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UEBERflow - Gestaltungsspielräume für globale Bildung

Authors:
  • FROLLEINFLOW - Institut für kreative Flaneure

Abstract

In der Dissertation wird der Frage nachgegangen, welche globalen bildungspolitischen Maßnahmen erforderlich sind, um auch bislang exkludierten Menschen den Kompetenzerwerb zu ermöglichen, der benötigt wird, eine positive User Experience in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen auszubilden, damit sie an der modernen Weltgesellschaft selbstbestimmt teilhaben können. Zu diesem Zweck wurden Castells ‘Netzwerkgesellschaft’ und Csikszentmihalys ‘Theorie der optimalen Erfahrung’ als analytische Grundlagen zur Einordnung der sozialen Netzwerk-Aktivitäten herangezogen. Dies ermöglichte es, unter Rückgriff auf aktuelle Lerntheorien, Kompetenzdebatten, ökonomische Analysen des Bildungssystems und User Experience-Forschungen, einige individuelle und gesamtgesellschaftliche Voraussetzungen abzuleiten, um in der Netzwerkgesellschaft konstruktiv überleben zu können. Mit Blick auf unterschiedliche sozio-kulturelle Bedingungen für persönlichen Flow im ‘space of flows’ liessen sich schließlich differenzierte Flow-Kriterien entwickeln, die als Grundlage für die Operationalisierung im Rahmen einer Real-Time Delphi (RTD)-Studie mit einem internationalen Expertinnen-Panel dienen konnten. Ziel war es, bildungspolitische Ansatzpunkte zu finden, den bislang Exkludierten bis zum Jahre 2020 erste Rahmenbedingungen zu bieten, damit sie potentiell teilhaben können an der Gestaltung der zukünftigen Netzwerkgesellschaft. Das Ergebnis der Expertinnen-Befragung wurde unter Rückgriff auf aktuelle Global und Educational Governance-Studien und das Einflusspotenzial der Zivilgesellschaft auf den Digital Divide reflektiert. Vor diesem Hintergrund konnten abschließend vier bildungspolitische Verlaufsszenarien entworfen werden, die es ermöglichen könnten, bis 2020 die Kluft zu den global Exkludierten wenigstens etwas zu schließen.
Anja Christine Wagner | UEBERf l o w
Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades einer
Doktorin der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.)
an der Universität Kassel im FB05 Gesellschaftswissenschaften
vorgelegt von Diplom-Sozialwirtin
Anja C. Wagner1
unter dem Titel
User Experience in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen -
Gestaltungsspielräume für globale Bildung
Erstgutachter:
Prof. Dr. Bernd Overwien2
Universität Kassel
Zweitgutachterin:
Prof. Dr. Debora Weber-Wulff3
Hochschule für Technik und Wirtschaft, Berlin
Disputation an der Uni Kassel am 9. Februar 2012
1http://acwagner.info
2http://overwien.eu
3http://www.f4.htw-berlin.de/~weberwu/
ANJA C. WAGNER
UEBERF L O W
GESTALTUNGSSPIEL RÄUME FÜR GLOBALE BILDUNG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutsche Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 Anja C. Wagner
Some rights reserved.
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Namensnennung-Nicht-kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0
Dokument online abrufbar beim Kasseler Dokumenten-Server:
https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de
„Im 20. Jahrhundert haben Philosophen versucht,
die Welt zu verändern. Im 21. Jahrhundert ist
es Zeit, sie unterschiedlich zu interpretieren.“
(Castells 2003, 3:411)
VORWORT
Lässt man zur Abrundung einer solchen Arbeit die vergangenen Jahre Revue
passieren, um für sich selbst ein zusammenhängendes, identitätsstiftendes
„Storytelling“ aufzusetzen, beginnt das Nachdenken über den persönlichen
Werdegang.
Nach dem sozialwissenschaftlichem Regelstudium eine Etappe des „Generation X“-
Daseins, begleitet von halbherzigen wissenschaftlichen Exkursen. Dann ein radikaler,
langer Schwenk in die multimediale Kreativ- und Bildungsindustrie mit unglaublich
bereichernden Erfahrungen und Erlebnissen. Schließlich die zunächst unbeabsichtigte
Wieder-Annäherung an den Hochschulbetrieb mitsamt einer beabsichtigten,
interessanten, „eigenen“ Projektreihe, begleitet von selbstorganisierten Diskurs- und
Vernetzungsaktivitäten im neuen Web (2.0). Nun, zum Ende hin, als der Freiraum
geschaffen war und sich „synergetisch“ mit den beruflichen Aktivitäten verflechten
liess: die Rückkehr zur wissenschaftlichen Arbeit. Nicht vollständig absorbierend,
sondern gut vernetzt mit Beinen in den verschiedenen Identitätskontexten.4
Die vorliegende Ausarbeitung führt somit die Erfahrungen der sehr unterschiedlichen
persönlichen Etappen zusammen. Sie ist durchtränkt von interdisziplinären Zugängen,
die mich beginnend mit dem sozialwissenschaftlichem Studium über vielfältige
Multimedia-Produktionen und Lehraufträge bis hin zu sehr unterschiedlichen
beruflichen Kontexten begleiteten und sich wechselseitig befruchteten. Es bleibt
demnach nicht aus, an dieser Stelle meiner Familie, meinen FreundInnen, meinen
KollegInnen aller gegenwärtigen und vergangenen Zeiten und meinem vielschichtigen
(Online-)Netzwerk mit allen „strong“ wie „weak ties“ grundlegend zu danken für all
ihre Impulse. Gewidmet ist diese Arbeit Carolin Ehbrecht, die leider viel zu früh
verstarb, mich aber nachhaltig lehrte, dass es eine Pflicht sei, die persönlichen Talente
in die Gesellschaft hineinzutragen.
Für die konkrete Unterstützung bei der Entstehung dieser Arbeit seien explizit
erwähnt: Debora Weber-Wulff, ohne die ich vermutlich nie wieder in das Umfeld der
Hochschulen gelangt wäre5 - und die schließlich die Konsequenzen in Form einer
Zweitbetreuung meiner Dissertation mit großem Engagement trug. Hans L. Cycon
(em.), der als erster wissenschaftlicher Projektleiter der eVideo-Projektreihe mich
nachdrücklich und wiederkehrend dazu ermunterte, endlich eine Dissertation
anzugehen. Bernd Overwien, der sich mutig bereit erklärte, diese Arbeit verantwortlich
zu betreuen - und über dessen Forschungskolloquium ich nochmals das „Profumo“ des
universitären Wissenschaftsbetriebes riechen durfte. Dem gesamten inForsch-
Kolloquium, deren Forschungsansätze und kritische Diskussionen mich stark
4 Im Laufe der Zeit sind kleinere Ausschnitte meiner schriftlichen Ausarbeitung aus der Dissertation in
veröffentlichte Beiträge auf meinem Weblog oder in „mein“ Projektwiki geflossen. Eine genaue Auflistung
der Seiten erfolgt im Anschluss an das Literaturverzeichnis.
5 Dank auch an die webgrrls, die dies über ihre Mailinglisten damals möglich machten ;-)
inspirierten. Schließlich allen Aktiven, die mir mit ihrer anonymisierten Expertise in
der Untersuchung zur Seite standen. Einen besonderen Dank möchte ich aussprechen
an: Teresa Almeida d'Eça, Stephanie Bock, Dafne González, Katrin Köhler, Ruth Marzi,
Mpine Makoe, Liz Sanders, Carol Smith, Petra Tesch, Karina Veal, Susanne Voigt,
Jiping Zhang - und Nicole Bauch. Vielen Dank für alles!
Anja C. Wagner
Berlin, im August 2011
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung........................................................................................................................15
1.1 Ausgangslage..........................................................................................................15
1.2 Zielsetzung & Fragestellung...................................................................................17
1.3 Methodisches Vorgehen.........................................................................................17
2 Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft........................................................21
2.1 Castells: Die Netzwerkgesellschaft.......................................................................22
2.1.1 Castells' Netzwerkdefinition.........................................................................22
2.1.2 Raum und Zeit..............................................................................................25
2.1.3 Identität, Kultur & Erfahrung......................................................................29
2.1.4 Technologie und Entwicklung......................................................................33
2.1.5 Macht und Gegenmacht...............................................................................36
2.1.6 Zwischenfazit: Castells Beitrag zur Bildungspolitik....................................38
2.2 Modernes Lernen in der Netzwerkgesellschaft....................................................41
2.2.1 Bildung - der Mensch als soziales Wesen....................................................42
2.2.2 Lernen zu lernen..........................................................................................44
2.2.2.1 Differenzierung des individuellen Lernbegriffs.................................45
2.2.2.2 Lernraum und -zeit.............................................................................47
2.2.2.3 Informelles Lernen.............................................................................48
2.2.3 Erziehung zum sozialen Wesen...................................................................52
2.2.4 Inter-nationale Bildungsökonomien...........................................................55
2.2.4.1 Bedeutung der Bildung in der Netzwerkgesellschaft.........................55
2.2.4.2 Bildung in der globalen Wissensökonomie........................................59
2.2.4.3 Internationalisierung der Bildung.....................................................60
2.2.4.4 Grenzen formaler Bildungsökonomien..............................................63
2.2.5 Learning 2.0 als Netzwerkaktivität.............................................................64
2.2.5.1 Community of Practice........................................................................67
2.2.5.2 Konnektivismus...................................................................................73
2.2.5.3 Personal Learning Environment & ePortfolio....................................77
2.2.5.3.1 Personal Learning Environment................................................77
2.2.5.3.2 ePortfolio....................................................................................79
2.2.6 Zwischenfazit: Lernen in der Netzwerkgesellschaft...................................82
2.3 Kompetenz(en) für die Netzwerkgesellschaft......................................................88
2.3.1 Der Kompetenzbegriff - ein Klärungsversuch.............................................90
2.3.2 Individuelle Handlungskompetenz als Kompetenzziel..............................93
2.3.3 Netz-Kompetenz als Handlungs- & Gestaltungskompetenz......................97
2.3.3.1 IT-Kompetenz......................................................................................98
2.3.3.2 Medienkompetenz...............................................................................99
2.3.3.3 Informations- und Internetkompetenz.............................................101
2.3.3.4 Netzwerkkompetenz..........................................................................102
2.3.4 Zwischenfazit: Kompetenz für vernetztes Lernen....................................106
2.4 Erstes Resümee & offene Fragen.........................................................................112
3 User Experience als Flow-Analyse...............................................................................117
3.1 Flow-Begriff bei Castells und bei Csikszentmihaly - eine Gegenüberstellung...119
3.1.1 Flow autotelischer Persönlichkeiten...........................................................119
3.1.2 Bedeutung von Zeit & Raum im Flow........................................................123
3.1.3 Identität und Macht bei autotelischen Persönlichkeiten..........................126
3.1.4 Einfluss von Technologie & Entwicklung auf Flow-Erleben.....................130
3.1.5 Zwischenfazit: Erforderliche Kompetenz für den Flow im Flow..............133
3.2 UX-Forschungsansätze und ihr Beitrag zur Flow-Analyse................................136
3.2.1 User Experience als benutzerfokussiertes Modell.....................................138
3.2.1.1 Konzeptualisierung von positiver Erfahrung....................................138
3.2.1.2 UX aus User-Perspektive...................................................................142
3.2.1.3 UX aus DesignerInnen-Perspektive..................................................144
3.2.2 Beitrag des UX-Designs auf Flow-Empfinden des Users..........................147
3.2.3 Zwischenfazit: UX-Forschung und Kompetenzentwicklung....................150
3.3 Interkulturelle Dimensionen von Flow-Erlebnissen..........................................154
3.3.1 Die interkulturelle Software des Geistes....................................................155
3.3.1.1 Power Distance Index (PDI)...............................................................157
3.3.1.2 Individualism Index (IDV)................................................................158
3.3.1.3 Maskulinity Index (MAS)..................................................................159
3.3.1.4 Uncertainty Avoidance Index (UAI).................................................160
3.3.1.5 Long-Term Orientation Index (LTO)................................................161
3.3.1.6 Lernkulturen im Vergleich................................................................162
3.3.2 Web 2.0 als soziale Kultur..........................................................................164
3.3.2.1 Begriffsbestimmung Web 2.0............................................................164
3.3.2.2 Kultur der Netzwerkgesellschaft & Web 2.0....................................165
3.3.2.3 Allgemeine Web 2.0-Kultur..............................................................166
3.3.2.4 Nationale oder regionale Web 2.0-Kultur........................................167
3.3.2.5 World Internet Project & Web 2.0-Nutzung....................................170
3.3.2.6 Das Web 2.0-Potenzial am Beispiel Afrika.......................................171
3.3.3 Zwischenfazit: Sozio-kultureller Einfluss auf Flow-Empfinden...............173
3.4 Zweites Resümee & offene Fragen......................................................................179
3.4.1 Voraussetzungen für Flow im space of flows.............................................181
3.4.1.1 Individuelle Ebene.............................................................................181
3.4.1.2 Sozio-kulturelle Ebene......................................................................183
3.4.1.3 Sozio-technologische Ebene.............................................................185
3.4.2 Individuelle Fähigkeiten für Flow im space of flows................................186
3.4.3 Offene Fragen für die Bildungspolitik.......................................................189
4 ExpertInnen-Befragung...............................................................................................193
4.1 Methodendiskussion............................................................................................193
4.1.1 Zukunftsforschung......................................................................................193
