PERSON
1. These 1 zur autotelischen Persönlichkeit
Offene Frage: Wie können autotelische Persönlichkeiten gefördert werden,
wenn im familiären Kontext keine idealen Bedingungen herrschen?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, ihre mediale Netz-Kompetenz
selbstreflexiv an den dynamisch sich wandelnden, sozialen Kontext
anzupassen und diesen kontinuierlichen Lernprozess als bereichernd zu
empfinden.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, einen
kontinuierlichen Lernprozess als bereichernd zu empfinden.
99 Die ausführlichen Thesen beruhen auf den in Kapitel 3.4.1. herausgearbeiteten Voraussetzungen und den
daraus abgeleiteten Fähigkeiten in Kapitel 3.4.2. In den Kurzthesen wird die entsprechende Befähigung für
das Jahr 2020 prägnant zusammengefasst.
© acw ExpertInnen-Befragung 215
2. These 2 zur Kultur als Software des Geistes
Offene Frage: Verschiedene Kulturen fördern verschiedene Aspekte des Flow-
Zustandes. Autotelische Persönlichkeiten müssen sich in je unterschiedlicher
Form von ihrer umgebenden Soziokultur abgrenzen bzw. diese integrieren.
Universale Blaupausen sind offenbar unmöglich. Können interkulturell
angepasste Standardrezepte die Ausbildung von autotelischen
Persönlichkeiten fördern?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, sich trotz oder wegen ihrer
sozio-kulturellen Rahmenbedingungen selbstbewusst auf die persönlichen
Zielsetzungen zu konzentrieren und diese konsequent zu verfolgen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, sich
selbstbewusst auf die persönlichen Zielsetzungen zu konzentrieren und diese
konsequent zu verfolgen.
3. These 3 zum Medium als Botschaft
Offene Frage: Welchen Einfluss haben ordnungspolitische Maßnahmen auf
das Medium als Botschaft und wie kann sichergestellt werden, dass
individuelle Wirklichkeiten nicht von äußeren Zwängen abhängig sind?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, sich im wandelnden, medial
vernetzten Raum temporär selbst zu verorten und dort eine individuelle
Wirklichkeit zu konstruieren - unabhängig von externen Kräften mit
vermeintlich gesellschaftlicher Definitionsmacht.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, sich im
wandelnden, medial vernetzten Raum temporär selbst zu verorten und dort
eine individuelle Wirklichkeit zu konstruieren.
Als Einführung in dieses thematische Kapitel dient folgende Einstimmung in das Jahr
2020:
Deutsche Textvorlage (vor Pretest) Webanzeige nach Pretest (in english)
Flow-Kategorie A: Person
In benutzergenerierten Umgebungen
sind zentrale Persönlichkeitsmerkmale
erforderlich, um sich als unabhängiger,
aktiver Knoten im vernetzten Kontext
wahrzunehmen. Auch gilt es, die sozio-
kulturellen wie sozio-technologischen
Bedingtheiten, in denen die Person
agiert, individuell zu verarbeiten.
Topic A: Individual
In user-generated digital environments
central personality characteristics are
needed to perceive oneself as an
independent, active node in the (big)
network context. While no one lives
without a (smaller) social context, it is
also important for an individual, to
handle the socio-cultural and socio-
© acw ExpertInnen-Befragung 216
technological effects in which s/he
operates.
Vor diesem szenarischen Hintergrund leitet sich aus den drei thematischen Kurzthesen
folgende komplexe These ab, die es seitens der ExpertInnen einzuschätzen gilt:
Webanzeige nach Pretest (in english)
Assumption A
In 2020, people will be able
to perceive a continuous learning process as enriching;
to concentrate self-confidently upon personal objectives and to pursue these
strictly;
to position themselves temporarily in the changing networked media space, and
to construct an individual reality even there.
4.2.3.2 THEMENBLOCK WORKFLOW
4. These 4 zu sinnvollen Identitäten
Offene Frage: Wie lassen sich unabhängige, starke, individuelle Identitäten
herausbilden, die sich gleichzeitig als kollektivistische Entitäten verstehen?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, eine stabile, sinnvolle,
persönliche Identität aufzubauen, die die eigene Ablauforganisation souverän
definiert und sich gleichzeitig im Wechselspiel mit anderen sozialen
Netzwerkknoten versteht.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, eine
persönlich sinnvolle Ablauforganisation zu definieren, die sich im
Wechselspiel mit anderen Netzwerkknoten versteht.
5. These 5 zu Communities of Practice
Offene Frage: Wie konfiguriert sich Gesellschaft, wenn jede Person einem
eigenen Zeitrhythmus folgt? Zwar koordiniert jede einzelne Person ihr Time-
Management über ihre Netzwerkknoten in verschiedenen Netzwerken, aber
welche Auswirkungen hat dieses dynamische Geflecht auf die
Gesamtgesellschaft?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, sich ein persönliches Netzwerk
im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten individuell aufzubauen und die
gesellschaftlichen Strukturen durch aktive Netzwerkarbeit mit zu gestalten.
© acw ExpertInnen-Befragung 217
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, die
gesellschaftlichen Strukturen durch aktive Mitarbeit im persönlichen
Netzwerk mit zu gestalten.
6. These 6 zu Networks of Practice
Offene Frage: Welche Möglichkeiten der Übertragung virtueller Normen und
Werte auf das „reale Leben“ bestehen? Müssen regulative Instanzen über die
Entwicklung wachen? Wie kann man eventuellen Negativspiralen
entgegenwirken? Wie organisiert man Politik in diesen Zeiten?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, das sich im globalen
webbasierten Diskurs entfaltende kulturelle Werte- und Normensystem in die
alltägliche Praxis vor Ort selbstverantwortlich zu überführen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, die
webbasierten Werte und Normen in die alltägliche Praxis vor Ort
selbstverantwortlich zu überführen.
Als Einführung in dieses thematische Kapitel dient folgende Einstimmung in das Jahr
2020:
Deutsche Textvorlage (vor Pretest) Webanzeige nach Pretest (in english)
Flow-Kategorie B: Workflow
Im Kontext benutzergenerierter
Umgebungen bedarf es spezifischer
Fähigkeiten, sich - möglichst
unabhängig von den Sachzwängen
externer Workflows - eine stabile
individuelle Identität aufzubauen und
die netzwerkspezifischen Strukturen
bzw. den sozio-kulturellen Change-
Management-Prozess aktiv mit zu
gestalten.
Topic B: Workflow
Individuals operate within the
constraints of external workflows. But in
the context of user generated
environments, personally meaningful
workflows must be set to handle these
external constraints. Therefore, specific
abilities are required to get actively
involved in the design of network-
specific structures and the socio-cultural
change management process.
Vor diesem szenarischen Hintergrund leitet sich aus den drei thematischen Kurzthesen
folgende komplexe These ab, die es seitens der ExpertInnen einzuschätzen gilt:
Webanzeige nach Pretest (in english)
Assumption B
In 2020, people will be able
to define a personally meaningful organizational structure that is adaptable to
© acw ExpertInnen-Befragung 218
other network nodes;
to co-create the social structures through active participation in the personal
network;
to transfer web-based values and norms independently into everyday life.
4.2.3.3 THEMENBLOCK MEDIENUMGEBUNG
7. These 7 zu PIM / PKM / PLE
Offene Frage: Welche Auswirkungen hat es, wenn der Zugang zur
Netzwerkgesellschaft nicht optimal gewährt ist oder nicht möglich ist, weil die
Menschen nicht unterstützt werden, sich aktiv einzubringen?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, die persönliche
Medienumgebung dynamisch an die eigenen, flexiblen Bedürfnisse
anzupassen, so dass jederzeit Zugriff auf die vernetzte Kompetenz gegeben ist.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, die
persönliche, vernetzte Medienumgebung an die eigenen, flexiblen Bedürfnisse
anzupassen.
8. These 8 zur Netzwerk-Kompetenz
Offene Frage: Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um Vertrauen
auf individueller wie kollektiver Ebene aufzubauen? Welchen Einfluss hat
Politik auf das je spezifische sozio-kulturelle Muster?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, Vertrauen in andere Personen,
in Strukturen, in die Flexibilität und Intelligenz selbst generierter
Medienumgebungen aufzubauen und in der Praxis zu bestätigen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, Vertrauen
in virtuellen Netzwerke aufzubauen und dieses wechselseitig in der Praxis zu
bestätigen.
9. These 9 zu Social Media Umgebungen
Offene Frage: Was geschieht, wenn das „System“ dicht macht? Welche Folgen
hat es, wenn Verwertungsgesellschaften zugunsten ihrer traditionellen, sozio-
ökonomischen Interessen wirken und Urheberrechte, Patente, proprietäre
Systeme fördern und politisch absichern wollen?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, im offenen, impliziten
Wissensstrom mitzuschwimmen und dadurch eine transkulturelle Netzwerk-
Kompetenz zu entwickeln, die sich der Wirkung kultureller Indizes - vom
Netz zum Ort und vice versa - bewusst ist.
© acw ExpertInnen-Befragung 219
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, im
offenen, impliziten Wissensstrom mitzuschwimmen und sich kultureller
Wechselwirkungen bewusst zu sein.
Als Einführung dient folgende Einstimmung in das Jahr 2020:
Deutsche Textvorlage (vor Pretest) Webanzeige nach Pretest (in english)
Flow-Kategorie C: Medienumgebung
Benutzergenerierte Umgebungen
benötigen individuellen autonomen
Gestaltungswillen, gesamtgesellschaft-
liches, wechselseitiges Vertrauen, um
sich frei auszutauschen, und eine
Bereitschaft, sich global digital zu
vernetzen.
Topic C: Media Environments
For the functioning of user-generated
media environments, some basic
conditions must be met. Firstly, the
autonomous creative will of the
individual is necessary. Secondly,
mutual trust across the society is
required to exchange personal views
freely. And last (but not least), the
willingness to network digitally at the
global level is needed.
Vor diesem szenarischen Hintergrund leitet sich aus den drei thematischen Kurzthesen
folgende komplexe These ab, die es seitens der ExpertInnen einzuschätzen gilt:
Webanzeige nach Pretest (in english)
Assumption C
In 2020, people will be able
to adapt the personal, networked media environment to their own, flexible needs;
to build up trust in virtual networks and to confirm this mutually in practice;
to move into the open tacit knowledge flows and to be aware of cultural
interactions.
4.2.3.4 THEMENBLOCK US A BILIT Y
10. These 10 zu Don't make me think
Offene Frage: Wie kann die digitale Kompetenz unterstützt werden, wenn
gängige Software- und Hardware-Produkte im alten Denken verhaftet sind?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, selbstverantwortlich
persönliche Kriterien der Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit anzulegen
und regelmäßige Aktualisierungen der digitalen Schnittstellen vorzunehmen,
© acw ExpertInnen-Befragung 220
um dort Vergnügen empfinden zu können.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig,
selbstverantwortlich persönliche Kriterien der Effektivität, Effizienz und
Zufriedenheit anzulegen.
11. These 11 zur Culturability
Offene Frage: Es besteht die Gefahr, die nicht am Netzwerk beteiligten
Personen aufgrund des Digital Divide abzukoppeln von der
gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Hier kann ein guter Resonanzboden
für tradierte Werte und Codes entstehen, die von Machtbeziehungen am
space of places definiert werden. Wie nimmt man möglichst alle Menschen
mit auf den digitalen Weg?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, sich trotz sozio-kultureller
Einflussfaktoren auf die individuelle Autonomie den neuen Technologien
zuzuwenden und einen gebrauchstauglichen Zugang zur Netzkultur zu
verschaffen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, sich trotz
sozio-kultureller Einflussfaktoren den neuen Technologien zuzuwenden.
12. These 12 zu Personability
Offene Frage: Welcher Rahmenbedingungen bedarf es, um Menschen die
Sicherheit zu geben, sich beständig neu zu orientieren? Welche
Arbeitsorganisationsformen existieren, um diesen LLL-Prozess qualitativ zu
unterstützen?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, individuell Einfluss zu nehmen
auf die sozio-technologische Gestaltung der digitalen Schnittstellen und sich
das erforderliche Knowhow regelmäßig anzueignen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, Einfluss
zu nehmen auf die Gestaltung der digitalen Schnittstellen.
Als Einführung in dieses thematische Kapitel dient folgende Einstimmung in das Jahr
2020:
Deutsche Textvorlage (vor Pretest) Webanzeige nach Pretest (in english)
Flow-Kategorie D: Usability
Selbstverantwortung ist erforderlich,
um sich die eigene benutzergenerierte
Umgebung gebrauchstauglich zu
gestalten und immer wieder neu zu
sortieren.
Topic D: Usability
Usability means, "whether a product is
efficient, effective and satisfying for
those who use it" (UPA). To construct
usable products, some techniques and
methods are developed for professional
© acw ExpertInnen-Befragung 221
designers. In user-generated
environments users are their own
designers. Thus, individual
responsibility is required to design one's
own usable user-generated environment
and resort it over and over again.
Vor diesem szenarischen Hintergrund leitet sich aus den drei thematischen Kurzthesen
folgende komplexe These ab, die es seitens der ExpertInnen einzuschätzen gilt:
Webanzeige nach Pretest (in english)
Assumption D
In 2020, people will be able
to independently develop his/her personal criteria of effectiveness, efficiency,
and satisfaction;
to address the new technologies, despite socio-cultural influences;
to have influence on the creation of digital interfaces.
4.2.3.5 THEMENBLOCK TR ANSPAREN Z
13. These 13 zu Recht auf geistiges Eigentum
Offene Frage: Ist Transparenz ein ästhetisches Gut, das auf viszeraler Ebene
einen schnelleren Zugang zum Individuum findet als geschlossene Systeme?
Und wie können kollektive Eigentumsrechte gefördert werden, wenn auf
sozio-ökonomischer Basis das Recht auf individuellem Eigentum
vorherrschend ist?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, sich kollaborativ einzubringen
und ihren Beitrag zum offenen, transparenten, sozialen Eigentumsrecht zu
leisten.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, durch
kollaborative Mitarbeit einen Beitrag zum sozialen Eigentumsrecht zu leisten.
14. These 14 zur Freien Fahrt für freie BürgerInnen
Offene Frage: Am Flow interessierte Personen meiden Institutionen, die
ihren Flow unterbinden. Institutionen, die eher Ordnung im Bewusstsein
hervorrufen, bestimmen die Richtung der sozio-kulturellen Evolution. Welche
Institutionen sind dies in der aktuellen Zeit?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, im eigenen beruflichen Umfeld
© acw ExpertInnen-Befragung 222
Offenheit und Transparenz zu praktizieren und die Institutionen zu meiden,
die ihren Flow unterbinden.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, im
eigenen Umfeld Offenheit zu praktizieren und Institutionen zu meiden, die
Flow unterbinden.
15. These 15 zu Open Source
Offene Frage: Offene Standards und Daten sind Voraussetzung, um
Innovation auf Basis der Bits zu forcieren. Wie kann man diesen Prozess auf
politischer Bühne fördern?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, mit digitalen Bits zu arbeiten
und diese mit eigenem kreativen Potenzial anzureichern und der Gesellschaft
wieder zuzuführen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, digitale
Bits kreativ anzureichern und der Gesellschaft wieder zuzuführen.
Als Einführung in dieses thematische Kapitel dient folgende Einstimmung in das Jahr
2020:
Deutsche Textvorlage (vor Pretest) Webanzeige nach Pretest (in english)
Flow-Kategorie E: Transparenz
Benutzergenerierte Umgebungen
generieren einen neuen
Eigentumsbegriff, den jede Person und
jede Institution begreifen und leben
können muss, um die kollektive
Intelligenz für den gesellschaftlichen
Fortschritt auszureizen.
Topic E: Transparency
User-generated digital environments
generate a new concept of property.
Who possesses which data? Who has the
power to collect, reconfigure and
publish new data collections? Every
person and every institution needs to
understand and live this fundamental
change, to exhaust the collective
intelligence for social progress.
Vor diesem szenarischen Hintergrund leitet sich aus den drei thematischen Kurzthesen
folgende komplexe These ab, die es seitens der ExpertInnen einzuschätzen gilt:
Webanzeige nach Pretest (in english)
Assumption E
In 2020, people will be able
to make a contribution to the topic of changes in social property right by
collaborative cooperation;
© acw ExpertInnen-Befragung 223
to practice openness and transparency in their own environment and to avoid
institutions that stop their flow;
to creatively remix digital elements and to supply them back to the society.
4.2.3.6 THEMENBLOCK S PA C E O F F L O W S
16. These 16 zu Alles im Fluss
Offene Frage: Wie lassen sich Netzwerk-Inseln vermeiden, die den space of
flows in ihre Richtung lenken und wenige Anknüpfungspunkte suchen?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, in allen Flow-Zuständen
mitzufliessen und die konkrete Ausgestaltung des netzbasierten
Kulturraumes mitzuformen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, die
Ausgestaltung des netzbasierten Kulturraumes mitzuformen.
17. These 17 zur Netzwerkgesellschaft
Offene Frage: Im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft können netzaktive
Menschen die tradierten Flow-generierenden Muster nicht mehr in ihren
persönlichen Flow integrieren. Die sozio-historische Weitergabe wird
dadurch behindert. So ergeht es heute u.a. dem Bildungssystem - es wird als
Flow hemmend wahrgenommen. Kann öffentliche Bildungsarbeit noch Flow
generierend wirken?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, die Flow-hemmenden sozio-
kulturellen Faktoren zu umgehen und den weiteren Verlauf entsprechend der
eigenen Zielsetzungen zu transformieren.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, Flow
hemmende Faktoren entsprechend der eigenen Zielsetzungen zu
transformieren.
18. These 18 zu Social Web
Offene Frage: Die netzbasierten Medien haben unseren Alltag erreicht - nicht
als Ausnahme, sondern als Standard für fast alle Menschen. Die Frage wird
sein: Wie reagieren die schwarzen Löcher? Kann man davon ausgehen, dass
selbstregulative Kräfte wirken, wenn der technologische Zugang geschaffen
ist?
Ausführliche These: Fähigkeit der Menschen, die selbstregulativen Kräfte bei
der Durchdringung aller gesellschaftlichen Subsysteme mit netzbasierten
Prinzipien konstruktiv im Sinne der kollektiven Menschheit zu nutzen.
Kurzthese im Fragebogen: Im Jahre 2020 sind die Menschen fähig, die
© acw ExpertInnen-Befragung 224
selbstregulativen Kräfte konstruktiv im Sinne der kollektiven Menschheit zu
nutzen.
Als Einführung in dieses thematische Kapitel dient folgende Einstimmung in das Jahr
2020:
Deutsche Textvorlage (vor Pretest) Webanzeige nach Pretest (in english)
Flow-Kategorie F: Raum der Ströme
In der Netzwerkgesellschaft mit
benutzergenerierten Umgebungen
formen die Menschen die konkrete
Ausrichtung der sozio-kulturellen wie
sozio-technologischen Welt aktiv mit -
sie sind Schöpfer ihrer Umgebung und
ihrer eigenen Identitäten.
Topic F: space of flows
In the network society, a global space of
flows determines our lives. For example,
the financial system, the communication
channels, the social web, the globalized
economy are all organized on an
international level. If people learn to
configure their user-generated
environments, they move from passive
folks to actively shaping persons, who
collectively organize the direction of the
concrete socio-cultural and socio-
technological world. Then they are
creators of their direct environment and
their own identities.
Vor diesem szenarischen Hintergrund leitet sich aus den drei thematischen Kurzthesen
folgende komplexe These ab, die es seitens der ExpertInnen einzuschätzen gilt:
Webanzeige nach Pretest (in english)
Assumption F
In 2020, people will be able
to help design the network-based cultural space;
to transform factors that disturb the flow according to their own objectives;
to use the selfregulative forces constructively for the purpose of the collective
wo/mankind.
© acw ExpertInnen-Befragung 225
4.2.3.7 STANDARDISIERTER FRAGENBLOCK
Pro These wiederholt sich ein standardisierter Fragenblock, so dass dieser von den
ExpertInnen nur einmal kognitiv verstanden werden muss:
Fragen
(in deutsch)
Fragentypus
(in deutsch)
Webanzeige nach
Pretest
(in english)
1Wie hoch schätzen Sie
Ihre Kompetenz zu
dieser These ein?
Die Antworten können
über eine fünfstufige
Skala (von 1 wie sehr
wenig bis zu 5 wie sehr
hoch) variieren.
Your expertise on this
assumption? How
would you rate this?
2Wie hoch schätzen Sie
- bei Fortführung der
aktuell gegebenen
Rahmenbedingungen
- den prozentualen
Anteil der Menschheit
ein, auf den diese
These im Jahre 2020
zutrifft?
Es wird für die gesamte
Weltbevölkerung eine
numerische Auswahl auf
einer fünfstufigen Skala
(<20%, 20-39%, 40-59%,
60-79%, >80%)
gewünscht und ggf. eine
kontinentale
Einschätzung bei
gravierender Abweichung.
If nothing fundamental
will change: How high
is to your estimation
the proportionate share
of the humankind to
which this assumption
will apply in 2020?
Please estimate the
global and maybe the
continental values, if
these clearly deviate.
3Welche Bereiche sind
primär dafür
verantwortlich, eine
weitere Ausdehnung
der These zu
hemmen?
ökonomischer
Druck
rechtliche
Rahmenbedin-
gungen
Es werden mehrere
Antwortmöglichkeiten
bereit gestellt. Bis zu 3
Mehrfachnennungen sind
möglich. Für „Sonstiges“
kann eine Textzeile
eingetragen werden.
Which factors are
primarily responsible
for restraining a further
extension of the
assumption? Please
select up to three areas.
economic
pressure
legal framework
personal
conditions
© acw ExpertInnen-Befragung 226
persönliche
Voraussetzun-
gen
politische
Mechanismen
soziales Umfeld
sozio-kulturelle
Werte &
Praktiken
sozio-
technologischer
Wandel
Sonstiges ...
political
mechanisms
social
environment
socio-cultural
values and
practices
socio-
technological
change
other ...
4Welche
bildungspolitischen
Maßnahmen sind
primär geboten, um
die hemmenden
Faktoren zu lockern?
Ausbau des
technologischen
Zugangs
Ausdehnung der
Bildungs-
ausgaben
Bedeutungs-
zuwachs der
Zivilgesellschaft
Etablierung von
Chancen-
gleichheit
Förderung
sozialen Lernens
Intensivierung
der Forschung
Es werden mehrere
Antwortmöglichkeiten
bereit gestellt. Bis zu 3
Mehrfachnennungen sind
möglich. Für „Sonstiges“
kann eine Textzeile
eingetragen werden.
Which educational
measures are primarily
needed to loosen the
restraining factors?
Please select up to
three areas.
Delivering
technological
access
Expansion of
education
spending
Growing
importance of
civil society
Establishment of
equal
opportunities
Promoting social
learning
Intensifying
research
© acw ExpertInnen-Befragung 227
Bereitschaft zum
öffentlichen
Diskurs
Neuordnung der
Regulations-
instanzen
(Recht, Politik,
Verwaltung)
Restrukturie-
rung des
Bildungs-
systems
Verstärkung der
globalen
Vernetzungen
Sonstiges …
Readiness for
public discourse
Reorganization of
regulatory
agencies (law,
politics,
administration)
Restructuring the
education system
Strengthening of
global networks
other ...
5a Können
internationale
Maßnahmen ein
geeignetes
bildungspolitisches
Mittel sein?
Der erste Teil der Frage
stellt eine Auswahl zur
Verfügung
Ja
Nein
Weiss nicht
Can international
action be an
appropriate means of
educational policy?
What do you think?
5b Bei Auswahl von Ja
können mögliche,
notwendige und
realisierbare Maßnahmen
in einem offenen Textfeld
notiert werden.
If so, what measures
are possible, necessary
and feasible in your
opinion? Please,
explain your
considerations very
concisely. With
pleasure also in
headwords. In English
would be fine.
6Wie hoch schätzen Sie Es wird für die gesamte If a maximum of
© acw ExpertInnen-Befragung 228
- unter ideal
veränderten,
realisierbaren,
bildungspolitischen
Rahmenbedingungen
- den prozentualen
Anteil der Menschheit
ein, auf den diese
These zutrifft?
Weltbevölkerung eine
numerische Auswahl auf
einer fünfstufigen Skala
(<20%, 20-39%, 40-59%,
60-79%, >80%)
gewünscht und ggf. eine
kontinentale
Einschätzung bei
gravierender Abweichung.
educational measures
would be realized: How
high is to your
estimation the
proportionate share of
the humankind to
which this assumption
will apply in 2020?
Please estimate the
global and maybe the
continental values, if
these clearly deviate.
7Möchten Sie zu dieser
These einen
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Would you like to give
this assumption a
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explain your
considerations very
concisely. With
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4.2.4 AUSWAHL DER EXPERT/INNEN
Was macht einen Menschen zur Expertin? Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
hebt ein enger institutioneller oder organisatorischer Zusammenhang mit dem Inhalt
der Studie eine Person in den Rang einer Expertin. Über das reine Wissen
hinausgehend ist eine enge Bindung an das Tätigkeitsfeld erforderlich, um als Expertin
fungieren zu können (Gerhold 2009b, 6). Ziel einer Delphi-Studie ist es, auf das
institutionell bedingte Wissen zuzugreifen und in der Untersuchung einen
„methodisch reinen Experten“ zu erzeugen, indem die Persönlichkeiten mittels des
Anonymisierungsprozesses vom konkreten ExpertInnen-Wissen möglichst getrennt
werden (ebd., 70, Anm. 78). Insofern zielt die Auswahl geeigneter ExpertInnen bei
einer Delphi-Analyse nicht auf Repräsentativität, sondern auf Fachkompetenz und
Kooperationsbereitschaft (Steinmüller 1997, 76).
Für die Strukturierung einer ExpertInnen-Gruppe bei einer Delphi-Befragung zur
Ermittlung derer Ansichten schlägt der Delphi-Experte Michael Häder vor:
© acw ExpertInnen-Befragung 229
„1. die Zuordnung zu dem jeweiligen inhaltlichen Fachgebiet, 2. die
Herkunft aus verschiedenen Bereichen wie etwa aus Hochschulen, dem
privaten Sektor und dem öffentlichen Dienst. Es wurde häufig
angestrebt, die Expertengruppe jeweils gleichstark aus diesen drei
Bereichen zu rekrutieren. 3. die Herkunft aus geographischen
Regionen. Dieses Kriterium findet jedoch bereits seltener Anwendung.
4. ein unterschiedlich ausgeprägter Grad an Fachkenntnis. Auffällig
ist, dass als Kriterien für die Expertenrekrutierung bisher jedoch
nicht Geschlecht und Alter der Teilnehmer herangezogen worden sind.“
(Häder 2000, 9)
Neben der Totalerhebung kann auch eine bewusste Auswahl an Expert/innen
vorgenommen werden. Laut Häder wird das Ergebnis in quantitativen Delphi-
Untersuchungen desto aussagekräftiger, je mehr Befragte in die Untersuchung
einbezogen werden (Häder 2002, 104). Da hier die Entscheidung zugunsten der Real-
Time-Delphi-Methode fiel, die qualitative Elemente der Befragung mit einbezieht und
auf einen kontrollierten Dialog der Beteiligten setzt, wird die Studie sich auf eine sehr
begrenzte, qualitative Auswahl an ExpertInnen stützen.
4.2.4.1 PL A N U NG DE S VO R GEHE N S
Angesichts der interdisziplinären Fragestellung und gemäß der Theorie der kollektiven
Intelligenz ist intendiert, eine maximal heterogene ExpertInnen-Gruppe
zusammenzustellen, die sich thematisch nah an den in den theoretischen
Überlegungen diskutierten, verschiedenen Ansätzen bewegen. Als weitere
Auswahlkriterien sollen a) eine möglichst breite Palette an beteiligten Fachgebieten, b)
mit Personen aus verschiedenen Bereichen und c) geographischen Regionen gewählt
werden, die d) genügend Netz-Kompetenz aufbringen, um die digitalen Verwerfungen
verstehen und an der digitalen RTD-Analyse qualitativ mitarbeiten zu können. Um die
Verbindlichkeit und Kooperationsbereitschaft innerhalb der internationalen
ExpertInnen-Gruppe zu erhöhen, soll dem Gender-Aspekt ausgiebig Tribut gezollt
werden: Die RTD-Analyse wird ausschließlich mit Frauen durchgeführt. Neben dem
diskursiven Aspekt lässt sich diese Selektion dadurch begründen, dass weltweit ein
überdurchschnittlicher Anteil sozial exkludierter Menschen dem weiblichen
Geschlecht angehört. Dies setzt den eher männlich dominierten theoretischen
Ergebnissen der Kapitel 2 und 3 ein gutes Gewicht entgegen.100
Konkret bedeutet dies für die Zusammensetzung der Expertinnen-Gruppe:
100 Diese Entscheidung richtet sich auch gegen das Ungleichgewicht im Bildungssektor und v.a. an den
deutschen Hochschulen (siehe http://www.boeckler.de/107_95771.html - 05.03.2011). Darüber hinaus
wird hier ein Kontrapunkt gesetzt zur alltäglichen Ignoranz des Geschlechterverhältnisses in anderen
Delphi-Studien (bzw. dem damit einhergehenden Männer-Überhang in sämtlichen „neutralen“
Befragungen).
© acw ExpertInnen-Befragung 230
Diese Arbeit baut auf den thematischen Säulen Bildung, Medientechnologie und
Gesellschaftstheorie auf. Insofern sollten sich alle teilnehmenden Expertinnen
mindestens einer Säule zuordnen lassen (siehe Tabelle 5). Neben eher theoretisch
fundierten Wissenschaftlerinnen waren in jeder Säule pragmatische Grenzgängerinnen
ebenso erwünscht wie organisatorisch verankerte Frauen, die Praxiswissen einbringen.
Bildung Medientechnologie Gesellschaftstheorie
Wissen-
schaft-
lerinnen
Interna-
tionale
Zu-
sammen-
setzung
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
Interna-
tionale
Zu-
sammen-
setzung
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
Interna-
tionale
Zu-
sammen-
setzung
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
Pragma-
tische
Grenz-
gängerin-
nen
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
Organisa-
torisch
verankerte
Personen
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
digitales
Netzwerk-
verständ-
nis
Tabelle 5: Zusammensetzung des Expertinnen-Stabs
Um über den in den theoretischen Ausführungen eher anglo-amerikanisch bzw.
europäisch geprägten Forschungsraum hinausschauen und die vermutete Web 2.0-
Kultur global evaluieren zu können, ist innerhalb der Säulen eine möglichst
internationale Zusammensetzung über alle Kontinente erwünscht. Zudem sollte allen
Beteiligten ein digitales Netzwerkverständnis gemeinsam sein, zumindest aus einer
konstruktiven Beobachtungsposition heraus, idealer Weise als sichtbare Aktive.
Um eine große Heterogenität der Expertinnen-Gruppe -i.S. der diversifizierten,
unabhängigen, dezentralisierten Kriterien der „Weisheit der Vielen“- zu erzielen, bietet
sich eine methodische Adaption an: Zunächst wird jeweils eine den angeführten
Kriterien entsprechende Person pro Säulensegment angeschrieben und gebeten, im
Schneeballverfahren jeweils bis zu zwei weitere Frauen für den internationalen
Expertinnen-Kreis zu benennen, die wiederum bis zu zwei weitere vorschlagen können
etc. pp. - bis maximal dreißig heterogene Expertinnen ihr Einverständnis zur
© acw ExpertInnen-Befragung 231
Teilnahme gegeben haben. Als Kriterienkatalog wird dazu gereicht, die Expertinnen
möglichst aus einem vergleichbaren Fachgebiet, aber mit anderem institutionellen
oder freien Hintergrund vom selben Kontinent auszuwählen. So könnte die kollektive
Intelligenz zumindest bei der Zusammensetzung maximal ausgereizt und eine in sich
heterogene Gruppe benannt werden.
4.2.4.2 KO N K R ETE AU S WA H L DER EXPERTINNEN
Gemäß der Planung wurde zunächst eine Expertinnen-Datenbasis aus den drei
Bereichen gesammelt und darauf geachtet, eine annähernd paritätische
Gleichverteilung zu garantieren. Als Fundgrube möglicher Kontaktpersonen erwiesen
sich global vernetzende, thematische Mailinglisten (z.B. Webheads), diverse Social
Networks auf verschiedenen Plattformen (z.B. EduBloggerWorld), etablierte
inhaltliche Aggregatoren auf Social Web-Basis (z.B. Global Voices), gezielte
thematische Suchanfragen in Suchmaschinen, Bookmarking-Diensten o.ä. (z.B. zu
UNO-Institutionen oder NGOs) und Konferenzseiten (z.B. OER Africa) als sehr
hilfreich. Potenzielle Expertinnen wurden per Google auf ihren persönlichen
Background hin geprüft und je nach konkreter Expertise in die Datenbank eingetragen.
Als Nadelöhr eines ausgeglichenen Panels erwies sich der regionale Zugriff. So stellt es
für die Autorin kein Problem dar, in relativ kurzer Zeit eine europäisch-
nordamerikanische fundierte Datenbasis zu sammeln. Um aber in allen
Themenfeldern eine weltgesellschaftliche Balance zu halten, musste einige Zeit
aufgebracht werden, um entsprechende Fachfrauen zu finden - was schließlich auch
gelang.
Im analytischen Rückblick durchlief die konkrete Expertinnen-Auswahl drei Wellen.
Der konkrete Verlauf der Kontaktaufnahme und Reaktionen kann dem Ablaufplan101
entnommen werden.
In einer ersten Welle wurden aus der regelmäßig aktualisierten Datenbasis neun
repräsentative Personen angeschrieben102 mit der Bitte, ihrerseits bis zu drei mögliche
Expertinnen vorzuschlagen. Als Starttermin war ursprünglich der 15. Januar 2010
gewählt. Zwei Personen sagten ihre Teilnahme zu, ohne weitere Personen zu
empfehlen. Eine E-Mail-Adresse verpasste ihr Ziel. Von den übrigen Expertinnen kam
keine Reaktion.