4.1.2 Mögliche Methoden der Zukunftsforschung.............................................197
4.1.2.1 Delphi-Methode..................................................................................197
4.1.2.2 Prediction Markets............................................................................200
4.1.2.3 Real-Time-Delphi..............................................................................202
4.1.2.4 Szenarientechnik...............................................................................204
4.1.2.5 Leitbilder...........................................................................................206
4.1.3 Zwischenfazit: Konsequenzen aus der Methodendiskussion...................207
4.1.3.1 Exkurs: Kollektive Intelligenz...........................................................208
4.1.3.2 Abschließendes Methoden-Design....................................................210
4.2 Vorbereitung der Real-Time-Delphi-Untersuchung..........................................211
4.2.1 Zielsetzung der Studie................................................................................212
4.2.2 Leitbild dieser Studie für 2020..................................................................213
4.2.3 Eigener Thesenkatalog mit Fragebogen....................................................213
4.2.3.1 Themenblock Person.........................................................................214
4.2.3.2 Themenblock Workflow....................................................................216
4.2.3.3 Themenblock Medienumgebung......................................................218
4.2.3.4 Themenblock Usability.....................................................................219
4.2.3.5 Themenblock Transparenz................................................................221
4.2.3.6 Themenblock space of flows............................................................223
4.2.3.7 Standardisierter Fragenblock...........................................................225
4.2.4 Auswahl der Expert/innen........................................................................228
4.2.4.1 Planung des Vorgehens.....................................................................229
4.2.4.2 Konkrete Auswahl der Expertinnen.................................................230
4.2.5 Spezifisches Untersuchungsdesign...........................................................234
4.2.5.1 Planung der RTD-Studie...................................................................234
4.2.5.2 Durchführung der RTD-Studie.........................................................236
4.2.5.3 Zeitlicher Ablauf der RTD-Studie....................................................238
4.3 Ergebnisse der Real-Time-Delphi-Untersuchung.............................................240
4.3.1 Beteiligung der Expertinnen......................................................................240
4.3.1.1 Beteiligung im Allgemeinen..............................................................240
4.3.1.2 Beteiligung im Besonderen...............................................................242
4.3.2 Methodisches Fazit zur RTD-Studie.........................................................245
4.3.3 Inhaltliches Fazit mit den zusammengeführten Ergebnissen..................247
4.3.3.1 Leitbild-Relevanz für Weltbevölkerung - Status Quo......................248
4.3.3.2 Mögliche Hemmfaktoren zur Realisierung des Leitbildes..............248
4.3.3.3 Bildungspolitische Maßnahmen zur Realisierung des Leitbildes..250
4.3.3.4 Mögliche Akteure der Bildungspolitik.............................................252
4.3.3.5 Leitbild-Relevanz für Weltbevölkerung - Idealtypisch....................253
4.4 Bildungspolitisches Resümee der RTD-Studie..................................................254
5 Bildungspolitischer Rahmen für die RTD-Ergebnisse................................................257
5.1 Internationale Bildungspolitik............................................................................257
5.1.1 Der Governance-Ansatz..............................................................................259
5.1.2 Einfluss internationaler Organisationen auf die Weltkultur....................263
5.1.3 Multilateral Education und ihre Keyplayer...............................................267
5.1.4 Einfluss der Zivilgesellschaft & NGOs.......................................................273
5.1.5 Digital Divide & Internet Governance.......................................................278
5.1.5.1 Die verschiedenen Ebenen des Digital Divide..................................279
5.1.5.2 Zivilgesellschaftlicher Einfluss auf die Internet Governance..........283
5.1.6 Zwischenfazit: Bildungspolitik in der Netzwerkgesellschaft....................288
5.2 Kritische Einordnung der empirischen Ergebnisse ..........................................294
5.2.1 Hemmfaktoren ...........................................................................................295
5.2.2 Bildungspolitische Maßnahmen................................................................305
5.2.3 Internationale bildungspolitische Akteure...............................................323
5.3 Einflusspotenzial internationaler Bildungspolitik auf Flow.............................334
5.3.1 Transformation der herrschenden Bildungsdiskussion............................335
5.3.2 Unterstützung der Open-Bewegung..........................................................336
5.3.3 Reorganisation der Institutionalisierungen..............................................337
5.3.4 Neue Lernorte für personalisierte Lernpfade...........................................338
6 Fazit mit Ausblick.........................................................................................................341
6.1 What has happened?............................................................................................341
6.1.1 Das raum-zeitliche Gefüge hat sich verändert...........................................342
6.1.2 Kulturelle Identitätsmarker individualisieren sich...................................343
6.1.3 Lernen bedeutet Entwicklung & Netzkontakt bedeutet Lernen...............344
6.1.4 Neue Kampflinien entstehen entlang der Netznutzung...........................346
6.2 What's happening?..............................................................................................347
6.3 What should happen?.........................................................................................349
7 Nachweise.....................................................................................................................351
7.1 Literaturverzeichnis.............................................................................................351
7.2 Eigene Links........................................................................................................387
7.3 Abbildungsverzeichnis........................................................................................388
7.4 Tabellenverzeichnis.............................................................................................395
7.5 Abkürzungsverzeichnis.......................................................................................396
7.6 Glossar.................................................................................................................397
8 Appendix......................................................................................................................409
Zugunsten des schnelleren Einstiegs in das Thema wurden weitere Verzeichnisse
(Eigene Links, Abbildungen, Tabellen, Abkürzungen, Glossar) aufgrund ihres Umfangs
nach hinten -hinter das Literaturverzeichnis- verschoben.
© acw Einleitung 15
1 EINLEITUNG
1.1 AUSGANGSLAGE
Die Menschen der Bundesrepublik Deutschland leben in einer
„Informationsgesellschaft“. Oder in einer „Wissens-“, einer „Netzwerk-“ oder einer
„Lerngesellschaft“?! Auf jeden Fall in einer „Bildungsrepublik“ - und spätestens hier
beginnt das Problem. Sie leben in einer „Bildungsrepublik“ einer „globalen
Wissensökonomie“. Oder existiert gar keine wahrhaft „globale Wissensökonomie“?
Stellt sich diese vielleicht aus Sicht (post-)industrialisierter Staaten lediglich als
Wissensökonomie dar, weil traditionelle Produktionsverfahren der billigen
Arbeitskraft hinterher gereist sind und den zurückgebliebenen Staaten „nur“ die
Vermarktung des Wissens geblieben ist?
Für (post-)industrialisierte Staaten jedenfalls, scheint sich Wissen zur wichtigsten
Produktivkraft entwickelt zu haben (Schelhowe 2007, 77ff.). Im Zuge der globalen
Auflösung klassischer Arbeitsstrukturen wurde „Innovation“ zum Motor
gesellschaftlicher Wertschöpfung ernannt. Dies setzt eine kontinuierliche
Weiterqualifizierung aller Beteiligten voraus und damit einher geht das Schlagwort
„Lebenslanges Lernen“ (LLL).„LLL“ ist zunächst ein bildungspolitisches Konzept, das
theoretisch breit gefasst ist als „alles Lernen während des gesamten Lebens, das der
Verbesserung von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen im Rahmen einer
persönlichen, staatsbürgerlichen, sozialen und/oder beschäftigungsbezogenen
Perspektive dient“ (Statistisches Bundesamt 2008). In der Praxis allerdings, kommt
„LLL“ eher einer Forderung nach mehr Eigenverantwortung gleich, die häufig
synonym zur Erwachsenenbildung resp. Weiterbildung verwendet wird (Gerlach 2000,
185). Wenn man sich aber konkrete Zahlen bzgl. der tatsächlichen Weiterbildung
anschaut, so gelangen sowohl eine Untersuchung der Europäischen Union (EU) als
auch eine der Weltbank zu ernüchternden Ergebnissen:
58% aller EU-Bürger gaben an, an gar keiner Form von Lernmaßnahmen
teilzunehmen - mit zunehmendem Alter und sinkendem Bildungsniveau. Nur 4,4%
der befragten Erwachsenen nahmen an formalen Bildungsangeboten teil, 16,5% an
nicht-formalen Angeboten und fast ein Drittel nutzte informelle Angebote wie
selbstständiges Lernen anhand von gedruckten Unterlagen, computergestütztes
Lernen, Bildungssendungen oder Lernzentren (Kailis und Pilos 2005).
Personen, die sich weiterbilden sind i.d.R. Angestellte in größeren Firmen, zumeist
mit einer höheren Bildungsqualifikation (auch aufgrund eines
Finanzierungsproblems bei der (non-)formalen Bildung). Die Weiterbildung
unbeschäftigter Personen zeitigen dagegen extrem schwache Ergebnisse und
© acw Einleitung 16
Trainingsmärkte im informalen Wirtschaftssektor scheitern zumeist aus Angebots-
Nachfrage-Gründen (The World Bank 2003).
Gängige bildungspolitische Konzepte für LLL führen diese Entwicklung fort. So
belegen aktuelle Studien die Gefahr, dass über das klassische bildungspolitische
Instrumentarium zwar souveräne, selbstgesteuerte Lernsubjekte weiter gefördert
werden, nicht aber das gesamte Lernenden-Spektrum (Schreiber-Barsch 2007). Mit
anderen Worten: Die zumeist auf formalisierte Angebote fokussierten
Förderprogramme unterstützen i.d.R. die, die ihrer am wenigsten bedürfen. Das Gros
der Menschheit bildet sich nicht im Rahmen klassischer Bildungsangebote fort.
Demnach taugen diese Konzepte nur bedingt dazu, die „Mechanismen sozialer
Exklusion zu entschärfen“ (ebd., 16). Vielmehr ist zu fragen, ob nicht die
bildungspolitische Förderung informeller Lernumgebungen einen signifikanten
Beitrag leisten könnte, auch bislang marginalisierte Personen zu erreichen. Vor allem
im Kontext des sog. Web 2.0 entstehen derzeit neue, vernetzte, medienbasierte
Personal Learning Environments (PLE), die von einer wachsenden Zahl moderner
„Netz-ArbeiterInnen“ genutzt werden.
Diese „Internationale der InformationsarbeiterInnen“ (Lindner), die sich weltweit
ausbreitet, praktiziert die grundlegende Forderung nach LLL, indem sie sich
kontinuierlich mit der Welt informell auseinandersetzt und innerhalb derer sie sich
beständig kommunikativ positionieren. Sie organisieren ihr Arbeiten und Lernen in
dynamisch sich wandelnden, individuell gestalteten, digitalen Umgebungen. Nicht in
Reaktion auf diverse Angebote, sondern durch die aktive Definition ihrer persönlichen
Interessen werden sie zu NutznießerInnen ihrer selbst definierten, vernetzten
Informations- und Kommunikationskanäle.
Gelingt es diesen „Netz-Menschen“, ihre individuellen Fähigkeiten hinsichtlich der
gewünschten Inhalte wie technologischen Schnittstellen zu synchronisieren, bildet sich
bei ihnen eine individuelle Kompetenz heraus, die nicht seitens externer Kräfte
definiert wurde, sondern sich selbstbestimmt im Netzverbund flexibel anpasst. Glückt
diese Kompetenzentwicklung, können solche Personen mit zunehmender Vernetzung,
bis zu einem bestimmten Grad, sogar produktiver werden (Aral, Brynjolfsson, und
Alstyne 2007) - neben der persönlichen Bedeutung, die gesamtgesellschaftliche
Stoßrichtung ihrer Kompetenz ggf. selbst zu definieren.6
Wie könnten marginalisierte Gruppen und exkludierte Personen an dieser Entwicklung
hin zu benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen partizipieren? Wie könnten sie
ihre Netz-Arbeit für sich sinnvoll und produktiv selbst gestalten? An welchen Punkten
kann bildungspolitisch noch gestalterisch angesetzt werden, wenn formale
Institutionen in ihrer Bedeutung zurückgehen?
6 Siehe dazu z.B. die aktuellen politischen Entwicklungen im Nahen Osten oder auch die Beratungen im
Deutschen Bundestag im Rahmen der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ mitsamt
einem Internet-Forum als „18. Sachverständigen“.
© acw Einleitung 17
1.2 ZIELSETZUNG & FRAGESTELLUNG
Die vorliegende Arbeit folgt der Hypothese, eine positive User Experience (UX)7
innerhalb der digitalisierten Umgebungen, die die moderne Weltgesellschaft
nachhaltig prägen, sei eine wesentliche Voraussetzung, um sich in den aktuellen
Veränderungsprozessen aktiv bewegen zu können. Es gilt zu untersuchen, welche
subjektiven Fähigkeiten die Personen einerseits selbst beisteuern können, um in den
Genuss einer positiven UX zu gelangen und welche Rahmenbedingungen auf der
anderen Seite diesen UX-Prozess beeinflussen.
Aufgrund der weltweiten Vernetzungen und sozio-kulturellen Verflechtungen ist dabei
die UX im globalen Kontext (inkl. Afrika, Asien, Südamerika etc.) zu analysieren, um
daraus generelle Kompetenzen abzuleiten und dann zu erforschen, wo man
bildungspolitisch (ggf. international) ansetzen könnte, um diese
Kompetenzentwicklung zu fördern. Zentrales Ziel dieser Arbeit ist es insofern, Hebel
zu finden, damit möglichst viele Menschen die Potenziale digitaler Vernetzungsformen
und weltweiter Informations- und Kommunikationsflüsse (zumindest potenziell)
selbstbestimmt geniessen und mitgestalten können.
Die sich daraus ableitende Hauptfrage, der es nachzuspüren gilt, lautet von daher:
Welche globalen bildungspolitischen Maßnahmen sind erforderlich, um sozial
exkludierten Personen den Kompetenzerwerb zu ermöglichen, der benötigt wird, um
über eine positive UX in benutzergenerierten, digitalen Lernumgebungen an der
modernen Weltgesellschaft selbstbestimmt teilzuhaben?