Einige Zeit später wurden in einem zweiten Durchlauf 16 neue Personen kontaktiert,
von denen vier Personen zeitnah zusagten. Von diesen vier Zusagen empfahlen zwei
Personen insgesamt drei potentielle Expertinnen, die umgehend kontaktiert wurden.
Gleichzeitig wurden die fehlenden Reaktionen des ersten Durchlaufs erneut
101 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.1
102 Vgl. Anschreiben Nr. 1 in Appendix, Kap. 8.2.2.1.2
© acw ExpertInnen-Befragung 232
angeschrieben,103 allerdings mit negativem Erfolg (zwei Absagen, viermal keine
Reaktion). Auch reagierten die Empfohlenen überhaupt nicht auf die Anfrage, obwohl
der persönliche Bezug betont wurde. Eine Woche später wurden weitere sechs
Personen erstmalig angefragt, von denen drei für den gewünschten Zeitrahmen
zusagten und eine Absage einging. Zugleich wurde bei einigen fehlenden Reaktionen
des zweiten Durchlaufs nachgefragt, die zur Zusage zweier Personen, einer Absage und
einer Nichtreaktion f ührte. Eine zugesagte Expertin empfahl drei weitere Personen,
die einige Tage später teilweise104 kontaktiert wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren 34
unterschiedliche Personen angeschrieben worden, von denen neun umgehend
zusagten, eine direkt absagte und drei der zugesagten Personen Empfehlungen für
andere Expertinnen aussprachen. Zehn Personen, die bislang nicht reagiert hatten,
erhielten eine erneute Nachfrage, auf die insgesamt zwei Zusagen und drei Absagen
eingingen. Keine der angeschriebenen Empfehlungen reagierte. Von 34 Personen lagen
demnach elf Zusagen und vier Absagen vor. Und das Empfehlungssystem im Sinne der
kollektiven Intelligenz versandete.
Daraufhin wurde eine dritte Welle initiiert, unterstützt durch ein modifiziertes
Anschreiben,105 das in Kooperation mit einer der Autorin bis dato unbekannten,
englischsprachigen Expertin entstand. In diesem neuen Anschreiben wurde auf die
direkte Empfehlung verzichtet, lediglich ein schwacher Verweis auf mögliche
alternative Expertinnen implementiert und der Starttermin auf den 1. Februar 2010
verschoben. Auf die Option, ggf. nur einzelne Fragen zu bearbeiten, wurde deutlich
hingewiesen. Ebenso wurde auf Nachfrage angeboten, erst einen Blick auf die Online-
Studie zu werfen und dann zu entscheiden, ob man sich aktiv beteiligen möchte. In den
nächsten zwei Wochen wurden 55 neue Personen kontaktiert, bei 39 Personen erneut
nachgefragt, bis insgesamt 30 Zusagen für die RTD-Studie vorlagen.
Im Fazit lässt sich konstatieren, dass von insgesamt 89 kontaktierten Personen drei E-
Mails aufgrund falscher Adressen nicht zugestellt werden konnten und bei 49 erneut
nachgefragt werden musste. Bei einer aufgrund der falschen E-Mail-Adressen
bereinigten cklauf-Quote der Reaktionen sagten 34,88% der angeschriebenen
Personen ihre Teilnahme zu. Zusätzlich sicherten zwei weitere Personen ihre
Teilnahme zu, sollte die Studie um einen Monat verschoben werden. Bei insgesamt 30
Zusagen (plus besagten 2) und zehn Absagen liegt die Rücklauf-Quote der Reaktionen
bei 48,84%.
Zur Expertise der zugesagten Expertinnen lässt sich festhalten:
Das internationale Bildungsregime mit nordamerikanischer Schlagseite schlägt sich in
den Biographien vieler Expertinnen nieder. Viele Personen weisen einen multi-
103 Vgl. Nachfrage in Appendix, Kap. 8.2.2.1.4
104 Wegen fehlendem thematischen Background
105 Vgl. Anschreiben Nr. 2 in Appendix, Kap. 8.2.2.1.3
© acw ExpertInnen-Befragung 233
kontinentalen Hintergrund auf, weil sie in den USA studierten.
Da die Auswahl der Expertinnen
u.a. entlang regionaler Kriterien
erfolgte, erschien es sinnvoll, die
regionale Vielfalt auch in der
Statistik mitzuführen und sie nicht
an einem einzelnen Kriterium der
Staatsbürgerschaft oder der
aktuellen Lokalisierung
festzumachen. Insofern erfolgte
eine erste manuelle Zuordnung der
Weltregionen entlang vorliegender
Erkenntnisse. In der Verteilung
der Zusagen für die tatsächliche
Studie weist diese schließlich eine
relative Gleichverteilung auf. Als Stichprobe dienen hier 37 Zuordnungen.
Hingegen ist bei der Verteilung der
drei zentralen gesellschaftlichen
Bereiche, die als Hintergrund für
die gewünschte Expertise gewählt
wurden, die institutionelle
Verankerung etwas
unterrepräsentiert. War es bereits
bei der Anlage der Datenbank
äußerst schwierig, persönlichen
Kontakt aufzunehmen zu zentralen
bildungspolitischen Institutionen
der UNO, einzelnen NGOs oder
sonstiger weltregionaler Instanzen,
so setzte sich dieses Kommunikationsdefizit fort, weil nur wenige Frauen in
entsprechenden Positionen zu finden sind und diese sich vielleicht -institutionell
begründet- mit dem Gegenstand der Untersuchung überfordert fühlten bzw. sich nicht
als potentielle Expertinnen sehen. Diese Erklärung ist allerdings spekulativ. Die
manuelle Zuordnung eines gesellschaftlichen Bereichs zu den einzelnen Personen
orientierte sich an dem primären Aktivitätsfeld, das die Expertise vor allem
begründete. Die Stichprobe beläuft sich hier auf 30 Personen.
© acw ExpertInnen-Befragung 234
Eine ähnliche Einschätzung ist
hinsichtlich der inhaltlichen
Expertise zu formulieren. Bei der
Anlage der Datenbank wurde
darauf geachtet, ein Panel an
bildungs- wie medienkompetenten
Personen zusammen zu stellen.
Während ein ausschließlicher
Bildungs- oder Medienhintergrund
je nach institutioneller Einbindung
als ausreichender Beleg der
gewünschten Expertise galt, musste
bei gesellschaftspolitisch Aktiven
oder sozialtheoretischen
Forscherinnen eine Affinität zu
bildungs- oder medienpolitischen Fragestellungen erkennbar sein. Von daher erfolgte
die manuelle Zuordnung zu den inhaltlichen Schwerpunkten oftmals doppelt und es
ergab sich eine Stichprobe von 49 Zuordnungen.
4.2.5 SPEZIFISCHES UNT E R S UCHUNGSDE S IGN
4.2.5.1 PLA N U N G DER RTD-STUDIE
Aufgrund der internationalen Anlage der Expertinnen-Gruppe (siehe Kap. 4.2.4.1)
wurde die RTD-Studie in englischer Sprache durchgeführt.
Als Software für diese Form der Echtzeit-Untersuchung eignet sich grundsätzlich die
RTD-Software des Millenium Projects,106 lässt aber aufgrund der etwas antiquiert
erscheinenden User Experience (UX) etwas zu wünschen übrig. Angesichts der im
Theorieteil analysierten Bedeutung der UX zur Motivation der gewünschten
Zielgruppen wurde insofern in dieser Studie ein konsequenter Open-Research-Ansatz
verfolgt und eine von der Autorin selbst generierte, webbasierte Lösung in der Cloud
realisiert. Zu diesem Zweck wurde eine Google-Umfrage für die RTD-Studie genutzt
bzw. in eine Google-Apps-Umgebung107 eingebunden, um die Expertinnen
gebrauchstauglich durch die Studie führen und ggf. eine nachhaltige Vorlage für
weitere Analysen aufbauen zu können.
Die zugesagten Delphi-ExpertInnen erhielten ein individuelles Synonym (person001
bis person030), mit dem sie sich in der Google Apps-Umgebung anmelden konnten, so
106 Siehe http://www.realtimedelphi.com/ (05.03.2011)
107 Siehe http://www.google.com/apps/ (05.03.2011)
Abbildung 10: Inhaltliche Expertise
© acw ExpertInnen-Befragung 235
dass die Anonymität der Beteiligten gewahrt blieb. Als Untersuchungszeitraum wurde
eine zweiwöchige Zeitspanne im Februar 2010 definiert. Innerhalb dieses
Zeithorizonts waren drei idealtypische Delphi-Runden angedacht: Runde 1 umfasste
die erste Untersuchungswoche, innerhalb derer alle Expertinnen möglichst ihre erste
Einschätzung eingeben sollten. Runde 2 umfasste grob die zweite
Untersuchungswoche, die für Ergänzungen aufgrund der Lektüre anderer
Expertinnen-Meinungen gedacht war. In einem abschließenden zweitägigen
Zeitfenster zum Ende der zweiten Woche konnten die Expertinnen ihre bisherigen
Bewertungen ggf. relativ synchron verändern und diskutieren.
Zum Starttermin der RTD-Studie wurden die Expertinnen angeschrieben108 und mit
der URL zur Online-Studie geleitet. Dort fanden sie alle erforderlichen Informationen
zu den Rahmenbedingungen der Untersuchung vor, den Fragenblock zu den einzelnen
Thesen (siehe Kap. 4.2.3.7), die bislang eingegangenen Ergebnisse anderer
Expertinnen und das eindeutig definierte Leitbild für das Jahr 2020, unter dessen
Gesichtspunkt die Thesen zu beurteilen waren (siehe Kap. 4.2.2).
Die in der Millenium-Software gegebene Möglichkeit, nach persönlichem Login
jederzeit die eigenen Angaben wieder einsehen und direkt korrigieren zu können,
konnte leider in dieser selbst konstruierten Anlage der Web-Studie nicht nachgestellt
werden. Nach ausgiebigen Recherchen im Software-Markt muss davon ausgegangen
werden, dass zum Zeitpunkt dieser Studie kein weiterer professioneller Anbieter einer
schlüsselfertigen RTD-Software existiert. Insofern die Schnittstellen zu der hier
präferierten, kostenfreien Cloud-Lösung offen sind, ist darauf zu hoffen, alsbald mit
einem ähnlich funktionierenden Modus auch in dieser Anlage rechnen zu können. Für
dieses konkrete Untersuchungsdesign stellt dieses fehlende Merkmal allerdings ein
wesentliches Manko dar, um die positiven Aspekte einer in Echtzeit zu vollziehenden
Veränderungsdynamik vollends auszureizen. Die bisherigen Ergebnisse kompakt in
unmittelbarer Nähe zum Fragenblock zur Einsicht bereitzustellen, ist eine kleine, wenn
auch nicht abschließend zufrieden stellende Alternative. Gleichwohl stellt diese
Inkonsistenz kein allzu großes Problem dar: Im oben angeführten Vergleich von RTD-
Analysen zu klassischer Delphi-Methode war ein maßgebliches Ergebnis, dass die
Fragen in RTD-Analysen zumeist nur einmal, dafür aber wesentlich intensiver
bearbeitet werden (siehe Kap. 4.1.2.3).
Insofern wurde dieses Manko in Kauf genommen und durch begleitende Maßnahmen
abgeschwächt. So sollten Expertinnen über die modulare Navigationsstruktur jederzeit
die Möglichkeit haben, die Untersuchung individuell zu unterbrechen und diese zu
einem späteren Zeitpunkt mit einem weiteren Themenblock fortzuführen. Zudem
wurden Möglichkeiten des selbstorganisierten Diskurses geboten, indem ein Forum in
Form einer offenen Google Group kontextuell angebunden wurde, auf das alle
108 Vgl. Anschreiben zum Start der RTD-Studie im Appendix, Kap. 8.2.2.1.5
© acw ExpertInnen-Befragung 236
Expertinnen jederzeit zugreifen konnten. Auch sollte während des
Untersuchungszeitraums ein persönlicher Kontakt der Autorin zu den einzelnen
Expertinnen aufgebaut werden, um über diese direkte Kommunikation auf offene
Punkte oder unklare Positionen der individuellen Bewertung hinweisen zu können.
4.2.5.2 DURCHFÜHRUNG DE R RTD-ST U D I E
Unter der URL http://edufuture.info wurde eine kostenfreie Basisversion von Google
Apps eingerichtet. Dort liess sich für die Studie eine Website unter dem Titel
„acwDelphi“ anlegen, die alle erforderlichen Informationen für die Expertinnen
bereithielt. Gleichzeitig konnte für jede einzelne Expertin eine persönliche ID (z.B.
person000@edufuture.info) mit einem per Zufallsgenerator erstellten Passwort bereit
gestellt werden.
Die Website109 selbst wurde für das konkrete Untersuchungsdesign entwickelt und
erstreckte sich insgesamt über dreizehn Seiten mit unterschiedlichen
Themenscherpunkten, die auf der Einstiegsseite („Home“) zusammengeführt wurden.
Neben dem „Research Design“
(Vorstellung der Zielsetzung und der
Methode) umfasste die Navigation einen
Kalender für die RTD-Studie als „Research
Dates“, einige Informationen zur Autorin
unter „Researcher“, eine Kontaktseite
(„Contact“), einen Nachrichtenbereich für
aktuelle Messages“ und die eigentliche
Untersuchung („Survey“), aufgefächert in
die 6 Themenfelder (Topic A bis Topic F)
und eine Seite, um die persönlichen Daten
der Expertinnen statistisch aufzunehmen.
Auf der „Survey“-Seite wurde das zentrale
Leitbild angezeigt und eine kurze
Einführung in das konkrete
Untersuchungsdesign geboten, für die
Personen, die sich zu diesem Zeitpunkt
noch nicht mit dem ausführlicheren
„Research Design“ beschäftigt haben.
Zudem wurden die Expertinnen darauf hingewiesen, dass sie jederzeit ihre bisher
getätigten Aussagen modifizieren oder ergänzen nnen, indem sie erneut ihre ID
angeben und die Autorin die Ergebnisse in der Analyse manuell zusammenführt.
109 Vgl. den Screenshot im Appendix, Kap. 8.2.3
© acw ExpertInnen-Befragung 237
Webanzeige der Survey-Startseite inkl. Leitbild nach dem Pretest
(in english)
Survey
Imagine the year 2020. In addition to technological access, some personal abilities
are required to be part of the network society. Let's assume, user generated
environments will dominate the digital landscape. How many persons would be
ready for this adventure? And where do we find the political levers to allow as many
people as possible enjoying the digital networks and global information and
communication flows? These are the questions, I try to get your appraisals in these
following short questionnaires. If you like to get more background, please have a
look at my Research Design.
The survey is divided into two areas:
1. In the content area expert opinions are desired to 6 assumptions. Each
assumption refers to a different topic and includes always the same 6 questions
(self-assessment & your appraisals) and 1 comment box. The assumptions are
delivered in separate forms, so you can always interrupt your activity and can
resume at a later stage with the next assumption. If you like to modify your
previous answers, please choose the form again and evaluate the desired
questions - we will merge your answers manually. Please select in every form
your personal identification number.
Topic A: Individual (with Assumption A)
Topic B: Workflow (with Assumption B)
Topic C: Media Environments (with Assumption C)
Topic D: Usability (with Assumption D)
Topic E: Transparency (with Assumption E)
Topic F: space of flows (with Assumption F)
2. In the personal area, we ask for a few statistical data regarding your person.
Personal statistic
Jedes einzelne Themenfeld (Topic A bis Topic F) strukturierte sich entlang des immer
gleichen Aufbaus110. Zunächst erfolgte die spezifische thematische Einführung, gefolgt
von der komplexen These („Assumption“) und dem standardisierten Fragenblock
(„Questionnaire“)111. Unmittelbar darunter konnte jede Expertin jederzeit die bislang
110 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.4
111 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.5
© acw ExpertInnen-Befragung 238
eingegangenen Antworten anderer Expertinnen einsehen112 oder per direktem Link in
das betreffende Diskussionsforum springen113. Hingegen wurden im persönlichen
Bereich vertrauliche Daten der einzelnen Expertinnen gesammelt, die in keinem
Ergebnisfenster angezeigt wurden - ansonsten war der strukturelle Aufbau der Seite
mit denen der Themenfelder identisch.
Um in der Untersuchung die Aussagen einzelner Expertinnen ggf. über mehrere
Themenfelder hinweg zusammenführen und analysieren zu können, wurde darum
gebeten, in jedem einzelnen Fragenblock aus dem vor dem „Submit“-Button gelegenen
Auswahlfenster die persönliche ID auszuwählen und erst dann die Ergebnisse
abzusenden. Nach Betätigen diesen Buttons wurde den Expertinnen das bisherige
Ergebnis aller bislang eingegangenen Antworten angezeigt, im Gegensatz zu dem
darunter liegenden Anzeigenfeld jetzt aktualisiert um die eigenen Angaben.
4.2.5.3 ZEITLICHER ABLAUF D E R RTD-ST U DIE
Datum Nachfrage Anschreiben Reaktion
17.12.09 -
29.01.10
Expertinnen-Suche Appendix,
Kap. 8.2.2.1
30 OK
14.01.10 Ankündigung einer
Verschiebung des Starts
15.01.10 Ursprünglich geplanter
Start der RTD-Studie
08.01.10 -
31.01.10
Pretests mit 2 Personen
01.02.10 Start der RTD-Studie mit
1. E-Mail
Appendix,
Kap. 8.2.2.1.5
3 E-Mails
112 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.6
113 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.7
© acw ExpertInnen-Befragung 239
05.02.10 Nachfrage, Stand der Dinge
& Motivation mit 2. E-Mail
Appendix,
Kap.
8.2.2.1.6
Kap. 8.2.2.1.7
5 E-Mails
11.02.10 +
12.02.10
Zusammenfassung &
persön-liche Nachfrage mit
3. E-Mail
Appendix,
Kap.
8.2.2.1.8
5 E-Mails
14.02.10 Offizielles Ende der RTD-
Studie
24 Unique
Visitors
15.02.10 -
16.02.10
Nachbearbeitung einzelner
Beiträge
+1 Unique
Visitor
Nachdem 30 Expertinnen ihre Beteiligung zugesagt hatten und ein inhaltlicher Pretest
mit zwei Personen zu einigen sprachlichen Veränderungen geführt hatte, konnte die
eigentliche RTD-Studie am Montag, dem 1. Februar 2010 starten. Per E-Mail wurden
die Expertinnen zur Studie geleitet und eine kurze Anleitung formuliert, wie man
persönlich den Einstieg findet. Jede Person erhielt ihr persönliches Login, bestehend
aus dem anonymisierten Benutzernamen und einem zufallsgenerierten Passwort. Mit
dieser persönlichen Kombination konnte sich jede Expertin zu jedem gewünschten
Zeitpunkt innerhalb des Untersuchungszeitraums auf der Website einfinden.
Einige Tage nach dem Studienstart (Freitag, den 5. Februar 2010) wurde eine
allgemeine Erinnerungsmail an alle Expertinnen gesendet, die vor allem der
Motivation dienen sollte.114 Zum einen für diejenigen, die bislang noch nicht den Weg
auf die Website gefunden hatten, und zum anderen für diejenigen, die bereits aktiv
waren, als Reminder zum Start der zweiten Delphi-Welle. Eine knappe Woche später
(Donnerstag, den 11. Februar und Freitag, der 12. Februar) wurden die bislang
eingegangenen Ergebnisse zusammengefasst und mit einer persönlichen Nachfrage an
die bislang aktiven Expertinnen hinsichtlich offener Punkte versehen.115 Am 15.
Februar endete die offizielle Untersuchung, allerdings aufgrund der unterschiedlichen
Zeitzonen mit einem schleichenden Ende bis zu 1 Tag später, um persönliche
Korrekturen oder Ergänzungen noch auf Anfrage mit in die Untersuchung einbeziehen
zu können.
114 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.2.1.7
115 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.2.1.8
© acw ExpertInnen-Befragung 240
4.3 ERGEBNISSE DER REAL-TIM E -DELPHI-UN T ERSUCH U NG
4.3.1 BETEILIGUNG DER EX PERTINNE N
4.3.1.1 BETEILIGUNG I M ALLGE M E I N EN
Zu Studienbeginn wurde für die statistische Auswertung des Zugriffs auf die RTD-
Studie Google Analytics aktiviert, basierend auf der deutschen Zeitzone. Anhand der
dort erhobenen Statistiken lassen sich verschiedene Indizes feststellen. So wurde von
allen Kontinenten auf acwDelphi zugegriffen (siehe grün markierte Staaten in
Abbildung 12):
Und entlang der gespeicherten Cookies kann die Anzahl der Besucherinnen der
Website pro Tag eindeutig ausgelesen werden - sofern die Cookies nicht gelöscht oder
ein anderer Rechner für den Zugang gewählt wurden (vgl. Abbildung 13).
© acw ExpertInnen-Befragung 241
Insgesamt konnten im Untersuchungszeitraum 25 Personen auf den Websites der
acwDelphi-Studie identifiziert werden. Abzüglich der ID der Autorin haben wenigstens
24 Personen mindestens einen Blick auf die Untersuchung geworfen. Diese Anzahl
korrespondiert auch mit den Rückläufen, die per Dateneingabe in den Fragenblöcken
oder per E-Mail-Reaktion manuell mitzuzeichnen waren.
Verglichen mit der Analyse der 64 Gesamtbesuche auf der Website lässt sich
feststellen, wie zur Mitte der zweiten Woche einige Expertinnen erneut die Studie
besuchten. Dabei verbrachten die Besucherinnen der Studie insgesamt
durchschnittlich 20:29 Minuten auf der acwDelphi-Website (sofern sie nicht die Studie
in einem geöffneten Browser-Fenster im Hintergrund geöffnet liessen und diese erst zu
einem späteren Zeitpunkt schlossen).
Über alle hier angeführten Analyseschritte lässt sich demnach konstatieren, dass die 3.
E-Mail -mitsamt der aufgelaufenen groben Ergebnisse und den individuellen
Nachfragen an die bislang Aktiven- offenbar wenige Impulse aussandte, sich in einem
abschließenden Verfahren mit den bislang zusammengetragenen Ergebnissen zu
beschäftigen. Lediglich 5 Personen reagierten überhaupt auf diese E-Mail.
© acw ExpertInnen-Befragung 242
4.3.1.2 BETEILIGUNG I M BESONDEREN
Innerhalb des zweiwöchigen Untersuchungszeitraumes haben sich von den 30
zugesagten Expertinnen (blau markiert in den folgenden Infografiken) insgesamt 20
Personen an der tatsächlichen RTD-Studie beteiligt (rot markiert). Während zu fünf
zugesagten Expertinnen keine weitere Kontaktaufnahme möglich war, führten die
anderen zeitliche Engpässe (1) und Zugangsprobleme zum Internet (1) und zum
Fragebogen (1) an. Bei zwei Personen, zu denen Kontakt bestand, wird u.a. ein
Problem mit dem Studiendesign vermutet, so dass von diesen keine Eingaben
erfolgten.
Von den 20 aktiven Personen beteiligten sich 14 Expertinnen mit (fast) allen
Themenblöcken und sechs partiell mit einzelnen Themen. Auch bei den selektiv
Aktiven wurden Zeitprobleme (3) als primäre Gründe angeführt. Die anderen
Personen äußerten sich nicht direkt zur Studie. Aufgrund vorhergehender E-Mail-
Korrespondenzen wird vermutet, dass sie keine Aussage zu Themen treffen wollten, in
denen sie sich keinerlei Expertise zutrauten.
Im Fragenblock zur persönlichen Statistik konnten die Teilnehmerinnen angeben, in
welchen Kontinenten sie bereits gelebt haben, welchen gesellschaftlichen Bereichen sie
sich selbst zuordnen würden und in welchen Themenfeldern sie ihre Expertise sehen.
An dieser persönlichen Statistik beteiligten sich 13 Personen. Die aggregierten Daten
dieser Selbstzuschreibungen mit den von der Autorin erfolgten Zuordnungen für alle
übrigen Teilnehmerinnen, die hier keine persönliche Aussage trafen, sind in den drei
folgenden Infografiken jeweils gelb markiert.
Bei der subjektiven Einschätzung der individuellen Bearbeitungsintensität kann eine
enge Korrelation zur Teilnahme an der persönlichen Statistik identifiziert werden.
Sofern die Aussagen besonders aktiver Teilnehmerinnen einer gesonderten Analyse
bedurften, seien diese in den hier
folgenden Infografiken grün
markiert.
Beim Vergleich der vier
unterschiedlich aktiven Gruppen
lässt sich allerdings kaum eine
Verschiebung der regionalen
Verteilung wahrnehmen. Im Großen
und Ganzen ist diese über alle
Bezugsgrößen relativ ähnlich
verteilt.
Bei der Zuordnung zu den
gesellschaftlichen Bereichen ist
© acw ExpertInnen-Befragung 243
dagegen eine deutliche Verschiebung zu erkennen. Während des Pretests wurde
konstatiert, dass der gewählte Begriff des pragmatischen Grenzgangs für
Teilnehmerinnen schwierig nachzuvollziehen ist. In der Folge wurden die drei
ursprünglichen Bereiche in
der konkreten Befragung in
fünf Segmente unterteilt,
um sie hier in der Analyse
wieder auf drei
zurückzuführen. In der
eigentlichen RTD-Studie
konnten sich die
Teilnehmerinnen dann als
Forscherin, Lehrende,
Aktivistin, Geschäftsfrau
und/oder als Akteurin für
eine Institution
charakterisieren. Zudem
wurden weitere Berufsbezeichnungen über die Rubrik „Sonstiges“ eingetragen:
Journalistin, Beraterin und Lebenslang Lernende sind als weitere Beschreibungen
hinzugefügt worden. Die statistische Zuordnung der einzelnen Selbstzuschreibungen
erfolgte für die Statistik entlang der Tabelle 6:
Wissenschaft Grenzgang Institution
Forscherinnen x
Lehrende x
Aktivistinnen x
Geschäftsfrauen x
Akteurin für eine
Institution
x
Journalistin x
Abbildung 15: Zuordnung zu Bereichen in acwDelphi
© acw ExpertInnen-Befragung 244
Wissenschaft Grenzgang Institution
Beraterin x
Lebenslang
Lernende
x
Tabelle 6: Berufliche Herkunft der ExpertInnen
Diese Tabelle erklärt, warum die Kategorie der institutionellen Aktivität aufgrund der
persönlichen Befragung relativ stark anschwoll. Während sich keine der
Teilnehmerinnen als Akteurin für eine Institution verstand, wohl aber sehr viele der
aktiven Befragten sich als Lehrende bezeichneten, ist diese Kategorie deutlich
angestiegen im Verhältnis zum vermuteten Expertinnen-Panel. Hingegen sank der
Anteil der pragmatischen Grenzgängerinnen bei den wirklich Aktiven deutlich.
Forschung und Lehre sind die beiden Bereiche, die diese Untersuchung entscheidend
prägen. Die als Grenzgängerinnen eingestuften Teilnehmerinnen nutzten hingegen
häufig die Option, lediglich einzelne Fragenblöcke entsprechend der selbst
zugeschriebenen Kompetenz zu bearbeiten und sich weniger umfassend allen Themen
zu widmen.
Demgegenüber hat sich in der Verteilung der inhaltlichen Expertise über die vier
verschiedenen Graphen wenig verändert (siehe Abbildung 16). Zwar differenzierten
einige Expertinnen ihre Qualifikation über die Rubrik „Sonstiges“. Für die Analyse
wurden allerdings „Design“ zur Medientechnologie hinzugerechnet und
„Journalismus“, „Frauenstudien“ und „politische Entwicklung“ den Sozialtheorien.
Wie sich aus der persönlichen
Zuordnung zu den
gesellschaftlichen Bereichen
bereits ableiten liess, stehen
Bildung und Medientechnologien
deutlich im Vordergrund der
Expertise. Einige
sozialtheoretische Reflektionen
sind gleichwohl über das Panel zu
erwarten.
© acw ExpertInnen-Befragung 245
4.3.2 METHODISCHES FA Z I T ZUR RTD-ST U D I E
Von 89 angeschriebenen Expertinnen beteiligten sich inhaltlich exakt 20 Personen an
der RTD-Studie, die gleichwohl allen in Kap. 4.2.4.1 formulierten Anforderungen
genügten. Es handelte sich um eine heterogene, internationale Frauen-Gruppe mit
Netz-Kompetenz aus den drei thematischen Säulen Bildung, Medientechnologie und
Gesellschaftstheorie, die sich den gesellschaftlichen Bereichen Wissenschaft,
pragmatische Grenzgängerinnen und organisatorisch verankerte Personen zuordnen
liessen.
Gründe, warum sich nicht mehr Personen beteiligten, reichen von zeitlichen
Engpässen über Schwierigkeiten mit dem Untersuchungsdesign aufgrund selbst
eingeschätzter mangelnder Expertise bis hin zu Usability-Problemen beim Zugang zur
Studie aufgrund der geschlossenen Google-Anwendung und der von Google Sites
wenig gebrauchstauglich angelegten Login-Seite, die keinen direkten Weg zur Studien-
URL ermöglichte. Zudem wurde von vielen angefragten Frauen der individuelle
Beitrag zur kollektiven Intelligenz mangels expliziter interdisziplinärer Kompetenz in
diesem Themenfeld offenbar nicht gesehen. Insofern sie sich nicht als explizite
Expertinnen sehen, fühlten sich einige als falsche Ansprechpartnerinnen. Ein weiterer
Punkt waren Internetprobleme, die einzelne Expertinnen zu verzeichnen hatten, sei es
aufgrund ihrer regionalen, schlechten Anbindung (z.B. in Afrika) oder da mobile
Zugänge auf Reisen fehlten.
Aufgrund der heterogenen Anlage der Studie und den sehr komplexen Thesen vor
einem fiktiven Leitbild für das Jahr 2020 sprach sich die Mehrheit der Befragten eine
mittelmäßige Expertise zu. Dabei erfolgte die individuelle Einschätzung sowohl der
eigenen Expertise wie auch der prozentualen Durchdringung in den einzelnen
Kontinenten je nach individuellem Charakter entweder durchgängig optimistisch oder
pessimistisch. Inwiefern bei einem vergleichbaren Männer-Panel die
Selbsteinschätzung anders ausfiele, bliebe einer weiteren Studie vorbehalten. Über die
Kommentierungsfunktion in der persönlichen Statistik wurde u.a. die explizite
Konzentration auf ein weibliches Panel als Grund für die eigene Teilnahme angeführt.
Jedoch bleibt festzustellen, dass der erwünschte kommunikative Aspekt zwischen den
Expertinnen ausblieb. Zwar wurde die Anzeige des bisherigen Gesamtergebnisses pro
These sehr positiv aufgenommen und die einzelnen Personen verglichen ihren
Standpunkt mit denen der anderen, eine nachträgliche Korrektur der eigenen
Ansichten oder gar ein Diskurs im bereit gestellten Diskussionsforum erfolgte aber
nicht. Dieses methodische Ergebnis schliesst an die Forum-Erfahrungen der Autorin in
anderen Online-Settings an. Es bedarf eines sehr hohen Engagements und eines
oftmals externen Impulses, um eine anonyme Diskussion anzuregen. Dieses Manko
hätte ggf. über eine an die Milleniums-Software angelehnte technologische Lösung
minimiert werden können - das hier über eine kostenfreie Web-Software realisierte
© acw ExpertInnen-Befragung 246
Verfahren liess unter den gegebenen zeitlichen Beschränkungen leider keine weitere
Integration der Daten zu. Es obliegt weiteren Initiativen, hier adäquate technologische
Lösungen für die Forschung bereitzustellen, um diskursive Echtzeit-Ergebnisse einer
vernetzten Webgesellschaft erzielen zu können.
Auch der persönliche Bezug zwischen Autorin und Expertinnen erfolgte nicht in dem
gewünschten Ausmaße, so dass der Versuch, über eine kurz vor Studien-Ende
formulierte grobe Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse zuzüglich persönlicher
Fragestellungen die synchrone Bearbeitung zu initiieren, weitestgehend erfolglos
verlief. Zwar konnte im Vorfeld und im Verlaufe des Untersuchungszeitraumes mit
vielen Expertinnen ein persönlicher Austausch per E-Mail aufgebaut werden -
allerdings behandelten die Inhalte ausschließlich methodische Fragestellungen und
Diskussionen. Insofern bestätigt diese RTD-Studie vom methodischen Verlauf her das
analytische Ergebnis des Vergleichs von Delphi- mit RTD-Studie (siehe Kap. 4.1.2.4).
Als Vermutung für das Ausbleiben weiteren Engagements kann die Hypothese
aufgestellt werden, dass das Zeitbudget, das Expertinnen dieser RTD-Studie
zubilligten, bereits ausgeschöpft war nach dem ersten Durchlauf. Die intensive
Beschäftigung mit den sechs komplexen Thesen und der Aufbau eines eigenen
Standpunktes ist je nach eigener Expertise als sehr aufwändig einzustufen. Derartige in
die Zukunft gerichtete Komplexität, die weniger als Fortführung bereits identifizierter
Faktoren, sondern als grundsätzliche strukturelle Rekonfiguration der
Ausgangsbedingungen des Denkens verstanden werden muss, ist anstrengend und nur
bedingt über eine Delphi-Studie zu verifizieren.
In den Kommentaren zur persönlichen Statistik wurde an kritischen Punkten von einer
Person die eigene, fehlende Expertise thematisiert. Eine andere Person stellte in Frage,
ob die szenarischen Einführungen eventuell relevanter für die Industriestaaten seien
als für die Entwicklungsländer. Auch meinte sie die komplexen Thesen seien schwierig
zu unterscheiden, zumal innerkontinentale Unterschiede damit nicht zu fassen seien.
Und innerhalb eines Zeitrahmens von 10 Jahren wären zudem kaum große
Veränderungen realisierbar. An positiven Punkten wurde neben der Genderbrille von
drei Personen das Untersuchungsdesign mitsamt seiner Online-Realisierung als sehr
gelungen hervorgehoben.