1.3 METHODISCHES VORGEHEN
Aufgrund der sehr breit angelegten Fragestellung wird in dieser Arbeit eine Methodik
gewählt, die erste Orientierungsergebnisse für weitere Forschungen auf der Basis eines
interdisziplinären Zuschnitts liefern soll. Dabei lehnt sich das leitende
Untersuchungsdesign an folgende Vorgehensweise an, die Manuel Castells wie folgt
beschreibt:
„I do not write books about books. I use theories, any theory, in
the same way that I hope my theory will be used by anyone: as a
toolbox to understand social reality. So I use what I find useful
and I do not consider what is not directly related to the purpose of
my investigation, (…).“ (Castells 2009a, 6)
Um die analytischen Schlüsse dennoch für möglichst viele LeserInnen nachvollziehbar
zu gestalten, soll die Darlegung der theoretischen Eckpunkte einer breiteren Rezeption
folgen, die für die jeweiligen Fach-ExpertInnen mitunter nicht erforderlich ist. Damit
7 UX kennzeichnet das Nutzungserlebnis bei der Interaktion (siehe dazu auch das anhängende Glossar)
© acw Einleitung 18
interdisziplinäre Bezüge zwischen verschiedenen Themen hergestellt werden können,
wird eine mitunter feingliedrige „Hypertext“-Struktur aufgesetzt, die es ermöglicht, auf
einzelne Kapitel punktuell zu verweisen. Zulaufen sollen diese vielfältigen
theoretischen Bezüge auf einen methodischen Kunstgriff zur Zukunftsforschung, der es
ermöglicht, trotz bislang wenig belastbarer empirischer Befunde als Kern der
Annäherung an die oben formulierte, hypothetische Hauptfrage dienen zu können:
Es soll untersucht werden, welche Kompetenz im Jahre 2020 erforderlich wäre, um im
„digitalen Klimawandel“ (Lindner 2008a) zu überleben und wie die dann benötigten,
subjektiven Voraussetzungen vorab bildungspolitisch begleitet werden könnten. Über
diesen Blick in die Zukunft lassen sich vielleicht einige Aussagen treffen über die
voraussichtliche mediale Durchdringung der „Weltgesellschaft“ mit den sich heute
bereits abzeichnenden digitalen Umwälzungen des so genannten Web 2.0 und den sich
daraus ableitenden, neuen, sozialen Lern- und Arbeitsprozessen. Die „Hype“-
Entwicklungen haben sich voraussichtlich bis zum avisierten Datum verflacht und
Normalität kehrt ein in die umgewälzte Informations- und Kommunikationskultur.
Das Zukunftsszenario für das Jahr 2020 wird dabei als Leitbild formuliert und dient
als Ausgangspunkt einer Real-Time-Delphi (RTD)-Analyse, die mit einem
ausgewählten internationalen Expert/innen-Kreis durchgeführt wird. Mit dieser
Studie soll v.a. eine Basis gefunden werden, neue Anstösse für zukünftige Forschungen
zu finden und weniger eine konsensual abgestimmte prognostische Voraussicht zu
formulieren.
Damit die RTD-Analyse auf einem geeigneten Thesenkatalog aufsetzen kann, soll
zunächst in Kapitel 2 der Forschungsstand zur Frage, welche Kompetenzen für
selbstbestimmtes vernetztes Lernen erforderlich sind, zusammengetragen werden. Zu
diesem Zweck wird untersucht, inwiefern Castells' „Netzwerkgesellschaft“ eine
geeignete theoretische Grundlage zur Einordnung sozialer Online-Netzwerke im Web
2.0-Zeitalter bildet. Anschließend wird analysiert, welche Bedeutung modernen
Learning 2.0-Konzepten zukommt vor dem Hintergrund der Netzwerkgesellschaft und
angesichts des dominanten, klassischen, pädagogischen Begriffsinventars. In der
Verbindung mit Ergebnissen der Kompetenzforschung lassen sich daraus ggf. aktuelle
Anforderungen für benötigte, subjektive Voraussetzungen ableiten, um in der
Netzwerkgesellschaft überleben zu können. Im Resümee soll dann der
Forschungsstand mit Blick auf erforderliche Kompetenzentwicklungen
zusammengeführt und offene Punkte für den nächsten analytischen Schritt dargelegt
werden.
Kapitel 3 widmet sich der Frage nach generellen Voraussetzungen für ein positives
Flow-Erlebnis in den weltweiten, digitalen Informations- und
Kommunikationskanälen. Über den bei Castells und bei Csikszentmihaly
unterschiedlich entwickelten Flow-Begriff werden klassische UX-Forschungsansätze
© acw Einleitung 19
untersucht, um zu evaluieren, welche Kategorien für die Analyse eines Flow-
Erlebnisses aus Sicht von sogenannten Usern geeignet erscheinen. Die sich aus der
sozio-kulturellen Analyse ableitenden persönlichen Flow-Voraussetzungen sollen
abschießend mit dem Stand der vernetzten Kompetenzforschung aus Kapitel 2
abgeglichen und offene Fragen für die Bildungspolitik aufgeführt werden.
Um diese konkreten Fragen zu analysieren, wird in Kapitel 4 das bereits
angesprochene potentielle Leitbild für das Jahr 2020 entwickelt, in dem von allen
Menschen erwartet wird, sich in benutzergenerierten, digitalen Umgebungen zu
orientieren. Für die Real-Time-Delphi-Analyse mit Expert/innen sollen aus den
theoretischen Bezügen verschiedene Thesen destilliert werden, um die benötigten
Fähigkeiten international einschätzen zu lassen und bildungspolitische Ansätze auf die
bislang noch ungeklärten Fragen zu finden. Die Ergebnisse der Real-Time-Delphi-
Studie steuern idealerweise bildungspolitische Vorschläge bei, die von den
Expert/innen als zukunftsfördernd angesehen wurden.
In Kapitel 5 sollen dann die erzielten empirischen Ergebnisse mit Blick auf die
gegenwärtigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen auf globaler Ebene diskutiert
und mögliche Szenarien für eine moderne internationale Bildungspolitik formuliert
werden.
In einem abschließenden Fazit lassen sich idealer Weise die bildungspolitischen
Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund zentraler Entwicklungslinien im Rückblick
zusammenführen und mit einigen offenen Forschungsfragen die Arbeit beenden.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 21
2 KOMPETENT ES LERNEN IN DER
NETZWERKGESELLSCHAFT
In welcher Welt leben wir eigentlich? Wie lernen Menschen? Und wie werden sie bald
lernen?
Schauen wir aus dem Fenster auf die Straße, bewegen wir uns in
(Hoch-)Schulgebäuden oder werfen wir einen Blick in die Kinderstuben, so stellen wir
-je nach eigenem Zugang zu den neuen Medien- fest: Irgendetwas verändert sich
gegenwärtig! Wir können es nur schwer deuten, sind irritiert, verharren. Was passiert
mit den Menschen, wenn sie ihre Bildschirme einschalten, die mobilen Endgeräte aus
den Hosentaschen ziehen und mit Stöpseln in den Ohren mit ihren Begleitern
kommunizieren? Der virtuelle Raum legt sich bleiern auf den realen - es existiert kein
abzugrenzender Raum mehr. Immer, dauernd, multipel verbinden sich immer mehr
Menschen über je unterschiedliche Kanäle mit anderen. Sie vernetzen sich
-schwarmgleich- mit mehr oder weniger Intelligenz - aber unübersehbar. Es wird Zeit,
diese Realitäten anzuerkennen und mit Blick auf das Lernen zu untersuchen.
Versuchen wir zu verstehen, was derzeit geschieht, welcher individuellen Fähigkeiten
es bedarf, um die vernetzten Möglichkeiten maximal nutzen zu können, und Konturen
zu erkennen, um innerhalb dieser Grenzen das Potenzial sinnvoll gestalten zu können.
Die zentrale These in diesem Kapitel lautet: In der Netzwerkgesellschaft ist die
Definition des erforderlichen Kompetenzaufbaus nicht von einer bestimmten,
vorzugsweise national begründeten Zielsetzung abzuleiten, sondern es gilt, die
Kompetenz-Potenziale einer bereits vernetzten Menschheit zu heben. Damit diese
selbstbestimmt als soziales Kollektiv auf globaler Ebene wirken kann, bedarf es eines
breiteren Zugangs zur Netzwerkgesellschaft, einiger individueller Basis-Fähigkeiten
und der sozialen Anerkennung kollektiv erarbeiteter Ergebnisse.8
Zu diesem Zweck sollen zunächst die Rahmenbedingungen der Netzwerkgesellschaft
entlang der Castell'schen Analysen angeführt werden, in denen sich Menschen und
Institutionen, auch Hochschulen, bewegen. In einem weiteren Schritt werden dann
Learning 2.0-Phänomene vor dem Hintergrund des grundsätzlichen pädagogischen
Begriffsinventars und aktueller bildungspolitischer Strömungen als Versuch analysiert,
die globalen Netzwerke zur eigenen und sozio-kulturellen Weiterentwicklung zu
nutzen. In diesem Kapitel gilt es abschließend zu erkunden, welcher Kompetenzen es
bedarf, damit sich Menschen in diesem vernetzten Zeitalter konstruktiv bewegen
können.
8 Dieser These ging ich zusammenfassend auch in einem vor kurzem veröffentlichten Buchbeitrag zu
„Kompetenzentwicklung in vernetzten Kontexten“ nach (Anja C. Wagner 2011, 50).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 22
2.1 CASTELLS: DIE NETZWERKGESELLSCHAFT
Der von Manuel Castells entwickelte analytische Ansatz zur Netzwerkgesellschaft
(Castells 2001a; Castells 2001b; Castells 2002; Castells 2003; Castells 2009b) gilt als
theoretischer Wendepunkt der Sozialtheorie, vergleichbar zur Tragweite von Max
Webers Arbeit (vgl. Stalder 2006, 206). Bis dato konzentrierte sich Netzwerkforschung
auf „Konstruktionsprinzipien, Akteursmodelle und Mechanismen der
Netzwerkbildung“ (Kardoff 2006, 69). Von diesen Netzwerk-Theoretiker/innen
unterscheidet sich Castells, indem er die Struktur des Netzwerkes -und weniger den
Inhalt- analysiert und darauf eine holistische Gesellschaftsanalyse aufbaut (Stalder
2006, 168). Hintergrund seiner Analyse ist die Beobachtung, in allen gesellschaftlichen
Bereichen eine grundlegende Transformation der konstituierenden sozialen Prozesse
erkennen zu können: von Hierarchien zu Vernetzungen.
Zentraler Antriebsmotor dieser Entwicklung waren -neben dem Aufkommen der
Mikroelektronik- die global wirkenden Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT), die einen Flow an Informationen, Menschen,
Innovationen ermöglichten und letztlich in der Netzwerkgesellschaft mündeten (ebd.,
2). Diese Netzwerkgesellschaft hat sich in den letzten drei Dekaden herausgebildet.
Nicht in Folge einer geschichtlichen Kausalität oder eines inhärent wirkenden
Sozialgesetzes, sondern aufgrund einer -mehr oder weniger zufälligen, sich in ihrem
Aufeinanderprallen aber wechselseitig bestärkenden- Koinzidenz besagter
elektronischer Revolution mit der Krise der Industrialisierung (seit den 1970er Jahren
und derzeit kulminierend) und den langfristig wirkenden kulturellen
Herausforderungen der 1960er Bewegungen (ebd., 3). Durch diese enge Verzahnung
der Re-Organisation sozialer Prozesse mit „neuen“ kulturellen Werten lässt sich eine
Verschiebung hin zu zunehmend vernetzten Strukturen feststellen, die noch nicht
abgeschlossen ist und in deren Kontext das vielfältige Entstehen dezentraler sozialer
Online-Netzwerke analysiert werden kann.
2.1.1 CASTELLS' NETZWERKDEFINITION
Netzwerke existierten schon immer - genauso wie Informationen oder Wissen.
Allerdings ist eine Kennzeichnung wie „Informationsgesellschaft“ oder
„Wissensökonomie“ wenig zielführend zur gesellschaftlichen Analyse, da sie den
wesentlichen Charakterzug der aktuellen Zeit nach Castells' Ansicht außer Acht lässt:
die an sich wert-neutralen, technologischen Tools, die prägend sind für diese
Gesellschaft (vgl. Stalder 2006, 32). Auf die technologischen Entwicklungen aber sind
die sozialen Veränderungen nach der Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren
zurückzuführen, die letztlich zum „Informationalismus“ als „neuer Form sozio-
technologischer Organisation“ (Steinbicker 2001, 79) und zur Netzwerkgesellschaft
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 23
führten und in vier verschiedenen Dimensionen sichtbar wurden (Stalder 2006, 43):
1. Internationalisierung der Ökonomie
2. Aufkommen globaler Finanzmärkte
3. Entstehen von Netzwerkunternehmen
4. Individualisierung der Arbeit
Der „Informationalismus“ als neues technologisches Paradigma ist nach Castells v.a.
geprägt durch die Computer- und Gentechnologie (ebd., 28ff.).9 Beide Technologien
zeichnen sich durch eine Eigendynamik aus, die drei Charakteristika betont:
Selbstexpansion: Computer helfen z.B. dabei, bessere Computer zu entwickeln
(ebd., 29);
Rekombination: Aufgrund der Informationsmodule lassen sich vielfältige, neue,
sinnstiftende Einheiten gestalten (ebd., 29);
Verteilungsflexibilität: Informationen können ihren Aggregatszustand
kontinuierlich verändern, so dass ständige Reorganisationen der Informationsflüsse
und der sozialen Organisationen möglich werden (ebd., 30).
Castells untersucht die Auswirkungen der Technologien auf die Form der sozialen
Organisation und gelangt für die heutige Zeit zu dem Schluss, das Netzwerk sei die
zentrale soziale Organisationsstruktur - nicht im Sinne eines ideologischen
Fortschrittsglaubens, vielmehr werden die sozial bestimmenden, kulturellen Werte im
Wettbewerb kontinuierlich ausgefochten (ebd., 30). Aufgrund der spezifischen
historischen Entwicklungen hat sich dabei eine Netzwerkkultur herausgebildet, die die
sozio-ökonomischen Bedingungen nunmehr dominiert. Ein Netzwerk definiert Castells
als bestehend aus mehreren Knoten, wobei ein Knoten der Punkt sei, „an dem eine
Kurve sich mit sich selbst schneidet“ und in unterschiedlichen Netzwerken je
verschiedene Gestalt annehmen kann (Castells 2001a, 1:528).