Insofern muss konstatiert werden, dass der kommunikative Aspekt einer Delphi-
Studie in dieser RTD-Analyse nicht optimal ausgereizt wurde, aber der Zielsetzung des
Untersuchungsdesigns keinen Abbruch tut. Denn das methodische
Kommunikationsdefizit wird bekanntlich durch eine intensivere Beschäftigung im
ersten -und oftmals einzigen- Durchgang wettgemacht. Und da die hier vorliegende
RTD-Studie gar nicht zum Ziel hatte, eine konsensuale Zusammenführung der
Expertinnen zu generieren, ist dieser Aspekt der mangelnden Kommunikation -im
Sinne der wechselseitigen Reaktion- zu vernachlässigen. Intention dieser RTD-Studie
© acw ExpertInnen-Befragung 247
war eine möglichst heterogene Einschätzung der komplexen Thesen mit dem zentralen
Ziel, mögliche bildungspolitische Ansätze zu identifizieren, die ggf. über die
internationale Ebene unterstützt werden könnten. Insofern es sich bei der Anlage
dieser Studie um ein Foresight- und nicht um ein Forecast-Instrument handelte, sind
einige interessante Ergebnisse generiert worden. Diese RTD-Studie kann von daher als
qualitative Methode gelesen werden.
4.3.3 INH AL TL IC H ES FAZIT MIT D E N ZUSAMM E N G EFÜHRTE N
ERGEBNISSEN
Zum Schluss des 3. Kapitels wurden 18 individuelle Fähigkeiten angeführt, derer es
unter personalisierten UX-Gesichtspunkten bedarf, um vergnügliche Flow-
Erfahrungen zu generieren (siehe Kap. 3.4.2). Diese Fähigkeiten wurden im
Thesenkatalog (Kap. 4.2.3) operationalisiert, um sie mittels eines standardisierten
Fragenkatalogs seitens ausgewählter Expertinnen einschätzen zu lassen. Die
Einzelergebnisse der RTD-Studie sind im Appendix detailliert ausgeführt.116 Auch
werden dort die von den Expertinnen angeführten bildungspolitischen Möglichkeiten
für die einzelnen Flow-Kategorien zusammengefasst und hinsichtlich einer möglichen
Beantwortung der offenen Fragen aus Kap. 3.4.3 interpretiert.117 An dieser Stelle
interessieren eher die aggregierten Trendannahmen, die über das gesamte Panel zu
abstrahieren sind.
Aus dem nun folgenden Abgleich des inhaltlichen Gesamtergebnisses über alle Flow-
Kategorien mit den einzelnen Resultaten pro Flow-Kategorie lässt sich die
Wirksamkeit einzelner bildungspolitischer Maßnahmen aus Sicht der Expertinnen gut
einschätzen, um möglichst vielen Menschen bis zum Jahre 2020 einen Weg zur
aktiven Teilhabe an der Netzwerkgesellschaft zu ermöglichen. Um diese Ergebnisse in
die Theorie(n) internationaler Bildungspolitik einordnen zu können, erfolgt an dieser
Stelle zunächst eine nüchterne Zusammenfassung der RTD-Ausbeute. Erst im
folgenden Kapitel 5 wird dieses Resultat innerhalb der globalen, bildungspolitischen
Rahmenbedingungen interpretiert. Aus diesen abschließenden Schlussfolgerungen
lassen sich dann ggf. bildungspolitische Handlungsalternativen in Gestalt alternativer
Szenarien ableiten.
116 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.8
117 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.12
© acw ExpertInnen-Befragung 248
4.3.3.1 LEITBILD-RELEVANZ FÜR WELTBEVÖLKERUNG -
STATUS QU O
Erfolgen bis 2020 keine Veränderungen der aktuellen Rahmenbedingungen, sehen die
Expertinnen die Hälfte der globalen Menschheit in der Lage, sich in
benutzergenerierten, digitalen Umgebungen bewegen zu können. Wird das Ergebnis
als Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Schichten interpretiert, so werden in allen
Kontinenten einzelne Schichten -mit je unterschiedlicher Breite- überdurchschnittlich
gut vorbereitet sein auf das Leitbild, während gleichzeitig in allen Weltregionen eine
Schicht der Exkludierten existiert.
Im Vergleich zu den einzelnen Flow-Kategorien lassen sich folgende, gravierendere
Unterschiede identifizieren:
Afrika, Asien, Ozeanien/Australien und Südamerika sind bei der Flow-Kategorie
Person unterdurchschnittlich vorbereitet für die aktive Nutzung
benutzergenerierter, digitaler Umgebungen.
Hinsichtlich des Workflows können kaum abweichende Werte zum Gesamtbild
identifiziert werden - bis auf Asien, deren diesbezügliche aktuelle Befähigung
bereits sehr hoch eingeschätzt wird.
Im Bereich der Medienumgebung wird ebenfalls die asiatische Kompetenz sehr
hoch eingeschätzt, während sich in Ozeanien/Australien zwei gleich starke
Fraktionen aufbauen: Die eine Hälfte ist unterdurchschnittlich bereit für das
digitale Jahr 2020 und die andere Hälfte überdurchschnittlich.
Die Fähigkeit zur selbstgesteuerten Usability wird im Vergleich zum
Gesamtergebnis in Asien etwas geringer und in Afrika etwas höher eingeschätzt.
Auf transparente Strukturen hinzuwirken, wird für alle Weltregionen skeptischer
eingeschätzt als das Gesamtergebnis - in der regionalen Verhältnismäßigkeit
verändert sich allerdings kaum etwas.
Den space of flows aktiv mitzugestalten wird für Afrika derzeit sehr kritisch und für
Europa etwas kritischer eingeschätzt als im Gesamtbild.
4.3.3.2 MÖGLICHE HE M M F A K T O REN ZU R REALISIERUNG DES
LEITBILDES
An Hemmfaktoren identifizierten die Expertinnen ein Gesamtbild, das sich von fast
allen einzelnen Flow-Kategorien in mindestens einem Punkt unterscheidet.118
Innerhalb des Expertinnen-Panels unterscheiden sich die Sichtweisen auf die
118 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.9, Tabelle 8
© acw ExpertInnen-Befragung 249
Hemmfaktoren je nach individuellem Background.119 Abgesehen von einer weitgehend
einhelligen Meinung den rechtlichen Rahmenbedingungen gegenüber differiert die
Gewichtung teilweise erheblich.
1. Die im Gesamtbild führend verantwortlich gemachten sozio-kulturellen Werte und
Praktiken üben einen deutlich geringeren Einfluss auf die Herausbildung einer
autotelischen Persönlichkeit aus. Sie werden generell eher von institutionellen
Bildungsmenschen und grenzgängerischen Sozialtheoretikerinnen als wesentlicher
Hemmfaktor angeführt. Hier sind sich alle Weltregionen sehr einig.
2. Ökonomischer Druck wird von allen Expertinnen-Fraktionen bis auf die
Sozialtheoretikerinnen als Hemmfaktor hoch eingeschätzt, warum nicht weitere
Kreise der globalen Menschheit auf das Leitbild 2020 vorbereitet sind. Allerdings
wird dem ökonomischen Druck ein deutlich geringerer, hemmender Einfluss
zugeschrieben hinsichtlich der Ausbildung transparenter Strukturen - wenn dort
überhaupt, dann vor allem seitens der Wissenschaftlerinnen. Insgesamt wurde
dieser Faktor vor allem von afrikanischen, asiatischen und nordamerikanischen
Expertinnen als dominierend gekennzeichnet.
3. Politische Mechanismen hemmen nach Ansicht der (medientechnologischen)
Expertinnen v.a. mit wissenschaftlichem Hintergrund deutlicher als im Gesamtbild
die Kompetenz, die Medienumgebung an die eigenen Bedürfnisse anzupassen und
mitzugestalten. Hingegen scheinen sie kaum Einfluss auf die Gestaltung des
Workflows auszuüben - darin sind sich alle einig. Vor allem in Europa, Nord- und
Südamerika kommt diesem Faktor eine überdurchschnittliche Bedeutung zu.
4. Im sozio-technologischen Wandel wird ein größerer Hemmfaktor gesehen
hinsichtlich der Gestaltung der Medienumgebung. Vor allem
Sozialtheoretikerinnen räumen diesem Faktor einen erheblichen Einfluss ein.
Kaum beeinflusst die Technologie die Ausbildung einer autotelischen
Persönlichkeit (und wenn, dann hier v.a. von Bildungsmenschen als Hemmfaktor
identifiziert) und den Aufbau transparenter Strukturen. Der Sozio-Technologie
wird v.a. in Asien und Ozeanien/Australien ein hoher Stellenwert beigemessen.
5. Die persönlichen Voraussetzungen, die vorzugsweise von institutionellen
Bildungsmenschen und grenzgängerischen Sozialtheoretikerinnen als Hemmfaktor
angeführt werden, hemmen deutlich stärker den Workflow und den Aufbau einer
benutzerangepassten Medienumgebung als das Gesamtbild. Auch der Ausbildung
einer flowfähigen Persönlichkeit stehen mitunter die persönlichen
Voraussetzungen entschiedener entgegen. In Europa wird den persönlichen
Voraussetzungen eine große Bedeutung zugestanden, etwas geringer in
Nordamerika und unauffällig in anderen Weltregionen.
6. Dem sozialen Umfeld messen die Expertinnen fast durchgängig einen weniger
119 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.9, Tabelle 9
© acw ExpertInnen-Befragung 250
entscheidenden Einfluss bei. Lediglich die Sozialtheoretikerinnen sehen hier einen
wesentlich entscheidenderen Hemmfaktor. Verhältnismäßig wird diesem Faktor
von den Asiatinnen und Afrikanerinnen eine größere Bedeutung zugeschrieben.
7. Noch weniger Einfluss wird den rechtlichen Rahmenbedingungen beigemessen.
Das Recht steht lediglich dem Aufbau transparenter Strukturen entgegen - aber
dies sehr deutlich und von allen Fraktionen gleichermaßen so bewertet. In diesem
Bereich sehen -wenn überhaupt- vor allem Europäerinnen einen Hemmfaktor für
die weitere Entwicklung in Richtung des Leitbildes.
4.3.3.3 BILDUNGSPOLITISCHE MASSNAHMEN Z U R REALISIERUNG
DES LEITBILDES
Vor diesem Hintergrund generierten die Expertinnen über alle Flow-Kategorien
hinweg eine Reihenfolge bildungspolitischer Maßnahmen, die erforderlich wären, die
hemmenden Faktoren ab- und die gewünschten Flow-Komponenten aufzubauen. Die
Gewichtung der Maßnahmen variiert dabei entlang einzelner Flow-Kategorien120 und
je nach persönlichem Background der Expertinnen.121
1. Mit dem Ausbau des technologischen Zugangs lassen sich bildungspolitisch große
Hürden abbauen, die einer Befähigung weiterer Teile der globalen Menschheit
entgegen stehen, sich für das Leitbild 2020 vorzubereiten. Alle Weltregionen und
Expertinnen-Cluster räumen dieser Maßnahme einen Top 3-Rang ein. Inhaltliche
oder gesellschaftliche Fraktionen lassen sich in dieser Einschätzung kaum
identifizieren. Lediglich zur Transparenz wird der technologische Zugang -nach
einhelliger Meinung- nur nachrangig beitragen können.
2. Auch der Zivilgesellschaft kommt eine große bildungspolitische Bedeutung zu,
wesentliche Hemmfaktoren abzubauen - zumindest wird diese Ansicht
vorzugsweise von Bildungsmenschen und Sozialtheoretikerinnen aus der
Wissenschaft und den Institutionen vertreten, allerdings weniger aus afrikanischer
und nordamerikanischer Sicht. Aber diese Maßnahme unterstützt nicht den
Aufbau einer autotelischen Persönlichkeit und die Befähigung, die persönliche
Umgebung nachhaltig gebrauchstauglich zu gestalten - da sind sich fast alle einig.
3. Soziales Lernen zu fördern, setzt bildungspolitisch vor allem einen Impuls bei der
Optimierung persönlich angepasster Workflows, darin sind sich
Medientechnologinnen und Bildungsmenschen aus der Wissenschaft und den
Institutionen fast einig. Zudem unterstützt diese Maßnahme gleichzeitig -nach
Meinung vor allem von institutionellen Bildungsmenschen- alle anderen Flow-
Kategorien relativ stark. Den Ranglisten-Platz erlangte diese Maßnahme aufgrund
120 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.10, Tabelle 10
121 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.10, Tabelle 11
© acw ExpertInnen-Befragung 251
der Tatsache, dass v.a. afrikanische, asiatische und südamerikanische Expertinnen
dieser eine Top 3-Bedeutung zugestehen.
4. Chancengleichheit zu etablieren ist eine bildungspolitische Voraussetzung vor
allem aus der westlichen Wissenschaft (Europa, Nordamerika, Südamerika), um
möglichst viele Menschen an der Netzwerkgesellschaft im space of flows teilhaben
zu lassen. Aber auch für den Aufbau autotelischer Persönlichkeiten (über alle
Fraktionen) und die Kompetenz, die persönlichen Schnittstellen mitzugestalten
(v.a. pragmatische Grenzgängerinnen aus der Medientechnologie), werden dieser
Maßnahme eine große Bedeutung beigemessen. Weniger Einfluss wiederum hat
diese Maßnahme auf die Ausdehnung transparenter Strukturen.
5. Ein restrukturiertes Bildungssystem könnte aus Sicht nordamerikanischer,
institutioneller oder grenzgängerischer Bildungsmenschen und
Medientechnologinnen dazu beitragen, die Usability persönlicher Schnittstellen
individuell zu optimieren. Aber auch alle anderen Hemmfaktoren liessen sich mit
dieser bildungspolitischen Maßnahme mit abbauen, so die wiederum von der
nordamerikanischen Wissenschaft geprägte Mehrheitsmeinung.
6. Die globalen Netzwerke zu verstärken, unterstützt vor allem die mediale
Durchdringung der Gesellschaft, so die Ansicht vor allem pragmatischer
Grenzgängerinnen. Zudem fördert diese Maßnahme -nach Meinung v.a.
europäischer Sozialtheoretikerinnen und Grenzgängerinnen- die kontinuierliche,
aktive Teilhabe an der Netzwerkgesellschaft. Allgemein schätzen sowohl die
Wissenschaftlerinnen generell als auch die Nordamerikanerinnen diese
bildungspolitische Maßnahme eher zurückhaltend ein.
7. Die Regulationsinstanzen (Recht, Politik, Verwaltung) neu zu ordnen, ist eine
Forderung, die eher aus institutioneller Richtung kommt. Insbesondere fördert
diese bildungspolitische Maßnahme den Ausbau transparenter Strukturen - mit
dieser Einschätzung sind sich alle Regionen einig.
8. Eine Ausdehnung der Bildungsausgaben wird von Sozialtheoretikerinnen,
Afrikanerinnen und Asiatinnen verhältnismäßig hoch eingestuft, hat aber
insgesamt einen relativ geringen bildungspolitischen Stellenwert nach Ansicht des
Expertinnen-Panels. Aus Sicht von Bildungsmenschen kann diese Maßnahme
allerdings Personen darin unterstützen, autotelische Persönlichkeiten auszubilden.
9. Mit der Bereitschaft zum öffentlichen Diskurs können transparente Strukturen
geschaffen werden, so die Meinung pragmatischer Grenzgängerinnen. Für alle
anderen Flow-Kategorien dagegen ist diese bildungspolitische Maßnahme
allgemein eher nachrangig einzustufen - vor allem Medientechnologinnen und die
Wissenschaft messen dieser Maßnahme sehr wenig Bedeutung bei.
10. Das Schlusslicht an bildungspolitischen Maßnahmen bildet die Intensivierung der
Forschung. Hier erhoffen sich die Expertinnen die wenigsten Impulse - in keiner
© acw ExpertInnen-Befragung 252
Flow-Kategorie. Lediglich einige institutionelle Bildungsmenschen sehen hier eine
Möglichkeit, bildungspolitisch zu wirken. Am meisten Potenzial sehen hier noch
die Asiatinnen.
4.3.3.4 MÖGLICHE AK T EUR E DER BILDUNGSPOLITIK
Welche Bedeutung der internationalen Ebene in der Bildungspolitik nach Ansicht der
Expertinnen zukommt, wurde im Appendix zusammen getragen.122 Dabei kristallisierte
sich eine vielfältige Sammlung an möglichen „Akteuren“ heraus, die von der UNO über
staatliche Souveräne, die (Hoch-)Schulen, Mentorenprogramme, mobile Endgeräte,
Communities of Practice, Open-Data-Initiativen bis hin zu Social Networks reichte.
Auf welche konkreten bildungspolitischen Maßnahmen diese Bandbreite an
unterschiedlichen „Akteuren“ nunmehr Einfluss nehmen könnten, wurde nach
Einschätzung der Autorin in Kap. 8.2.11 im Appendix zusammengefasst. Im Abgleich
der bildungspolitischen Maßnahmen zu den einzelnen Flow-Kategorien lassen sich
bezüglich der vom Panel benannten Akteure folgende Konklusionen ziehen:
Die UNO kann hinsichtlich der sozialen wie technologischen Grundlagen dahin
wirken, für einen grundsätzlichen Zugang zur Netzwerkgesellschaft zu sorgen. Zwar
werden kulturelle und staatliche Mächte ihren Einfluss über die Bevölkerung am
space of places nicht aufgeben wollen. Allerdings liesse sich -angesichts der
ökonomisch bedingten, mobilen Durchdringung- das bildungspolitische Potenzial
zur Herausbildung autotelischer Persönlichkeiten nutzen: In Kombination mit
einem restrukturierten Bildungssystem zugunsten der Exkludierten in westlichen
Gesellschaften und mit zusätzlichen finanziellen Mitteln zugunsten der
Exkludierten in benachteiligten Weltregionen.
Dem staatlichen Souverän obliegt es ebenso, den Zugang zur Netzwerkgesellschaft
am space of places gleichberechtigt zu ermöglichen. Um machtpolitischen Kräften
innerhalb des Staates entgegenzuwirken, könnte eine weitere globale Vernetzung
hilfreich sein. Indem das Bildungssystem restrukturiert bzw. weitere Gelder
bereitgestellt werden (je nach Weltregion) und der Zivilgesellschaft eine größere
Bedeutung beigemessen würde, könnten deren bildungspolitische Impulse
aufgegriffen und über den space of flows transportiert werden.
Diese Netz-Kompetenz zu fördern, ist eine Aufgabe auch der (Hoch-)Schulen. Hier
gilt es, einen Zugang zur Nutzung der Netzwerkpotenziale zu ermöglichen,
Möglichkeiten sozialen Lernens aufzuzeigen und soziale Wertemuster mitzuprägen,
die den nationalen wie kulturellen Wirkmechanismen entgegenwirken.
Eine glichkeit, über eine Restrukturierung des globalen Bildungssystems die
Netzwerkeffekte zu nutzen, wäre ein internationales Mentorenprogramm
122 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.8.2#5
© acw ExpertInnen-Befragung 253
aufzulegen, über das Personen global miteinander vernetzt würden. So liesse sich
über diesen Weg einüben, die eigene Umgebung entlang der eigenen Bedürfnisse zu
gestalten und darauf hinzuwirken, die sozio-technologischen wie sozio-kulturellen
Strukturen entsprechend anzupassen. Der space of flows wäre hier bereits Realität -
soziales Lernen erfolgt hier nebenbei.
Mobilen Endgeräten kommt -neben ihrer sonstigen technologischen
Unterstützungsleistung- eine moderne Akteursrolle zu, da sie sowohl den Zugang
als auch den sozialen Lernprozess im globalen Maßstab befördern helfen. Sie sind
ideal geeignet, die Medienumgebung an die eigenen Bedürfnisse anzupassen und
neue Interfaces zu ermöglichen, die den Anforderungen der regionalen wie
individuellen Besonderheiten entsprechen. Insofern lässt sich auch -oder teilweise
vor allem- über mobile Endgeräte der space of flows aktiv gestalten.
In Communities of Practice (CoPs) lassen sich gut die Fähigkeiten zur Optimierung
der individuellen Workflows erlernen, die Gestaltungskompetenz der konkreten
Medienumgebung einüben und die Usability zukünftiger Umgebungen diskutieren.
In einem Ambiente mit strong ties lassen sich zivilgesellschaftliche Aktivitäten
sozial erlernen, die gleichzeitig eine Restrukturierung des Bildungssystems über
einen öffentlichen Diskurs fördern helfen.
Open-Data-Initiativen kommt insofern eine große bildungspolitische Bedeutung zu,
als sie in Richtung transparenter Strukturen hinwirken und gleichzeitig neue
Workflows, Medienumgebungen im Sinne einer effektiven Usability generieren
helfen. In diesem Feld den öffentlichen Diskurs zugunsten restrukturierter
Bildungssysteme und neugeordneter Regulationsinstanzen zu führen, stellt eine
wichtige Komponente dar - auch und vor allem zugunsten der globalen Vernetzung.
In Social Networks werden im Freizeitkontext die Mechanismen der
Netzwerkgesellschaft eingeübt und kulturelle Werte geschaffen, die in den space of
places zurückwirken. Hier sind bereits die persönlichen Umgebungen an die
eigenen Bedürfnisse adaptierbar. Gleichzeitig werden kontinuierlich neue
Anforderungen über vielfältige technologische Schnittstellen realisiert, so dass sich
die Workflows und die Usability für jedeN EinzelneN verbessern.
4.3.3.5 LEITBILD-RELEVANZ FÜR WE LTBEV Ö L K ERUN G -
IDEALTYPISCH
Würden die Rahmenbedingungen im Sinne der vorgeschlagenen bildungspolitischen
Maßnahmen modifiziert, rechnen die Expertinnen mit einer deutlichen Verbesserung
der weltweiten Durchdringung (>60%) bis zum Jahre 2020. In allen Weltregionen
könnten bis dahin breitere Schichten an der Netzwerkgesellschaft partizipieren und
sich aktiv einbringen. Die Geschwindigkeit der sozio-kulturellen Durchdringung
© acw ExpertInnen-Befragung 254
verläuft allerdings asynchron - je nach den regionalen Bedingungen am space of
places. Angesichts realer sozio-politischer wie sozio-kultureller Machtverhältnisse vor
Ort wird diese gesamte Entwicklung von den Expertinnen sehr kritisch eingeschätzt.
4.4 BILDUNGSPOLITISCHES RESÜMEE DER RTD-ST U DIE
Im Ergebnis offenbart die Expertinnen-Befragung, dass sich erst im Zusammenspiel
verschiedener bildungspolitischer Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen die
einzelnen Flow-Kategorien fördern lassen. Staatliche top-down-Politik kann
Rahmenbedingungen fördern und Strukturen außerhalb ihres Einflussbereiches
unterstützen, die der Ausbildung erforderlicher Fähigkeiten für das Leitbild 2020
zuträglich sind. Vor allem in den bottom-up-Funktionen sozialer Vernetzungsformen
steckt ein großes Potenzial, eine transkulturelle Netz-Kompetenz aufzubauen.
Sofern die staatlichen Akteure auf nationaler wie internationaler Ebene für den
technologischen Zugang und die Chancengleichheit sorgen, können informellere
Zusammenhänge die übrigen Maßnahmen vorantreiben. Alternativ wirken
ökonomische Akteure über die mobile Infrastruktur als bildungspolitische Kraft, da
sich über deren Vernetzungspotenziale auch weitere bildungspolitisch wirkende
Mechanismen anstossen lassen. Zivilgesellschaftliche Momente und soziales Lernen
führen bereits zu einer besseren Chancengleichheit und bieten Alternativen für ein
restrukturiertes Bildungssystem auf globalem Niveau - auch ggf. über ein
internationales Mentorenprogramm. Für die begleitende Neuordnung der
Regulationsinstanzen kann seitens vielfältiger Open-Data-Initiativen (Open Source,
Open Access, Open Educational Resources, Open Government etc. pp.) dahingehend
gewirkt werden, für mehr Transparenz zu sorgen. Den klassischen bildungspolitischen
Maßnahmen des Staates -mehr Geld für Bildungsausgaben und die Forschung- wird
seitens der Expertinnen eine nachrangige Bedeutung zugesprochen. Dem
bildungspolitischen Potenzial, sich im öffentlichen Diskurs über die Maßnahmen zu
verständigen, steht das Panel eher skeptisch gegenüber - ggf. könnte auch hier der
Impuls von nicht-staatlichen Initiativen ausgehen.
Staatliche bildungspolitische Interventionsmöglichkeiten sind im Zeitalter der
Netzwerkgesellschaft sehr begrenzt. Hier einzig auf tradierte (hoch-)schulpolitische
Aktivitäten einzuwirken und dabei v.a. auf der wissenschaftlichen ExpertInnen-
Meinung westlicher Forscher/innen aufzubauen, ignoriert die interkulturellen
Unterschiede und bildungspolitischen Beiträge, die seitens anderer Akteure geleistet
werden (können) - wie z.B. aus der Zivilgesellschaft und aus dem (kapitalistischen)
Impuls diverser Technologiefirmen. Zwar müsste die tatsächliche sozio-kulturelle
Mediennutzung und Web 2.0-Durchdringung der Expertinnen-Herkunftsregionen in
die Analyse mit einbezogen werden, da diese Kultur die konkreten regionalen Kulturen
am space of places und damit auch die Wertemuster der beteiligten Expertinnen
© acw ExpertInnen-Befragung 255
verändert (siehe Kap. 3.3.3). Angesichts fehlender, konkreter Indizes, der
Rahmenbedingungen und einer kleinen Grundgesamtheit muss an dieser Stelle darauf
verzichtet werden.
Auf der Basis der vorliegenden, eindeutigen Reihenfolge möglicher bildungspolitischer
Maßnahmen und identifizierter Akteure lässt sich zum heutigen Zeitpunkt feststellen:
Eine stärkere (globale) Vernetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen
Bereichen, Communities und Netzwerken aus (inter-)nationalen Mitteln zu fördern,
um eine individualisierte, persönlich verantwortete Vernetzung auf globalem Niveau
zu ermöglichen und die kreativen Potenziale der gesamten Menschheit zu heben, ist
Kennzeichen einer modernen Bildungspolitik. Die (inter-)nationalen Aktivitäten in
diese Richtung zu treiben wird Aufgabe verschiedener Vernetzungsformen der
Zivilgesellschaft sein.
Um diese aus dem Panel abgeleiteten bildungspolitischen Anforderungen mit der
internationalen bildungspolitischen Realität abgleichen zu können, sollen nunmehr die
bildungspolitischen Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden. Vor diesem
Hintergrund lassen sich dann die erzielten qualitativen Ergebnisse aus der
Expertinnen-Befragung abschließend einordnen.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 257
5 BILDUNGSPOLITISCHER RAHMEN FÜR DIE RTD-
ERGEBNISSE
Internationale Bildungsaspekte werden von wenigen Forscher/innen in verschiedenen
Disziplinen verhandelt (Singh, Kenway, und Apple 2007). Neben vergleichenden
Studien der empirischen Bildungsforschung können u.a. die internationale Pädagogik
bzw. die Ansätze zum globalen Lernen, die internationale Bildungspolitik und die
Bildungspolitik in Entwicklungsländern unterschieden werden (Phillips und
Schweisfurth 2006). Im Kontext dieser, auf die globale Netzwerkgesellschaft
fokussierten Arbeit wird das Augenmerk auf die internationale Bildungspolitik zu
werfen sein, um ihren Beitrag zur Unterstützung der individuellen Netz- wie
kollektiven Netzwerk-Kompetenz einschätzen und die oben angeführten Ergebnisse
der Real-Time-Delphi-Studie einordnen zu können. Auf deren Basis lassen sich dann
ggf. alternative Szenarien für globale bildungspolitische Maßnahmen in der
Netzwerkgesellschaft entwerfen.
5.1 INTERNATIONALE BILD U NGSPOL I TIK
Das Weltsystem nach dem bipolaren Zeitalter ist gekennzeichnet durch eine Epoche
der ökonomischen Globalisierung, der zivilisierten Weltpolitik und universalen
kulturellen Werte einerseits, die auf der anderen Seite von fragmentierenden
Strömungen und Gegenreaktionen bekämpft werden (Bemerburg und Niederbacher
2007, 8). In den Sozialwissenschaften hat sich dafür weitgehend der Begriff der
„Weltgesellschaft“ als differenzierte „verwobene Gesamtgesellschaft“ durchgesetzt, da
sich die Analyse nicht mehr auf nationalstaatliche „Gesellschaften“ reduzieren lässt
(Prisching 2007, 20).
„Es geht nicht mehr um den intensiveren Kontakt sozialer Einheiten,
sondern um ein als Einheit gedachtes weltweites soziales System:
eine zusammenhängende Figuration; einen neuen Prozess der Erzeugung,
Erweiterung und Verfestigung eines global-holistischen Gebildes;
eine Intensivierung der sozialen Kontakte zwischen Menschen, Gruppen
und Völkern, die sich dem nähert, was man bislang als Spezifikum
einer "Gesellschaft" aufgefasst hat.“ (ebd.)
Das Lokale wird nur noch im Rückgriff auf die Globalisierung verständlich (ebd., 20f.),
während gleichzeitig die Globalisierung eine „Internationalisierung der
Problembearbeitung“ (Filzmaier u. a. 2006, 275) herbeiführt. Internationale
Organisationen, vernetzte internationale Regime und eine internationale
Zivilgesellschaft, die sich über eine Vielzahl an NGOs global Gehör verschaffen, sind
neue Akteure der weltpolitischen Bühne (ebd.). So stieg z.B. die Anzahl internationaler
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 258
Regierungs- wie Nichtregierungsorganisationen seit Mitte der 1970er Jahre von ca.
3000 auf über 20.000 im Jahre 2002 an (Hauchler, Messner, und Nuscheler 2003, 37)
- und ihr Einfluss auf die politische Gestaltung stieg entsprechend. Vor allem in den
internationalen Organisationen (IOs) kulminieren die politischen Handlungsfelder der
verschiedenen Akteure der Weltgesellschaft. Dabei lassen sich bei der Analyse der
weltpolitischen Aktivitäten drei verschiedene wissenschaftliche Ansätze unterscheiden,
wie die Funktionen von IOs grundsätzlich einzuschätzen sind (Filzmaier u. a. 2006,
289f.):
Aus Sicht der (neo-)realistischen Theorie sind IOs „Instrumente oder Rahmen
(„Arenen“) staatlicher Diplomatie, d.h. sie dienen Staaten primär zur Durchsetzung
ihrer eigenen Interessen.“ (ebd., 289f.)
Aus institutionalistischer Sicht sind IOs eigenständige Akteure, „die die Struktur
des internationalen Systems über die Verminderung grundlegender Unsicherheiten
maßgeblich beeinflussen.“ (ebd., 290)
Aus Sicht internationaler Regime-Anhänger (der neoliberalen Variante des
Institutionalismus) sind IOs „Teile eines Netzwerks an zwischenstaatlicher
Kooperation in und durch problemfeldbezogene internationale Institutionen, die
sich durch gemeinsame Prinzipien, Normen und Verhaltensregeln auszeichnen und
dadurch bei den Mitgliedern auch Normen usw. durchsetzen können.“ (ebd., 290)
Allen Ansätzen gemeinsam ist die wachsende Bedeutung der IOs, die in ihrer
strukturellen Funktion als Vorstufe zur Global Governance verschiedene
Problemfelder zu vergegenwärtigen hat (ebd., 297). So sind IOs einerseits selbst nur
bedingt demokratisch legitimiert; andererseits erfahren sie durch die Vielzahl an
international tätigen NGOs ein demokratisierendes Korrektiv, das gleichwohl nicht der
nationalstaatlichen Herrschaftsform entspringt. Zudem sind die Machtverhältnisse auf
der Weltbühne extrem asymmetrisch verteilt.
Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden zunächst der Governance-Ansatz dargelegt
werden, um die vielschichtigen politischen Ebenen auch in der Bildungspolitik
einordnen zu können. Anschließend wird untersucht, welchen Einfluss IOs auf die
globale kulturelle Hegemonie haben und wie sich neue Themen in Politik übersetzen.
Dann werden konkrete globale Bildungsinitiativen und deren zentrale Keyplayer
analysiert, um in der Folge den Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Bildungspolitik
einschätzen zu können. Da dem technologischen Zugang nach Ansicht der Expertinnen
eine entscheidende Rolle zukommt als bildungspolitische Maßnahme, werden noch die
verschiedenen Ebenen des Digital Divides in den Blick genommen und die
zivilgesellschaftlichen Potenziale eruiert, auf eine Umverteilung aktiv hinzuwirken.
Abschließend wird der bildungspolitische Rahmen für die Gestaltung der
Netzwerkgesellschaft zusammengeführt, so dass im folgenden Kapitel die erzielten
RTD-Ergebnisse in diesem Kontext eine kritische Interpretation erfahren können.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 259
5.1.1 DER GOVERNANCE-ANSATZ
Der Governance-Begriff stammt ursprünglich aus den Wirtschaftswissenschaften -
dort stellt Corporate Governance ein analytisches Konstrukt dar, das die Existenz von
Regeln in Unternehmen und deren Durchsetzung untersuchen hilft. In den
Politikwissenschaften dagegen steht dieser seit den 1980er Jahren mit normativer
Kraft sich durchsetzende Begriff für verschiedene Transformationsprozesse - einerseits
der sozio-politischen Realitäten selbst, andererseits in der Interpretation dieser sich
verändernden Realitäten.
Historisch gesehen hielt „Governance“ über die Internationalen Beziehungen Einzug in
die Politikwissenschaften, um den geregelten Beziehungsstrukturen der
internationalen Akteure Ausdruck zu verleihen. Die Weltbank begann in den 1980er
Jahren, von den Entwicklungsländern Good Governance zu fordern - gleichzeitig
nutzten neoliberale Kräfte den Governance-Begriff zunehmend, um öffentliche
Aufgaben in nicht-staatliche Hände überführen zu können. In dieser
wirtschaftspolitischen Entwicklung hin zu zunehmender Deregulierung bei
gleichzeitigem Zuwachs der NGOs erfolgte ein Perspektivenwechsel in der Theorie des
neoliberalen Institutionalismus - die Global Governance war geboren (Behrens 2007,
106).
Governance fasst seitdem die politische Steuerung durch „Mischformen öffentlicher
und privater Tätigkeit“ (Benz 2004, 14) als komplexes Regelwerk zusammen, das
gleichermaßen Institutionen (polity), Prozesse (politics) und Politikinhalte (policy)
beinhaltet. Die in vielerlei Hinsicht grenzüberschreitenden Prozesse in vernetzten
Strukturen spiegeln sich im Governance-Begriff als Rückgang nationalstaatlicher
Souveränität zugunsten des Managements vielfältiger Interdependenzen wider (ebd.,
14ff).
Wesentliche Kennzeichen der politischen Steuerung und Koordinierung durch
Governance sind:
1. „Das Fehlen eindeutiger hierarchischer Über- und
Unterordnungsverhältnisse und klarer Abgrenzungen der
Herrschaftsbereiche,
2. die Steuerung und Kontrolle mittels einer Mischung aus
einseitiger Machtausübung und Kooperation,
3. Kommunikation und Verhandlungen sowie
4. Dominanz von Prozessen über Strukturen und die kontinuierlichen
Veränderungen von Strukturen.“ (Rosenau zit. n. Benz 2004, 16f.)
In dieser Perspektive bildet der Staat zusammen mit dem Markt, sozialen Netzwerken
und Gemeinschaften „institutionelle Regelungsmechanismen, die in variablen
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 260
Kombinationen genutzt werden“ (ebd., 20). Die Steuerungs- und
Koordinationsfunktion dieser institutionellen Strukturen zu erkennen mit dem Ziel,
Ansätze zu finden, um ggf. die „verhaltenssteuerenden Wirkungen institutioneller
Regeln“ (ebd., 20) zu ändern, steht im Fokus der Governance-Analyse. Dabei kann
Steuerung als zielorientiertes Handeln verstanden werden, das im akteurtheoretischen
Verständnis -je nach Akteurkonstellation- verschiedene politische Handlungsmuster
umfasst: So kann zum einen das eigene Handeln eine direkte Beeinflussung bewirken.
Zum anderen können andere Akteure über Anreize, Überredung oder Macht
beeinflusst werden. Und schließlich lassen sich Handlungen über den strukturellen
Kontext sozial steuern (Schimank 2007, 233).
„Die Governance-Perspektive betrachtet also eine Akteurkonstellation
im Hinblick auf tatsächlich geschehende oder mögliche multiple
Bestrebungen intentionaler Gestaltung - wobei es eine analytisch
offene Frage ist, inwieweit die Gestaltungsabsichten an
Sachproblemen und inwieweit sie an Machtinteressen orientiert sind.“
(ebd., 234)
Die analysierten Prozesse und Interaktionsmuster überschreiten dabei die
Organisationsgrenzen und auch die staatlich und gesellschaftlich prägenden,
traditionellen Muster. Staatliche und nicht-staatliche Akteure innerhalb oder
außerhalb von Organisationen prägen diesen fliessenden Politikstil als kollektives
Handeln (Benz 2004, 25), der zumeist auf die Meso-Ebene einwirken will. Die
Governance-Forschung konzentriert sich auf diese Ebene intentionaler Gestaltung
organisatorischer und interorganisatorischer Strukturen, auch wenn die Makro- und
Mikro-Ebene als Randbedingungen die Meso-Ebene mit beeinflussen (Schimank 2007,
234).
In der internationalen Politik bezieht Global Governance in dieser Perspektive des
Mehrebenensystems nicht nur die internationale Ebene ein, sondern auch die Akteure
und Institutionen der innerstaatlichen Ebene (Behrens 2007, 106). Global
Governance integriert als systemischer Ansatz verschiedene Handlungsfelder auf der
Basis einer für möglichst alle Kulturen akzeptierbaren „Globalethik“ (Melchers,
Charlotte Schmitz, und Seitz 2005, 3). Es können drei Ebenen von Global Governance
mit je verschiedenen Akteurstypen unterschieden werden (ebd., 107):
1. Intergouvernementalismus: Hier verhandeln Regierungschefs und hohe Beamte
über ihre jeweiligen Interessen, die vor allem durch innerstaatliche Prozesse
geprägt sind (z.B. G 20-Treffen).
2. Transgouvernementalismus: Hier arbeiten staatliche Beamte mit niedrigerem
Status mit ihren Partnern aus anderen Ländern in spezifischen Problemfeldern,
um die nationale Politik aufeinander abzustimmen (z.B. NATO).
3. Transnationalismus: Hier koordinieren und definieren v.a. private Akteure und
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 261
NGOs Maßnahmen zur Realisierung gemeinsamer Zielvorstellungen im Sinne
einer Private Governance (z.B. ICANN oder ISO).
Der intentionale Gestaltungsanspruch lässt Governance zu einer „politisch
gewendete[n] Theorie sozialer Ordnung“ mutieren (Schimank 2007, 233), die v.a. im
europäischen Raum diskutiert wird und sich im Global Governance-Diskurs der
OECD-Welt niederschlägt (Filzmaier u. a. 2006, 297). Dabei lässt sich der Erfolg des
Global Governance-Konzeptes auf die unterschiedliche Interpretation seines
normativen Gehalts zurückführen: Zum einen in der neoliberalen Variante, in der die
internationalen Problemlagen weniger in der Globalisierung, sondern eher in einem zu
starken Staatsinterventionismus gesehen werden - diese VertreterInnen folgern aus
dem Konzept, den staatlichen Protektionismus abzubauen. Zum anderen in einer
sozialdemokratischen Variante, in der das Global Governance-Konzept den Versuch
darstellt, eine dritte Phase weltwirtschaftlicher Ordnungspolitik aufzubauen, indem
dem wirtschaftspolitischen Neoliberalismus das Reformprogramm einer
supranationalen Ordnungspolitik entgegengestellt wird (Behrens 2007, 109f.). Hier
geht es
„(...) um die Wiedereinbettung internationaler
Wirtschaftsaktivitäten in ein sozial- und umweltverträgliches
Ordnungssystem internationaler Politik im Mehrebenensystem
politischer Entscheidungsprozesse unter Einbeziehung staatlicher wie
nichtsstaatlicher Akteure.“ (ebd., 108)
Als politikwissenschaftlich populärer Begriff setzte sich Global Governance erst nach
deren sozialdemokratischer Wendung hin zur Handlungspolitik als Reformprojekt
durch. Auf Initiative von Willy Brandt wurde 1991 die „Commission on Global
Governance“ (CGG) unter dem Dach der UNO ins Leben gerufen. Deren 1995
veröffentlichter Abschlussbericht mit dem Titel „Global Neighbourhood“, bezieht sich
v.a. auf die internationale Ebene und betont die Notwendigkeit gemeinsamer Werte für
die Weltgemeinschaft ohne Errichtung einer Weltregierung, weil nur so die Global
Governance funktionieren könne (ebd., 110f.). Gleichzeitig definiert und verändert sich
das strukturbildende Muster dieser Ordnungsbildung durch die Handlungen der
spezifischen Akteurkonstellation. Regionale Organisationen gewinnen in dieser
Perspektive an Bedeutung - eine Vielzahl an Akteuren generiert die politischen
Handlungsmuster auch auf der internationalen Bühne.
In diesem Spannungsverhältnis zwischen globalen Normen und multiplen
Akteursebenen ist auch die Educational Governance-Forschung einzuordnen. Sie
untersucht, welche konkreten bildungspolitischen Maßnahmen in einzelnen Ländern
oder Bildungsstandorten umgesetzt wurden und wie sich das vorherrschende
Governance-Regime veränderte. Ausgangspunkt sind die wachsenden Aktivitäten von
internationalen Organisationen (UNESCO, OECD, ILO usw.) und die zunehmende
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 262
Marketisierung des Bildungsbereichs (Leuze, Martens, und Rusconi 2007, 3). Diesen
globalen Trends stehen graduelle Unterschiede in der Umsetzung der daraus
resultierenden nationalen Bildungspolitiken gegenüber. Je nach Land entstehen
verschiedene Mischformen an Steuerungstypen mit intendierten oder weniger
intendierten Wirkungen. Über vergleichende Studien werden "Nacherfindungen" von
Bildungskonzepten analysiert, die nicht auf Blaupausen aufbauen, sondern Standards
als Orientierung nehmen (Kussau und Brüsemeister 2007, 42). Bildungspolitisch
konnte diese Forschung folgende Entwicklungen für Governance-Regimes im
Bildungswesen identifizieren,
„(...) die durch bildungspolitische Programme ausgelöst sind:
der Rückbau der staatlichen Detailsteuerung zugunsten einer
erweiterten Autonomie von Bildungseinrichtungen;
die Veränderung individual-professioneller Strukturen hin zu
mehr teamorientierten Formen der Profession;
die Vorgabe substanzieller Außenziele (Bildungsstandards);
die Stärkung von Leitungspositionen;
und innerhalb gewisser Grenzen die Einführung von
Wettbewerbselementen." (ebd.)
Im Fokus der Forschung zur Educational Governance stehen demnach nationale
Steuerungsstrukturen im Bildungswesen. Es geht einerseits darum, die nationalen
Rezeptions-, Verarbeitungs- und Realisierungsmuster neuer Steuerungselemente zu
erkennen und hinsichtlich ihrer Wirkungen zu analysieren. Andererseits soll
identifiziert werden, inwiefern diese neuen Steuerungsmaßnahmen der gemischten
Educational Governance-Formen zu gewünschten Ergebnissen geführt haben -
entsprechend der von der empirischen Bildungsforschung auf der Basis internationaler
Vergleichsuntersuchungen von Bildungsstandards identifizierten Kennziffern
(Altrichter 2007, 9f.). Perspektivisch geht es dieser Forschung darum, Potenziale und
Grenzen für bewusst gestaltete Handlungskoordinationen zwischen verschiedenen
Akteuren aufzuzeigen (Brüsemeister 2008, 200).
Am Beispiel des Governance-Regimes von Hochschulsystemen lässt sich der
Educational Governance-Ansatz gut verdeutlichen. Der Staat überlässt formal die
Zielerfüllung der Kennziffern autonomen Handlungseinheiten - aber orientiert an
internationalen Bildungsstandards, die von internationalen Organisationen evaluiert
werden (ebd., 200). Sollen nun verschiedene Hochschulen miteinander verglichen
werden, lässt sich z.B. ein Governance-Equalizer nutzen, der einen differenzierten
Vergleichsmaßstab ermöglicht (Schimank 2007, 238ff.). Dieser Equalizer umfasst fünf
Dimensionen:
1. staatliche Regulierung der Hochschulen
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 263
2. Außensteuerung der Hochschulen durch den Staat oder durch andere Akteure, an
die er Steuerungsbefugnisse delegiert
3. akademische Selbstorganisation der Hochschulen
4. hierarchische Selbststeuerung der Hochschulen
5. Konkurrenzdruck in und zwischen den Hochschulen
Formal regeln und bestimmen die fünf Dimensionen dann im Rahmen des
vorherrschenden Governance-Regimes die Handlungsebenen dreier verschiedener
Akteure (ebd., 240):
die Hochschulen als Organisationen;
die WissenschaftlerInnen als Angehörige der Organisation;
die staatlichen bzw. staatlich lizenzierten Akteure, die als Gegenüber der
Hochschulen wirken (z.B. Unternehmen oder Evaluationsagenturen).
Bezogen auf die Hochschulpolitik tritt demnach die nationalstaatliche Bildungspolitik
als souveräner Entscheidungsträger auf, der die (empfohlenen)
Steuerungsinstrumente auf die eigene Kultur selbstbestimmt anwendet. Um die
Ergebnisse im Rahmen des Governance-Regimes evaluieren und ggf. anpassen zu
können, wird die empirische Bildungsforschung ermächtigt, im Sinne der Educational
Governance auf die nationale Umsetzung der bildungspolitischen Maßnahmen zu
achten und ggf. Vorschläge für die Korrektur der Steuerungsinstrumente vorzubringen
(Buchhaas-Birkholz 2009, 30).
Der Governance-Begriff ist also normativ im Sinne der Vorgabe einer
harmonisierenden politischen Handlungsmaxime für staatliche wie nicht-staatliche
Akteure. Als Forschungsgegenstand ermöglicht Governance zudem einen tieferen Blick
in die Analyse von Handlungen in einem komplexen Mehrebenensystem. Schließlich
dient Governance in seinen verschiedenen Ausprägungen (Global Governance,
Educational Governance) als Forschungsrichtung, um Wirkmechanismen auf den
verschiedenen Ebenen empirisch zu erkennen und Gestaltungsspielräume für die
nationale Politik zu definieren.
5.1.2 EINFLUS S I NT ER N ATIO NA LE R OR GA N I SAT I ON E N AUF DIE
WELTKULTUR
Mit Beginn der Globalisierung und gesteigert seit dem Ende des Kalten Krieges wird
den Internationalen Organisationen (IOs) eine zunehmend aktivere Rolle in der
Weltpolitik seitens der Nationalstaaten und seitens der Wissenschaft zugestanden, die
gleichzeitig den nationalstaatlichen Einfluss hinterfragt und damit über den
klassischen (Neo-)Realismus-Ansatz hinausgeht (Joachim, Reinalda, und Verbeek
2008a, 3). IOs haben sich zu machtvollen, teilweise von den sie legitimierenden
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 264
Staaten unabhängigen, autonomen, bürokratischen Institutionen gewandelt, die v.a.
über die diplomatisch ausgehandelte „Objektivität“ kultureller Werte und normativer
Bedeutungen ihre Soft Governance ausspielen (vgl. Barnett und Finnemore 2006).
Obwohl in den letzten Jahren einige Forschungsaktivitäten in diesem Bereich zu
verzeichnen sind, steckt die empirische wie theoretische Analyse der konkreten
politischen Prozesse noch in den Kinderschuhen. Die Frage, wie IOs ihre
Vereinbarungen in nationalstaatliche Politik implementieren, ist einer der offenen
Punkte (ebd., 4ff.). In der Wissenschaft der IOs haben sich drei Perspektiven
herausgebildet, um die Umsetzung internationaler Vereinbarungen zu verstehen und
zu gewährleisten (ebd., 8ff.):
Enforcement approach: Hier stehen den IOs die beiden zentralen politischen Mittel
diskursiver Druck und Sanktionen zur Verfügung.
Management approach: In diesem Ansatz sind indirekte Monitoringverfahren und
Beratungs- bzw. Hilfsangebote die Mittel der Wahl.
Normative approach: IOs dominieren hier nicht als machtvolle Instanz, sondern
beziehen ihre Autorität durch Informationskontrolle und rationale Legitimität.
Internationale Analysen konzentrierten sich früher entweder auf den Enforcement
approach oder auf den Management approach - dem Normative approach wurde
generell wenig Gewicht beigemessen (ebd., 12). Mit der Theorie des
Neoinstitutionalismus änderte sich diese Gewichtung: In dieser Theorie existiert eine
Weltkultur als gesellschaftlicher Mainstream, der die world polity unterliegt und der
sich in der Harmonisierung kultureller Werte durch internationale Organisationen
äußert. Im Gegensatz zu Wallersteins „World economy“, Luhmanns „Weltgesellschaft“
und Eisenstadts Modernen-Ansatz folgen im world polity-Konzept die Staaten einem
global institutionalisierten Set an Regeln und kulturellen Vorschriften, das sie immer
ähnlicher bzw. isomorph werden lässt (Schriewer 2007, 8f.). Dabei vermögen weder
funktionale noch rationale Argumentationen diese Harmonisierung zu begründen;
vielmehr scheint globales Agenda-Setting die kulturellen Werte zu definieren, dem sich
auch andere soziale Bewegungen, Organisationen und NGOs unterwerfen. Gleichzeitig
führt es dazu, dass Staaten ihre Außendarstellung, die Werte und Vorstellungen der
Weltkultur bedient, nur lose mit der internen Organisationsstruktur verbinden müssen
und sich der tatsächliche Alltag durchaus regional unterscheiden kann - sofern sie
vordergründig dem homogenen, globalen Skript folgen (Holzer und Kuchler 2007, 86).
Wie dieses Agenda-Setting auf globaler Ebene in einem erfolgreichen Politikwechsel
münden kann, zeigt die Politikwissenschaftlerin Anja P. Jakobi auf. Für einen
Wertewandel in der world polity müssen in einem so genannten „window of
opportunity“ drei unabhängige Strömungen aufeinander treffen (Jakobi 2009, 8f.):
Auf der polity-Ebene werden politische Probleme auf der Agenda platziert. Dies ist
ein sozialer Prozess, für den die Foren der Weltgesellschaft gut geeignet sind.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 265
Auf der policy-Ebene kann ein konkreter Lösungsvorschlag für ein bestimmtes
Problem in globalen Meetings zum breiten Konsens ausgehandelt werden.
Auf der politics-Ebene spiegeln die internen Prozesse die öffentliche Meinung wider
- entweder in Form von Haltungen des politischen Führungspersonals oder als
Ergebnis einer Wahl.
Kreuzen diese drei Strömungen in einem bestimmten Zeitfenster ihre Pfade
hinsichtlich einer spezifischen Problemkonstellation, kann sich ein Wertewandel
vollziehen. Dabei ist die anerkannte Problemdefinition das Transportmittel, um die
politische Verbreitung in die Welt zu tragen (ebd., 9f.). An Kreuzungspunkten haben
sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in einem weit reichenden, kommunikativen
Geflecht an Kongressen, Journalen, Deklarationen und Entwicklungsprogrammen
regionale und internationale Netzwerke herausgebildet, die WissenschaftlerInnen und
ExpertInnen mit internationalen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen
verbinden. Es entstand eine transnationale kulturelle Umgebung für eine globale
Vision, die sich aus einer Vielzahl quantitativer Analysen speist (Schriewer 2007, 8).
Neben diesen empirischen Daten stehen auf weltpolitischer Bühne verschiedene
Governance-Instrumente zur Verfügung, die das Verhältnis zwischen Staat und
internationaler Organisation beeinflussen (Alexander-Kenneth Nagel, Martens, und
Windzio 2010, 10ff.; Jakobi 2009, 4): So stellen die diskursive Verbreitung normativer
Grundlagen, standardisierte
Meinungsbildungsprozesse, die
Bereitstellung bestimmter Finanzmittel,
koordinierende Aktivitäten, technische
Hilfe und Beratungsleistungen den IOs
eine Bandbreite an politischen
Interventionsmöglichkeiten zur
Verfügung, die je nach Bedarf in
unterschiedlicher Zusammensetzung
bereitgestellt werden können.
Abbildung 17 zeigt das politische
Ablaufmodell, wie internationale
Weltpolitik in die nationale Souveränität
hinein wirkt. Ein Politikwechsel kann von
der diskursiven Verbreitung einer Idee
über die finanzielle Unterstützung bis hin
zu technologischer Beratung auf vielen
Stufen der Entwicklung befördert werden
(ebd., 10). Dabei setzen sich bestimmte
Werte in Wellen als weltkulturell
empfohlene Modelle (wie Bachelor,
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 266
Master, Kompetenzmodelle o.ä.) durch und diffundieren über offene, unverbindliche
Beratungs- und Unterstützungsangebote seitens internationaler Organisationen und
über die Imitation offensichtlich erfolgreicher Modelle in die gesamte Weltgesellschaft
(Holzer und Kuchler 2007, 79). Insofern sind IOs nicht nur Schlüsselfiguren für die
Global Governance, sondern auch effektive Agenten der Politikverbreitung (Jakobi
2009, 12).
Dieser deterministischen Sichtweise stehen „kulturelle Bedeutungswelten“ gegenüber,
die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erfahrungen mit sozio-historischen
Ordnungen und deren Wandlungsprozessen „soziales Handeln bzw.
institutionengeschichtlich bedeutsame Entscheidungen vorzeichnen“ (Schriewer 2007,
14f.). In dieser Sichtweise bleibt der konkreten Ausgestaltung harmonisierender
weltkultureller Tendenzen ein Spielraum, der sich aus der sozialen Geschichte des
nationalstaatlichen Gebildes speist.
Bei der Analyse, welche nationalen Faktoren die durch IOs initiierte Transformation
staatlicher Handlungspraktiken beeinflussen, kann dabei zwischen zwei Ansätzen
unterschieden werden (Alexander-Kenneth Nagel, Martens, und Windzio 2010):
In der rationalistischen Perspektive verfügen die Akteure innerhalb eines
institutionalisierten Rahmens über Gestaltungsmacht. Vor allem in föderalen
Strukturen können Veto-Spieler und -Punkte als institutionelle Modifikatoren die
Transformationsprozesse beeinflussen (ebd., S.13; siehe auch Leuze u. a. 2008,
11ff.).
Dagegen fokussiert der konstruktivistische Ansatz auf Ideen, Normen und
Identitäten als zentrale Triebkraft des Wandels. Hier sind länderspezifische
Vorstellungen von unterschiedlichen Glaubensprinzipien geprägt, die die
potenzielle Wandlungsfähigkeit eines Landes markieren (ebd., 14f.).
Bei beiden Ansätzen eröffnen IOs vorab über ihre Governance-Instrumente ein
Kommunikations- und Interaktionsfeld zwischen den Ländern, das konvergierend
wirkt. Nagel et al. argumentieren, dass der globale Anpassungsdruck dann ansteigt, je
weniger das nationale System mit der seitens der IO geforderten Gestaltung
übereinstimmt - sofern die eigenen ideellen Vorstellungen nicht völlig inkompatibel
sind zur harmonisierten Weltkultur (Alexander-Kenneth Nagel, Martens, und Windzio
2010, 18). Allerdings steigt der Reformwille der Regierungen proportional zur
Übereinstimmung der internationalen Bildungsideen zu den eigenen prinzipiellen
Glaubenssätzen. Die Anpassung wird dann schnell vollzogen, wenn die Kosten als
minimal erachtet werden (Joachim, Reinalda, und Verbeek 2008b, 184; Leuze u. a.
2008, 20).
In der Konsequenz sind die politischen Wirkmechanismen, wie sich internationale
Normen nationalstaatlich verfestigen (lassen), von den IOs nur bedingt zu steuern. Sie
reagieren je nach Nationalstaat, Widerstand und Sujet unterschiedlich (vgl. Abbildung
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 267
18). Um gestaltend agieren zu können, bedarf es seitens der IOs einer angepassten
Kombination aus direkten, indirekten und normativen Machtinstrumenten (Joachim,
Reinalda, und Verbeek 2008b, 187ff.), die allerdings -im Sinne der weltkulturellen
These- auf freiwilliger Akzeptanz der Nationalstaaten aufsetzen müssen.
5.1.3 MULT I LA TE RA L EDUCATION U N D IHRE KE Y PLAYE R
Bildungspolitik in ihrer Umsetzung ist ein klassisches, nationalstaatliches Monopol.123
Doch lassen sich bereits mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten Ende des
19. Jahrhunderts erste globale Standardisierungstendenzen im Bildungsbereich
identifizieren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts avancierten dann internationale
Bildungsorganisationen
„(...) nicht nur zu entscheidenden Multiplikatoren der sich
herausbildenden globalen Bildungskultur, sondern bilden zugleich das
strukturelle Gerüst eines multilateralen Bildungssystems." (Fuchs
2006, 102)
Dieses multilaterale System bildete sich seit dem ersten Weltkrieg in vier historischen,
123 In Deutschland und Kanada gar auf die föderalen Länder verteilt.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 268
evolutionären Phasen von der Gründung des Völkerbundes bis hin zu den heutigen
„advocacy educative networks“ -als alternative Struktur zum neoliberalen
Multilateralism der 1980er Jahre- aus. Die letzte Entwicklungsstufe ist in ihrer
Dynamik vor allem auf die Einbindung privater, nichtstaatlicher Akteure in
internationale Politikprozesse zurückzuführen, die in beratender Funktion oder als
pressure groups wirken und das Gerüst für eine transnationale Zivilgesellschaft bilden.
So existierten 1999/2000 bereits mehr als 3.000 internationale
Bildungsorganisationen (ebd., 104), die über unterschiedliche Instrumente auf das
nationale Bildungssystem einwirken (Abbildung 19 angelehnt an Dale und Robertson
2007, 37):
Allen bildungspolitischen Playern gemeinsam ist ein moderner Bildungsbegriff, der
lebenslanges Lernen beinhaltet und die individuellen wie gesellschaftlichen Vorteile
einer Bildung als Human- resp. Sozialkapital neben den ökonomischen Erfolg stellt
(BLK 2002). Es scheint eine Art „Drehbuch für ein globales Bildungsverständnis“
(Schriewer 2007, 8) zu existieren, das informell wirkt. Die Ausweitung der Bildung
zählt zu den weltkulturell empfohlenen Mitteln, um die „rationalisierten Mythen, die
sich aus westlicher Dynamik universalisiert haben“ (Schriewer 2007, 7) zu erreichen:
Individuelle Persönlichkeitsentfaltung, gesellschaftlicher Fortschritt, wirtschaftliche
Entwicklung und Gerechtigkeit sind weltkulturelle Ziele, die es seitens der Staaten
mittels Schulen, Universitäten und statistischer Untersuchungen zu erreichen gilt
(Holzer und Kuchler 2007, 77).
Der moderne Bildungsbegriff spiegelt sich auch im Konzept des lebenslangen Lernens
(LLL) mit individueller Verantwortung, dem erst in den 1990er Jahren der große
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 269
internationale, bildungspolitische Durchbruch gelang (1996: „Europäische Jahr des
Lebensbegleitenden Lernens“). Das „window of opportunity“ öffnete sich erst, als das
Problem der Wissensgesellschaft mit dem politischen Einfluss der IOs und einem
neoliberalen policy-Verständnis zusammentraf (Jakobi 2009, 15ff.). So kann am
Beispiel des europäischen Qualifikationsrahmens eindrucksvoll nachvollzogen werden,
wie die bildungspolitischen Vorstellungen von OECD, UNESCO, EU, Weltbank und
ILO beim Thema LLL ineinandergreifen und über verschiedene Governance-
Instrumente auf nationalstaatliche Reformen einwirken (ebd., 22f.).
„A dense network of activities has been formed, and a consensus has
grown not only that lifelong learning is important, but also that it
is integral part of education policy. In that sense, lifelong
learning has developed into a norm in education policy making; it is
nearly universally acknowledge [sic!] and institutionalized as a
common element of nowadays education policy.“ (ebd., 23)
Dieser Diffusionsmechanismus stoppt allerdings nicht an den europäischen Grenzen,
sondern führt über verschiedene Initiativen weltkultureller Organisationen und die
nationalstaatliche Imitation vermeintlich erfolgreicher Modelle zu einer globalen
Konvergenz. Wie solche Prozesse konkret verlaufen, kann entlang einiger Beispiele
angedeutet werden (vgl. dazu auch Lenhart 2007):
So hatte z.B. in den 1970er Jahren die UNESCO zur vergleichenden Darstellung
internationaler Bildungsdaten die Gliederung des amerikanischen Schulsystems als
deskriptives Modell herangezogen. Es vergingen nur wenige Jahrzehnte, bis die
meisten Länder weltweit ihr Schulsystem nach diesem Schema systematisiert hatten
(Holzer und Kuchler 2007, 79).
Eine ähnliche Entwicklung lässt sich durch die statistischen Erhebungen der OECD
zum PISA-Vergleich beobachten: Ein einheitliches System der Orientierung am
messbaren Output von Bildungserfolgen schwappt über die Welt (ebd.). Das
„Programme for International Student Assessment“ (PISA) untersucht 15-jährige
SchülerInnen, inwiefern sie über die Fähigkeiten und Kenntnisse zur Teilhabe an
der Gesellschaft verfügen und damit den gesetzten Normen entsprechen. Beteiligten
sich im Jahre 2000 43 Länder an dem Vergleich, ist die Zahl bis 2009/10 auf 66
angestiegen - davon sind 36 Staaten kein OECD-Mitglied.
Vergleichbar die Entwicklung der Bologna-Reformen, die -von der EU gefördert-
eine „European Higher Education Area“ schaffen soll. An diesem Prozess beteiligen
sich derzeit 47 europäische Staaten -darunter Armenien, Aserbaidschan und
Türkei-, aber auch die Universität von Melbourne hat sich dieser Entwicklung
angeschlossen (Alexander-Kenneth Nagel, Martens, und Windzio 2010, 4).
Ursprünglich von einflussreichen Staaten initiiert, um interne Widerstände gegen
eine bestimmte Bildungspolitik zu umgehen, zeigen PISA und Bologna
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 270
eindrucksvoll, wie IOs eigene politische Zielsetzungen entwickeln, die sich aus der
institutionellen Eigendynamik heraus ergeben. Über international vergleichende
Studien gaben sie den Staaten einen Blick frei auf andere nationale Standpunkte
und trieben damit einen Konvergenzprozess voran, der sich entlang der Outputs der
Bildungssysteme orientierte und eine alternative Bildungspolitik inhärent empfahl
(ebd., 5f.).
Am 8.11.2000 wurden von der UNO die zehn Millennium Development Goals
(MDGs) aufgesetzt mit dem Ziel, bis zum Jahre 2015 weltweit einen internationalen
Mindeststandard etabliert zu haben. Auf die Bildung beziehen sich zwei Hauptziele:
Zum einen soll eine Primarschulausbildung für jedes Kind gewährleistet und zum
anderen soll für Jungen wie Mädchen ein gleichberechtigter Zugang zur Primar-
und Sekundarschulbildung gesichert sein. Der Weltbank kommt bei der Umsetzung
eine besondere Rolle zu: Mit finanziellen Mitteln wird das Forschungs- und
Ausleihvolumen für entwicklungsschwache Nationalstaaten entsprechend
ausgerichtet. In den bildungspolitischen Schwerpunkten der Weltbank wird der
Primar-, Sekundar- und Hochschulbildung das größte Gewicht beigemessen
(Brandecker 2007, 3f.). Mit der Betonung der Bildung als eigenständigem
Entwicklungsziel läutete die Weltbank eine neue bildungspolitische Phase ein.
Zudem stiegen mit den MDGs die prozentualen Bildungsausgaben am
Gesamtbudget der Weltbank erheblich: Von 4,8% im Jahre 2000 zu 12,7% im Jahre
2003 (ebd., 25). Auch wurden verschiedene Programme initiiert, um der
Dringlichkeit Rechnung zu tragen (ebd., 24):
Education for All im Primarschulsektor;
Education for the Knowledge Economy zur Stärkung der Sekundär- und des
Hochschulbereichs;
Fast Track Initiative (2002), um mit erhöhten Ausgaben die Ziele in allen
Ländern zu erreichen;
Afrika-Aktionsplan (2006), um den regionalen Rückstand zu kompensieren.
Die offensichtliche Erfolglosigkeit historischer Weltbank-Initiativen und damit
einhergehend die ständige Reformbedürftigkeit war -neben einer intensiveren
Auseinandersetzung in der Weltbank- ein Grund, warum sich der Stellenwert der
Bildung über die Jahre zugunsten der Wahrnehmung der Bildung als individuellem
Gemeingut verschoben hat.
„Galt Bildung zunächst nur als Mittel, um die wirtschaftliche
Entwicklung voranzutreiben und wurde sie anschließend als Faktor zur
Armutsverringerung betrachtet, so gilt sie heute als ein
eigenständiges Entwicklungsziel, als ein wichtiger
Entwicklungsfaktor und sogar als Menschenrecht.“ (Brandecker 2007,
26f.)
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 271
Der Einfluss der IOs auf die nationale Bildungspolitik erstreckt sich auf alle drei
politischen Ebenen (Alexander-Kenneth Nagel, Martens, und Windzio 2010, 8):
policy - durch Agenda-Setting
politics - durch Betonung und Einbeziehung neuer Akteure
polity - durch indirekte Beeinflussung der innerstaatlichen Zuständigkeiten
Vor allem der OECD, die eigentlich eine ökonomische Kooperation ist, kommt eine
ungemein grosse Rolle in der Bildungspolitik zu, die über den Einfluss der UNESCO,
als eigentliche bildungspolitische Instanz, hinausgeht. Mit ihrem Soft-Governance-
Ansatz der thematischen wie regionalen Reviews vermag die OECD ihren Einfluss auf
nationalstaatliche Politik ausspielen (Rinne, Kallo, und Hokka 2004, 457f.).
„The popular concepts of globalisation, information society,
accountability, quality monitoring, quality steering, quality
circle, the market, customers, results, evaluation and social
capital are mediated through complicated sets of actions either
straight from the OECD or via the EU." (ebd., 475)
Die Stärke solcher supranationaler Institutionen begründet sich auf ihren
Einnahmequellen, die sie für Forschung und damit für Agenda-Setting über ihre
Publikationsorgane nutzen können (ebd., 476). Ihre zentrale Position beruht auf ihrer
extensiven Kontrolle an Bildungsinformationen, die sie entlang selbst gesetzter
bildungspolitischer, nationaler Indikatoren sammeln und auswerten (ebd., 456).