Um die je eigene Entwicklungsdynamik der verschiedenen Netzwerke zu skizzieren,
wählt Castells methodisch einen iterativen Prozess, in dem theoretische Annahmen
fortwährend verfeinert werden durch eine Vielzahl an empirischen Case Studies, die
wiederum durch die theoretischen Überlegungen immer wieder in neue Richtungen
gelenkt werden (Stalder 2006, 36). Als eine Konsequenz dieser Vorgehensweise erhebt
Castells nicht den Anspruch, eine abschließende Sozialtheorie vorzulegen, sondern legt
seine idealtypischen, theoretischen Überlegungen als Matrix aus, die Anstoß bieten
sollen, empirisch zu forschen, um eine empirisch gesättigte Matrix entstehen zu lassen
(ebd., 37f.). Vor diesem Hintergrund schimmern die theoretischen
Rahmenbedingungen seiner Forschungen nur dezent durch.
9 Für den Fokus dieser Arbeit sind v.a. die Einflüsse der Computertechnologie relevant. Die konkreten
Auswirkungen der bio-technologischen Revolution auf die Netzwerkgesellschaft bleibt weiteren
Forschungen vorbehalten.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 24
Der Medienwissenschaftler Felix Stalder hat sich derer angenommen und eine
Kategorisierung der Castell'schen Forschungen vorgenommen. Demnach beruht die
Netzwerktheorie auf vier zentralen Annahmen:
1. Informationalismus und Netzwerke stellen zwei Ebenen desselben empirischen
Flow-Phänomens dar: zum einen die technologische und zum anderen die
morphologische Ebene. Das Verhältnis der beiden Ebenen ist das von positiven
Feedbackschleifen, weniger von kausaler Abhängigkeit und führt zu einem
Zuwachs der menschlichen Leistungsfähigkeit durch diese Informationsprozesse
(ebd., 186).
2. Räumlich verändert die Netzwerklogik die Verortung, indem ein space of flows
-oder „Raum der Ströme“- fragmentierte und diskontinuierliche Oberflächen
entstehen lässt mit einer nonlinearen Organisation (ebd., 187). Koordiniert werden
diese Aktivitäten sowohl auf globaler wie lokaler Ebene durch den elektronischen
Informationsfluss, der die gleichzeitig zentralisierten wie dezentralisierten
Prozesse flexibel managt (ebd., 185).
3. Ein gemeinsames Projekt ist die Orientierung bietende, zentrale Achse, um die sich
ein Netzwerk dreht und konstituiert. Durch wertvolle Informationen, die einzelne
Knoten dem Netzwerk hinzufügen, erlangen sie Bedeutung innerhalb des
Netzwerkes. Trägt ein einzelner Knoten nichts bei zum Netzwerk, rekonstituiert
sich das Netzwerk ohne diesen Knoten (ebd., 188).
4. Eine geteilte Kultur der Protokolle und Werte erleichtert die Kommunikation.
Sowohl die Verbundenheit als Möglichkeit der geräuschlosen Kommunikation als
auch die Konsistenz der Zielvorstellungen von Netzwerk und Komponenten sind
Grundeigenschaften, die die Performance des Netzwerkes steigern (ebd., 189).
Als Annäherung an eine aussagekräftigere Definition des Netzwerkes führt Stalder an:
„A network is an enduring pattern of interaction among heterogeneous
actors that define one another (identity). They coordinate
themselves on the basis of common protocols, values, and goals
(process). A network reacts nondeterministically to self-selected
external influences, thus not simply representing the environment
but actively creating it (interdependence). Key properties of a
network are emergent from these processes unfolding over time,
rather than determined by any of its elements (emergence).“ (ebd.,
180)
Netzwerke beruhen also nicht auf einer formalen Organisation, sondern sie
kombinieren auf potentiell universaler Basis verschiedene Knoten, die ein
gemeinsames, partikulares, funktionales Interesse miteinander verbindet. Erst im
„Vollzug seiner Reziprozitätskommunikation“ (Bommes und Tacke 2006, 58) legt das
Netzwerk fest, wer dazugehört und wie seine sachlichen, sozialen und zeitlichen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 25
Strukturen sich ggf. stabil und flexibel entfalten. Netzwerke entwickelten sich so zur
effizientesten Organisationsform, da sie drei Hauptmerkmale mitbringen, die sie an
der neuen technologischen Umgebung profitieren lassen (eigene Übersetzung aus
Lupiáñez-Villanueva 2008):
1. Flexibilität: Sie können sich an wechselnde Umgebungen mühelos
anpassen, ohne ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Komponenten
des Netzwerkes werden ausgetauscht oder umgangen, um passendere
Verbindungen zu finden.
2. Skalierbarkeit: Ohne Unterbrechung können sie wachsen oder sich
minimieren, je nach Bedarf.
3. Überlebensfähigkeit: Da sie kein materielles Zentrum besitzen,
können Netzwerke in vielen verschiedenen Konfigurationen
operieren. Sie können Angriffe auf einzelne Knoten oder
kulturelle Codes gut abfangen, da die Codes in vielen Knoten
verhaftet sind, die den "Auftrag" über neue Wege erfüllen können.
Nur die tatsächliche physische Zerstörung aller Verbindungspunkte
kann das Netzwerk eliminieren.
Auf der Basis des Informationalismus und des space of flows entstehen eine Vielzahl
an Netzwerken rund um flexible Projekte, die sich selbst jeweils mittels intensiver
Kommunikation ihrer Mitglieder koordinieren. Diese Kommunikation folgt je
spezifischen Codes, die den Raum- und Zeitbegriff von ihren historischen Wurzeln löst
und ihren eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten anpasst. Es entstehen vielfältige
Kommunikationsbeziehungen, die dazu führen können, dass Menschen in separierten
Netzwerken aufgrund mangelnder Berührungspunkte und unterschiedlicher Codes
überhaupt nicht mehr miteinander kommunizieren können, da sie in verschiedenen
Zeiten und Räumen leben (Stalder 2006, 202). Die Struktur der Netzwerkgesellschaft
konfiguriert sich entlang dieser unterschiedlichen Netzwerke, deren gesellschaftliche
Ebenen nur über einzelne Netzwerkknoten und Systemparameter verbunden sind.
2.1.2 RAUM UN D ZEIT
Die originellste Facette aus Castells Theoriewerk stellt in mehrfacher Hinsicht sein
Diskurs zu Flows (Strömen) und Plätzen, Raum und Zeit dar. Grundlage seiner
Forschungen ist die Feststellung, dass Menschen in Räumen leben und agieren. Räume
existieren aber -nach Leibniz- nicht unabhängig von sozialen Beziehungen, sondern
werden erst durch diese konstituiert und transformiert. Insofern reflektieren und
formen Räume das soziale Leben in seiner Gesamtheit (Stalder 2006, 141). Mit dieser
Annahme können Räume nur über eine Gesellschaftsanalyse verstanden werden; die
Raumforschung muss also holistischer Natur sein (ebd., 144).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 26
Da soziale Handlungen nur dann zwischen Menschen geteilt werden können, wenn sie
sich im selben Raum befinden, gehören Raum und Zeit zusammen (ebd., 144).
Zentraler Charakterzug der Modernität ist die Ausdehnung von Raum und Zeit für die
Produktionsbedingungen, die schließlich in einer „Zeit-Raum-Kompression“ (nach
David Harvey) münden (ebd., 146).
„Harveys Kernthese ist, daß dieser Drang nach kontinuierlicher
zeitlicher Beschleunigung des Kapitalumlaufes oder nach einer „Zeit-
Raum-Kompression“ zugleich auch die Produktion von Raum und
räumlichen Konfigurationen voraussetzt. Nur durch die Bereitstellung
relativ unbeweglicher Transport-, Kommunikations- und regulativ-
institutioneller Infrastrukturen, d.h. gleichsam einer „zweiten
Natur“ sozial hervorgebrachter Konfigurationen territorialer
Organisation, kann diese beschleunigte Zirkulation von Gütern durch
den Raum erreicht werden. Daher ist, wie Harvey (1985: 145) bemerkt,
räumliche Organisation notwendigerweise die Grundvoraussetzung
dafür, den Raum zu überwinden.“ (Brenner 1997, 9f.).
Nach Castells schlägt aber jeder Kompressionsprozess irgendwann ins Negative um (zu
wenig Raum, zu wenig Zeit) und dann bedarf es eines qualitativ neuen Typus von
Raum und Zeit. Mit dem Beginn der Krise des Industrialismus seit den 1980er Jahren
restrukturierten sich die kapitalistischen Produktionsströme mittels der
Transformation des Raumes durch die Informations- und Kommunikations-
technologien. Den sozialen Akteuren ermöglichen diese neuen Flows, Zeit miteinander
zu teilen an verschiedenen Orten. In der kapitalistischen Logik versucht man aus
diesem Umstand Vorteile zu schlagen, indem eine weitere „Zeit-Raum-Kompression“
vorgenommen wird und zu 24/710-Produktions- wie Distributionskanälen führt. Der
geteilte Raum ist jetzt primär der space of flows, der als herrschende räumliche Logik
auch den space of places verändert (ebd., 145).
„Der Raum der Ströme ist die materielle Organisation von Formen
gesellschaftlicher Praxis, die eine gemeinsame Zeit haben, soweit
sie durch Ströme funktionieren. Unter Strömen verstehe ich
zweckgerichtete, repetitive, programmierbare Sequenzen des
Austauschs und der Interaktion zwischen physisch unverbundenen
Positionen, die soziale Akteure innerhalb der wirtschaftlichen,
politischen und symbolischen Strukturen der Gesellschaft einnehmen.“
(Castells 2001a, 1:467)
Castells unterscheidet 3 Dimensionen, die den space of flows charakterisieren:
1. Eine Umgebung mit einer neuen, räumlichen Logik hat sich etabliert: Um am
space of flows teilhaben zu können, muss man haptisch an der Infrastruktur
10 24 Stunden / 7 Tage
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 27
andocken können. Sofern man eine entsprechende Infrastruktur vorfindet, ist der
physikalische Ort theoretisch gleichgültig. Wem diese Teilhabe an den
technologischen Netzwerken verwehrt bleibt, ist marginalisiert: Menschen,
Institutionen und Orte (Stalder 2006, 147f.).
2. Clustering in Knoten und Verteiler: Unterschiedliche Netzwerke haben
unterschiedliche zentrale materielle Orte, die eine gewisse Grösse erfordern, um
die Feinheiten dieser fortgeschrittenen Prozesse im space of flows wahrnehmen
und aufgreifen zu können (ebd., 148). Um z.B. als Ort für ein Finanzzentrum
wirken zu können, bedarf es eines komplexen Backends am Ort - inklusive einer
sozialen Kohäsion der intellektuellen Eliten (ebd., 149).
3. Für die Elitenbildung wiederum ist eine bestimmte räumliche Verteilung und
spezifische räumliche Formation erforderlich. Dies wird infrastrukturell z.B. über
den Mietenspiegel oder geschlossene Wohnbezirke oder Sicherheitsdienste gelöst.
Zum anderen verbinden Lounges an den Mobilitätsstätten (Flughafen, Bahnhöfe),
Konferenzzentren, Hotelketten, Clubs und Limousinen die Knoten als Brücken
miteinander. Und da zentrale Schulen die globale, intellektuelle Kultur ausbilden,
sind die Codes zumindest im rein kapitalistischen Segment gleich gesetzt (ebd.,
149f.; zu Elitenetzwerken und Machtfeldern i.S. von Bourdieu siehe auch: Gulas
2007, 77ff.).
Stalder führt diese Punkte in einer Definition des space of flows zusammen:
„The space of flows is the infrastructure of high-speed, high-
volume, high-precision communication and transportation, spanning
the globe but clustered in specific places based on their ability to
provide the resources relevant to advancing the networks' particular
programs. Through this infrastructure, elites produce and process
vast amounts of information based on which decisions are made.“
(ebd., 150)
Heute allerdings steht der space of flows nicht mehr nur den herrschenden Eliten zur
Verfügung - auch soziale Bewegungen nutzen diesen für ihre Netzwerke. Der space of
flows setzt auf dem space of places auf, wenn dieser Landungspunkte bereitstellt - und
mit dem World Wide Web haben sich diese potenziert. Über diese Verbindungen
können Menschen den space of flows betreten, ohne ihren space of place verlassen zu
müssen. Beziehungsweise zeichnet sich bereits ab, wie über die mobilen Endgeräte
neue räumliche Praktiken entwickelt werden, in dem der space of flows spontan und in
selbst gesetzten Rhythmen zur Koordination der beteiligten Personen genutzt wird und
eine weitere Raum-Zeit-Kompression eintritt. Innerhalb von zwei Dekaden hat der
space of flows fast jeden Lebensteil theoretisch erreicht - weltweit (ebd., 151). Aber mit
unterschiedlicher Gewichtung der zugänglichen Netzwerke, je nach der am space of
places vorherrschenden elitären Infrastruktur, die sich zusehends über dezentrale
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 28
metropolitan regions organisiert (Castells 2009b, 1:xxxii ff.).