In welchem Ausmaß die instrumentellen Einflüsse der IOs in nationalstaatliche
Bildungspolitik übersetzt werden, hängt von nationalen transformative capacities ab -
vor allem von den zentralen Veto-Spielern, die Reformen unterstützen oder behindern
können, und den historischen, nationalen Bildungsidealen, die in der Kontinuität oder
im Widerspruch zum weltkulturellen Mainstream stehen können. Je mehr Veto-
Spieler im politischen Entscheidungsprozess beteiligt sind, desto schwieriger wird die
Durchsetzung international empfohlener Reformen und desto kongruenter sollten die
nationalen Bildungsideale mit denen der IOs sein. Glückt dieses Zusammenspiel auf
breiter Front, steht das Reformprojekt auf erfolgreichen Füßen. Ein Durchregieren der
IOs bis hinunter zu den Niederungen der Lernenden ist von daher nur bedingt möglich
(Leuze u. a. 2008, 4). Im Gegenteil: Der Einfluss der Veto-Spieler ist stärker als der
Einfluss der IO-Governance, auch wenn die globale Harmonisierung der
Bildungsstrategien über internationale Akteure immer weiter voranschreitet. Die
Internationalisierung der Bildungspolitik ersetzt nicht nationale Aktivitäten, sondern
passt diese aneinander an. Insofern haben IOs großen Einfluss auf die policy in
Nationalstaaten, weniger auf die konkrete Umsetzung der Bildungspolitik (Alexander
K. Nagel und Knodel 2009).
Wie sich aber Agenda-Setting und ein weltkulturelles, bildungspolitisches Verständnis
in bildungspolitischer Rhetorik nationaler Akteure konkret ausdrücken kann, lässt sich
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 272
am Beispiel der deutschen Bund-Länder-Kommission aufzeigen. Hier vertritt man die
Auffassung, der Einfluss internationaler Organisationen (IOs) auf die nationale
Bildungspolitik liesse sich nur über komparative Studien analysieren, die auf den, von
der UNESCO in Kooperation mit der OECD entwickelten World Education Indicators
aufbauen. Die diesen Indikatoren inhärenten, weltkulturellen Werte, denen auch die
EU-Bildungspolitik folgt, werden nicht weiter in Frage gestellt (BLK 2002).
Ähnlich das Lexikon der politischen Bildung (1999): Demnach zählen Gestaltung,
Legitimation und Administration der organisierten und institutionalisierten
Erziehungs- und Bildungsprozesse zum Auftrag der (deutschen) Bildungspolitik. Ziel
sei es, „drei gesamtgesellschaftliche Grundfunktionen abzudecken: Vermittlung von
Werten (Reproduktion), Verteilung von Berufseinmündungschancen sowie kulturelle
Teilhabe (Selektion) und Anpassung an Anforderungen des schnellen sozialen und
ökonomischen Wandels (Innovation)" (Schumacher 2010, 992:43). Die aktuellen
Vorhaben der Bildungspolitik fokussieren auf die Bildungschancen für Kinder (z.B. in
Form von Ganztagsschulen), die Harmonie im Hochschulraum, Marktorientierung,
Technisierung der Wissensvermittlung und die wissenschaftliche Weiterbildung als
Wettbewerbsfaktor (wie z.B. in der Forderung nach Lebenslangem Lernen und einer
Orientierung am „Aufstieg durch Bildung“) (ebd., 43ff.). An bildungspolitischen
Kontrollkonzepten dienen dabei Bildungspanels, Leistungsvergleichsstudien,
Bildungsstandards (z.B. durch Kompetenzmodelle), BIP-Quoten, Graduiertensystem
(Bachelor/Master), strukturelle Sicherungen (mit Leistungen und Modulen) und sog.
Qualitätssicherungen (in Form von Evaluationen, Akkreditierungen und Rankings)
(ebd., 65ff.).
Konsequenterweise bedarf es für eine solchermaßen Output-orientierte,
evidenzbasierte Bildungspolitik einer empirischen Bildungsforschung, die als subtiles
Steuerungsinstrument ggf. Reformen über internationale Vergleiche nahelegt
(Buchhaas-Birkholz 2009, 30). Über diesen Prozess des Bildungsmonitorings gelangt
die Bildung zu einem objektiven Referenten für die Politik, der ähnlich adressierbar ist
wie „die“ Wirtschaft, Gesundheit oder Sozialpolitik (Brosziewski 2007, 144ff.).
Bildungsmonitoring -in diesem Sinne praktiziert-, ist allerdings keine angewandte
Wissenschaft, sondern Bildungsverwaltung (ebd., 141f.). Damit tritt ein Problem für
die wissenschaftliche Bildungsforschung zutage, nämlich eines der Selbstplatzierung
(ebd., 136): Der Blick muss hier auf politisch steuerbare Einheiten gelenkt werden, d.h.
die Institutionen des Bildungssystems inklusive der professionellen ErzieherInnen.
Außen vor bleiben in dieser Perspektive die Familien, Medien und die zu Erziehenden
selbst, da diese bildungspolitisch kaum zu steuern sind (ebd., 146). Oder um es
überspitzt mit Blick auf die mangelnde demokratische Partizipation der Multi-Level-
Governance über IOs zu formulieren:
„Was bleibt, ist ein elitärer, von konformem Kultur- und
Werteverständnis und breiter Ressourcenausstattung gesättigter
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 273
'Mittelstandsbauch' der Partizipation, der auf die Weltskala erhoben
zum OECD-Kopf wird.“ (Sack und Burchardt 2008, 55)
Vielleicht erklärt dieser Umstand das Befremden der Bildungswissenschaft gegenüber
der Bildungspolitik als etwas Äußerem, das keinen Einfluss auf die pädagogische
Autonomie der eigentlichen, institutionalisierten Bildung haben soll (Tröhler 2006,
87). Da lebenslanges Lernen sich auch außerhalb der institutionellen Bildungsorte
vollzieht, ist es schwierig, das politische LLL-Gesamtkonzept in die
erziehungswissenschaftliche Handlungslogik zu übersetzen und sich an gewünschten
Outputs messen zu lassen. Zu offensichtlich ist die enge Kopplung von konzeptionellen
Zielen politischer Konzepte mit denen der jeweiligen Agenda-Setting-setzenden,
internationalen Organisation(en). Damit liesse sich erklären, warum LLL weiterhin als
Synonym für Erwachsenenbildung verwendet wird und die Beharrungsmomente des
institutionalisierten (Hoch-)Schulbereichs sich den gesellschaftlichen
Wandlungsprozessen verschliessen (vgl. Kraus 2001).
5.1.4 EINFLUS S DER ZIVILGESELLSCHAFT & NGOS
Zivilgesellschaft ist ein Modebegriff mit langer Tradition bis in die Antike. Gemeint ist
damit zunächst das freiwillige Engagement von BürgerInnen in öffentlichen
Vereinigungen mittels ziviler Umgangsformen. Gleichzeitig schwingen in dem Begriff
normative Wertungen, Zustandsbeschreibungen und Zukunftsentwürfe mit (Adloff
2005, 7f.). Theoretisch als nationale gesellschaftliche Kraft neben Staat, Markt und
Privatsphäre etabliert, wandelten sich seit den 1990er Jahren zivilgesellschaftliche
Akteure zur treibenden Kraft der Global Governance und zum Hoffnungsträger einer
wahrhaften Weltgesellschaft.
Eingang in die neuere, breite Diskussion der westlichen Hemisphäre fand die
Zivilgesellschaft über die politischen Akteure der osteuropäischen Opposition, die seit
den 1970er Jahren die Möglichkeit des Aufbaus einer zweiten polis mittels
zivilgesellschaftlicher Kräfte sahen (ebd., 10). Seitdem werden -je nach politischen
Standort- der Zivilgesellschaft unterschiedliche Funktionen zugeschrieben, je
nachdem, welche Nähe die wissenschaftliche Tradition zum Markt oder zum Staat
aufzeigt (ebd., 13f.). Begleitet wird dieser diskursive Sound von einer
handlungspolitischen Entwicklung innerhalb der westlichen Staaten seit den 1960ern
Jahren, die partizipative Demokratie durch eine partizipative Governance herzustellen
- basierend auf den kollektiven Akteuren der organisierten Zivilgesellschaft (Deth und
Maloney 2008, 5).
Die Dichte und Intensität der Vernetzung und die Selbstorganisationsfähigkeit der
BürgerInnen definiert den zivilgesellschaftlichen Grad einer politischen Einheit.
Messbar wird dies über die Zahl der Organisationen und die Beteiligung der
BürgerInnen an diesen gesellschaftlichen Organisationen (Meurs 2007, 1). In diesem
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 274
Sinne zählen zur Zivilgesellschaft alle Interessengruppen, freiwilligen Assoziationen,
sozialen Bewegungen, sozialen Bewegungsorganisationen,
Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Clubs, politischen Initiativen, Stiftungen etc.
pp. (Deth und Maloney 2008, 4). Inwiefern sich diese Organisationen vom Markt oder
vom Staat abgrenzen lassen müssen, um als zivilgesellschaftliche Akteure anerkannt zu
werden, obliegt der politischen Perspektive und macht es schwierig, mit dem Begriff
der Zivilgesellschaft zu operieren.
NGOs sind ein Baustein der Zivilgesellschaft und ihr Bedeutungszuwachs in der
internationalen Politik seit den 1990er Jahren ist ein wesentlicher Grund, warum dem
zivilgesellschaftlichen Einfluss auf die Global Governance solch eine Bedeutung
beigemessen wird. Zwar lassen sich NGOs ähnlich wie die Zivilgesellschaft nur schwer
vom Markt oder vom Staat abgrenzen - insofern sind Definition und Anzahl von NGOs
nicht eindeutig zu identifizieren. Die UNO zumindest fasst den NGO-Begriff sehr weit,
indem sie alle nicht bei ihnen als offizielle Regierungsorganisationen tätigen
Organisationen als NGOs führt. In diesem Verständnis stellen Gewerkschaften,
Arbeitgeberverbände, Verbände von BäuerInnen und Handel oder wissenschaftlichen
Einrichtungen, Wohlfahrtsverbände, Hilfsorganisationen, Stiftungen, Kirchen,
Netzwerke, Selbsthilfevereine, Bürgerinitiativen allesamt NGOs dar (Klein, Walk, und
Brunnengräber 2005, 14) - und sind damit fast deckungsgleich mit den Akteuren der
Zivilgesellschaft.
Allerdings ist ein wesentliches Merkmal der Entstehung von NGOs inhärent: Aufgrund
des erforderlichen gemeinsamen sozialen, humanitären, ökologischen oder kulturellen
Anliegens ist ihnen im Kontext einer globalisierten Welt die grenzüberschreitende
Ausrichtung der Organisation in die Wiege gelegt, während gleichzeitig der Bezug zur
lokalen Unterstützungsbasis bestehen bleibt. So vermögen sie aufgrund ihrer
netzwerkförmigen Organisation verschiedene politische Ebenen zu bedienen, um ihre
politischen Interessen oder operativen Angebote durchzusetzen oder zumindest in die
Öffentlichkeit zu bringen. Aufgrund dessen verstehen sich die grenzüberschreitend
tätigen NGOs als eigentliche Akteure einer internationalen Zivilgesellschaft und
ermutigen Diskussionen, inwiefern die Weltgesellschaft bereit sei für eine
Weltöffentlichkeit, in der die politischen Interessen global diskursiv ausgehandelt
werden (Klein, Walk, und Brunnengräber 2005, 34ff.).
Und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in weltpolitische Aktivitäten wird in Zeiten
einer zunehmenden Internationalisierung der Politik immer wichtiger. Während
ursprünglich dem Staat die Aufgabe zukam, Akteure zusammenzubringen und
konkrete Probleme zu lösen, kommt der Öffentlichkeit -nach John Dewey- die
Funktion zu, gemeinsame, demokratische Problemlösungen auszuhandeln.
Öffentlichkeit entsteht, wenn sich dieser Aushandlungsprozess zwischen mindestens
zwei Akteuren auf Dritte potenziell auswirken kann und diese sich -bedingt durch die
Konsequenzen- in den Prozess mit einbringen möchten. Sind von diesem Prozess keine
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 275
Anderen betroffen, ist das Verhältnis als privat einzustufen. In dieser Sichtweise
kommt dem Staat die Aufgabe zu, die verschiedenen Teil-Öffentlichkeiten
zusammenzuführen und eine übergreifende Problemlösung anzustreben (Adloff 2005,
47f.). Was aber, wenn dem Staat die Handlungsoption genommen ist und er selbst nur
Teil einer multi-lateralen Global Governance ist? Dann kommt der Zivilgesellschaft als
bindende Kraft eine größere Rolle zu - und der Einfluss z.B. von NGOs auf die
öffentliche Meinung steigt.
Indem NGOs moderne Kommunikationsmöglichkeiten nutzen und dort öffentliche,
diskursive Foren und Räume entstehen, können kulturelle Lernprozesse wachsen, die
einen größtmöglichen Konsens innerhalb der nationalen und ggf. internationalen
Zivilgesellschaft erzeugen. Und darauf sind staatliche Akteure angewiesen, um die
wenig demokratisch legitimierten Entscheidungsprozesse in den internationalen
Organisationen innerstaatlich vermitteln zu können (Klein, Walk, und Brunnengräber
2005, 42). Hier wird Realität, was Gramsci der Zivilgesellschaft zuschrieb: Auf deren
Boden wird der Kampf um die kulturelle Hegemonie ausgefochten (Adloff 2005, 41).
Insofern ist es nur konsequent, NGOs als legale Akteure mit Konsultations- oder
Beratungsfunktion an den internationalen Organisationen zu beteiligen oder sie an
den Weltkonferenzen teilhaben zu lassen (vgl. Kissling 2008).
Über die engen Kontakte vieler professioneller NGOs zu den sozialen Bewegungen und
transnationalen Aktionsnetzwerken kommt den Organisationen also eine
Scharnierfunktion zu, v.a. hinsichtlich der Vermittlung transnationaler
Problemzusammenhänge in lokale Problemstellungen (Klein, Walk, und
Brunnengräber 2005, 62). Waren in den 1970er Jahren transnationale NGOs, die aus
den Bewegungsnetzwerken entstanden, dadurch gekennzeichnet, Lobbying-
Organisationen herauszubilden, so vernetzten sich ab 1989 die NGOs immer
informeller und übten öffentlichen Druck auf den Meinungsbildungsprozess aus. Als
„Standbein“ dienten ihnen Proteste und Kampagnen, während sie ihre Lobby-Arbeit
als „Spielbein“ nutzten. Spätestens seit den Protesten in Seattle (1999) und Genua
(2001) bildete sich dann eine globalisierungskritische Bewegung heraus, deren
zentrales Charakteristikum die transnationale Vernetzung der Akteure ist (Klein,
59ff.). Dabei ist die offenkundige Interesselosigkeit der globalisierungskritischen
Bewegung als Motivation für die Konstitution einer globalen Bewegung das zentrale
Momentum, aus dem sie ihre moralische Autorität zieht (Holzer und Kuchler 2007,
84f.). Sie nutzen internationale Organisationen oder auch andere Staaten, um lokal
etwas zu erreichen - eine typische Strategie transnationaler sozialer Bewegungen (ebd.,
89). Die, um im Rahmen internationaler Organisationen Lobby-Arbeit betreiben zu
können, sich über NGOs organisieren müssen.
Das spielt auch den internationalen Organisationen in die Hände, denn über den
NGO-Zugang können diese ihre fehlende demokratische Legitimität teilweise
wiederherstellen. Zum einen, weil lokale Stakeholder über diesen Weg ihre Themen
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 276
auf die internationale Bühne hieven können. Zum anderen, indem die getroffenen
policy-Entscheidungen dem kritischen Blick der verschiedenen Öffentlichkeiten
ausgeliefert werden, um globale Bürgerlichkeit herzustellen. Über die Einbindung
einer globalen Zivilgesellschaft in die Entscheidungsprozesse internationaler
Organisationen könnte ein kommunikatives Netzwerk entstehen, in dem sich
verschiedene nationale und sektorale Öffentlichkeiten teilweise überlappen und neue
Global Governance-Regimes eine Chance sind, neue transnationale Communities der
politischen Handlung entstehen zu lassen (Steffek und Nanz 2008, 7 & 210).
Im politischen Alltag, z.B. der EU, hinkt die Praxis allerdings der idealtypischen
Vorstellung weit hinterher (Maloney und Deth 2008). Die Realität der
aktionsbasierten Organisationsformen genügt noch keinem hohen demokratischen
Standard, der als „capacity to bring about free, informed and inclusive deliberation“
(Steffek und Nanz 2008, 9) definiert werden kann. Weder lassen sich bislang
internationale Organisationen anführen, die diesem Standard entsprächen - auch
wenn sich in den letzten 15 Jahren in diesem Bereich einiges getan hat (ebd., 214). 124
Noch kennzeichnet die interne Struktur von NGOs eine ausgereifte demokratische
Legitimation (Steffek u. a. 2010). Vielmehr erhalten diese erst nachträglich
Zustimmung zu ihren politischen Aktivitäten durch öffentliche wie mediale Resonanz
und dem Zufluss von Spendengeldern, die wiederum benötigt werden zur öffentlichen
Mobilisierung. Insofern muss sich die konkrete Arbeit von NGOs vom Lobbying
privatrechtlicher Organisationen unterscheiden, die eher im Verborgenen agieren
können trotz diverser Transparenz-Bemühungen (vgl. Dinan 2010).
„So kann man von einem Demokratisierungsparadox sprechen, insofern
NROs zwar demokratisierend wirken, es aber selbst oft an
demokratischer Transparenz und Partizipation fehlen lassen“.
(Leggewie 2003, 126)
Gleichwohl vermögen internationale NGOs über ihre netzwerkartige Einbindung und
die Vielfalt der beteiligten NGOs eine globale Öffentlichkeit herzustellen, die
demokratische Züge trägt - obwohl diese einzelnen NGOs teilweise sehr stark von
staatlichen wie privaten Fördertöpfen abhängen und vielfältige Kooperationen
eingehen (Adloff 2005, 145). Dabei spielen sowohl der space of places als auch das
Web eine große Rolle: Zum einen befinden sich die Zentren der internationalen NGOs
überproportional häufig in den Zentren der ökonomischen Globalisierung (60% der
internationalen NGOs agieren aus der EU heraus). Offenbar benötigen NGOs
verläßliche nationale wie internationale Institutionen, die ihnen gewisse
grundrechtliche Rahmenbedingungen gewähren (ebd., 145f.). Zum anderen benötigen
124 So ist vielerorts eine Kooperation von IOs mit NGOs in den Bereichen Entwicklungshilfe,
Konfliktmanagement, Transformationsunterstützung und Demokratisierung zu verzeichnen (Meurs 2007,
10) bzw. sind zivilgesellschaftliche Akteure an über 300 internationalen Regimen beteiligt sind
(Korruptionsbekämpfung, Umwelt- und Sozialberichterstattung, Kampf gegen Infektionskrankheiten o.ä.)
(Deutscher Bundestag 2007).
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 277
NGOs das Web sowohl für ihre eigene NGO-Arbeit (ebd., 126) als auch als globales
Medium, um mehr Transparenz in internationale Handlungspraktiken einzuführen
und stellvertretend in Europa umzusetzen (Steffek und Nanz 2008, 210).
Diese Entwicklung geht einher mit der interaktiven Einflussnahme des Internets auf
alle politischen Ebenen, die politics ebenso wie die policy und die polity. Im
politischen Betrieb vermitteln die in den interaktiven Medien sehr aktiven, gut
informierten BürgerInnen zwischen Expertinnen und mäßig interessierten Menschen
(Leggewie 2003, 116). Das Internet als globales Kommunikations- und
Interaktionsforum ermöglichte die Entstehung einer „von bisherigen Strukturen der
Öffentlichkeit emanzipierten selbstbestimmten Kommunikation“ und ließ NGOs sich
als demokratische (Gegen-)Eliten positionieren (ebd., 119).
„Dabei wird ihnen selbstständiges Navigationsvermögen durch eine
stärker zerklüftete, multimediale und multilinguale
Kommunikationslandschaft abverlangt, deren wichtigste Akteure, die
transnationalen Medienkonzerne, das Internet als traditionelles
‚push-medium‘ für Bezahlinhalte aller Art zu restaurieren
versuchen.“ (ebd.)
Hingegen ist Eigenart des Internets, Individual- mit Massenkommunikation zu
verknüpfen (vgl. dazu auch Castells 2009a). Die Interaktivität des Internets realisiert
sich zwar durch die technologische Infrastruktur in interaktiven medialen Artefakten,
im politischen Prozess aber kennzeichnet sie die Beteiligung aktiver NutzerInnen. Im
Gegensatz zur „zunehmend exklusiver gestalteten Akteurslandschaft massenmedialer
Öffentlichkeit“ (Leggewie 2003, 122) können sich politische Akteure in der globalen
Web-Öffentlichkeit leichter vernetzen. Etablierte Akteure des politischen Systems
erhalten dadurch ein „qualifiziertes Feedback“ von engagierten Akteuren der
Zivilgesellschaft. Dieses Momentum vermag die assoziative und deliberative
Demokratie stärken - auch wenn sich die Formen des digitalen Diskurses zwecks
Kooperation und Koordination qualitativ noch erweitern müssen (ebd.). Zudem
unterstützt das Web die Arbeit der Zivilgesellschaft ungemein. So stärkt das Internet
die Netzwerkstruktur der NGOs. Gleichzeitig bedienen sich NGOs auch der
interaktiven Medien als Kommunikations- und Mobilisierungsmedium (ebd., 126).
Zivilgesellschaftliche Akteure im Bildungskontext agieren auch im Rahmen der von
den IOs dominierten kulturellen Hegemonie. Im Zuge des Bedeutungszuwachses der
Wissensgesellschaft und der Notwendigkeit zum lebenslangen Lernen (LLL) hat sich
ein internationaler Diskurs entfaltet, der das bestehende formale Bildungssystem als
Teil des Problems und weniger als Teil der Lösung thematisiert (vgl. Dale und
Robertson 2007). Alternative Akteure und Angebote erhalten einen wichtigen
Stellenwert, deren Marktorientierung allerdings nicht zu unterschätzen ist. Inwiefern
Bildungs-NGOs ihre Werte über den multilateral education-Ansatz in die Diskussion
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 278
und zukünftige Ausgestaltung um die kulturelle Hegemonie eingebracht bzw. als
bildungsindustrieller Marktpartner oder bildungspolitischer Staatspartner die
vorherrschende Ideologie unterstützt haben, bedürfte einer eingehenden Analyse. Hier
wäre eine differenzierte Unterscheidung zwischen Non-Profit- und Profit-Sektor
einerseits bzw. zwischen staatlicher Zuwendung und marktwirtschaftlicher
Unterstützung andererseits sehr hilfreich. Erste Untersuchungen zur
systemstützenden Funktion von privaten (Non-)Profit-Organisationen in der formalen
Bildung (vgl. Martens, Rusconi, und Leuze 2007) oder in der
Entwicklungszusammenarbeit (Bohler 2008) liegen vor - weitere müssen folgen. Vor
allem der Einfluss von (Bildungs-)NGOs auf die transnationale Bildungspolitik durch
IOs blieb bislang unbeleuchtet. Inwiefern Bildungsforderungen auch zentraler
Bestandteil der zivilgesellschaftlich mächtigen, sozialen Bewegungen werden können,
bleibt abzuwarten. Internationale NGOs mit vernetztem Lokalbezug gilt es aufzubauen,
die als Transmissionsriemen zwischen IOs und Zivilgesellschaft agieren und über
diesen Weg das herrschende Bildungsregime durchbrechen, um ggf. eine moderne
kulturelle Hegemonie aufzubauen. In Zeiten gleichberechtigter Medienzugänge könnte
die Chance dafür gegeben sein.
5.1.5 DIGITAL DIVID E & INTERNET GOVERNANCE
Bislang haben wir festgestellt, dass die internationale Bildungspolitik von einigen
institutionellen Keyplayern gestaltet wird, die primär einer nationalstaatlichen
Interessenpolitik im asymmetrischen Kräfteverhältnis folgen. Gleichzeitig hat die
herrschende Politik erkannt, welche demokratisierende Bedeutung den
zivilgesellschaftlichen Kräften zukommt, um die globale Politik lokal zu legitimieren.
Hier ist jetzt die Zivilgesellschaft gefordert, sich machtvoll einzubringen und zu
organisieren. Aufgrund des space of flows steht es theoretisch jedem einzelnen
Individuum frei, an dieser Entwicklung zu partizipieren und die kollektive Netzwerk-
Kompetenz aktiv mitzugestalten. Um aber Teil einer potentiell globalen
Zivilgesellschaft oder der Netzwerkgesellschaft zu sein, bedarf es zunächst eines
grundsätzlichen Zugangs zum digitalen Netz. Seit den 1990er Jahren hat sich für diese
Unterscheidung zwischen den „Haves“ und den „Haves-not“ der Begriff des Digital
Divide (DD) etabliert. Um diesen im Netzzeitalter zu überwinden, sollten vielfältige
lokale Bezüge in die globale Internet Governance eingebracht werden. Welchen
Einfluss hier die Zivilgesellschaft zukünftig ausüben kann, soll in diesem Kapitel
untersucht werden.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 279
5.1.5.1 DI E VERSCHIEDENEN EBENEN DES DIGITAL DIVIDE
Ohne den Begriff zu verwenden, kann die DD-Forschung als Teil der Forschungen zur
Informationsgesellschaft u.a. von Castells und Bell angesehen werden, die sich mit den
Folgen eines ungleichen Zugangs zu den sozio-ökonomisch wirkenden Informationen
und Netzwerken beschäftigten. Allerdings ist ein rein technologischer Zugang nicht
hinreichend für die Überwindung des DD. Vielmehr weisen neuere Forschungen auf
die Notwendigkeit hin, weitere Faktoren zu berücksichtigen (Haseloff 2007, 19ff.).
Zwar hat sich in der wissenschaftlichen Diskussion bislang keine einheitliche Theorie
zur Analyse des DD durchgesetzt. Vielmehr werden mit dem Schlagwort inzwischen
alle sozialen Ungleichheiten in Verbindung gebracht, so dass vom gender divide über
den democratic divide bis hin zum experience divide (um nur einige zu nennen) eine
Vielzahl an Begrifflichkeiten um die Gunst der Forschungsaktivitäten buhlen. Folgt
man aber dem Kommunikationswissenschaftler Anikar Michael Haseloff, lassen sich
die Analysemodelle zum Digital Divide auf vier Hauptebenen herunterbrechen (ebd.,
23f.):
Access-Ebene: In der Forschung zum physischen Zugang nnen nach dem
Bildungstechnologen Mark Warschauer zwei Modelle unterschieden werden: Zum
einen der Zugang zu den technologischen Geräten (Computer, Handys, TV o.ä.) und
zum anderen der Zugang zu den Leitungen (Breitband, Telefonnetz, Stromnetz o.ä.)
(ebd., 28). Angesichts der globalen wie lokalen Ungleichheiten zu diesen Zugängen
wurden seitens diverser internationaler Organisationen (UNO, OECD, Weltbank,
ITU, ICT Taskforce, NGOs etc.), nationaler Regierungen und internationaler
Konzerne eine Vielzahl technikzentrierter Programme initiiert, um den DD zu
überbrücken (ebd., 38f.). Dabei herrschen drei Strategien vor (ebd., 75ff.): Zum
einen die Verbesserung und der Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur; zum
zweiten die Low-Cost-Devices-Strategie, über die die Kosten für Endgeräte und
Verbindungen verringert werden; und zum dritten die Public-Access-Modelle, die
sich wiederum unterscheiden lassen in Civic Access Centers (wie Bibliotheken,
Gemeinderäume, Postämter oder Schulen), Community Access Centers (von NGOs
initiierte Village Kiosks, Basic Telecentres oder Multipurpose Community Centres)
und Cybercafes (Konzepterweiterungen in gastronomischen Betrieben und
Internet-Pools) (ebd., 88).
Skill-Ebene: An humanen Ressourcen bedarf es nach Warschauer -neben gewisser
Basisfähigkeiten und grundlegender Sprachkenntnissen- v.a. diverser E-Literacy-
Skills, die sich in Computer-, Information-, Language-, Multimedia- und
Computer mediated Communication-Literacy unterteilen lassen (ebd., 44ff.), die
sich über vielfältige formale wie informelle Bildung aufbauen lässt.
Content-Ebene: Jeder Zugang zur Netzwerkgesellschaft ist auf der Access- wie Skill-
Ebene unzureichend, wenn nicht relevante digitale Ressourcen in Form von
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 280
Informationsmedien wie Text, Bild, Audio, Video oder Anwendungen wie
Datenbanken oder Spiele vorliegen. Hier spielen v.a. regionaler und lokaler Content
eine Rolle als auch E-Governance-Ressourcen (ebd., 57ff.).
Motivation-Ebene: Auf dieser Ebene wirken sich die motivationalen Einstellungen
zur Internetnutzung und zur politischen Partizipation auf die Nutzung an sich, die
Nutzungsmuster und die Differenzierung zwischen aktiver und passiver Nutzung
aus (ebd., 63ff.).
Public Network Access Points (PNAP) können auf allen vier Ebenen wirken und einen
Ansatz zur Überwindung des DD bieten. Allerdings zeigte sich in der Untersuchung
von Haseloff, dass neue IKT bislang nur zu einem geringen Anteil für marginalisierte
Gruppen und in ländlichen Regionen zum Einsatz kommen. Von einem
flächendeckenden Einsatz von PNAPs kann in Entwicklungsländern nicht die Rede
sein (ebd., 281). Zumal die nationalen Telekommunikationsanbieter mit ihren
politischen Verbündeten aggressiv gegen neue Ansätze angehen (Wilson III und Wong
2007, 15).
Andererseits hat das gewaltige Wachstum auf dem Mobilfunk-Markt mitsamt der
Möglichkeiten, mobil in das Internet einsteigen zu können, eine Entwicklungsrichtung
eröffnet, die in den theoretischen Analysen bislang kaum berücksichtigt wurde. Auch
die über die medial-technologischen Werkzeug-Skills hinaus gehende individuelle
Netz- und kollektive Netzwerk-Kompetenz findet kaum einen Weg in die
bildungstheoretischen Überlegungen, da sie sich nur schwer operationalisieren lassen.
Diese gesellschaftlich angebundenen Kompetenzformen sind aber erforderlich, um auf
der persönlichen Skill-Ebene in der Netzwerkgesellschaft den Kulturraum Internet
qualitativ nutzen und gestalten zu können. Zudem kommt auf der Content-Ebene den
Social Media eine große Bedeutung im Web 2.0-Zeitalter zu. Indem hier neben dem
Circular Entertainment auch das Social Computing und das Creative Internet in den
Blick genommen werden muss (analog zu Frank Thomas, Vittadini, und Gómez-
Fernández 2009), sollte heute vielleicht treffender von einer Social Content-Ebene
ausgegangen werden. Schließlich gilt es auf der Motivation-Ebene, die
Voraussetzungen für das Flow-Erleben bei der Analyse mit einzubeziehen, die eben
auch sozio-kulturell wie sozio-technologisch geprägt sind.
Der physische Zugang zum Netz ist die zentrale Voraussetzung zur Überwindung des
DD. Je nach geographischer Lage (Gerätezugang und Netzzugang), sozio-
ökonomischer Rahmenbedingungen (Arbeit, Branche, Einkommen), familiärer
Haushaltsstruktur (Kinder unter 18 Jahren) und individueller Konfiguration (Alter,
Geschlecht, ethnischer Background, Bildung) entschied sich bislang, auf welcher Seite
des Digital Gaps der einzelne Mensch landete (vgl. z.B. Castells 2001b, 1:255; Cheong
2005; OECD 2001). Angesichts von global fünf Milliarden mobiler Abonnements im
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 281
Jahre 2010,125 ist auf der Access-Ebene der Zugang zumindest theoretisch gelöst. Der
digitale Graben entsteht zwischenzeitlich v.a. auf der Social Content-Ebene und den
Fragen rund um die Netzneutralität.126 Hier schlägt die Exklusion unmittelbar in Form
einer verpassten virtuellen Sozialität durch, wenn Menschen zu reinen Adressaten
deklariert werden und aufgrund strukturell verordneter Passivität nicht an der
Netzwerkgesellschaft teilhaben nnen - auch wenn dieser Umstand subjektiv ggf.
nicht als qualitativer Nachteil empfunden wird.
Der Religionsphilosoph Johann Evangelist Hafner unterscheidet systemtheoretisch
nach Niklas Luhmann zwischen dem Zugang zum Internet als Werkzeug versus dem
Zugang zum Internet als Medium. Ist der physische Zugang zum Werkzeug versperrt,
entsteht Ungleichheit. Hingegen ist keine Ungleichheit gegeben, wenn der Zugang zum
Medium unmöglich ist, da die ausgeschlossenen Menschen gar nichts von ihrer
Exklusion wissen. Denn prinzipiell inkludiert das Internet alle Menschen - sofern der
physische Zugang gegeben ist. Faktisch schliesst das Internet allerdings all die
Personen aus, die als User zu Konsumierenden degradiert werden - auch wenn sie die
benötigten E-Literacy-Skills mitbringen (vgl. Hafner 2004). So existieren
Befürchtungen, dass der digitale Graben bestehende Ungleichheiten vertieft, wenn
bestimmte Dienstleistungen (z.b. bei der medizinischen Versorgung) sehr stark an das
Internet gebunden werden (ebd., 51). Denn „Exklusion ist Ausschluss von
Kommunikation durch (andere) Kommunikation, nicht durch Nicht-Kommunikation.“
(ebd., 67)
Der DD ist in dieser Sicht eine „strukturell festgelegte Asymmetrie der
Beobachtungsrichtung im Internet" (ebd.). Diese Sichtweise erweitert den klassischen
Blick, wie er z.B. von der OECD eingenommen und propagiert wird (OECD 2001):
Während internationale Organisationen ihre Aktivitäten auf die physischen und
individuellen Zugangsvoraussetzungen konzentrieren, sollten in der Konsequenz der
systemtheoretischen Analyse auch die geopolitischen Strategien des rechtlichen
Zugriffs auf die webbasierten Angebote in den Fokus der DD-Forschung gerückt
werden. Die aktive Teilhabe an der Netzwerkgesellschaft geht über den passiven
Zugang zum Internet hinaus. Das „Unterschichteninternet“ (Eigenbrodt 2007, 3), das
Unterhaltung statt Information und Kommunikation fördert, führt bestehende soziale
Ungleichheiten fort. Da die virtuelle Welt eng gekoppelt ist an die gesellschaftliche
Realität, diese wiederum eng verbunden ist mit dem Zugang zu Informationen als
Grundlage zur Generierung modernen Wissens, ist es offensichtlich, dass der Digital
Divide nicht über die Herausbildung eines globalen Konsummarktes zu überwinden
sein wird. Zudem entscheiden sich viele Personen bewusst oder unbewusst gegen die
aktive Netzteilhabe, so dass der Herausbildung einer sozio-kulturellen, globalen Ethik
der informationellen Partizipation eine große Bedeutung zukommt. Hier können z.B.
125 http://academy.itu.int/news/item/89/ (05.03.2011)
126 Siehe dazu die laufende Diskussion unter http://www.netzpolitik.org/tag/netzneutralitaet/ (05.03.2011)
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 282
öffentliche Hilfsangebote wie die von Bibliotheken hilfreich sein (ebd., 5). Die
Aktivierung exkludierter Personen über die Bereitstellung von Internetanschlüssen
und klassischer bildungspolitischer Programme -wie von der OECD gefordert- greift
hier zu kurz.
Auch müssen die neoliberalen Messgrössen zur Indikation des globalen wie regionalen
DD hinterfragt werden. Zwar ist der technologische Zugang zu Computern und zum
Internet eine wichtige Voraussetzung zur Überwindung des DD, aber die Anzahl an
angebundenen Haushalten sagt wenig über den Fortschritt zur
Informationsgesellschaft aus. Komplexere Indizes wie z.B. der Digital Access Index
(DAI)127 der International Union of Telecommunications (ITU) zeigen die
gesellschaftliche Durchdringung digitaler Voraussetzungen (Infrastruktur,
Erschwinglichkeit, Wissen, Qualität, Gebrauch) im nationalen Vergleich an. Hier wird
deutlich, dass nicht ganze Staaten von der Netzwerkgesellschaft abgehangen sind,
sondern die globale digitale Verbindung entlang vernetzter Personen möglich ist. Es
stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, die standardisierten
Indikatoren des DAI anzupassen an die Anforderungen des World Summit on the
information society (WSIS) oder der World Bank’s Network Readiness of Economies
und z.B. die Frequentierung von Bibliotheken mit in den Blick zu nehmen (Kouadio
2007, 2f.).
Überhaupt kommt der ITU eine zentrale Stellung zu auf dem Gebiet der Regulierung
der globalen Telekommunikation, indem sie Standards setzt, Entwicklungsstaaten
berät, z.B. die WSIS-Konferenzen organisierte und den Solidaritätsfonds verwaltet, der
allerdings mangels Engagement der Industriestaaten wenig erfolgreich verläuft.
Gleichzeitig wirkt eine Vielzahl anderer internationaler Organisationen in diesem Feld
- ebenso einige Regierungen in Kooperation mit NGOs. Deren Initiativen reichen von
Analysen und IT-Beratung über Bildungspolitik, Schulanbindung, öffentliche Zugänge,
Förderung von Open Source und Open Education bis hin zur Unterstützung
kostengünstiger Zugänge zum Netz (ebd., 11ff.).
Die enge Verbindung des von internationalen Organisationen berechneten
statistischen Gaps zum DD lässt Entwicklungspotenziale außer Acht, die ggf.
alternative Wege zur Netzwerkgesellschaft aufzeigen könnten. Eine Fokussierung auf
nationalstaatliche Unterschiede zoomt über lokale und individuelle Differenzen
hinweg und verunmöglicht einen strukturellen analytischen Zugang. So müsste z.B.
auch die enge globale Anbindung der IP-Netze an die USA und die daraus
resultierenden Zahlungen für Datenaustausch und Konnektivität an US-
Telekommunikationsanbieter überdacht werden. Wie diese Problematik neu zu
verhandeln und das World Wide Web zu restrukturieren ist, wird eine schwierige
Aufgabe sein angesichts einer fehlenden formalen Governance-Struktur (ebd., 14).
127 http://www.itu.int/ITU-D/ict/dai/ (05.03.2011)
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 283
Indem Erstnutzer/innen eine Technologienutzung auch für die später
hinzukommenden User formen, hat der Zugang zur Technologie weitergehende
Konsequenzen - darin liegt nach Castells der grundlegende DD begründet (Castells
2001b, 1:255).
Insofern ist den oben angeführten Ebenen des DD eine weitere hinzuzufügen, die als
Dimension der Internet Governance nicht zu unterschätzen ist: In der
Repräsentationsdimension spiegelt sich wider, welche Länder in den Internetgremien
vertreten sind (Greis 2004, 49f.) und die Netzwerkgesellschaft formen, um mit
Castells zu sprechen. Denn das Internet ist mehr als nur ein Medium oder eine
Technologie - durch seinen Netzcharakter wirkt die Technologie über die
Transformation von Informationen in Wissen in alle sozio-kulturellen wie sozio-
ökonomischen Aktivitätsbereiche hinein (Castells 2001b, 1:269). Hier den Blick
lediglich auf das rechnerintensive Breitbandnetz für den Transfer großer Multimedia-
Pakete zu konzentrieren, erscheint angesichts des globalen Siegeszuges der mobilen
Endgeräte etwas verkürzt. So lässt sich der Erfolg des Mobilen zurückführen auf
dessen inhärent soziale Funktionen (Slater und Kwami 2005), die den neuen medialen
Kulturraum zur kommunikativen Entfaltung bringen. Mobilfunk-Netzwerke sind
vertrauensvolle Netzwerke aufgrund der bilateralen Bekanntschaften - hier existiert
ein grosses Mobilisierungspotenzial zugunsten spontaner, aufständischer
Communities, die keiner Führung bedürfen (Castells 2009a, 348). Die
Partizipationshürden an diesen sozio-technologischen Vernetzungstrends sind
maximal niedrig und erfordern keine formale Ausbildung zur aktiven Beteiligung.
5.1.5.2 ZIVILGESELLSCHAFTLICHER EINFLU S S AUF DIE INTERNET
GOVER N A NCE
Der Erfolg des Internets lässt sich zurückführen auf das dynamische Geflecht
öffentlicher und privater Strukturen, die kaum von zentralen Akteuren kontrollierbar
sind. Gleichwohl sind im Laufe der Jahre verschiedene Regelungsregimes auf
verschiedenen Layern entstanden (vgl. Abbildung 20), die gemeinsam die konkrete
Ausgestaltung und Struktur des Internets definieren (Kapur 2005; Benkler 2007,
389ff.).
Heftig umstritten ist das bestehende Regime der Internet Governance auf der
logischen Ebene, das -historisch bedingt- unter US-Aufsicht von der Internet
Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) ausgeübt wird (siehe
ausführlich zu ICANN & Internet Governance: Peake 2004). Um diese Dominanz zu
durchbrechen, starteten in den 1980er Jahren erste internationale Anläufe, die
Weltinformations- und -kommunikationsordnung neu zu gestalten. So bemühten sich
seit den 1970er Jahren die Entwicklungsländer v.a. über die UNESCO, in den
marktorientierten free flow of information politisch einzugreifen. 1984 wurde dann
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 284
seitens der UNESCO ein Vorschlag unterbreitet, eine neue Weltinformations- und
Kommunikationsordnung (NWIKO) einzuführen und damit ein Recht auf Information
zu gewähren, um den ungleichen Zugang zu den Nachrichtensystemen neu zu
verteilen. In der Folge dieser Initiative traten die USA und Großbritannien unmittelbar
aus der UNESCO aus. Dies war der Beginn des Niedergangs dieser Initiative - ab 1989
wurde der Begriff „NWIKO“ nicht mehr in offiziellen Resolutionen und
Arbeitsprogrammen der Organisation verwendet (Hans Peter Schmitz 1995).
Erst mit Beginn des 21. Jahrhunderts wurden auf der internationalen Bühne zwei neue
Versuche einer Global Governance im Informationssektor zur Überbrückung des
Digital Divide gestartet. Im Jahre 2000 verabschiedeten die G8 die Okinawa Charter
on Global Information Society, die Hilfen für ärmere Nationen vorsieht und mithilfe
der Digital Opportunity Task (DOT) Force konkrete Maßnahmen zur Überwindung der
digitalen Spaltung anging.
„Inhaltlich setzt die DOT Force insbesondere auf die Durchsetzung
einer Entwicklungsstrategie, die den Einsatz von
Informationstechniken in allen Bereichen berücksichtigt. Es geht
somit um ein Mainstreaming der IT in Entwicklungsprogramme.“ (Heesen
2004, 216)
Die DOT Force setzt sich zusammen aus „Delegierten der G8, der Entwicklungsländer,
des privatwirtschaftlichen und des gemeinnützigen Sektors sowie von internationalen
Organisationen“ (ebd.), die sich verschiedenen Arbeitsfeldern zuwandten und mit der
Schaffung von sieben Implementation Teams im Juni 2002 die DOT Force formell
wieder auflösten. Eine zivilgesellschaftliche Mitarbeit an den durch die
Implementation Teams geschaffenen Einzelprojekten liess sich nicht erkennen.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 285
Einen weiteren Versuch, die Informationsgesellschaft global zu verhandeln, wurde mit
der Initiative zugunsten eines UN-Weltgipfels, dem World Summit for the Information
Society (WSIS), gestartet. Unterteilt in zwei Konferenzen (2003 in Genf und 2005 in
Tunis) kamen -unter Federführung der Vereinten Nationen und koordiniert von der
ITU- über 11.000 Personen als Vertreter/innen der Privatindustrie und der
Zivilgesellschaft zusammen, mit dem Ziel, eine gemeinsame Verfassung für das
Internet zu erstellen.
Dieser Gipfel wurde inszeniert als Modell des neuen Multi-Stakeholder-Ansatzes im
Geiste der zukünftigen globalen Informationsgesellschaft, indem die Zivilgesellschaft
bereits bei den Vorbereitungen als Beobachterin und Beraterin mit eingebunden wurde
- sowohl in den diversen Präsenzveranstaltungen als auch über eine eigens
eingerichtete Online-Plattform. Kanada und Deutschland integrierten gar einige
Repräsentanten in ihre offizielle Staatsdelegation, um die aktive Partizipation der
Zivilgesellschaft sicherzustellen - während repressivere Staaten wie China und
Pakistan sich entschieden dagegen verwahrten, andere Repräsentanten ihrer
Bevölkerung zuzulassen. Auch die globale Verteilung der aktiven NGOs im WSIS-
Prozess wies eine Dominanz zugunsten westlicher Staaten auf - allerdings mit breitem
Interesse junger afrikanischer NGOs, aber geringer asiatischer Beteiligung. An Hürden
galt es für zivilgesellschaftliche Organisationen zu nehmen: die Akkreditierung und das
seitens der ITU forcierte Management des Summits mittels inhaltlicher
Kategorisierung, räumlicher Separation und technologischen Sicherheitskontrollen.
Zudem benachteiligte der Digital Divide bestimmte zivilgesellschaftliche Gruppen an
der Online-Partizipation (vgl. Cammaerts und Carpentier, 2005).
Schlussendlich muss konstatiert werden, dass der zivilgesellschaftliche Beitrag weniger
demokratisch verlief wie zu Beginn erhofft. Zum einen kann nicht von einem
zivilgesellschaftlichen gemeinsamen Konzept hinsichtlich einer wünschenswerten
Internet Governance ausgegangen werden. Zum anderen offenbarte sich das formale
Regelwerk als zentrales Problem, weil es lediglich informelle Einflussmöglichkeiten
und keine aktive Partizipation von zivilgesellschaftlichen Gruppen vorsah. Zudem war
die Resonanz von VertreterInnen der Privatindustrie verhältnismäßig bescheiden -
offenbar konnten sie ihre Interessen besser über Lobbyarbeit und Dachorganisationen
einbringen (Cammaerts und Carpentier, 2005, 27ff.).
„Resistance by states thus takes two contradictory stances. On the
one hand by asserting that the WSIS deals with non-political,
technological and economical matters, which implies that from a
liberal perspective the state(s) should not intervene. On the other
hand it is stated that the WSIS is 'not political enough', whereby
the political is defined in a minimalist state- centred way,
excluding civil society. From both perspectives civil society’s role
is discredited. The former interpretation excludes civil society, as
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 286
the market is supposed to regulate itself and the latter
interpretation excludes civil society because it is considered ‘not-
representative', and thus not politically legitimate.“ (Cammaerts
und Carpentier, 2005, 33)
Damit symbolisiert WSIS weniger einen inhaltlichen Einschnitt zivilgesellschaftlichen
Einflusses auf den formalen Prozess als einen qualitativen Sprung zur Vernetzung und
Vermittlung einer globalen Zivilgesellschaft. Zwar hat der reduktionistische
Partizipationsbegriff während des WSIS-Prozesses zu Frustrationen geführt,
angesichts der euphorischen Ankündigung einer zivilgesellschaftlichen Einbindung
(ebd., 35f.). Gleichwohl wurden erste Grundlagen einer globalen Zivilgesellschaft
geschaffen, um der entstehenden, normativen Informationsgesellschaft eine
demokratische Legitimation zu geben. Denn den internationalen Organisationen wehte
ein kühler Wind seitens globalisierungskritischer Bewegungen entgegen, die es
einzubinden galt (Hintz 2007, 6). Diese Instrumentalisierung demonstriert einerseits
die Einflussnahme internationaler Organisationen auf die Internet Governance -
offenbart aber andererseits das Machtpotenzial, das zivilgesellschaftlichen Initiativen
bleibt. Den Digital Divide zu überbrücken, um möglichst alle interessierten Personen
teilhaben zu lassen an der Netzwerkgesellschaft, hat eine kulturelle Hegemonie
erlangt, die im dialektischen Verhältnis zur neoliberalen Herrschaftsökonomie steht.
Einig ist man sich hinsichtlich dreier Aspekte:
„Der Vergegenständlichung des Universalisierungsgedankes in der
Informations- und Kommunikationstechnik, der Kopplung der weltweiten
Nutzung des Internets an einen normativen Öffentlichkeitsbegriff und
der Schaffung einer globalen Sozialutopie in dem Begriff der
Informationsgesellschaft.“ (Heesen 2004, 215)
Hingegen kann die Zielrichtung der Initiativen unterschieden werden (Kuhlen 2004):
Während die industriellen Vertreter/innen neue Märkte schaffen wollen über den
Ausbau der technischen Infrastruktur und die Beförderung einer globalen
Informationswirtschaft, zielen weite Teile der Zivilgesellschaft auf die Mitbestimmung
und Gestaltung einer nachhaltigen und partizipativen Gesellschaft. Zudem ist die
Politisierung des Internets ein großer Streitpunkt. Während v.a. die westlichen Staaten
eine nichtstaatliche Deregulierung des Internet-Marktes verfolgen, treten v.a.
Entwicklungsländer und auch die zivilgesellschaftlichen Kräfte mehrheitlich für eine
Regulierung des Internets zugunsten von Datenschutz, einer Erweiterung der
Menschenrechte und der Neudefinition intellektueller Eigentumsrechte ein.
Im Ergebnis liess der WSIS-Prozess aus zivilgesellschaftlicher Sicht nach Kuhlen einige
Punkte offen, die zukünftig weiter verhandelt werden müssen (Kuhlen 2005): Neben
dem Aufbau einer fairen Internet Governance -die ICANN bleibt bis auf Weiteres als
zentraler Verwalter des Netzes bestehen- sind dies die Institutionalisierung einer
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 287
globalen Zivilgesellschaft, die Diskussionen rund um die Intellectual Property Rights
im Rahmen einer Development Agenda, die Kämpfe gegen eine einseitig auf
kommerzielle Verwertung kultureller Güter jedweder medialen Art und das Recht auf
Kommunikation als menschenrechtlich einklagbares Ziel.
„Information und Kommunikation als öffentliches oder privates Gut,
demokratischer und gleichberechtigter Zugang zu Information, der
digital divide, die Rolle und Verantwortung des Staates und neuer
nichtstaatlicher Teilnehmer am Prozess von Informationsherstellung,
-management und -verteilung, die demokratische Verwaltung von
Information auf inter-gouvernmentaler Ebene oder die Frage, ob ein
'Recht auf Kommunikation' möglich und wünschenswert ist, bleiben
bislang weitgehend unbehandelt. (...) Insgesamt drängt sich der
Eindruck auf, dass die etablierten Verfahren, Organe und
Institutionen von der Entwicklung der Informationsgesellschaft eher
überrollt werden als sie aktiv mitzugestalten.“ (Oberleitner 2007,
74)
Angesichts des quantitativen Sprungs des mobilen Zugangs zum Netz mitsamt der
vergleichsweise flexiblen Zugangsgebühren per Prepaid-Karten (Esselaar und Stork
2005), wird die Notwendigkeit offenkundig, die Internet Governance
zivilgesellschaftlich anzubinden, um kreative Grassroots-Initiativen auch politisch zu
integrieren. Solange das Netz aber als bespielbarer Konsumentenmarkt angesehen
wird, setzt sich der Digital Divide an den Kampfeslinien bisheriger Unterdrückung
fort. Es sollte strukturell gewährleistet sein, allen Menschen eine aktive Teilhabe zu
ermöglichen. Und da in Zeiten mobiler, drahtloser Kommunikation der Zugang
allgegenwärtig ist, wird der Raum transzendiert. Damit ist auch die Zivilgesellschaft
aufgrund ihrer sozio-technologischen Organisation, die in Echtzeit erfolgt, strukturell
global angelegt.
„Internet, paradigm of the technological convergence and the
globalization of communications, has developed a governance model
that differs from any structure previously known in the
telecommunications sector. Innovation, collaboration and
participation of multiple agents are characteristic of Internet.
Dealing with the challenges lying ahead involves active engagement
and enhanced relationships between different sectors in the society
and at a global level.“ (Olmos u. a. 2007, 11)
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass seit dem WSIS Summit seitens der UNO einige
internationale Initiativen gestartet wurden, über ICT auf die Entwicklungsdynamik
einzuwirken, um die Milleniumsziele bis zum Jahre 2015 zu erreichen. Am etablierten
Prinzip der Internet Governance allerdings hat sich trotz des seit WSIS fortgeführten
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 288
Multi-Stakeholder-Ansatzes wenig geändert (Khan 2007). So ist es Castells'
Überzeugung, dass die Staaten lediglich nach modernen Regulierungsmöglichkeiten
des Internets fahnden (Castells 2009a, 115). Gleichwohl stellt der WSIS-Prozess einen
Erfahrungshorizont bereit, aus dem sich einige Lehrstücke ziehen lassen für die
Organisation einer globalen Zivilgesellschaft:
In einem langwierigen bottom-up-Prozess gelang es der globalen Zivilgesellschaft,
sich über eine komplexe institutionelle Struktur zu organisieren und eine
zivilgesellschaftliche Deklaration zu verabschieden (Dany 2008, 57).
Die Dominanz organisierter, westlicher, zumeist europäischer NGOs desintegriert
die vielen einzelnen zivilgesellschaftlichen Aktiven und Unterprivilegierten - es gilt,
den vielen Einzelnen der Zivilgesellschaft ein Forum zu bieten und die
traditionellen institutionellen Strukturen zu transformieren (ebd., 60f.).
Ernüchtert stellten BeobachterInnen des WSIS-Prozesses fest, dass über diesen
Weg das Ziel einer inklusiven Informationsgesellschaft nicht erreicht werden kann.
Einen fluiden Netzwerk-Ansatz auf Governance-Ebene zu konstituieren, der
Menschen vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Interessen repräsentiert, könnte
eine Lehre sein, die sich aus dem schwierigen WSIS-Prozess für die Etablierung
eines Multi-Stakeholder-Ansatzes der Global Governance ziehen lässt (Hintz 2007,
11ff.).
Auch dürfte die Zeit gekommen sein für informelle soziale Bewegungen und
„organisierte Netzwerke“, die Möglichkeiten der Online-Vernetzung zu nutzen und
formale, zentralisierte Methoden mit der informellen ckbindung zu verbinden.
Erst über derart skalierbare, neue, institutionalisierte Formen liesse sich eventuell
die Vielzahl an Wünschen, Bedürfnissen und Interessen, die sich über vielfältige
sozio-technologische Beziehungen artikulieren, organisieren und zu einer
informationellen Demokratie führen (Rossiter 2006, 100f.).
5.1.6 ZWISCHENFAZIT: BILDUNGSPOLITIK I N DER
NETZWERKGESELLSCHAFT
Der wachsende Einfluss internationaler Organisationen (IO) auf die nationale
Bildungspolitik ist gross und spiegelt sich im modernen Governance-Analyseansatz
wider. Kollektives Handeln verschiedener staatlicher wie nicht-staatlicher Akteure
organisiert sich bei der Global Governance in einem komplexen Mehrebenensystem
der internationalen Politik, die auch innerstaatliche Akteure und Institutionen
einbezieht. Ähnlich verhält es sich mit der Educational Governance, die Potenziale
und Grenzen bewusst gestalteter Handlungskoordinationen verschiedener Akteure
analysiert und über diesen Weg nationale Unterschiede eines global harmonisierten
Bildungsverständnisses aufzuzeigen vermag. Diese Harmonisierungstendenzen
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 289
begründen sich durch den Bedeutungszuwachs und die Eigendynamik verschiedener
IOs, die -ursprünglich von staatlichen Akteuren instrumentell eingesetzt, um nationale
Widerstände zu umgehen- zunehmend eine world polity betreiben. Deren Macht
speist sich primär aus einem globalen Agenda-Setting, das in einem window of
opportunity im Zusammenspiel mit realen Problemen standardisierte
Lösungsvorschläge anbietet und die Durchsetzung mittels breit legitimierter
Instrumente ermöglicht. Indem policy, politics und polity gleichermaßen beeinflusst
werden können seitens einflussreicher IOs, formen sie vordergründig
nationalstaatliche Politik mit. Je nach nationalem Weltbild gelingt die
Implementierung vorgeschlagener Reformen dann besser oder schlechter. Über die
längerfristige Zeitachse hinweg ist allerdings eine internationale Harmonisierung zu
erkennen - vor allem im bildungspolitischen Bereich.
Dort hat sich ein globales multilaterales Bildungssystem herausgebildet, das u.a. auf
einer Vielzahl an Bildungs-IOs bzw. -NGOs und staatlichen wie privaten
Bildungsinstitutionen aufbaut, die sich zwischenzeitlich zu komplexen, beratenden
Bildungsnetzwerken ausdifferenzierten. Auffällig ist, wie auch hier die
harmonisierende Weltkultur wirkt, die sich nur in Nuancen konkreter
Handlungspraktiken unterscheidet. Dabei kommt v.a. der OECD eine wichtige Rolle
zu, die es versteht, im Wechselspiel mit mächtigen innerstaatlichen Veto-Spielern auf
der politics-Ebene ihre policy einzubringen und über analytische Reviews bzw.
empirische Vergleichsstudien auf die polity einzuwirken. So hat sich über das Gros
staatlicher wie nicht-staatlicher Bildungsakteure ein moderner Bildungsbegriff in
Gestalt des Lebenslangen Lernens gelegt, der als eigenes Menschenrecht über den
klassischen Bildungsbegriff hinausgeht, sich aber weiterhin über formalisierte
Bildungsangebote realisiert.
Gleichzeitig fügt sich das neue Verständnis in die kulturelle Hegemonie ein, die mittels
eines dichten Netzwerkes diverser IO-Aktivitäten gestützt wird - im Non-Profit- wie im
Profit-Sektor. Beiden Organisationsformen kommt dabei eine die staatlichen
Aktivitäten korrigierende Bedeutung zu, die sich in der neoliberalen Logik des
staatlichen Rückzugs wieder findet. Solange die IO-Aktivitäten die kulturelle
Hegemonie unterstützen, wirken sie gar als Gerüst einer transnationalen
Zivilgesellschaft, die Demokratiedefizite staatlich legitimierter IOs kompensiert. Mit
der Auflösung der Deckungsgleichheit von Staat, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und
Politik gelangt die Frage, inwiefern eine globale Zivilgesellschaft auf der Basis
gemeinsamer oder konkurrierender Werte einen kulturellen Zusammenhalt zu
generieren vermag, zu großer Bedeutung.
„In the last resort, it is only the power of global civil society
acting on the public mind via the media and communication networks
that may eventually overcome the historical inertia of nation-states
and thus bring these nation-states to accept the reality of their
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 290
limited power in exchange for increasing their legitimacy and
efficiency.“ (Castells 2009a, 42)
Nach Castells bildete sich die Netzwerkgesellschaft seit den 1960er Jahren aus dem
Wechselspiel von sozialen Bewegungen, industrieller Krise und Aufkommen der IKT
zum Informationalismus aus, das die Machtverhältnisse zum Wanken brachte. Im
space of flows kommt eine neue Kulturtechnik zur Entfaltung: die fliessende
Interaktion mit zeitlich sich verändernden Objekten steht auch zivilgesellschaftlichen
Kräften zur Verfügung und unterläuft damit die tradierten Vermachtungen im space of
places. Temporäre Netzwerke finden sich emergent zusammen, deren Flexibilität,
Skalierbarkeit und Überlebensfähigkeit sich gut über den elektronischen
Informationsfluss managen lassen. Den klassischen Eliten stehen nunmehr kulturelle
Werte der Zivilgesellschaft gegenüber, die sich entlang der neuen Kampflinie
organisieren. Von daher wird die entscheidende Frage fortan lauten, wer die
„strukturell relevanten“ und wer die „strukturell irrelevanten“ Menschen der Zukunft
sind. Indem NGOs auf der internationalen Bühne den Staaten als Wächter der
Humanität konkurrierend entgegen treten und die Staaten zunehmend weniger
Kontrolle über den medialen Filter ausüben können, offenbart sich Macht im
Netzwerk-Staatensystem nur noch in kurzfristigen Projekten. Neue
Machtmechanismen entstehen: Entweder gilt es, die Ziele des temporären Netzwerkes
resp. Regimes mit zu definieren oder es bedarf der geschickten Verbindung
verschiedener Netzwerke, um deren gemeinsame Interessen und Ressourcen zu
sichern. Macht resultiert zukünftig aus dem endlosen Kampf um die kulturellen Codes
einer Gesellschaft und dem Versuch, bestimmte Gruppen aus den Netzwerken
auszuschließen. Sozialen Bewegungen kommt aufgrund ihrer sozialen
Kohärenzfunktion eine wichtige Funktion zu. Sie können kulturelle Codes und Bilder
produzieren und in der Gesellschaft verankern und über diesen Weg symbolische
Gewalt ausüben.
Auch wenn in den Diskussionen um Global Governance den NGOs primär eine voice-
und keine vote-Funktion konsensual zugestanden wird (Adloff 2005, 148):
Internationale Politik, verstanden als politische Praxis, ist ein Aushandlungsprozess all
derjenigen, die im Netzwerk mitwirken. Politisch agieren und gestaltend wirken
können Menschen und Institutionen, wenn sie neben den bestehenden, aktuell
mächtigen Netzwerken alternative Netzwerke aufbauen, die sukzessive die alten zu
ersetzen vermögen. Insofern kann die Zivilgesellschaft -und hier v.a. das
Zusammenspiel mächtiger, globaler NGOs mit informell organisierten Netzwerken-
auf das globale Agenda-Setting und damit auf die policy-Ebene einwirken. Über die
Verbindung zivilgesellschaftlicher Kräfte mit der lokalen Basis der sie tragenden
sozialen Bewegungen entsteht eine Öffentlichkeit, die nicht mehr von herrschenden
Eliten kontrollierbar erscheint. Die Bedeutung der gesellschaftlichen
Selbstorganisationsfähigkeit stellt den bisherigen politischen Ordnungsrahmen vor die
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 291
Aufgabe, der partizipativen Demokratie eine globale partizipative Governance an die
Seite zu stellen. Dabei kommt dem Web als Kommunikations- wie
Organisationsplattform eine wesentliche Bedeutung zu, um kulturelle Lernprozesse
anzustossen und zivilgesellschaftliche Werte und Normen global auszuhandeln.
Das Internet bietet eine technische Infrastruktur, die durch den Gebrauch seiner
NutzerInnen eine neue interaktive Medienpraxis entstehen lässt. Mit der Entwicklung
hin zum Web 2.0 als neuem Kulturraum ist die spezifische Nutzung der digitalen
Werkzeuge nicht mehr deterministisch vorgegeben, sondern generiert sich erst durch
den kollektiven Gebrauch. Es entsteht keine global harmonisierte Kultur, wohl aber
eine gemeinsame Kultur der Kommunikationsprotokolle (Castells 2009a, 38). Aus
dem sozialen Agieren der NutzerInnen entfalten sich verschiedene digitale
Öffentlichkeiten, die sich kaum kontrollieren lassen, da die gesellschaftlich
integrierenden Regulierungen umgehend subversiv unterlaufen werden. Bisherige
institutionelle Grenzen verlieren ihre Bedeutung, indem sich bislang getrennte
Sphären in der digitalen Vernetzung vermischen. Temporäre Allianzen verschiedener
Öffentlichkeiten entstehen aus dem Handlungskontext flexibler, zivilgesellschaftlicher
Akteure. Es entfaltet sich eine komplexe, basisdemokratische Kommunikationskultur,
die keine repräsentativen ExpertInnen von Amts wegen akzeptiert - der bisherige
ExpertInnen-basierte Wissensbegriff hat sich spätestens seit Wikipedia als Ideologie
von Eliten entlarvt (Münker 2009, 100). Hier tobt also der Kampf um die kulturelle
Hegemonie, indem politisch interessierte BürgerInnen zwischen den handelnden
politischen Aktiven, den vermeintlichen ExpertInnen, und den weniger interessierten
Menschen vermitteln. Indem sich diese engagierten BürgerInnen selbst organisieren,
entsteht eine Gegen-Elite, die sich derzeit gegen die Push-Kommunikation tradierter
Herrschaftssysteme zur Wehr setzen.
Im Kampf um die Deutungshoheit des Webs als öffentlichem Raum gelebter
partizipativer Demokratie offenbaren sich die lokalen Machtkämpfe, die derzeit in
vielen Staaten zu beobachten sind (vom Nahen Osten über China & USA bis hin zu
Deutschland). Allerdings ist der space of places entscheidend für eine erfolgreiche
NGO-Arbeit, die aus einer gesicherten Umgebung heraus erfolgreicher agieren kann.
Aufgrund der vielfältigen Vernetzung aber existiert zwischenzeitlich eine
internationale Arbeitsteilung zwischen Gruppen, die öffentlichen Protest organisieren
und NGOs, die mit politischen Entscheidungsträgern kommunizieren (Adloff, S. 148f.).
Inwiefern auch der globale Bedeutungszuwachs der Zivilgesellschaft der kulturellen
Hegemonie des Westens entspricht, der hier ein neues Politikexportgut geschaffen hat,
bleibt fraglich (Meurs 2007, 12).
„Erst eine konsequente Historisierung von Zivilgesellschaft kommt
der Frage näher, inwieweit Macht, Gewalt und Exklusion nicht
Gegenteil, sondern Teil der Zivilgesellschaft waren und sind, und
zwar sowohl im Diskurs über Zivilgesellschaft wie auch in der
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 292
sozialen Praxis.“ (Gosewinkel 2003, 25f.)
Im Kampf um private und staatliche Fördertöpfe professionalisieren sich informelle,
organisierte Netzwerke zu schlagkräftigen NGOs, die teilhaben an der kulturellen
Hegemonie oder diese in ihre Richtung zu beeinflussen versuchen. Eine stabile
Umgebung und finanzkräftige Investoren vorausgesetzt, sind Organisationen in der
westlichen Hemisphäre klar im Vorteil. Ob neue, webbasierte Crowdfunding-Modelle
hier einen Machtumschwung innerhalb der Zivilgesellschaft bewirken, bleibt
abzuwarten. Angesichts der zunehmenden Möglichkeiten, ohne große Finanzquellen
die Welt-Öffentlichkeit qualitativ mit Informationen zu bedienen, könnte sich das
Partizipationsproblem demokratisieren. Ob sich dadurch allerdings im
Bildungsbereich die sehr mächtige kulturelle Hegemonie der OECD mitsamt ihrer
strukturellen Wirkmechanismen der Re-Finanzierung einer empirischen
Bildungswissenschaft durchbrechen liesse, ist fraglich. Umfassende Analysen des
Bildungssektors hinsichtlich der Einflussfaktoren von zivilgesellschaftlichen Akteuren
auf die transnationale Ausrichtung von IOs stehen noch aus. Solange sich das
Steuerungsparadigma an Lernergebnissen orientiert und als maßgebliche
Steuerungsgröße der individuelle Output gesehen wird, ändern auch Konzepte nichts
an der kulturellen Hegemonie, die in der „Kopplung von individualisierten Lernwegen
und standardisierten Überprüfungen den entscheidenen Steuerungsgewinn sieht“
(Lange u. a. 2009, 9).
Angesichts der Bedeutung des Webs für die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit ist ein
Zugriff auf das Netz unabdingbar. Castells führte bereits an, welche Bedeutung dem
space of places zukommt, um auf den space of flows aufspringen zu können.
Angesichts des globalen wie lokalen Digital Divides sind große Teile der Bevölkerung
abgeschnitten von der aktiven Beteiligung in der Netzwerkgesellschaft. Dabei stellen
die von führenden Indizes bemühten Indikatoren auf der technologische Access-Ebene
nur eine Facette dar, die von verschiedenen Initiativen sehr intensiv bearbeitet
werden. Weitere, den Digital Divide stark beeinflussende Ebenen sind:
die Skill-Ebene, die mittels diverser Bildungsprozesse ausgebaut werden kann im
Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Netzwerk-Kompetenz;
die Social Content-Ebene, die eine partizipative Gestaltung des medialen Raumes
-und nicht nur die Nutzung des Mediums als Werkzeug- ermöglichen muss;
die Motivation-Ebene, die seitens sozio-politischer Rahmenbedingungen und
interkultureller Präkonfigurationen geprägt ist;
die Repräsentations-Ebene, die eine weltdemokratische Internet Governance
umfassen muss, um den Beitrag zivilgesellschaftlicher Akteure einzubringen und
eine weltgesellschaftliche Öffentlichkeit herstellen hilft.