Das Internet ist demnach nur ein kleiner Ausschnitt des space of flows. Weitere
Netzwerke, teilweise privat oder geschlossen, bauen auf diesen globalen IKT-Kanälen
auf - seien es die Finanzmärkte, die mobile Kommunikation oder Intranets mit
internationaler Ausbreitung. Man könnte auch sagen, der space of flows konfiguriert
auch den space of power oder der counterpower (ebd., 152). So haben sich
interessanterweise v.a. die kapitalistischen Zentren des 20. Jahrhunderts als
Schlüsselknoten der globalen Finanzmärkte herausgebildet (ebd., 147). Als strukturell
dominante Städte haben sich v.a. London, New York, Frankfurt, Tokyo, Amsterdam
und Zürich etabliert - neben Miami, Los Angeles, Hong Kong und Singapur als so
genannte „Gateway“-Städte, die verschiedene ökonomische Zonen miteinander
verbinden (David Smith und Timberlake 2002, 120). Das globale Datennetz verfestigt
reale Macht- und Herrschaftsstrukturen (Maresch und Werber 2002, 23), während
diese gleichzeitig über die globalen Kanäle unterlaufen werden können.
Allen Netzwerken gemeinsam ist die geographische Unabhängigkeit der einzelnen
Knoten, die sich funktional kohärent integrieren. Aus der Sicht der Plätze wird eine
Fragmentierung der Ordnung wahrgenommen in ein nonlineares Muster an
Lokalitäten, die zunehmend weniger miteinander (geographisch) verbunden sind
(ebd., 154). Aus der jeweiligen Binnensicht eines Netzwerkes aber existiert ein
gemeinsamer Raum, in dem Verbindungen zwischen den Knoten unter funktionalen
Gesichtspunkten wahrgenommen werden. Das ist die binäre räumliche Logik im
informationalen Zeitalter (ebd., 153).
Gleichzeitig existiert für die moderne Gesellschaft keine gemeinsame zeitliche
Ordnungsstruktur mehr, an der sich die Mitglieder orientieren können. Es regiert eine
timeless time, die sich weder an biologische oder künstliche Zeittakte hält, sondern
einzig den Bedingungen des Netzwerkes unterliegt. Jetzt oder Nicht-Jetzt sind die
beiden binären Pole dieser Entwicklung, die zu Störungen im flow of social time
führen muss, da die Interaktion verschiedener Zeitlichkeiten zu einer chaotischen
Fluktuation in der Sequenz von Ereignissen führt (ebd., 156). Statt zeitlicher
Sequenzen per Uhrzeiten regiert eine Hochgeschwindigkeits-Computerisierung, die
Mikroeinheiten von Sekunden rechnet. Zeit wird unsichtbar. Sie basiert zwar immer
noch auf der Uhrzeit, aber sehr komprimiert innerhalb der Netzwerkökologie. Die Zeit
ist explodiert in eine Vielzahl an Teilchen - pro IKT-Nutzer/in entsteht ein spezifischer
time frame, der nur selten, und wenn, dann zufällig, zeitgleich mit time frames anderer
Nutzer/innen zusammenfällt.11 Begrifflichkeiten wie Echtzeit und 24/7, die die Zeiten
11 Kurze Anekdote: Bei der Teilnahme an einem Flash-Mob-Event in Berlin, Alexanderplatz im Herbst 2008
wurden mehrere hundert Teilnehmer/innen per Audio-Datei, die man sich vorab downloaden und auf den
MP3-Player spielen musste, theatralisch gesteuert. Aufgrund der unterschiedlichen Abspielgeräte folgte im
Laufe der chronometrischen Zeit jede/r einer anderen Event-Zeit - die Aktivitäten verliefen zunehmend
asynchron - jede/r lebte in einem eigenen time frame (übrigens nicht intendiert bzw. nicht bedacht seitens
der Initiator/innen).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 29
der Netzwerkgesellschaft umschreiben helfen, versuchen die Schnelligkeit und
totalisierende Logik der Entwicklung einzufangen (Hassan und Purser 2007, 2ff.).
Markierte der Übergang von der oralen zur schriftlichen Kultur eine mediale
Verräumlichung, so kennzeichnet den Übergang vom Schriftlichen zum
„Telematischen“ eine Verzeitlichung in medialer Hinsicht. Der fließende Strom
organisiert die digitalen Informationen räumlich nicht mehr greifbar als Dokument,
sondern als Cyberkörper sich bewegend. Im Cyberspace wird ein Körper nicht mehr
aufgrund seiner veränderten Lage im Raum, sondern durch seine Veränderung in der
Zeit als im Fluss empfunden. Der Umgang mit den fließenden Informationen
entwickelt sich zur vierten Kulturtechnik (neben Schreiben, Lesen, Rechnen), um eine
Interaktion mit zeitlich sich verändernden Symbolen zu gewährleisten (Krämer 2002).
Diese Kulturtechniken stehen nicht nur der von Castells identifizierten
„Informationselite“ der herrschenden Klasse zur Verfügung, sondern sie konnten
subversiv von anderen interessierten, sozialen Gruppen sich angeeignet und durch den
symbolischen Zugriff auch auf weniger ökonomische, z.B. zivilgesellschaftliche
Interessen gerichtet werden. Diese modifizierten Informationseliten agieren im
kosmopolitischen Raum, während die „einfachen Leute“ im lokalen Raum leben
(Castells 2001a, 1:471). Mit möglicherweise fatalen Folgen:
„Wenn nicht bewusst und planvoll kulturelle, politische und
physische Brücken zwischen diesen beiden Formen des Raumes gebaut
werden, könnten wir uns auf dem Weg zu einem Leben in parallelen
Universen befinden, deren Zeiten sich nicht treffen können, weil sie
in unterschiedliche Dimensionen eines sozialen Hyperspace verstrickt
sind.“ (ebd., 484)
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Netzwerkgesellschaft geprägt ist von
verschiedenen Räumen, in denen flexible Netzwerke mit unterschiedlichen
Zeitrhythmen agieren, die die Menschen letztlich auseinander treiben. Damit rücken
identitätsstiftende Kulturen in den Blickpunkt, die den Menschen ggf. eine Sinn
stiftende Orientierung mit auf den Weg geben können.
2.1.3 IDENTITÄT, KULT U R & ERFA HRUNG
Im Hinblick auf ihre soziale Morphologie können soziale Entitäten in ihrem
Grundmuster als Hierarchien, Märkte, Netzwerke oder Kollektive organisiert sein
(Stalder 2006, 175f.). Netzwerke sind in ihrem Interaktionsmuster andauernder als
Märkte und flexibler als Hierarchien (ebd., 178): Der Veränderungsprozess eines
Netzwerkes hängt nicht von einem einzelnen Knoten ab, sondern konfiguriert sich als
Geschichte der Gesamtheit aller Netzwerk-Komponenten. Zwar bedingen sich die
einzelnen Knoten wechselseitig für ihre eigene Identität wie für das Netzwerk, aber
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 30
aufgrund ihrer komplementären Asymmetrie sind sie nicht abhängig von einzelnen
Knoten (ebd., 179). Vielmehr vermögen die technischen Potenziale der neuen Medien
die traditionellen Vermachtungen im space of places zu unterlaufen, zu überbieten
oder zu umgehen (Kardoff 2006, 66).
Bereits das Aufkommen der progressiven Bewegungen in den 1960/70er Jahren mit
ihrem libertären Geist und ihrer kulturellen Offenheit resultierte in spielerischen
Symbolmanipulationen und führte schließlich zu einer akzeptierten „Kultur realer
Virtualität“ (Castells 2001a, 1:425). Sie forderten die konservativen, etablierten,
sozialen Institutionen heraus und transformierten diese (Stalder 2006, 81) - nicht
durch den berüchtigten „Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke), sondern durch
die symbolische Unterstützung des aufkommenden „networked individualism“
(Wellman 2002). Dieser vernetzte Individualismus, der durch mobile, virtuelle
Technologien forciert wird, verbindet heute die Personen direkt miteinander statt wie
bisher statische Plätze oder Institutionen (ebd.).
Es handelt sich also nicht um eine Ansammlung isolierter Individuen, sondern um ein
soziales Muster (Stalder 2006, 196). Mit den webbasierten Möglichkeiten der neuen
Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und der damit verbundenen,
sich entfaltenden, multimedialen Kultur einer die McLuhan'schen Gutenberg-Galaxie
ablösenden „Internet-Galaxie“ werden in der Nutzerperspektive die Botschaften
wieder zu Botschaften (Castells 2001a, 1:425). Die an sich eigentümlichen Codes
vermengen sich in dem symbolischen Kommunikationsprozess und verwischen zu
einem „gigantischen, nicht-historischen Hypertext“ (ebd.), der als semantischer
Kontext „mit seinen vielfältigen Facetten aus einer zufälligen Mischung aus
Bedeutungen besteht“ (ebd.) und als neue symbolische Umwelt nur noch die
Kommunikation auf elektronischer Grundlage zulässt (ebd., 427). Die digitalisierten
Netzwerke multimodaler Kommunikation sind zwischenzeitlich so verwoben mit
sämtlichen kulturellen Ausdrucksformen und persönlichen Erfahrungen, das sie in
ihrer Virtualität eine neue Dimension gelebter Realität definieren (Castells 2009b,
1:xxxi).
In Kombination mit den neuen IKT und den kapitalistischen Restrukturierungen
erwuchsen daraus oppositionelle Bewegungen, die als Quelle neuer kollektiver
Identität und als Schlüsselmotoren für soziale Innovationen betrachtet werden
können. Sie sind die Subjekte des sozio-kulturellen Wandels, die von ihnen
transportierten kulturellen Werte sind die Inhalte und die sozialen Strukturen, wie sie
von spezifischen Institutionen und Organisationen repräsentiert werden, sind das
Objekt des Wandels (Stalder 2006, 79). Akteure sind nicht die einzelnen Individuen,
sondern das Kollektiv der Bewegung, das von Castells zunächst primär über einen
gemeinsamen geographischen Ort definiert wird; später dann zeigt er auf, wie soziale
Bewegungen stärker in Ideen wurzeln, die sich dann allerdings in den Institutionen
materialisieren müssen, also wieder einen Ort aufsuchen müssen, um gesellschaftlich
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 31
wirken zu können (ebd., 83).12
Um die Identität rankt sich also die persönliche Sinnstiftung. Identität meint dabei,
dass bestimmte kulturelle Charakteristika konstitutiv sind für eine Person im Kontext
dieser geteilten Kultur. Im Laufe der Zeit kristallisiert sich dann ein stabiler Kern
heraus, der sich im Kontext des Wandels ständig (re-)konfiguriert und zur
„Individuation“ (nach Anthony Giddens) führt (ebd., 83). Durch die Einbindung neuer
möglicher Quellen der Sinnstiftung in die sozialen Organisationen und Institutionen
können die Quellen gesellschaftlich relevant werden (ebd., 84). Macht wird hier
ausgeübt über die Produktion und Diffusion von Symbolen und kulturellen Codes -
und damit wird der Vermittlungsraum durch die IKT-Flows immer wichtiger. Denn
erst die symbolische Gewalt formt die Entwicklung von materialer Realität (ebd., 99)
und lässt so eine „real virtuality“ (ebd., 100) entstehen.
In der Netzwerkgesellschaft stellt „eine primäre Identität -also eine Identität, die den
anderen den Rahmen vorgibt-, die über Zeit und Raum hinweg selbsterhaltend ist“
(Castells 2002, 2:9) die zentrale, wenn nicht sogar die einzige Instanz von Sinn dar.
Durch das individuell nutzbare Inter-Net(z) haben die Wahl- und
Gestaltungsmöglichkeiten erheblich zugenommen - sowohl für die
Kommunikationsbeziehungen, die Transaktionen als auch die individuellen
Identitätsentwürfe. Zwar führt die „Kommerzialisierung der Aufmerksamkeitsmärkte“
(Reichert 2008, 62) zur Einbindung erzählter Identitäten in ökonomische
Verwertungszusammenhänge; die Gestaltung der sozialen Spielregeln in diesen
digitalen Prozessen obliegt aber allen Beteiligten. So führt die Steigerung der
Individualisierung der Individuen mittels sozialer Medien zu einer Hybridisierung
archivierter Daten, die eine Verwaltung rechnergestützter Informationen unterläuft,
wenn nicht sogar ad absurdum führt (ebd., 220). Während einerseits die
Netzbewegungen das Nutzerverhalten als individuelles Profil sichtbar machen, sich
somit die elektronische biografische Identität von ihrem narrativen Charakter löst,
erwachsen Blogs (und sonstige persönliche Äußerungsformen) zu einer „subversiven
Identitätsstrategie, diesen Vereinnahmungen entgegen zu wirken“ (Kardoff 2006, 67).
Oder wie es Steinbicker zum Ausdruck bringt:
„Die Konstruktion autonomer Identitäten jenseits der
institutionellen Ordnungen der Netzwerkgesellschaft wird zum
wichtigsten Mittel der Gegenwehr gegen ihre Herrschaftsstrukturen.“
(Steinbicker 2001, 81)
Die neue zentrale Konfliktlinie verläuft nicht mehr zwischen Kapital- und
Arbeiterklassen, sondern zwischen dem Netz und dem Selbst. Hier finden bereits die
Kämpfe um mögliche gesellschaftliche Veränderungsprozesse statt (ebd.), nicht
einseitig zugunsten kapitaler Interessen, sondern (auch) als Gegenwehr einer
12 Siehe dazu die derzeitige Koinzidenz der Diskussionen rund um Open Data, E-Government und Wikileaks.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 32
Abgrenzung des Libertären vom Liberalen.
Aber Castells entwickelt seine Sozialtheorie nicht durch eine Analyse der aktuellen
sozialen Kämpfe, sondern als Beschreibung der u.a. technologisch bedingten
Veränderungsprozesse und ihrer Ausformungen in der Gesellschaft. Dabei analysiert
er die kollektiven und prozessoralen Akteure innerhalb der reflexiven, sozialen
Bewegungen als kulturelle Transformationsmotoren, nicht aber den konkreten
Konflikt mit unsicheren und ungesicherten sozialen Gruppen, die ohne Informationen,
Ressourcen oder Macht sich hinter tradierte Codes und Werte zurückziehen (ebd., 82).