In der hegemonialen Diskussion und internationalen Praxis wird dem Digital Divide
vor allem auf der Access- und Skill-Ebene begegnet. Hier können technologische
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 293
Erfahrungen multinationaler Konzerne und internationaler Hochschulen eingebracht
werden. Die Internationalisierung der Bildung (siehe Kap. 2.2.4) und Weltkultur einer
(hoch-)schulorientierten Orientierung als Basis für LLL suggerieren im neoliberalen
Stil, dass jede/r seines Glückes Schmied sei und der Digital Divide durch das
Unvermögen einzelner Personen begründet sei. Bildungspolitik konzentriert sich dabei
auf die Skill- und Content-Ebene für KonsumentInnen. Als kulturelles Muster wird z.B.
(Game based) E-Learning-Content als Bestandteil der konsumorientierten, globalen
Entertainment-Industrie und kosmopolitischer Geist über expandierende
(Exzellenz-)Hochschulen bzw. Studierenden-Austausch propagiert (vgl. dazu auch
Castells 2009a, 121ff.). Sofern die weltgesellschaftlich prägenden IOs und
zivilgesellschaftlichen Akteure allesamt dieser bildungskulturellen Hegemonie
verfangen sind, ist hier keine grundsätzliche Weiterentwicklung zu erwarten.
Allerdings bestehen Hoffnungen, der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit mehr Gehör
in der world polity zuzusprechen. Angesichts des zunehmenden internationalen
Protestes globalisierungskritischer Bewegungen werden seitens tradierter Mächte
Mechanismen getestet, wie die legitimierenden Interessen der Zivilgesellschaft
eingebunden werden könnten. Ein erster großer Schritt in diese Richtung stellte der
WSIS-Prozess dar, in dessen Verlauf eine Vielzahl an Initiativen sich einbrachten -
wenn auch weniger demokratisch als zu Beginn erhofft. Über diesen Weg liessen sich
einige wichtige Punkte zu den verschiedenen Layern der internationalen Netzpolitik
für den zukünftigen Agenda-Setting-Prozess auf der Weltbühne lancieren und erste
Erfahrungen zum Aufbau einer informell vernetzten, globalen Zivilgesellschaft
sammeln. Und eine globale Zivilgesellschaft wird in einer globalisierten Welt
notwendig sein.
„Denn nur im Medium der Öffentlichkeit, dem Gespräch unter Bürgern
(Arendt, Habermas), kann die politische Durchdringung der
Gesellschaft thematisiert und einer Reflexion zugänglich gemacht
werden. Aus dem Privaten steigen Themen in die Zivilgesellschaft auf
und sinken unter Umständen nach einer Weile wieder ab.“ (Adloff
2005, 153)
Eine aktive Teilhabe an der Zivilgesellschaft lässt sich weder über staatliche
Hierarchien noch marktlogisch verordnen - Freiwilligkeit und Verpflichtung,
Spontanität und Bindung müssen gleichzeitig gegeben sein, um als drittes Prinzip des
Citoyen zu wirken (ebd., 154f.). Ist dies weltgesellschaftlich gewünscht, müssen alle
fünf Ebenen des Digital Divide (Access, Skill, Content, Motivation, Repräsentation)
bildungspolitisch angegangen werden, um die Selbstorganisationsfähigkeit des Webs
mitsamt seiner inhärenten demokratischen Kommunikationskultur global
anzustossen. Erst über das Zusammenwirken aller fünf Ebenen entsteht eine
individuelle Netz- wie kollektive Netzwerk-Kompetenz, die Bildung nicht als
instrumentellen und separaten Politikbereich -neben der Wirtschaft, dem Recht, der
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 294
Außenpolitik etc.- referenziert, sondern als multilateralen Aspekt, der in alle anderen
Bereiche hineinreicht.
Andernfalls reproduzieren und legitimieren singuläre bildungspolitische Maßnahmen
bestehende soziale Ungleichheiten. Es ist eine wesentliche Kapazität elitärer
Oberschichten, ihre kulturellen Führungspositionen kontinuierlich zu reproduzieren
durch regelmäßige Anpassungen an Reformen z.B. des (Hoch-)Schulwesens und des
Bildungssystems (Chun 2001, 200f.).
„Daraus ergibt sich folgende Erkenntnis: Sämtliche politische
Bemühungen um eine Verminderung sozialer Ungleichheit im
Bildungswesen, die sich ausschließlich auf bildungspolitische
Maßnahmen beschränken, kommen nicht an ihr Ziel, wenn sie nicht den
Vorsprung der etablierten sozialen Schichten im Bildungswettbewerb
thematisieren. Die Basis dieses Vorsprungs liegt eher in
gesellschaftlichen Bereichen (einschließlich der symbolischen
Ebene), die sich nicht auf das Bildungssystem im engeren Sinne
beziehen.“ (ebd., 201)
Entsprechend greift auch die Hoffnung auf eine über NGOs organisierte
Zivilgesellschaft etwas kurz. So finden sich diese Eliten zwischenzeitlich auch in vielen
internationalen NGOs wider, die ihre sozio-kulturellen Werte über diesen Weg in die
Zivilgesellschaft einfliessen lassen, während sie gleichzeitig ihr persönliches Portfolio
aufwerten (Dezalay und Garth 2007).
Inwiefern exkludierten Menschen (dennoch) über internationale bildungspolitische
Maßnahmen eine Chance zur aktiven Teilhabe an der Netzwerkgesellschaft geboten
werden kann, soll im folgenden Kapitel diskutiert werden. Dort erfolgt ein Abgleich der
Ergebnisse der Real-Time-Delphi-Studie mit den hier vorliegenden, theoretischen
Erkenntnissen zum Einfluss der internationalen Bildungspolitik auf die individuelle
Netz-Kompetenz und die gesamtgesellschaftliche Netzwerk-Kompetenz.
5.2 KRITISCHE EINOR D NUNG DER EMPIRISCHEN ERGEBNISSE
Bei der Diskussion der Ergebnisse der RTD-Analyse (Kap. 4.3.3) im Kontext der
theoretischen Erkenntnissen der internationalen Bildungspolitik (Kap. 5.1) gilt es
zunächst, die identifizierten Ranglisten der Flow-störenden Hemmfaktoren,
möglichen bildungspolitischen Maßnahmen und internationalen Akteure
hermeneutisch abzugleichen mit den grundsätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten, die
sich auf der internationalen Bühne ergeben. Vor diesem Hintergrund lassen sich
internationale bildungspolitische Einflussgrößen auf die verschiedenen Flow-
Kategorien ableiten, die ggf. über den derzeitigen Status Quo hinausreichen. Über
alternative Verlaufsszenarien können dann mögliche bildungspolitische Maßnahmen
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 295
für die Netzwerkgesellschaft angedeutet werden, die gleichzeitig regionale
Unterschiede in den Blick nehmen.
5.2.1 HEMMFAKTOREN
Warum existiert weltweit eine -unterschiedlich breite- Schicht an exkludierten
Personen, die sich bis zum Jahre 2020 nicht in benutzergenerierten, digitalen
Umgebungen bewegen kann? Welcher Einfluss kommt dabei der internationalen
(Bildungs-)Politik zu? Ist sie aufgrund bestimmter gestaltender Aktivitäten
verantwortlich zu machen für den Ausschluss spezifischer Personengruppen?
Die Expertinnen generierten in der RTD-Studie über alle analysierten Flow-Kategorien
eine Rangliste an Hemmfaktoren, die als gestaffelte Indikatoren eine Begründung
abliefern können, warum unter den gegebenen Rahmenbedingungen nicht mehr als
die Hälfte der Menschheit die erforderlichen Fähigkeiten mitbringt, die zu einem
aktiven Flow in der Netzwerkgesellschaft beitragen (siehe Kap. 4.3.3.2):
1. Sozio-kulturelle Werte & Praktiken
2. Ökonomischer Druck
3. Politische Mechanismen
4. Sozio-technologischer Wandel
5. Persönliche Voraussetzungen
6. Soziales Umfeld
7. Rechtliche Rahmenbedingungen
Diese Rangliste betont die aggregierte Bedeutung einzelner Hemmfaktoren, entspricht
aber in keiner einzelnen Flow-Kategorie der dort generierten Reihenfolge. 128 Aufgrund
komplexer Thesen, die sich je aus den drei Ebenen -persönliche, sozio-kulturelle und
sozio-technologische Ebene- zusammensetzten, und differenzierter Expertinnen-
Gruppen unterlag die Bewertung der jeweiligen persönlichen Fokussierung - und
damit einer rein subjektiven Evaluierung vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen.
Gleichwohl offenbart diese Rangliste eine objektivierte Sichtweise des qualitativen
Expertinnen-Panels.
Auf welche dieser Hemmfaktoren kann internationale Politik nunmehr Einfluss
ausüben bzw. welche gestaltet sie aktiv mit?
1. Sozio-kulturelle Werte & Praktiken
Als zentraler Hemmfaktor über alle Flow-Kategorien werden die sozio-kulturellen
Werte und Praktiken gesehen. Rituale, Helden oder Symbole lassen vielfältige
kulturelle Unterschiede entstehen, die sowohl die spaces of places voneinander
128 Vgl. Appendix, Kap. 8.2.9
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 296
unterscheiden als auch innerhalb des space of places Differenzierungen ermöglichen.
In ihrer persönlich je unterschiedlichen Mischung prägt diese „Software des Geistes“
(Hofstede) das kollektive Programm bestimmter Gruppen und damit einen je
spezifischen Habitus, der ein bestimmtes soziales Milieu etabliert, das sich von dem
anderer Gruppen unterscheidet. Auf der anderen Seite entstehen im space of flows
globale kulturelle Schichten, die je nach Netzwerk-Zugehörigkeit einige
Gemeinsamkeiten herausbilden. Es entstehen neue soziale Milieus mit einer
spezifischen sozio-kulturellen Mischung aus verschiedenen Netzwerk-Einflüssen, die
zudem inter-subjektiv unterschiedlich gewichtet sind. Aufgrund der vielfältigen
Vernetzungsformen, in denen Einzelne durch ihre Netzwerkaktivitäten eingewoben
sind, rücken regionale Besonderheiten dabei sukzessive in den Hintergrund. Zwar
werden sie ob ihrer am space of places wirkenden Macht auch weiterhin von
Generation zu Generation unbewusst weitergetragen. Doch dringen erfolgreiche
kulturelle Praktiken des weltweiten Austausches über individuelle wie institutionelle
Netzwerkknoten in die ehemals regionalen Herrschaftsräume ein. Der Einfluss des
Social Webs realisiert seine Virtualität in Form einer homogenisierenden Kraft der
Kommunikationscodes. Individuell drückt sich dies angesichts der persönlichen
Einbindung in die institutionellen Prozesse durch bewusste kulturelle Praktiken aus,
während sich gleichzeitig die frühen unbewussten Werte aufgrund der persönlichen
Erfahrungen wieder teilweise relativieren.
Eine kulturell prägende Institution stellt der Bildungsbereich dar, der angesichts
seiner formalen Behäbigkeit bei gleichzeitiger Beschleunigung der
Innovationsprozesse -und damit individuell erforderlicher, steiler Lernkurven-
zunehmend vom informellen Bildungsraum des Social Webs als lernprägende Kraft
ergänzt oder gar abgelöst wird. Traditionell kam dem (nationalen) Bildungssystem bei
der Erziehung zum gesellschaftlichen Gemeinwesen eine große Rolle zu. Hier wurden
die regionalen, kulturellen Werte und Praktiken eingeübt und weitergereicht - flankiert
von anderen sozial wirkenden, uni-direktionalen, gesellschaftlichen Pfeilern wie
Massenmedien, Justiz, Verlage, Politik o.ä., über deren offizielle, elitäre Kanäle die
Weiterentwicklung der Kultur diskursiv ausgehandelt wurde.
Im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft mit ihren emergent wachsenden
Verdichtungsformen und globalen Verstrebungen entfalten sich aber neue sozio-
kulturelle Werte und Praktiken, die sich immer weniger regional herleiten oder gar
kontrollieren lassen. Hier bilden einzelne Menschen, die sich am diskursiven Prozess
aktiv beteiligen (können), eine persönliche Kultur aus, die sich primär vom
Individuum ausgehend definiert - und nicht mehr von regionalen Großgruppen. Indem
sich diese Individuen in vielfältigen Communities und Netzwerken bewegen, formiert
sich über die Herausbildung dieser informell wirkenden Bewegung im Social Web eine
globale Kultur der Offenheit aus, die gemeinsame Werte und Praktiken etabliert. Es
entsteht so etwas wie eine flexible Web 2.0-Kultur, die je nach regional
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 297
vorherrschender Medienkultur sich in unterschiedlicher Dynamik auch auf die
regionalen kulturellen Werte und Praktiken auswirkt. Allerdings existieren weiterhin
regionale Unterschiede der konkreten Mediennutzung als Kulturtechnik -z.B.
hinsichtlich des Austauschs kreativen Contents und der konkreten mobilen
Nutzungsformen-, was nicht zuletzt auf regional bedingte, unterschiedliche
Vertrauensfaktoren im High-Context-Webraum zurückzuführen ist.
In diesem sozio-kulturellen Kontext agiert nun die internationale (Bildungs-)Politik,
die sich -dank der Entwicklung hin zu ebenjener Netzwerkgesellschaft- in einem
Mehrebenensystem bewegt.129 Zudem lassen sich internationale
Harmonisierungstendenzen im (national dominierten) Bildungssystem feststellen, die
vermeintlich auf autonomen Entscheidungen der Handlungsakteure beruhen, letztlich
aber auf einem Governance-Regime aufbauen, das durch einige einflussreiche IOs
maßgeblich beeinflusst wird und eine kulturelle Hegemonie bestimmter Werte und
Praktiken durchsetzt. Gleichzeitig verbleibt den nationalstaatlichen Gebilden ein
gewisser Spielraum, diese harmonisierenden weltkulturellen Tendenzen konkret
auszugestalten - sie unterliegen also keiner direkten Steuerung durch die IOs. So
können über nationale Veto-Spieler oder die Anbindung der spezifischen sozialen
Geschichte des Nationalstaats bestimmte nationale Eigenarten in die konkrete
Ausgestaltung einfliessen - an der generellen harmonisierenden Tendenz ändert dies
gleichwohl nichts, lediglich an der Geschwindigkeit der Umsetzung.
Die sozio-kulturellen Werte & Praktiken als zentraler Hemmfaktor, warum weltweit
-unter den gegebenen Rahmenbedingungen- bis zum Jahre 2020 eine zwar
unterschiedlich breite, aber global existierende Schicht an von der
Netzwerkgesellschaft Exkludierten existiert, lässt sich nur bedingt auf die
internationale (Bildungs-)Politik zurückführen. Nationale sozio-historische
Charakteristika, die von zentralen Veto-Playern aufrechterhalten werden, globale web-
kulturelle Handlungspraktiken, die von der Netzwerkgesellschaft produziert werden,
und die empirische „Objektivität“ supranationaler IOs kämpfen auf der Ebene des
Agenda-Settings um die kulturelle Hegemonie. Aus Sicht der Individuen, die sich
zunehmend im weltweit vernetzten Social Web bewegen (müssen) und diskursiv
beteiligen (möchten), relativiert sich mittelfristig der Einfluss regional gesetzter sozio-
kultureller Werte im harmonisierten Bildungssystem. Vielmehr finden sukzessive die
webkulturellen Werte Eingang in den Habitus der beteiligten Personen und damit in
die regionale Kultur am space of places. Über diesen langsamen Prozess
transformieren sich die regionalen, intergenerational weitergereichten Werte und
Praktiken, die sich somit als Hemmfaktor sukzessive selbst abbauen.
129 Siehe Kap. 5.1
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 298
2. Ökonomischer Druck
Als zweiter zentraler Hemmfaktor über alle Flow-Kategorien, der sich gegen eine
weitere Verbreitung erforderlicher Netz-Kompetenzen richtet, ist seitens der
Expertinnen der ökonomische Druck einzustufen. Vor allem in den Kategorien Person,
Medienumgebung und Usability entfaltet der wahrgenommene Druck seine Flow-
hemmende Wirkung.
Auch dieser Hemmfaktor wirkt zunächst auf den technologischen Zugang ein. Hier
offenbart sich die soziale Ungleichheit zwischen den Weltregionen einerseits,
innerhalb der Herrschaftsregionen andererseits. Nur wer am space of places
physischen Zugang zu den Netzleitungen und entsprechenden Endgeräten hat, kann
sich aktiv an der Netzwerkgesellschaft beteiligen. Die Preismodelle sind ein
entscheidender Faktor, wie bestehende Zugänge aktiv genutzt werden und damit den
bereits existenten Digital Divide entweder vertiefen oder tendenziell schliessen. Um
die Netznutzung finanzieren zu können, sind entsprechende Einkommen erforderlich -
andererseits vermag die Netznutzung auch zu Einkommen verhelfen. Allerdings sind
an die konkrete Einkommensstruktur regionale, sozio-strukturelle und sozio-
historische Faktoren gekoppelt, die bestehende Ungleichheiten fortschreiben.
Häufig stößt formale Bildungsarbeit an ihre strukturellen Grenzen, hier einen
Ausgleich zu schaffen. Weniger auf der sozio-technologischen Ebene, das Netz für
seine persönlichen Interessen zu nutzen - hier können auch deterministische Zwänge
der aktiven Technologienutzung wirken. Vielmehr fehlen klassischer Bildungspolitik
die Hebel, einen Kulturwandel einzufordern, der zur Überwindung tradierter sozio-
ökonomischer Ungleichheiten beitragen könnte. Die Motivation zur aktiven Teilhabe
zu forcieren, die dann wiederum informelle Bildungsprozesse im Netz anstossen
könnte, wäre zentrale Aufgabe bildungspolitischer Arbeit. Dabei bestehende Pfade
klassischer Lernzeiten wie -orte zu verlassen und z.B. die Bedeutung von öffentlichen
Zugängen oder Internet-Cafés in strukturell vernachlässigten Regionen anzuerkennen
und dort eine personelle Infrastruktur zur informellen Unterstützung bereitzustellen,
könnte auf der Skill- und Motivation-Ebene dazu beitragen, den Digital Divide zu
verengen.
Wenn denn genügend offene Angebote und transparente Netzstrukturen gegeben sind,
um das Netz auf der Social Content-Ebene als Werkzeug im Creative Internet oder als
soziales Medium im Sinne eines Circular Entertainment oder als neuen Kulturraum
für Social Computing (analog zu Frank Thomas, Vittadini, und Gómez-Fernández
2009) nutzen zu können. Sofern klassische Urheberrechte und vielfältige
Bestrebungen, die Netzneutralität zu unterlaufen, seitens der nordamerikanisch-
europäischen Content-Industrie in internationales Recht überführt werden sollen 130,
130 In Geheimverhandlungen zum Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) soll in einem international
verbindlichen Verfahren das Patent- und Urheberrecht modifiziert werden.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 299
zudem die Creative Commons unter Druck geraten durch die Rechte-Industrie und die
Workflow-Prozesse des Content-Downloads über Apps-Stores fast monopolisiert
werden, entscheidet sich die passive Teilhabe entlang der sozio-ökonomischen
Voraussetzungen. Eine aktive Teilhabe an einer partizipativen Netzwerkgesellschaft
-mit allen emanzipatorischen wie innovativen Konsequenzen- wird mit solchen
Bestrebungen auf ein mögliches Mindestmaß reduziert. Von einem freien Netz mit
offenem Austausch kann unter diesen Bestrebungen der herrschenden unilateralen
Eliten keine Rede sein.
Eine internationale Bildungspolitik, die den globalen Hochschulwettbewerb forciert,
(westliche) Zertifikate oder Bildungssysteme exportiert bzw. einen Content-Transfer
über das Netz fördert, generiert einen lukrativen Bildungsmarkt, der bestehende sozio-
ökonomische Ungleichheiten ausbaut. Knowhow-Prozesse mit offenen Schnittstellen
zu fördern statt Wissen zu transferieren, könnte dagegen emergente Change
Management-Prozesse entstehen lassen, aus denen sich regional relevante
Innovationsprozesse entfalten liessen. Hier die Interessen strukturschwacher
(Welt-)Regionen in das Governance-Regime einzubinden, wurde in der Vergangenheit
nachhaltig versäumt. Lebenslanges Lernen in der neoliberalen Ideologie verlängert die
sozio-ökonomische Ausbeutung durch eine westlich dominierte Content-Industrie.
Sich aus dieser Ideologie zu befreien, sollte zur zentralen Aufgabe
zivilgesellschaftlicher Akteure zählen, um tragfähige Alternativen der internationalen
Bildungspolitik auf die Agenda setzen zu können.
3. Politische Mechanismen
Einen weiteren entscheidenden Hemmfaktor, der einer breiteren gesellschaftlichen
Befähigung zur aktiven Nutzung benutzergenerierter digitaler Umgebungen
entgegensteht, stellen -über alle Flow-Kategorien hinweg- nach Ansicht der
Expertinnen die politischen Mechanismen dar. In Kap. 5.1 wurde dargelegt, wie
komplex sich politische Entscheidungsfindungsprozesse gestalten in der neo-
institutionalistischen Perspektive. Politische Steuerung seitens zentraler politischer
Instanzen ist verunmöglicht angesichts vielfältig vernetzter Abhängigkeiten auf
mehreren Ebenen. So treten öffentliche neben private Träger, staatliche neben nicht-
staatliche Organisationen, zivilgesellschaftliche neben inter-, intra- oder supra-
nationale Akteure, denen allen gemeinsam der Versuch ist, auf der policy-, politics-
und polity-Ebene ihre Interessen einzubringen. Angesichts der Komplexität dieser sich
dynamisch wandelnden Netzwerkgesellschaft und zunehmenden
Deckungsungleichheit von Staat, Wirtschaft, Öffentlichkeit und Politik macht sich ein
Gefühl der Ohnmacht breit.
Nach Ansicht der Expertinnen wirken politische Mechanismen v.a. in der Flow-
Kategorie Medienumgebung als zentraler Hemmfaktor, aber auch in den Kategorien
der Person und des space of flows. Beim Aufbau benutzergenerierter
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 300
Medienumgebungen ist Vertrauen eine wesentliche Voraussetzung. Es wurde bereits
festgestellt, dass bestimmte sozio-kulturelle Werte und Praktiken förderlich sind, um
sich im Netz mit seiner High-Context-Kommunikation selbstverständlich bewegen zu
können. Offenbar tragen die politischen Handlungspraktiken in diesem wenig
transparenten Mehrebenensystem des herrschenden Governance-Regimes nicht zum
durchgängigen Vertrauensaufbau bei. Dies nicht nur im Hinblick auf autokratische
politische Systeme am space of places, sondern auch hinsichtlich einer fragwürdigen
demokratischen Legitimation politischer Handlungspraktiken in liberaleren Staaten.
Vermisst wird eine kollektiv gelebte Netzwerk-Kompetenz inklusive einer international
gültigen Rechtssicherheit auf struktureller Ebene, die sich den modernen
Entwicklungen anpasst. Zudem stehen einem erforderlichen Change Management-
Prozess der real existierenden politischen Mechanismen die
Bestandswahrungstendenzen eines elitären Herrschaftssystems gegenüber, die sich
aufgrund ihrer sozio-historischen Entwicklung kaum selbst abschaffen oder
transformieren können.
Angesichts der Bedeutung internationaler Organisationen bei der Definition wie
Durchsetzung einer spezifischen Weltkultur kommt dem Demokratiedefizit auf der
internationalen Bühne eine weitere große Rolle zu, den notwendigen Vertrauensaufbau
zu unterminieren. Zwar können erste politische Impulse der Einbindung einer
entstehenden globalen Zivilgesellschaft aufgrund multipler, gewalttätiger Kritikwellen
globalisierungskritischer Bewegungen konstatiert werden. In der konkreten
Umsetzung z.B. im WSIS-Prozess scheiterte dieser latent vorhandene politische Wille
an den faktischen Realitäten einer lobbygetriebenen Weltpolitik. Angesichts der
aktuellen Entwicklungen im Zuge der klandestin geführten ACTA-Verhandlungen ist
auch in den politisch aktiven Kreisen der Zivilgesellschaft eine Ernüchterung
eingetreten, die das Aufkommen einer offenen und transparenten Internet
Governance in weite Ferne gerückt sehen.
Ähnlich verhält es sich mit den Hoffnungen, über internationale bildungspolitische
Aktivitäten hier einen Umschwung zu erlangen. Internationale Organisationen wie z.B.
die OECD haben eine Eigendynamik erlangt, die kaum einer grundlegenden Reflexion,
geschweige denn einer demokratischen Legitimation unterliegt. Indem sie mittels der
ihnen gewährten Gestaltungsmacht auf der Basis vermeintlich wissenschaftlicher
Objektivität die ihrer sozio-ökonomischen Ausrichtung entsprechenden Themen und
Strategien setzt, gilt ihr Wort nahezu unhinterfragt. Da die sie legitimierende kulturelle
Hegemonie immer weitere globale Kreise zieht, orientieren sich etablierte
Diskurskulturen an dieser und suggerieren einen demokratischen Diskursprozess, der
nur bedingt gegeben ist. Angesichts bildungspolitischer Förderrichtlinien, die sich an
ebenjener kulturellen Hegemonie als vermeintlichem gesellschaftlichem Mainstream
orientieren, besteht wenig Hoffnung, eine alternative bildungspolitische Ausrichtung
auf breiter Basis überhaupt diskutieren zu können, um damit ggf. breitere
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 301
Bevölkerungskreise zu erreichen. Der elitäre Herrschaftszirkel dreht sich um sich
selbst - der Citoyen schaut zu.
4. Sozio-technologischer Wandel
Im Mittelfeld der Hemmfaktoren, die einer weiteren Verbreitung benutzergenerierter,
digitaler Umgebungen entgegenstehen, befindet sich -über alle Kategorien besehen-
der (schnelle) sozio-technologische Wandel. Vor allem im Hinblick auf die Gestaltung
der Medienumgebung sehen die Expertinnen einen dramatischen Kulturwandel, der
für viele Menschen nicht so einfach zu bewältigen ist.
Dieser Wandel liegt in der Dynamik des Webs (2.0) begründet, das sich passgenau in
die Bedürfnisse der Netzwerkgesellschaft und der beteiligten Menschen einfügt -
sofern die Nutzer/innen den neuen Rhythmus akzeptieren und leben können.
Allerdings herrscht in diesem Bereich ein großes Mißtrauen derjenigen, die keine
sozio-technologische Faszination auf der viszeralen Ebene erfahren und sich aus der
eigenen Neugierde heraus mit den ständig wechselnden Technologien beschäftigen.
Zudem haben sozio-kulturelle Praktiken der Trennung von öffentlicher zu privater
Person ein Identitätsmuster entstehen lassen, dessen Integrität von der neuen
Netzkultur grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die Eigendynamiken der sozio-
technologischen Entwicklung mitsamt ihrer autoritären Forderung, sich in die
Netzströme hineinzubegeben, löst vielerorts eine reflexhafte Abwehr aus, die sozio-
historisch bedingt sind.
Auf der anderen Seite wirken hier wieder die Gräben des Digital Divides. Zunächst
sollte am space of places ein Zugang ermöglicht sein, der mittels persönlicher Skills
und gegebener motivationaler Nutzungspraktiken einen direkten Zugriff auf das Web
als Werkzeug und als Medium gewährt. Ist der Zugang gegeben, wirken an dieser
Schnittstelle derzeit noch die regionalen sozio-kulturellen Besonderheiten, ob ganze
Länder der neuen Technologie homogen aufgeschlossen gegenübertreten oder eher die
Konsumption von Mediengütern oder eher der soziale Austausch im Vordergrund
stehen. Mit zunehmender Vernetzung der globalen Web 2.0-Schicht könnte diese
Zurückhaltung sich aber weltweit zugunsten der Aufgeschlossenheit durchsetzen.
Je nach gesellschaftlicher Durchdringung der Web-Kultur bis in die mobilen
Endgeräte hinein und möglichen Aktivitäten der Zivilgesellschaft am space of places
bzw. auf der weltpolitischen Bühne partizipiert die nationale Öffentlichkeit je
unterschiedlich von den Forderungen nach transparenten Datenstrukturen und einem
Grundrecht auf Internet. Auch können Open-Source-Entwicklungen oder ICT4D-
Initiativen wie z.B. der OLPC131 gegenüber proprietären Systemen regionale Spezifika
aufgreifen und einen Mehrwert schaffen, der Vertrauen aufbaut und die Vorteile des
World Wide Web am space of places erfahrbar gestaltet. Den Kulturraum Internet als
Resultat einer generisch sich entfaltenden kollektiven Intelligenz zu erleben, stellt eine
131 http://laptop.org (05.03.2011)
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 302
Herausforderung dar, die erst kleine Wellen schlägt - sowohl auf individueller Ebene
als auch auf sozialer.
5. Persönliche Voraussetzungen
Den persönlichen Voraussetzungen wird über alle Flow-Kategorien hinweg eine
nachgeordnete Bedeutung zugesprochen, einer weiteren Verbreitung des Flows in
benutzergeneriertern digitalen Umgebungen entgegenzustehen. Wenn überhaupt,
stehen diese einer weiteren Optimierung von Workflow-Prozessen und der Gestaltung
von personalisierten Medienumgebungen im Wege. Auch bei der Ausbildung einer
autotelischen Persönlichkeit kann dieser Faktor eine kleinere Rolle spielen.
Tendenziell entspricht diese Fokussierung auf die Person der Sichtweise vorrangig
europäischer, institutioneller Bildungsmenschen.
Hier kommt die Skill-Ebene zum Tragen, die bestimmte humane Ressourcen als eine
Grundlage ansieht, den Digital Divide zu überbrücken. Die benötigten Fähigkeiten
lassen sich bis zu einem gewissen Grad über formale Bildung, in der dynamischen
Ausgestaltung aber nur über informelle Lernprozesse während der aktiven
Netznutzung realisieren. Inwiefern abstrakt gelernte oder moderierend begleitete
(Vor-)Kenntnisse, die Output-orientiert bestätigt werden können, zu einer
selbstverständlichen, qualitativen Netzaktivität beitragen, bleibt fraglich. Sozio-
historisch erworbene, individuelle Gewohnheiten in traditionell geführten
Umgebungen mit vor-definierten Workflows prägen eine Konditionierung aus, die
informelles Lernen in kulturtechnisch diametral anders gelagerten Umgebungen im
ersten Schritt schwierig gestaltet. Ob dieses Unvermögen, sich in einem
kontinuierlichen persönlichen Change Management-Prozess zu befinden und diesen
aktiv zu gestalten, in der Natur des Menschen verankert ist, scheint der sozio-
kulturellen Herkunft geschuldet zu sein. Da sich im Kulturraum Internet die sozio-
kulturellen Ausprägungen aber sukzessive zugunsten einer Netz-Kompetenz
angleichen, werden sich die persönlichen Voraussetzungen notfalls auch trotz
formaler, gegenläufiger Bildungsaktivitäten weltweit informell anpassen - sofern der
offenen Netzkultur ihre Eigendynamik nicht seitens vorrangig eingestufter
Hemmfaktoren genommen wird. Indem allen Personen im Netz theoretisch dieselbe
Bedeutung und Wirkungskraft zukommt, werden zwar weiterhin personale Koalitionen
im Machtkampf um Interpretationen ringen, der Zugang zur entstehenden globalen
Zivilgesellschaft steht tendenziell aber jedem offen. Der Lernprozess beginnt
umgehend mit dem Erstkontakt zum Netz.
Bildungspolitisch arbeitet eine am Output orientierte Homogenisierung gegen jede
individuelle Netzwerkaktivität, die sich in subjektiven, temporären Networks of
Practice weiterbildet. Eine an der sozio-ökonomischen Verwertung von Knowhow
interessierte Bildungspolitik verfolgt einen veralteten Content-Ansatz, der überholten
Strukturen ein Überleben sichert und nicht die möglichen, innovativen
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 303
Netzwerkeffekte nutzt. Hier wirkt weiterhin eine elitäre ExpertInnen-Perspektive, die
ihre Sichtweise anderen Menschen aufoktroyiert. Es liegt an den einzelnen Menschen,
sich dennoch in die Netze hineinzubegeben und die informellen Lernprozesse zu
nutzen, die sich dort in den sozialen Medien ergeben. Über diesen Weg könnte eine
machtvolle Zivilgesellschaft entstehen, die auf der policy-Ebene für einen Umschwung
der kulturellen Hegemonie sorgt.
6. Soziales Umfeld
Dem sozialen Umfeld wird von den Befragten kaum eine hemmende Wirkung auf die
weitere Verbreitung benutzergenerierter, digitaler Umgebungen zugebilligt -
durchgängig über alle Flow-Kategorien hinweg. Vielleicht ist der Rang nach den
persönlichen Voraussetzungen dem kleineren Anteil asiatischer und afrikanischer
Expertinnen geschuldet, die zugunsten dieses Faktors votierten. Allerdings lässt sich
den Zahlen keine diesbezügliche Interpretation ablesen.
Angesichts der Bedeutung des persönlichen sozialen Umfelds für die Attraktivität
sozialer Netzwerke auf der einen Seite, für den exponentiellen Anstieg mobiler
Nutzungsszenarien auf der anderen Seite, ist dieser Faktor eher als Treiber und
weniger als Hemmschuh zu charakterisieren. Einer aktiven Nutzung temporärer
Netzwerke auf der Basis individueller Interessen, also dem Aufbau wechselnder
schwacher Verbindungen, könnte ein genügsamer Umgang im familiären Kontext mit
seinen starken Verbindungen zwar theoretisch im Wege stehen - derweil wird dies von
den Expertinnen empirisch nicht bestätigt. Andere Faktoren scheinen diesbezüglich
eine größere Erklärungskraft für die Grenzen der Verbreitung benutzergenerierter,
digitaler Umgebungen anzubieten.