Die sozialen Bewegungen, die sich einbringen können in den space of flows, bewegen
sich in der für Castells relevanten, neuen Konfliktzone der Kultur, die darum ringt, wie
man in Würde und mit Sinn leben kann (Stalder 2006, 87). Und diese Bewegungen
sind stark von der modernen Technologie geprägt:
„Sociability is transformed in the new historical context, with
networked individualism emerging as the synthesis between the
affirmation of an individual-centred culture, and the need and
desire for sharing and co-experiencing. Virtual communities and
smart mobs, hybrid networks of space and photons are redefining
space and time (..) as the appropriation of technology by people for
their own uses and values.“ (Castells 2004, 223)
In der kulturellen Identitätsfrage liegt für Castells der Fokus seiner Arbeit. Kultur,
verstanden als Prozess und nicht als Inhalt. Dabei verliert er nach Ansicht Stalders'
einige Kämpfe aus den Augen, die zukünftig wichtig sind für die kulturelle Identität
aller tangierten Menschen: Der Kampf um Zugang zu Informationen und Wissen
zeichnet sich als einer der großen neuen Kämpfe der Netzwerkgesellschaft ab. Bereits
heute ist der Kampf um Patentierungen, Copyrights und internationale Verträge
entfacht, so dass Stalder den Kampf um das Urheberrecht als die geopolitische
Herausforderung der neuen Ära bezeichnet, der den alten Widerspruch zwischen
Kapital und Arbeit ablöst (Stalder 2006, 205).13 Dies gibt Castells auch im neuen
Vorwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes zur Netzwerkgesellschaft zu bedenken:
Während Funktionalität, Wohlstand und Macht durch den space of flows definiert
seien, ist die kulturelle und soziale Sinnstiftung ein Charakteristikum des space of
places. In diesem Widerspruch zwischen der dominanten Logik einer vernetzten,
globalen Welt einerseits und dem tatsächlichen Leben der Menschen an realen Orten
in den Megaregionen andererseits ziehen neue Konfliktlinien auf (Castells 2009b,
1:xxxix).
Zusammengefasst kommt Identitäten in der Netzwerkgesellschaft die Funktion zu,
13 Die westlichen Staaten nutzen ihre Macht in den internationalen Organisationen, um über Lizenzen und
Patentgebühren den strukturellen Nachteil der Entwicklungs- und Schwellenländer juristisch zu
manifestieren. So wurde geistiges Eigentum zu einem immer wichtigeren Produktionsfaktor - und in den
USA etablierte sich eine regelrechte Patentindustrie, die über kostenintensive verfahren ihre
internationalen Rechte einklagen (vgl. Hack 2006, 163).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 33
eine kohärente Sinnstiftung über alle persönlichen Netzwerk-Beteiligungen
herzustellen. Dabei dominieren in den verschiedenen Räumen unterschiedliche
kulturelle Werte und Codes, um deren Deutungsmacht globale Kämpfe vollzogen
werden. Der individuelle Sinnstiftungsprozess vollzieht sich für Netz-Menschen in
diesem Konkurrenzkampf zwischen globaler Netzlogik einerseits und regionalen
Zusammenhängen, die das physische Leben vordergründig definieren, auf der anderen
Seite. Über die Institutionen am space of places tragen die individuell ausgehandelten
Identitäten die von ihnen eingefangenen, global fliessenden Ideen in die Gesellschaft
vor Ort hinein. Personen ohne Netz-Zugang haben keinen Einfluss auf diesen sozialen
Kulturwandel, der sich über den space of flows materialisiert. Sie sind bereits
strukturell sozial exkludiert.
Wie aber generiert die Netzwerkgesellschaft aus ihrer eigenen sozio-technologischen
Entwicklungslogik heraus eine globale Ungleichheit, die in sozialer Exklusion mündet?
Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.
2.1.4 TECHNOLOGIE UND EN T WICKLUNG
Im Gegensatz zu Daniel Bells Analyse der nachindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell
1996) zeigt Castells auf, dass von einem Verschwinden der Fabrikjobs auf globaler
Ebene keine Rede sein kann14 und „Dienstleistungen“ auch in den fortgeschrittenen
Ländern eine diffuse Begrifflichkeit markieren, die der Differenzierung bedarf. Was
sich verändert hat in der modernen Weltwirtschaft, ist die sich wandelnde räumliche
Organisation der Produktion aufgrund von Informations- und
Kommunikationstechnologien (IKT) mit der Folge, dass Raumüberwindung kein
Hindernis mehr darstellt (Stalder 2006, 45).
In der informationellen Entwicklungsweise „wird die Technologie der
Wissensproduktion, der Informationsverarbeitung und der symbolischen
Kommunikation zur wichtigsten Quelle der Produktivität“ (Steinbicker 2001, 83).
Entscheidend ist dabei die Einwirkung von Wissen auf Wissen. Nicht mehr
wirtschaftliches Wachstum treibt die Performance einer Gesellschaft an, sondern die
technologische Entwicklung und deren gesellschaftliche Adaptivität. Es entsteht eine
„zirkuläre Wechselwirkung zwischen der Wissensbasis von Technologie und der
Anwendung von Technologie zur Steigerung von Wissensproduktion und
Informationsverarbeitung“ (ebd.). Aufgrund der Technisierung des gesamten Lebens
ist die Technologie ein Teil der sozialen Dynamik (Stalder 2006, 20). Techno-Eliten
aus Wissenschaft und Militär, Hackerkulturen mit individualistischen und sozialen
Motiven, virtuelle Kommunarden und die globale Business-Kultur treiben die
technologische Entwicklung voran. Die neuen Technologien finden -wenn sie einen
14 Alleine zwischen 1963 und 1983 ist die Anzahl der Fabrikjobs weltweit um 72% gestiegen (aktuellere
Zahlen liegen uns derzeit nicht vor).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 34
Mehrwert schaffen- Eingang in die Ökonomie und in die sozialen Bewegungen und
können so ihre soziale Relevanz entfalten (ebd., 24).
Gleichwohl waren trotz all ihrer Bedeutung nicht Informations- und
Kommunikationstechnologien die Auslöser der ökonomischen Restrukturierung,
sondern -wie oben bereits angeführt- die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre, die in
einer neuen Zeit-Raum-Kompression kulminierte. Gemündet hat dies in einer
Internationalisierung der gesamten Ökonomie, an deren Ende eine neue internationale
Arbeitsteilung entstanden ist. Dadurch lassen sich jetzt Mehrwerte durch Innovation
schaffen, eine optimale Kombination von Arbeitskräften und Maschinen finden und
die Fähigkeit zur flexiblen strategischen Entscheidung sowie eine organisatorische
Einbindung aller relevanten Elemente des Produktionsprozesses ausleben (Castells
2001a, 1:273ff.). Zusammengefasst kennzeichnet folgendes Stratifikationsmodell die
neue Arbeitsteilung (Stalder 2006, 49):
1. Producers of high value: Die Entscheider(innen), die an der Quelle für Innovation
und Wertbestimmung sitzen.
2. Producers of high volume: Die Personen, die Instruktionen ausführen (müssen)
und wenig Gestaltungsspielraum haben.
3. Producers of raw materials: Die Regionen, die natürliche Ressourcen
produzieren.
4. Redundant producers: Strukturell irrelevante Menschen, also Arbeiter/innen, die
nicht produktiv sind und Konsumierende, die nicht am Markt teilnehmen (mit
einer „perverse connection“ zur globalen Kriminalökonomie).15
Diese Arbeitsteilung ist das „informationelle Paradigma der Arbeit“ (Castells 2001a,
1:275). Hier hat sich eine neue Sozialstruktur entlang der neuen räumlichen flows (der
Finanzmärkte, Mediennetzwerke, transnationalen Produktionsprozessen, globale
soziale Bewegungen, vernetztes politisches Regieren) gruppiert (Lupiáñez-Villanueva
2008) - dabei stimmen die Abgrenzungen nicht notwendigerweise mit Ländern oder
Staaten überein (Steinbicker 2001, 87). Den IKT-Technologien kommt die Rolle zu, die
funktionale Anbindung der strukturell relevanten Gruppen in den globalen
Wertschöpfungsprozess sicherzustellen - gleichgültig, in welcher Weltregion die
jeweiligen Personen lokal verankert sind. Zwar sind die infrastrukturellen
Voraussetzungen zur gleichmäßigen Durchdringung aller Bevölkerungsschichten recht
unterschiedlich, aber wenn ein Zugang gegeben ist (in welcher konkreten Form auch
immer), definiert sich im Umgang mit diesen Technologien, welcher der beiden
relevanten Personengruppen die betreffende Person angehört: ob sie eher
15 Neben dem offiziellen Weltwirtschaftssystem hat sich in enger struktureller Verflechtung eine global
vernetzte, kriminelle Schattenökonomie informell entwickelt, die von weltwirtschaftlich ausgeschlossenen
Staaten teilweise als einzige Chance für das eigene Überleben gebilligt wird. Es ist eine „perverse
Koppelung“ zwischen Schattenökonomie und staatlicher Handlungsmacht entstanden (Castells 2003,
3:175ff.).
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 35
selbstbestimmt innovativ oder passiv instruiert arbeiten kann.
Dominiert wird diese neue Weltwirtschaftsordnung von den globalen Finanzmärkten,
die sich nicht nach Marktgesetzen entwickeln, sondern per „Automaton“16, der als
nahezu unbeherrschbares Naturphänomen eine Art „chaotic complexity“ entstehen
lässt und extrem flexible Unternehmen als Organisationsform fordert (Stalder 2006,
54). Letztlich mündete diese Entwicklung auf den liberalisierten Finanzmärkten
zunächst in einer wahnwitzigen Finanzblase und seit 2008 in einer Finanzkrise
unermeßlichen Ausmaßes (Castells 2009b, 1:xix ff.). Dabei gebiert sich das System wie
ein „Naturphänomen“, das weder kontrolliert noch vorhergesagt, sondern lediglich
akzeptiert und gemanagt werden kann (Stalder 2006, 118).
Und die produktiven Firmen agieren in diesem Stakeholder-Kontext. Es lässt sich seit
geraumer Zeit ein Trend bei Firmen aller möglichen Größen feststellen, flexible
Netzwerke zu entwickeln, die ihre konstituierenden Elemente in Echtzeit zu
koordinieren vermögen, über Distanzen hinweg, je nach wechselnden Aufgaben und
Gelegenheiten. Ein langsamer Wandel vollzieht sich von vertikalen Bürokratien hin zu
horizontalen Korporationen, die auf Basis von Ad-hoc-Business-Netzwerken agieren
(Stalder 2006, 57). So entstehen Netzwerkunternehmen, die -aus einzelnen Teilen
eines Unternehmens und anderen Teilen verschiedener Firmen bestehend-
projektbezogen arbeiten (ebd., 60) und eine Flexibilisierung und Individualisierung
der Arbeit auf vier Ebenen fordern: Arbeitszeit, Job-Stabilität, Verortung der Arbeit
und die sozialen Beziehungen zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen
verändern sich im Zuge dieser Entwicklungsdynamik (ebd., 62). Zudem offenbart sich
eine interne Fragmentierung der Arbeitskräfte: Diejenigen, die die Fähigkeit
mitbringen, Innovation in ihre Berufsfelder einzubringen und damit als
informationelle Produzenten Mehrwert schaffen - und die anderen, die keine an die
Person gebundenen Fähigkeiten mitbringen und ersetzbare generische Arbeit leisten
(Castells 2003, 3:397). Diese soziale Differenzierung trägt produktionsbedingt zur
Individualisierung der Arbeit, Überausbeutung von Arbeitskräften, sozialer Exklusion
und perversen Koppelung der Schattenökonomie bei.
Soziale Exklusion definiert Castells dabei als den
„(...) Prozess, durch den bestimmte Individuen und Gruppen
systematisch der Zugang zu Positionen verstellt wird, die sie zu
einem autonomen Auskommen innerhalb der gesellschaftlichen Standards
befähigen würden, die in einem bestimmten Kontext durch
Institutionen und Werte abgesteckt werden.“ (ebd., 76)
Demgegenüber beziehen sich Ungleichheit, Polarisierung, Armut oder Elend auf die
differenzielle Aneignung von Reichtum, also den Bereich der Distributions- und
16 Mit „Automaton“ beschreibt Castells die global integrierte, digitale Finanzmaschinerie, die außerhalb
jedweder institutionellen Kontrolle ihrer Eigenlogik entlang algorithmischer Impulse folgt.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 36
Konsumtionsverhältnisse (ebd., 74). In letzter Konsequenz trennt sich die „Marktlogik
der globalen Kapitalströme“ von der „menschlichen Erfahrung des Arbeitslebens“
(ebd., 397) - Realwirtschaft und Finanzwirtschaft leben unvermittelt nebeneinander
her.
Nach Castells wird die Frage, wer die (aktiven) Interagierenden und wer die (passiven)
Interagierten innerhalb der neuen Kultur der realen Virtualität sind, die zentrale
Kampflinie sein, an der entlang sich Herrschaftssystem(e) und Befreiungsbewegungen
abarbeiten werden - und ihre Machtpositionen bestimmen (Steinbicker 2001, 98). Es
entstehen neue Eliten quer zu den arbeitsteiligen Schichten, die an den Schnittstellen
des space of places zum space of flows auf den Fluss von Kapital, Informationen und
Wissen strategisch Einfluss nehmen können (ebd., 99ff.).
2.1.5 MACHT U N D GEGENMACHT
Macht im Sinne von Max Weber beschreibt das Verhältnis zwischen menschlichen
Subjekten, wenn der Wille einiger Subjekte anderen aufgedrängt wird. Dieses Diktat
begründet sich auf der Fähigkeit zur Gewaltanwendung. Und die Kontrolle über die
Gewaltmittel ist die Wurzel von Macht (Stalder 2006, 104).
Im klassischen Sinne hat der souveräne Staat das exklusive Gewaltmonopol auf einem
definierten Territorium inne - und ist hier der „legitimierte Dominator“ (ebd., 106).
Legitimation erhält er dadurch, dass der Staat als Souverän die Pfründe „seiner“
Ökonomie verteilt. Innerhalb eines Staates setzt sich eine „kulturelle Hegemonie“ 17
durch, die sich als Kompromiss oder Verhandlungsergebnis (begründet auf
innergesellschaftlichen Machtstrukturen) aus der Auseinandersetzung verschiedener
sozialer Gruppen ergibt. Mit der Globalisierung, die alle Staaten umfasst, aber nicht
alle Regionen oder gar Personen, geht ein Verlust der nationalen Souveränität und der
Legitimation der staatlichen Institutionen einher, die in einer Krise des modernen
Nationalstaates mündeten (ebd., 109). Die Ursachen für diese Entwicklung siedelt
Castells auf vier Ebenen an:
Binnenländische ökonomische Politik: Der Staat steht vor der Schwierigkeit,
nationale Steuern in einer globalisierten Welt einnehmen zu müssen. Die einzigen
politischen Instrumente, die er nutzen kann, sind, eine Produktivitätssteigerung zu
forcieren oder die Arbeitskosten zu minimieren und die Sozialstaatsausgaben
zurückzufahren (ebd., 111).
Internationale Politik: Klassische Politikfelder lassen sich zunehmend im
nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr lösen und bedürfen einer koordinierten
internationalen Handlungspraxis. So arbeiten z.B. in den Feldern der globalen
öffentlichen Güter auch internationale Nichtregierungsorganisationen als politische
17 Vgl. dazu (Gramsci 1991)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 37
Akteure mit. Sie fordern damit das vorherige nationalstaatliche Monopol heraus
und untergraben so die staatliche Legitimität als Wächter der Humanität (ebd.,
112).
Militär: Aufgrund der Globalisierung und der „perverse connections“ hat sich ein
interner wie externer Krieg als stetiger modus operandi herausgebildet, der die
Legitimation des Staates untergräbt (ebd., 113).
Medien: Spätestens mit dem Einfluss des Internets ist der staatliche Einfluss auf die
Medieninhalte verloren gegangen (ebd., 114).
Macht ist demnach nicht länger in staatlichen Institutionen, kapitalistischen
Organisationen oder symbolischen Kontrolleuren (z.B. Medienhäuser, Kirchen)
verankert. Sie verläuft sich vielmehr in die globalen Netzwerke des Wohlstandes, der
Macht, der Informationen und der Bilder, die im space of flows zirkulieren. Statt
persönlicher autoritärer Gewalt regiert der informationale Kapitalismus, der große
Teile der Bevölkerung für überflüssig bzw. redundant erklärt (Stalder 2006, 131).
Gleichwohl ist die Handlungsmacht des Staates innerhalb dieser Flüsse nicht zum
Erliegen gekommen. Das neue Modell globaler Produktion und globalen Managements
-nämlich die Arbeitsprozesse global zu integrieren und gleichzeitig die Desintegration
der Arbeiterschaft zu forcieren- ist eine Entscheidung von Regierungen und
Unternehmen und nicht auf zwangsläufige IKT-Prozesse zurückzuführen (Steinbicker
2001, 93). Die konkreten Transformationsprozesse und -formen resultieren aus der
Interaktion zwischen technologischem Wandel, institutioneller Umgebung und der
evolutionären Verbindung zwischen Kapital und Arbeit in ihrem spezifischen sozialen
Kontext (Castells 2009b, 1:xxiv). Staaten können weiterhin innerstaatlich einen
bedingten, kulturellen Unterschied setzen (siehe z.B. das international
unterschiedliche Staatsverständnis hinsichtlich des Verhältnisses von marktliberalem
Laissez-faire zu sozialstaatlicher Verantwortung). Gleichzeitig ist der Nationalstaat zu
einem Netzwerkstaat mutiert, der sich auf internationaler Bühne durch thematisch
wechselnde Koalitionen und ständig ausgehandelte Kompromisse bewegt. Die
internationale Politik ist gekennzeichnet durch
„(...) the daily practice of joint decision-making in a network
state made of nation-states, supranational associations,
international institutions, local and regional governments, and
quasi-public non-governmental organisations.“ (Castells 2004, 223)
Macht kann demnach im Zeitalter der Netzwerkgesellschaft nur noch in kurzfristigen
Projekten verwaltet werden und wechselt ständig. Zwei Mechanismen stehen dafür zur
Verfügung: Zum einen die Fähigkeit, die Ziele des Netzwerkes (mit) zu definieren und
zum anderen die Fähigkeit, verschiedene Netzwerke miteinander zu verbinden, um
gemeinsame Interessen und wachsende Ressourcen zu sichern (Stalder 2006, 135f.).
Die Grammatik dieser Netzwerkprozesse konfiguriert sich entlang der herrschenden
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 38
kulturellen Codes und Protokolle. Infolgedessen stellt Macht heute einen schier
endlosen Kampf um die kulturellen Codes der Gesellschaft dar, „mittels derer
Menschen und Institutionen das Leben abbilden und Entscheidungen, auch politische
Entscheidungen fällen“ (Castells 2003, 3:398). In den sozialen Bewegungen sieht
Castells die primären Produzenten von kulturellen Codes und Bildern (Stalder 2006,
138). Die klassische Macht war physisch gewalttätig - die kulturelle Macht entspricht
einer „symbolic violence“ (ebd., 139).
„Kultur als Quelle von Macht und Macht als Quelle von Kapital liegen
der neuen gesellschaftlichen Hierarchie im Informationszeitalter
zugrunde.“ (Castells 2003, 3:399)
Da jedes Netzwerk seine eigene, selbst-bezogene Welt konstituiert, die durch einen
bestimmten zeitlichen, räumlichen und kulturellen Horizont charakterisiert ist,
werden zwangsläufig weite Teile der Bevölkerung aus dem kapitalistischen Netzwerk
ausgeschlossen. Diese Teile müssen versuchen, zurückzukehren und die Netzwerke
über die Gestaltung der symbolischen Gewalt zu transformieren (Stalder 2006, 195).
Alternative Netzwerke müssen die alten ersetzen, damit sich etwas verändert, denn
Netzwerke bestimmen unser Leben - sie sind die Matrix (Castells 2004, 224).
2.1.6 ZWISCHENFAZIT: CAS T E L L S BE I T R A G ZUR
BILDUNGSPOLITIK
Castells Bedeutung zur Analyse der vernetzten Weltgesellschaft kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden. Seine Meta-Analyse unterscheidet sich von der klassischen
Netzwerkforschung, die sich auf die Untersuchung konkreter Netzwerke konzentriert
und deren spezifischen Stil, Zweck, Struktur und Wertebildung herauszuarbeiten
versucht (so z.B. Anklam 2007; Steven Johnson 2001; Stegbauer 2008). Dagegen zeigt
Castells die grundlegenden Rahmenbedingungen auf, die den Strukturwandel von
einer entitätendominierten Welt hin zu einer flexiblen, netzwerkdominierten
Infrastruktur forcierten. Und er richtet den Blick auf die sozio-kulturellen
Mechanismen und Strukturen, die über die individuelle Teilhabe oder Nicht-Teilhabe
an diesen neuen, global fließenden Informationsprozessen entscheiden. Dabei besticht
v.a. sein räumliches Konzept, dem Felix Stalder eine markante neue Sichtweise
bescheinigt:
„The analytical clarification of this key point, the emergence of a
new spatial logic, expressed in the space of flows and the
fragmentation of physical space in a variable geography of
hyperconnection and structurally induced 'black holes', is one of
the most substantial and original aspects of Castell's entire theory
of the network society.“ (Stalder 2006, 166)
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 39
Der „Raum der Ströme", der diese „schwarzen Löcher“ im physischen Raum entstehen
lässt, exkludiert Individuen, Institutionen oder auch ganze Regionen - je nachdem,
welchen Beitrag sie zum Funktionieren des gesamten Netzwerkes leisten können. In
der Informationsgesellschaft verdichten sich die Aktivitäten bestimmter
Netzwerkknoten aufgrund einer vorhandenen Infrastruktur. Und die Bedeutung dieser
spezifischen Standorte wächst weiter (siehe auch Jan Schmidt 2005, 19:31). Wer sich
innerhalb dieser Netzwerkbahnen bewegen kann, vermag sich in der virtuellen, zeit-
und raumüberwindenden Kultur der Produktion, Macht und Erfahrung einzubringen.
Wer außerhalb verbleibt, hat keinen Einfluss auf entsprechende sozio-kulturelle
Rahmenbedingungen.
So fördern einerseits die sozio-ökonomischen Erfordernisse (Finanzmarkt, Bildung,
Tourismus, Militär, NGOs o.ä.) eine Wissensbasis und -elite, die in ihrem
Kenntnisstand weltweit vergleichbar ist. Andererseits vernetzen sich einige Early
Adopters auch individuell über die bestehenden globalen Datenkanäle. Es entsteht
eine globale Informationselite (Nielinger 2006) - die hyperconnected Onliner (Aducci
und Al 2008). Der Publizist Thomas L. Friedman bezeichnet diesen seit dem Jahre
2000 einsetzenden Prozess als „Globalisierung 3.0“, da er den globalen Austausch von
Individuen kennzeichne, in Fortführung der staatlichen Globalisierung 1.0 und der
multinationalen Globalisierung 2.0 der Unternehmen (Friedman 2007). Dieser
Prozess des globalen individuellen Austauschs müsse in seiner revolutionären Kraft
mit der Erfindung des Buchdrucks verglichen werden und hätte zu einer „flachen“ Welt
geführt (ebd., 49) - zumindest für die Informationselite, möge man anfügen. Denn die
Verwerfungen des Digital Divide existieren trotz guter Fortschritte weiterhin - weniger
als internationale Spaltung denn als inner-gesellschaftliche Brüche: Zwischen den
vernetzten, „relevanten“ ProduzentInnen einerseits und den „strukturell Irrelevanten“
andererseits.
Um den Bezug zur leitenden Fragestellung dieser Arbeit herzustellen, bleibt
festzuhalten: Wer (potentiell) Exkludierten helfen will, sollte zunächst am space of
places einen strukturellen Anschluss ermöglichen. Zunächst auf technologischer
Ebene, dann bei der Herausbildung relevanter Netzwerkknoten und schließlich auf
individueller Ebene bei der Ausbildung entsprechender Netz-Kompetenzen. Erst dann
sind die persönlichen Grundlagen geschaffen, sich in die internationale Arbeitsteilung
so einzubringen, dass ein autonomes Auskommen innerhalb der gesellschaftlichen
Standards zumindest theoretisch möglich ist. Als politisches Ziel kann aus dem
Vorgenannten abgeleitet werden, dass Chancengleichheit am space of places ganz
pragmatisch hergestellt und die persönliche Gestaltungskraft gefördert werden muss,
um die individuellen Grundvoraussetzungen zu schaffen, im „Raum der Ströme" aktiv
mitwirken zu können.
Sowohl die Menschen als auch die Institutionen befinden sich in einem tiefgreifenden
Wandel: von kleinen Gruppen hin zur vielfältigen Teilhabe in diffusen, virtuell und
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 40
physikalisch vermischten, sozialen Netzwerken. Klassische Kleingruppen verlieren
dabei an längerfristiger Bedeutung, da sich heute Kontakte von Ort-zu-Ort und von
Person-zu-Person wandeln. Es verändert sich der persönliche Bezug zu den
Netzwerken, weil sich die Vertrauensbasis zu den vernetzten Personen bzw. Systemen
wandelt - und damit die vielfältigen Netzwerkeffekte erst umfassend wirken können.
Die Grenzenlosigkeit ist systemisch bereits angelegt: Einzelne Personen entscheiden
für sich, welchen Netzwerken sie temporär angehören möchten - ob dies
EntscheidungsträgerInnen gefällt oder auch nicht. Entsprechend sind hier politische
Konzeptionen gefragt, die über enge nationalstaatliche Grenzen hinausweisen.
Was können Bildungssysteme von Castells Netzwerktheorie lernen?
1. Vernetzung ist ein grundlegendes Strukturelement der Weltgesellschaft.
2. Vernetzungskompetenz ist eine regionale, institutionelle und individuelle
Voraussetzung.
3. Der space of flows hat im Bildungsbereich bereits Raum gegriffen: Zum einen
verdichtet sich der formale Vernetzungsgrad der Inhalte, Personen und
Institutionen auf sozialer wie technologischer Ebene (vgl. z.B. Altbach und Knight
2007; Sackmann 2004). Zum anderen entstehen auf informeller Ebene dezentrale
soziale Online-Netzwerke, die die Vorteile der globalen Austauschmöglichkeiten
der Netzwerkgesellschaft für alle interessierten Menschen öffnen (vgl. auch Dutton
2007).
4. Der space of places verliert nicht an grundsätzlicher Bedeutung, liesse sich aber im
space of flows flexibel organisieren (Jan Schmidt 2005).
Castells selbst sieht die Schulen und Hochschulen am wenigsten betroffen von der
virtuellen Logik, da die persönliche Interaktion entscheidend sei für die Grundbildung.