Zwar wirkt das soziale Umfeld dem Digital Divide insofern entgegen, als z.B. junge
Menschen in Familien die Anschaffung entsprechender Technologien und die
Anbindung ans Netz fördern. Auch ist eine gesamtgesellschaftliche Netzwerk-
Kompetenz als Querschnittskompetenz Voraussetzung und kongenialer Gegenspieler
der individuellen Netz-Kompetenz. Eine direkte Adressierung des sozialen Umfeldes
von der internationalen (Bildungs-)Politik ist allerdings bislang nicht zu erkennen.
7. Rechtliche Rahmenbedingungen
Noch weniger Gewicht als dem sozialen Umfeld wird den rechtlichen
Rahmenbedingungen als Hemmfaktor beigemessen - außer in der Flow-Kategorie
Transparenz. Dort sehen v.a. die europäischen Bildungsmenschen das Recht als einen
zentralen Faktor an, warum die Entwicklung in diesem Bereich langsamer verläuft.
Zentraler Kern des sozialen Netzes ist der freie Flow der Datenströme, die von
Netzwerkknoten qualitativ angereichert und wieder eingespeist werden können.
Aufgrund einer veralteten Rechtsordnung, die für die unidirektionale Content-
Verwertung geschaffen wurde, kollidiert diese immer häufiger mit der „realisierten
Virtualität“ des multidirektionalen Remixes. Der Begriff des geistigen Eigentums,
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 304
ursprünglich als Schutz der UrheberInnen gedacht, passt nicht mehr auf die zirkulären
Alltagspraxis. Aufgrund der Möglichkeit, nicht mehr ganze Content-Einheiten
weiterreichen zu müssen, sondern digitale Kulturgüter in ihre kleinsten Bits und
Atome zu zergliedern und wieder neu zusammenzusetzen, führt sich der alte
Urheberrechtsbegriff selbst ad absurdum - ein sozialer Eigentumsbegriff ist nunmehr
gefordert.
Zudem entfaltet sich in unterschiedlichen Weltregionen -je nach sozio-kulturellem
Verständnis und sozio-ökonomischer Bedeutung der Kulturindustrie- eine
unterschiedliche Rechtspraxis, die je nach weltpolitischem Gewicht auch auf
internationaler Bühne Relevanz erfährt. Auf die Problematik der Internet Governance
und des ACTA-Abkommens wurde bereits weiter oben verwiesen. Die Praxis des
Creative Internets verfahrensrechtlich zu unterbinden, indem aktive NetzbürgerInnen
zu passiven KonsumentInnen degradiert werden, kann sich langfristig nicht
durchsetzen. Notfalls werden alternative Netzwerke entstehen, die die gängige Praxis
unterstützen, auf die das bestehende Politik-Regime überhaupt keinen Einfluss mehr
hat.
Aufgrund der Erosion des souveränen Nationalstaates und des weltweiten Netzwerkes
stellt sich zudem die Problematik einer Verlängerung der Souveränität in den
Domainraum des Internets. Der Kampf um ein zeitgemäßes, international
verbindliches Internet- und Urheberrecht ist erst entflammt - er wird die
geopolitischen Demarkationslinien unserer Zeit bestimmen und die
Netzwerkgesellschaft nachhaltig dominieren. Fehlende innerstaatliche
Regulierungsmöglichkeiten und vorhandene internationale Abhängigkeiten aufgrund
des herrschenden Internet Governance-Regimes prägen derzeit den Netzwerkalltag.
Für die Zukunft scharen sich verschiedene mächtige Interessensgruppen bereits
zusammen. Hier zivilgesellschaftlich die Governance-Potenziale zu nutzen und sich
aktiv einzubringen, wird von zentraler Bedeutung sein, um die Interessen der
Netzwerkaktiven zu vertreten und das Feld nicht den kommerziellen Lobbyverbänden
zu überlassen.
Die internationale Politik ist bemüht, die Zivilgesellschaft zu befrieden, indem sie
deren Interessen zumindest über die NGOs sprachlich aufnimmt und in reduziertem
Maße auch mit ihnen kooperiert. In der Bildungspolitik dominiert hingegen eine
Praxis des „Weiter-so“, deren klaffenden Lücken umtriebige Marktplayer oder NGOs
zu schliessen versuchen. Mit dieser politischen Ignoranz des aktuellen Umbruchs hin
zu einer benutzergenerierten, digitalen Netzwerkgesellschaft setzt sie sich über die
Möglichkeiten hinweg, eine offene Forschungskultur zu praktizieren, an der sich alle
interessierten Personen -auch aus der Zivilgesellschaft- aktiv beteiligen könnten, um
so eine gemeinsame weltweite Netzwerkkultur aufzubauen.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 305
5.2.2 BILDUNGSPOLITISCHE MAS S N A H MEN
Mit welchen bildungspolitischen Maßnahmen liessen sich diese Hemmfaktoren
gestaltend minimieren, so dass die Schicht exkludierter Personen bis zum Jahre 2020
kleiner werden könnte, war die Frage an die Expertinnen in der RTD-Studie. Über alle
Flow-Kategorien hinweg, votierten die Befragten für folgende Rangfolge der seitens
der Autorin vorgeschlagenen Maßnahmen:
1. Ausbau des technologischen Zugangs
2. Bedeutungszuwachs der Zivilgesellschaft
3. Förderung sozialen Lernens
4. Etablierung von Chancengleichheit
5. Restrukturierung des Bildungssystems
6. Verstärkung der globalen Netzwerke
7. Neuordnung der Regulationsinstanzen (Recht, Politik, Verwaltung)
8. Ausdehnung der Bildungsausgaben
9. Bereitschaft zum öffentlichen Diskurs
10. Intensivierung der Forschung
Auch in dieser aggregierten Rangliste spiegelt sich keine einzige Flow-Kategorie
komplett wider. Vielmehr wirken sich bestimmte Maßnahmen in einzelnen Kategorien
sehr unterschiedlich aus.132 Erst eine Kombination an politischen Aktivitäten wird für
alle Flow-Kategorien im Sinne der Netzwerkgesellschaft gestaltend sein können. Wie
sich diese Kombination zusammen setzen liesse, soll über die Diskussion der einzelnen
Maßnahmen im Kontext internationaler Bildungspolitik untersucht werden: Welche
Bedeutung kommt einzelnen Maßnahmen zu, wenn in einem komplexen Governance-
System die Prozesse wenig linear verlaufen? Welche Maßnahmen wirken auf der
policy-, politics- und/oder polity-Ebene auf die Hemmfaktoren ein?
Im Ergebnis offenbart diese Diskussion eine Vielzahl an fragmentierten, alternativen
Verlaufsszenarien, die in unterschiedlicher Kombination bildungspolitisch in Richtung
des formulierten Leitbildes 2020 tendenziell wirken könnten. Vor dem Hintergrund
der skizzierten theoretischen Ergebnisse und der Foresight-Einschätzungen der RTD-
Expertinnen entfaltet sich hier ein kursorischer Überblick potentieller Entwicklungen
mit Konsequenzen auf die angeführten Hemmfaktoren. Trotz der oftmals im
Konjunktiv prognostisch formulierten Verläufe deutet sich ein kompaktes
bildungspolitisches Maßnahmenpaket an, dass ggf. mittels internationaler Akteure
gestützt werden kann.
132 vgl. Appendix, Kap. 8.2.10
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 306
1. Ausbau des technologischen Zugangs
Nach Ansicht der kollektiven Intelligenz der beteiligten Expertinnen kommt dem
Ausbau des technologischen Zugangs die zentrale Bedeutung zu, die Hemmfaktoren in
fast allen Flow-Kategorien zu minimieren. Lediglich zur Schaffung von Transparenz
kann der individuelle technologische Zugang nur wenig beitragen.
Wie kann der Ausbau des technologischen Zugangs auf die einzelnen Hemmfaktoren
einwirken?
Sozio-kulturelle Werte & Praktiken: Nur wer Zugang zur Netzwerkgesellschaft hat,
kann sich in deren Ausgestaltung aktiv einbringen und damit die sozio-kulturellen
Werte und Praktiken auf der policy-, politics- und polity-Ebene mitprägen, die sich
am space of places materialisieren.
Ökonomischer Druck: Erst ein Netzzugang ermöglicht es, ggf. ökonomische
Einnahmen zu generieren, die der Online-Welt vorbehalten sind bzw. über
Netzwerkeffekte erst zum Tragen kommen. Dabei muss graduell unterschieden
werden: Auf der einen Seite existieren kollektive, öffentliche Zugänge, die der
Kontrolle der BetreiberInnen unterliegen und damit eher dem passiven Konsum
von Medienprodukten dienen. Auf der anderen Seite stehen privatrechtliche
Zugänge, die je nach Bandbreite und Kostenstruktur eine aktivere Einbindung in
die netzspezifische Remix-Kultur i.S. des Creative Internets und des Social
Computings erlauben. Je nach politischem Interesse wirkt sich hier der
technologische Zugang auf die politics-Ebene aus.
Politische Mechanismen: Nur über eine breite Anbindung möglichst vieler
Menschen eines politischen Herrschaftsraum ist eine Grundlage geschaffen für den
Aufbau einer gesamtgesellschaftlichen Netzwerk-Kompetenz. Erst damit sind die
Voraussetzungen gegeben, netz-demokratische Prozesse anzustossen, die möglichst
viele Menschen in die Entscheidungsfindungsprozesse auf der polity-Ebene
einbindet.
Sozio-technologischer Wandel: Eine wesentliche Voraussetzung, den sozio-
technologischen Wandel begreifen zu können, stellt sui generis der technologische
Zugang zum Netz und zu den erforderlichen Endgeräten dar. Dies ist die Basis für
den Aufbau persönlicher Skills und motivationaler Nutzungspraktiken. Um ggf.
vorhandene regionale Akzeptanzprobleme zu beseitigen, können z.B. die Tradition
erfolgreicher ICT4D-Initiativen auf der politics-Ebene aufgegriffen und unterstützt
werden.
Persönliche Voraussetzungen: Ist ein technologischer Zugang gegeben, bilden sich
erforderliche individuelle Kompetenzen informell aus, sofern sich gleichzeitig eine
gesamtgesellschaftliche Netzwerk-Kompetenz mit formt. Auf individueller Ebene
sind dazu bestimmte Persönlichkeitsfaktoren und grundlegende Schreib- und
Lesefähigkeiten erforderlich, die ggf. über eine formalisierte Bildungsarbeit
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 307
eingeübt werden können. Ob auf sozialer Ebene der technologische Zugang die für
die Netzwerkgesellschaft benötigten gesamtgesellschaftlichen Fähigkeiten ausbildet,
hängt von weiteren Rahmenbedingungen ab: Auf der policy-Ebene bedürfte es eines
radikalen Umschwungs, damit effektive Konsequenzen auf der politics-Ebene
daraus folgen und neue VertreterInnen auf der polity-Ebene akzeptiert würden, die
den Prozess qualitativ unterstützen könnten.
Soziales Umfeld: Die Faszination an den Netztechnologien stellt sich v.a. durch ihre
soziale Nutzbarkeit ein. Sei es in Communities mit starken Verbindungen oder in
Netzwerken mit schwachen Verbindungen - erst ein technologischer Zugang
ermöglicht es, traditionelle Dorfkommunikation auf die virtuelle Welt zu
projizieren. Ist eine Person bereits online involviert, werden weitere Bekannte
folgen, um den sozialen Kontakt aufrechtzuerhalten bzw. zu verfestigen. Hier
könnten mit einfachen Maßnahmen auf der politics-Ebene entsprechende
Voraussetzungen geschaffen werden.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Eine umfangreiche Anbindung institutioneller
Prozesse an die Netzwerkgesellschaft wird es ermöglichen, eine soziale Netzwerk-
Kompetenz aufzubauen, die individuelle Aktivitäten mit der Gesellschaft verbindet.
Über diesen Weg kann eine kollektive Intelligenz entstehen, die sich
verfahrensrechtlich auslesen lässt und über die alltägliche Praxis in einer
demokratisch legitimierten Rechtsprechung mündet. Auch hier werden erst über
einen Umschwung im Agenda-Setting auf der policy-Ebene neue Schrittfolgen auf
der politics-Ebene eingeübt, die die innerstaatlichen Zuständigkeiten auf der polity-
Ebene verändern können.
Zusammengefasst bedeutet dies: Wie mehrfach betont, ist der technologische Zugang
die zentrale bildungspolitische Maßnahme, ohne die sich die für die
Netzwerkgesellschaft erforderliche individuelle Netz- wie gesamtgesellschaftliche
Netzwerk-Kompetenz nicht aufbauen lässt. Diese Kompetenzen wiederum sind auf
allen Ebenen dringend erforderlich, um gegen die identifizierten Hemmfaktoren
anzugehen.
2. Bedeutungszuwachs der Zivilgesellschaft
Der Zivilgesellschaft (ZG) kommt seitens der Expertinnen die größte Bedeutung zu für
die Schaffung transparenter Strukturen. Eine sehr große Bedeutung spielt die ZG für
die Optimierung des Workflows und der Medienumgebung und auch bedeutend ist sie
für die Weiterentwicklung des space of flows. Weniger bedeutsam ist die ZG für die
Flow-Kategorie Person und keine Rolle spielt sie für die persönliche Usability.
Inwiefern kann diese bildungspolitische Maßnahme die identifizierten Hemmfaktoren
bis zum Jahre 2020 beeinflussen?
Sozio-kulturelle Werte & Praktiken: Über die vielfältigen Netzaktivitäten der
technologisch angeschlossenen Personen in diversen CoPs und NoPs erwächst eine
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 308
Öffentlichkeit, die sich als informelle Zivilgesellschaft emergent ausformt. Dieser
Ausformungsprozess lässt im space of flows eine Web 2.0-Kultur entstehen, die sich
am space of places in die regionalen Kulturen einwebt. Insofern hier z.B.
kontinuierlich die nationalen, bildungspolitischen Harmonisierungsbestrebungen
seitens aktiver NutzerInnen diskursiv unterlaufen und in die regionale Kultur
hineingetragen werden, kann das Web -sowohl auf der policy-, politics- und polity-
Ebene- Einfluss auf politische Prozesse nehmen. Zwar wird diese Entwicklung hin
zu transparenten Strukturen von herrschenden Eliten in tradierten Institutionen
behindert. Aber nur über die aktive Einbindung dieser zivilgesellschaftlichen
Aktivitäten in politische Entscheidungsprozesse lässt sich eine halbwegs
demokratische Legitimation auch der praktizierten Bildungspolitik herstellen. Die
Zivilgesellschaft ist das zentrale Scharnierwerk, um die kulturelle Hegemonie
entsprechend der globalen, kollektiven Bedürfnisse der Menschen auszuhandeln.
Um diesen Transformationsprozess hin zu modernen sozio-kulturellen Werten und
Praktiken über die internationale (Bildungs-)Politik zu unterstützen, bedürfte es
unter den gegebenen Bedingungen einer aktiven Lobbyarbeit in den IOs über eine
schlagkräftige internationale Bildungs-NGO, die maximal reflexiv mögliche elitäre
Kontinuitäten hinterfragt.
Ökonomischer Druck: Die Zivilgesellschaft kann hinsichtlich des ökonomischen
Drucks auf zwei Ebenen wirken: Zum einen können zivilgesellschaftliche Kräfte
versuchen, die bildungspolitischen Lücken informell zu schliessen, die das
herrschende formalisierte Bildungssystem reisst - z.B. über kreative Lösungen, an
den diversen technologischen Zugängen Unterstützung auf der Skill-Ebene
anzubieten oder über Aktivitäten, die die Motivation zum Mitmach-Netz steigern.
Zum anderen können vielfältige netzpolitische Initiativen der Open-Bewegung
mitsamt (inter-)nationaler Lobbying-Arbeit zugunsten einer Alternative zu
kostenpflichtigen Abhängigkeiten votieren. Hier sind bereits eine Vielzahl an
zivilgesellschaftlichen Akteuren aktiv, die im Internet Governance-Regime mit
vote-Funktion eingebunden werden sollten.
Politische Mechanismen: Die politischen Mechanismen sind eng verbunden mit
dem erzeugten ökonomischen Druck, den Personen vergegenwärtigen. Das
herrschende System legitimiert sich über den Verkauf von Produkten und
Dienstleistungen. Insofern profitieren Einzelne von dem praktizierten Modell,
während Andere dadurch benachteiligt werden. Genau diese Ungleichheit fördert
Mißtrauen in der Gesellschaft und wirkt damit kontraproduktiv zur aktiven, freien
Nutzung des Netzes. Seitens der selbstorganisierten Zivilgesellschaft gilt es hier, auf
Mißstände hinzuweisen und gleichzeitig Möglichkeiten aufzuzeigen, wie ein
vertrauensvoller Umgang mit den (Medien-)Technologien aussehen kann. Auf der
internationalen Bühne sollten einflussreichere NGOs kooperativ auch die Interessen
anderer, regionaler zivilgesellschaftlicher Kräfte unterstützen. Hierzu wären eigene,
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 309
weltweit gültige, demokratische Strukturen sehr hilfreich.
Sozio-technologischer Wandel: Auch für diesen Hemmfaktor sind die
zivilgesellschaftlichen Entwicklungen entscheidend, um dem ökonomischen Druck
entgegen zu wirken. Zudem obliegt es der im Netz sich konfigurierenden
Zivilgesellschaft, mit kreativen Hacks die technologische Vertrauensfrage zu lösen
bzw. für selbst-regulative Kräfte zu sorgen, die über eine Marktdemokratie auf die
dominierenden technologischen Player einwirkt. Auch attraktive Entwicklungen in
der Open-Bewegung mit persönlichem oder gesellschaftlichem Mehrwert werden
dazu beitragen, exkludierte Personen in den Wandlungsprozess zu integrieren.
Persönliche Voraussetzungen: Mit dem Erstkontakt zum Netz setzt sich ein
informeller Lernprozess in Gang, der sich ggf. auch gegen die formale Bildung
durchsetzt. Diesen gilt es zivilgesellschaftlich zu unterstützen und aufzuwerten, um
der kulturellen Hegemonie formalisierter Abschlüsse eine adäquate Alternative
entgegenzusetzen. Um immer mehr Personen einzubinden in die globale
Öffentlichkeit, wird es seitens bestehender CoPs und NoPs notwendig sein, sich
gegen Verkrustungen und neue elitäre Muster zu verwahren und regelmäßig die
persönlichen Verbindungen zu ergänzen um neue Netzwerkknoten.
Soziales Umfeld: Der Zivilgesellschaft wird die Aufgabe zukommen, den Mehrwert
schwacher Verbindungen aufzuzeigen und einer ausschließlichen Virtualisierung
von CoPs am space of places entgegenzuwirken. NoPs als temporäre
Interessensgruppen für inhaltliche Themen zu begreifen, wird zentrales Gut der
Netzwerkgesellschaft sein.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Die Zivilgesellschaft wird aufgrund ihrer
netzpolitischen Aktivitäten vor allem gegen diesen Hemmfaktor wirken müssen.
Hier das bestehende Rechtssystem qualitativ weiterzuentwickeln und ggf. zu
ergänzen (siehe Creative Commons), wird entscheidend von den
zivilgesellschaftlichen Kräften getragen. Angesichts des existenten Internet
Governance-Regimes wird es politisch unausweichlich sein, sich zu organisieren
und die Netzwerkpotenziale demokratisch in die Arbeit der IOs hineinzutragen.
Zusammengefasst reift in der Netzwerkgesellschaft die (möglichst globale)
Zivilgesellschaft zum entscheidenden Akteur heran, der Druck ausüben sollte, um die
erforderlichen, gesellschaftlichen Transformationen zu forcieren. Sie konstruktiv zu
unterstützen ist eine weitere zentrale bildungspolitische Maßnahme.
3. Förderung sozialen Lernens
Die Expertinnen sehen in der Förderung sozialen Lernens die zentrale
bildungspolitische Maßnahme, um den individuellen Workflow zu optimieren. Eine
sehr große Bedeutung kommt dieser Maßnahme zu hinsichtlich des offenen Umgangs
mit Medienumgebungen und sich diese gebrauchstauglich zu gestalten. Auch
förderlich ist das soziale Lernen im Hinblick auf die Person und die Transparenz. Fast
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 310
keinen Einfluss hat diese Maßnahme auf den space of flows.
Wie beeinflusst die Förderung sozialen Lernens die einzelnen Hemmfaktoren?
Sozio-kulturelle Werte & Praktiken: Soziales Lernen im globalen Maßstab vermag
Menschen miteinander verbinden. Interkulturelle Unterschiede der Mediennutzung
gleichen sich über die Ausbildung eines gemeinsamen Kommunikationscodes
langsam an bzw. etabliert sich im space of flows eine supranationale Web 2.0-
Kultur, die sich am space of places in die regionalen Kulturen einschreibt. Dieser
Kulturwandel vollzieht sich zunächst auf der policy-Ebene, bevor er dann auf die
politics-Ebene einwirkt und damit später die polity-Ebene verändert.
Ökonomischer Druck: „Aufstieg durch Bildung“ ist ein gern bemühter Mythos, der
sich nur selten realisiert, sich aber angesichts lebenslanger Dynamiken im
Arbeitsprozess immer wieder auf's Neue stellt. Das formale Bildungssystem stößt
hier an seine Grenzen - informelle Lernpraktiken vermögen zu überbrücken. Die
Förderung sozialen Lernens beschränkt sich nicht auf die formale Vermittlung
entsprechender Kompetenzen, sondern umfasst vor allem Unterstützungsleistungen
für die aktive Teilhabe im globalen Netz. Dies setzt einen technologischen Zugang
und finanzielle Mittel voraus, damit sich Personen als aktive NetzbürgerInnen
beteiligen können. Soziales Lernen -in diesem Sinn verstanden- umgreift folglich
nicht nur soziale Lernformen, sondern auch die soziale, interaktive Arbeit mit
Lerngegenständen und deren soziale Weitergabe - ggf. auch, um ein eigenes
Einkommen auf der Basis eines sozialen Eigentumsbegriff zu beziehen. Die
Gestaltungsmacht klassischer Bildungspolitik ist hinsichtlich dieses Hemmfaktors
an seine Grenzen gestoßen, hier bedarf es entsprechender Korrekturen auf der
politics-Ebene.
Politische Mechanismen: Auf die politischen Mechanismen vermag die Förderung
sozialen Lernens nur indirekt Einfluss zu nehmen. So baut sich eine
gesellschaftliche Netzwerk-Kompetenz erst über die Integration möglichst vieler
Netzwerkknoten auf - sowohl an Personen als auch an Institutionen. Soziales
Lernen bedeutet unter diesem Blickwinkel, auch institutionelle Erfahrungswerte
aufzubauen und die soziale Kompetenz relevanter Personen im politischen
Räderwerk auf der polity-Ebene zu steigern.
Sozio-technologischer Wandel: Soziales Lernen ist ein wesentlicher Faktor, um als
Person beim sozio-technologischen Wandel kontinuierlich Schritt zu halten. Glückt
es, sich als Netzwerkknoten in verschiedenen, persönlich interessanten CoPs und
NoPs zu bewegen, ist ein kollektiver Wandlungsprozess möglich, der sich auf allen
drei Ebenen (policy, politics, polity) auswirkt.
Persönliche Voraussetzungen: Über soziales Lernen vollzieht sich der persönliche
Change-Management-Prozess fast unmerklich. Indem die informellen Lernprozesse
angestossen werden und sich im Netzwerk fortentwickeln, passen sich die
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 311
Workflows in selbst gestalteten Medienumgebungen sukzessive den eigenen
Bedürfnissen an. Die persönlichen Voraussetzungen wachsen fast unmerklich mit.
Soziales Umfeld: Soziales Lernen kann die integrative Wirkung des Netzes auf den
Zusammenhalt des eigenen sozialen Umfeldes befördern. Aber auch neue
Bekanntschaften in neu entstehenden NoPs können sich über diesen Weg entfalten
und die Personen aktiver in die Netzwerkgesellschaft einbinden.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Die praktizierten sozialen Lernformen lassen
NetzbürgerInnen an rechtliche Grenzen des veralteten Rechtssystems stossen.
Indem weitere soziale Kreise in die Netzwerkgesellschaft integriert werden, besteht
die Hoffnung, auch in traditionell konservativen, juristischen Kreisen ein
Verständnis für die notwendigen Veränderungen in der Netzwerkgesellschaft auf
der policy-, politics- und polity-Ebene zu erwirken.
Zusammen gefasst ist soziales Lernen eine bildungspolitische Maßnahme, die an der
Person ansetzt und einen Erfahrungsraum schafft, der es den Individuen ermöglicht,
v.a. auf der Skill- und Motivation-Ebene einen Einstieg zu finden in die
Netzwerkgesellschaft.
4. Etablierung von Chancengleichheit
Chancengleichheit zu etablieren ist nach Ansicht der Expertinnen von entscheidender
Bedeutung für die Weiterentwicklung des space of flows. Zudem ist sie sehr wichtig für
die persönliche Entwicklung und die personalisierte, gebrauchstaugliche Anpassung
der einfliessenden Ströme. Chancengleichheit hilft auch, die Workflows und die
Medienumgebung auf die persönlichen Bedürfnisse besser zuzuschneiden. Allerdings
übt sie überhaupt keinen Einfluss auf die Entwicklung transparenter Strukturen aus.
Chancengleichheit ist ein hehrer Anspruch, der unabhängig vom Internet schon sehr
lange gefordert wird. Bei aller Utopie: Wie nnte Chancengleichheit auf die
identifizierten Hemmfaktoren einwirken?
Sozio-kulturelle Werte & Praktiken: Über Chancengleichheit könnten zunächst die
klassischen Vermachtungen am space of places unterlaufen und damit die sozio-
kulturellen Werte und Praktiken beeinflusst werden. Die Interessen der derzeit
Exkludierten liessen sich über die globale Netzwerkgesellschaft stärker einbringen,
indem sie z.B. auf die IOs einwirken, als nationale Veto-Spieler fungieren oder die
existierenden EntscheidungsträgerInnen stärker beeinflussen könnten. Insofern
kann Chancengleichheit über die sozio-kulturellen Werte und Praktiken auf der
policy-, politics- und polity-Ebene wirken.
Ökonomischer Druck: In diesem Kontext wirkt sich die Etablierung von
Chancengleichheit bei aller Utopie am stärksten aus. Sozio-historisch entstandene,
tradierte, internationale und innerstaatliche Ungerechtigkeiten liessen sich ggf.
etwas ausgleichen. Über eine Überbrückung des Digital Divide könnte auf der
Access-, Social Content- und Motivation-Ebene ein kreativer Schub in Richtung
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 312
selbstbestimmter Ökonomie entstehen, der einer geballten Innovationskraft
gleichkäme. Hier wäre Chancengleichheit zunächst auf der politics-Ebene wirksam.
Politische Mechanismen: Auch in diesem Feld würde Chancengleichheit zu einer
basisdemokratischen Transparenz beitragen, die keine undurchsichtigen Interessen
deckt. Indem zivilgesellschaftliche Akteure und benachteiligte Regionen in die
politischen Prozesse gestaltend mit eingreifen könnten, würde eine wahrhaft globale
Netzkultur mit demokratischer Legitimation auf der polity-Ebene heranreifen
können, die dann auf die politics- und policy-Ebene Auswirkungen hätte.
Sozio-technologischer Wandel: Über die Möglichkeit, auf der Access- und Social-
Content-Ebene zuzugreifen auf den sozio-technologischen Wandel erfolgt ein
informeller Lernprozess, der eine bottom-up-Kultur entstehen lässt, die sich an die
kollektive Intelligenz der Aktiven kontinuierlich anpasst. Damit würde die
Chancengleichheit auf die policy- und politics-, vielleicht später auf die polity-
Ebene einwirken können.
Persönliche Voraussetzungen: Auf der Skill- und Motivation-Ebene von Individuen
kann sich einiges bewegen, wenn Bildung kostenfrei zugänglich ist bzw. die
informellen Lernprozesse nach erfolgtem Netzzugang greifen. Eine globale
Zivilgesellschaft könnte darauf aufsetzen, die idealer Weise keine neuen Eliten
produziert, sondern die Netzwerkeffekte beispielhaft nutzt. Hier würde zunächst die
polity-Ebene beeinflusst, die dann auf andere Ebenen abstrahlt.
Soziales Umfeld: Dieser Hemmfaktor kann durch Chancengleichheit beeinflusst
werden, wenn das soziale Umfeld aufgrund sozio-ökonomischer Faktoren oder
mangelnder Vorbildung nicht prädestiniert ist für den Netzzugang. Auch die
Machtstrukturen innerhalb eines bestimmten sozialen Umfeldes lassen sich eher
umgehen, wenn Chancengleichheit (z.B. zwischen den Geschlechtern) gegeben ist.
Dann wird der Kontakt zu Gleichgesinnten in interessengeleiteten NoPs eher
gefördert.
Rechtliche Rahmenbedingungen: Chancengleichheit im Rechtssystem könnte eine
Aufwertung der Produser ermöglichen und dem Lobbying der Content-Industrie
entgegenwirken. Auf der internationalen Bühne liesse sich idealtypisch eine
Weltregierung aufbauen, die aus gleichberechtigten Playern besteht. Hier müsste
Chancengleichheit primär auf der politics-Ebene wirken, um Einfluss auf die polity-
Ebene nehmen zu können.
Zusammen gefasst bedeutet dies: Erst über die Etablierung von Chancengleichheit auf
verschiedenen Ebenen (Ökonomie, Politik, Recht, Bildung, Gender, Kultur) haben alle
Menschen grundsätzlich die Chance, sich aktiv in die Gestaltung der
Netzwerkgesellschaft einzubringen. Hierauf bildungspolitisch gestaltend einzuwirken
ist eine weitere zentrale Voraussetzung für den Aufbau einer globalen
Netzwerkgesellschaft.
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5. Restrukturierung des Bildungssystems
Das Bildungssystem zu restrukturieren ist zentrale Voraussetzung, wenn Menschen
Verantwortung für ihre eigene Usability übernehmen sollen. Diese Maßnahme
beeinflusst auch die Flow-Kategorien Person, Workflow, Medienumgebung und space
of flows. Transparenz jedoch ist eine Kategorie, die nach Ansicht der Expertinnen
kaum beeinflusst wird durch solch eine bildungspolitische Maßnahme.
Welche Auswirkung hat diese Maßnahme auf die einzelnen Hemmfaktoren?
Sozio-kulturelle Werte & Praktiken: Über eine Öffnung des Bildungssystems zum
Netz -sowohl hinsichtlich der Einbindung der technologischen und globalen
Möglichkeiten, als auch im Hinblick auf die Entwicklung von Social Content und
Open Educational Resources, Open Access, Open Source als Ergebnis geförderter,
formaler Bildung- liesse sich das unilaterale Denken mit Output-Fixierung auf der
policy-Ebene ggf. langsam überwinden. Die gesellschaftliche Akzeptanz
selbstbestimmter Personen könnte auf der politics-Ebene darauf hinwirken,
informelle Lernerfolge anzuerkennen und den Weg zu persönlich relevanten CoPs
und NoPs moderierend zu begleiten. Über die aktive Integration des Netzes in die
Bildungsprozesse auf der polity-Ebene liesse sich Vertrauen aufbauen, so dass sich
die sozio-kulturelle Software des Geistes transformieren liesse.
Ökonomischer Druck: Wenn Bildung auf der politics-Ebene rund um die Orte
organisiert würde, an denen bereits ein technologischer Netzzugang gegeben ist
bzw. moderne Bildungssysteme am space of places sich rund um Netzwerkknoten
des space of flows organisieren, könnte die partielle Exklusivität von
(kostenpflichtigen) Bildungsorten relativiert werden. Über offene Schnittstellen
liesse sich auf der polity-Ebene ein alternatives Rechtssystem entwickeln, das sich
an den lernenden Personen orientiert und weniger an den Lobbyinteressen der
Content- und Bildungsindustrie. Über diesen Weg liesse sich ggf. die Abhängigkeit
des Netzlernens von ökonomischen Sachzwängen zumindest teilweise unterlaufen.
Politische Mechanismen: Indem Lernende die Vorteile eines offenen
Bildungszugangs erfahren und erste kollaborative Netzwerkerfahrungen sammeln,
steigt auf der policy-Ebene der Legitimationsdruck auf den politischen Apparat.
Undemokratische Entscheidungsprozesse auf der politics-Ebene werden dadurch
möglicherweise hinterfragt und alternative Forschungsaktivitäten beflügelt. Damit
könnte die seitens einflussreicher IOs dominierte Weltkultur mit visionären
Alternativen konterkariert werden und zu einer modernen kulturellen Hegemonie
auf der polity-Ebene basisdemokratisch beitragen.
Sozio-technologischer Wandel: Einen Change-Management-Prozess zu durchlaufen,
der als Kontinuum erfahren wird und nicht als Abfolge differenzierter Stufen, die
Plateaus suggerieren, die in Zeiten stetigen Wandels für kein Zeitfenster mehr
haltbar sind, sollte idealtypisch bereits von Kindesbeinen an einstudiert werden.
© acw Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse 314
Netzwerkaktivität auf der policy-Ebene nicht primär als Lernprozess zu
kennzeichnen, sondern als aktive Beteiligung an der Netzwerkgesellschaft, für den
jederzeit auf individuellen Wunsch Lerncoaches bereitstehen, könnte eine
Möglichkeit auf der politics-Ebene aufzeigen, wie der sozio-technologische Wandel
als Hemmfaktor abgebaut werden könnte - auch für Personen, die längst aus dem
Schulpflichtalter herausgewachsen sind.
Persönliche Voraussetzungen: Ein restrukturiertes Bildungssystem auf der policy-,
politics- und polity-Ebene könnte radikale Auswirkungen auf die Skill- und
Motivation-Ebene des Digital Divide haben. Indem Menschen eine
Bildungsinfrastruktur an die Seite gestellt wird, die sich nicht über feste Lernzeiten
und -orte definiert, sondern sich dynamisch den individuell unterschiedlichen
Bedürfnissen anpassen