Gleichzeitig prognostiziert er (im Jahre 2000) dem künftigen höheren Bildungssystem,
dass dieses sich in „Netzwerken zwischen Informationsknoten, Hörsälen und
Seminarräumen und den individuellen Wohnungen der Studierenden“ abspielen wird
(Castells 2001a, 1:452f.). Diese Fokussierung auf den formalen Bildungssektor
begründet sich (vielleicht) in den erst durch das Aufkommen von Web 2.0-Angeboten
möglichen, dynamischen Online-Vernetzungsmöglichkeiten, die noch keinen Eingang
in die Theorie Manuel Castells fanden. Zwar fügt er im Vorwort zur zweiten Auflage an,
dass die Minderung der Reallöhne trotz großer Produktivitätsgewinne der
Unternehmen und des Finanzkapitals einer Abwertung von Bildungsabschlüssen
gleichkommt (Castells 2009b, 1:xxi f.).18 Gleichwohl resultiere die neue Arbeitsstruktur
der Netzwerkgesellschaft in einem parallelen Ansteigen von Jobs für extrem gut
ausgebildete Personen einerseits und „low-skill jobs“ andererseits (ebd., xxiii). Die
18 In den USA sank der wöchentliche Durchschnittsverdienst von Arbeitnehmer/innen mit College-Abschluss
zwischen 2003 und 2008 um 6%. Und nur die zunehmende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt
vermochte einen Rückgang des Lebensstandards für die Mehrheit der Haushalte bremsen.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 41
strukturellen Bedingungen der so genannten „Wissensökonomie“ entfalten sich also im
Kontext einer großen Ökonomie von Dienstleitungen, die primär einer geringen
Qualifikation bedürfen - und genau in diesem sozio-technologisch begünstigten
Ungleichgewicht liegen die größten Ungerechtigkeiten in fast allen Gesellschaften
begründet (ebd., Xxiii f.). Inwiefern hier das formale Bildungssystem an seine Grenzen
gestossen ist, über einen „Aufstieg durch Bildung“ zu mehr Chancengerechtigkeit
beitragen zu können, ist nicht Castells' Thema. Eine grundsätzlichere Diskussion der
Bildungslandschaft resultiert für ihn aus seinen empirischen Erkenntnissen nicht.
Angesichts der gegenwärtig empirisch zu beobachtenden Entwicklungen hin zu
dezentralen sozialen Online-Netzwerken (z.B. Facebook, Twitter) mit neuen
Potenzialen für selbstbestimmtes Lernen kommt die Frage auf, welchen Beitrag diese
Vernetzungsformate leisten können, um exkludierten Personen ein Sprungbrett in den
space of flows zu ermöglichen. Nicht (nur) im Sinne des Sprungs über den Graben hin
zu den Gewinnern der „Wissensökonomie“, sondern damit die sozio-kulturellen Werte
der herrschenden Eliten auf einer breiteren gesellschaftlichen Basis grundsätzlich
diskutiert werden, um auf eine gerechtere Weltordnung hinzuwirken.
In diesem Zusammenhang muss -wie oben bereits angeführt- auch die „Bedeutung des
internationalen Urheberrechtskartells mit oligopolistischen Strukturen“ (Stalder 2006,
73) nachhaltig gestellt werden. Fragen des Urheberrechts und des Zugangs zu
wissensbasierter Information sind in allen Bereichen der Informationsökonomie von
zentraler Bedeutung. Inwiefern die bisherige Praxis, „fließendes, kollektiv generiertes
Wissen [...] in fixiertes Eigentumsrecht“ umzuwandeln, damit es als Produkt auf dem
Markt getauscht werden kann, weiterhin Bestand haben kann, muss bezweifelt werden
(ebd., 72f.).
Im Folgenden soll demnach erkundet werden, inwiefern kollektive, netzbasierte
Bildung geeignet erscheint, persönlich an die globale Netzwerkgesellschaft
anzudocken. Zu diesem Zweck werden zunächst die Leitbegriffe rund um Bildung,
Lernen und Erziehung zueinander in Bezug gesetzt. Daraufhin lässt sich dann die
herrschende bildungsökonomische Bedeutung in der Netzwerkgesellschaft kritisch
untersuchen, um schließlich netzbasierte Organisationsformen hinsichtlich ihres
Potenzials zur Förderung selbstbestimmten Lernens analysieren zu können.
2.2 MODERNES LERN E N I N DER NETZWERKGESELLSCHAFT
Bildung -als Fundament der „Lerngesellschaft“ (Gerlach 2000)- ist entscheidend für
die individuelle und kollektive menschliche Entwicklung. Da diese Entwicklung
zwischenzeitlich an eine „alle Lebensbereiche umfassende Norm zur Flexibilität“
(Dewe und Weber 2007, 9) gebunden sei, kann diese nur über „lebenslanges Lernen“
(LLL) sichergestellt werden - so die herrschende Meinung (Kraus 2001). Das
bildungspolitische Konzept des LLL generiert dabei einen funktionalen
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 42
Handlungsdruck, dem die wissenschaftlichen Fachdiskussionen kaum kohärent
nachzukommen vermögen. Der verhandelte Gegenstand entzieht sich vielfach dem
fachdisziplinären Zugriff. Beinhaltet „Bildung“ und „Erziehung“ jeweils eine soziale
Dimension, so verschiebt LLL die breit akzeptierte Konnotation auf den einzelnen
Menschen. Zwar startete LLL zunächst als visionäres Konzept, um neue gestaltende
Ideen für neue Herausforderungen entwickeln zu helfen. Im Laufe der Zeit wich dieser
Gestaltungsaspekt allerdings einer normativen Vorgabe, eine individuelle
„Bringschuld“ den aktuellen Entwicklungen als Anpassungsfähigkeit entgegenzusetzen
(ebd., 117f.).
Um modernes Lernen“ in der Netzwerkgesellschaft einordnen zu können, wird im
Folgenden das herrschende Bildungs- und Lernverständnis im historischen Rückblick
begrifflich eingeordnet. Anschließend erfolgt eine Analyse, wie sich dieses Verständnis
in konkreten sozio-ökonomischen wie -politischen Praktiken der Erziehung
manifestiert hat. Vor diesem Hintergrund können dann neue Bildungskonzepte des
Learning 2.0 zu aktuellen bildungspolitischen Konzepten z.B. im Hochschulbereich in
Bezug gesetzt werden.
2.2.1 BILDUNG - DER MENSCH AL S SOZIALES WESEN
Im Bildungsbegriff schwingt vieles mit: Bildung wird zugleich gesehen als normativ-
idealistischer Begriff und als Ressource der modernen Gesellschaft, Ideal und Kapital,
emanzipatives Moment der Unterdrückten und kapitalistische Ware (Bildungsinhalte
und -zertifikate) (Löw 2006, 19). Und Bildung verweist auf eine lange Tradition.
Die Bildungsgeschichte lässt sich im westlichen Denken bis zur Vormoderne im 5.
Jahrhundert vor Christus zurück verfolgen. Um sich nicht „als Gefangener gängiger
Vorstellungen, Ansichten, Routinen und Ambitionen“ (Lütgert 2002a) zu verhalten,
sondern einsichtig zu handeln, zeigt Platon im berühmten Höhlengleichnis auf, wie der
Mensch zum Denken des Maßgeblichen schmerzhaft aufsteigen kann. Platon gelangt
zu der „Überzeugung, dass die Arbeit an einer Bildung, die zu einer gerechteren
Ordnung führt, der eigentliche, keinem anderen Zweck aufzuopfernde Selbstzweck des
menschlichen Daseins ist.“ (Benner und Brüggen 2008, 210) Aristoteles greift diese
Tradition auf: die Bildung des Bürgers zielt darauf, ihn zum guten Handeln zu
befähigen (ebd.). In diesen älteren Definitionen werden die verschiedenen Facetten
der Menschlichkeit kultiviert, damit die Menschen an den gesellschaftlich üblichen
Lebensformen teilhaben können (Raithel, Dollinger, und Hörmann 2007, 36).
Im deutschen Idealismus und Neuhumanismus formten sich später die inneren Werte
aus, die zur „Vervollkommnung der subjektiven Erlebnistiefe in Einsamkeit und
Freiheit“ beitragen sollen (ebd., 36). Und Wilhelm von Humboldt füllt den exklusiv
deutschsprachigen Bildungsbegriff mit der Formel:
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 43
„Nur indem der Mensch als Individuum zu sich selbst findet.“
(Lütgert 2002b)
Wilhelm von Humboldts autonomes Bildungskonzept zielt auf die individuelle
Vervollkommnung der Individualität als „einzigartige Ausgestaltung persönlicher
Fähigkeiten und Haltungen“, der Totalität als Bildung aller persönlichen, geistigen wie
körperlichen Kräfte und der Universalität als „Teilhabe an allen Lebens- und
Kulturbereichen“ (Raithel, Dollinger, und Hörmann 2007, 38). Die außerhalb des
Menschen angesiedelte Welt gilt es nach Humboldt zu ergreifen und mit dem Selbst zu
verbinden. Zu diesem Zwecke bedarf es der Bildung mittels Wissenschaft und Kunst,
Freundschaften, Geselligkeit und der Teilhabe am öffentlichem Leben (Benner und
Brüggen 2008, 220).
„Dies führte v. Humboldt zur Konzeption des (neu)humanistischen
Gymnasiums, in dem das Ziel eines methodischen wie inhaltlichen
Zugangs zur Erkenntnis des Menschen überhaupt und eine Einsicht in
die Möglichkeit seiner Entfaltung zu einer vollständigen Humanität
ermöglicht werden sollte.“ (Michael Schmidt 2005)
Allerdings sei es Aufgabe des Staates,
„(...) in Schulen wie Universitäten der allgemeinen Menschenbildung
einen zeitlichen Vorrang vor jeder beruflichen Spezialisierung
einzuräumen.“ (Benner und Brüggen 2008, 216)
Dem Staat kommt in dieser Sichtweise auf die Bildung eine ordnungspolitische
Funktion zu: Indem Bildung zur Wissenschaft gekürt wird, erfahren sich bildende
Menschen einen Freiraum, der infrastrukturell abgesichert und bildungspolitisch
gewollt ist - als soziales Konstrukt dieser in sich ruhenden, gebildeten Menschen. Der
Mensch als natürlich-freie Person im Rousseau'schen und als Endzweck im Kant'schen
Verständnis (Lütgert 2002b) führt in letzter Konsequenz zur Bildung als
Menschenrecht (Prengel und Overwien 2007).
Diese Perspektive auf den Menschen ist eine auf den Educand „mit dem Ziel der
reflexiven Ausformung eines kultivierten Lebensstils“ (Raithel, Dollinger, und
Hörmann 2007, 36) und nur vermittelt eine Sichtweise auf die Erziehung des
Menschen. Das Recht auf Bildung ist ein Gewährleistungsrecht im Sinne einer
Bereitstellung von Bedingungen, „die es ermöglichen, das Bildungsziel zu erreichen.“
(Krappmann 2007, 13) Es liegt in der Verantwortung des Kindes oder der Eltern,
darauf zuzugreifen und die angebotenen Bildungsmöglichkeiten zu nutzen (ebd.).
Im originär deutschen Bildungsverständnis gewährleistet der Staat also eine
Infrastruktur, die eine Vervollkommnung der jeweiligen Individualität, Totalität und
Universalität ermöglicht. Wie er diese Bedingungen innerhalb der (hoch-)schulischen
Struktur ausgestalten kann, soll im Teilkapitel Erziehung ausgeführt werden. Eine
teleologische Ausrichtung des Bildungsbegriffes auf die gesellschaftliche Brauchbarkeit
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 44
und die berufliche Aus-, Fort- oder Weiter-Bildung im Sinne einer Vielzahl
aufklärerischer Philanthropen (Lütgert 2002c) ist in diesem Humboldt'schen Sinne
wenig zielführend. Der Zweck ist eben nicht auf eine äußere Ordnung ausgerichtet,
sondern von der inneren Ordnung gebildeter Menschen abhängig (Lütgert 2002b). Im
Kapitel Stand der Kompetenzforschung werden diese Denktraditionen wieder
aufgegriffen.
2.2.2 LERNEN Z U LERNEN
Viele wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit dem Lernen: Von der
Pädagogik angefangen, die sich primär mit erziehungswissenschaftlichen
Fragestellungen beschäftigt, über die Lernpsychologie mit ihrem Interesse, den
Lernprozess als solchen begreifbar zu machen und den Neurowissenschaften, die sich
der physiologischen Prozesse beim Lernen annimmt, bis hin zur Philosophie (Göhlich
und Zirfas 2007, 11ff.).
Nach Platon sind in der menschlichen Seele bereits sämtliche Ideen angelegt, die
„anläßlich konkreter Sinneseindrücke reaktiviert werden“ (Raithel, Dollinger, und
Hörmann 2007, 67) können. Dieser Lernbegriff unterscheidet sich wesentlich von der
Auffassung Aristoteles', die Seele sei eine „Tabula Rasa, auf die Sinneseindrücke
eingetragen werden“ (ebd.) - Lernen bedeutet in diesem Verständnis die „Aufnahme
und Speicherung von Sinnesdaten“ (ebd.). Beide Auffassungen verstehen Lernen als
„relativ dauerhafte[n] Erwerb einer neuen oder die Veränderung einer schon
vorhandenen Fähigkeit, Fertigkeit oder Einstellung“ (ebd.). Die Konkurrenz, wie es
sich mit dem Verhältnis von Sinneseindrücken zur Seele verhält, löste sich im Laufe
der Bildungsgeschichte auf, indem sich mehrheitlich ein Verständnis
herauskristallisierte, das Lernen „nicht als Folge eines natürlichen Reife- oder
Wachstumsprozesses [Anm. acw: wie Platon meinte], sondern als Ergebnis
produktiver Interaktionen des Lernenden mit Gegenständen seiner Umwelt [Anm.
acw: i.S. des Aristoteles'schen Verständnisses]“ sieht (ebd.).
In der Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand erfolgt demnach das Lernen - und
genau hier konfigurierte sich im Laufe der Zeit eine „Kampfarena“ für die Vielzahl an
bildungspolitischen Positionen (Bildung als System, Bildung als Erziehung und
Ausbildung Dritter, Bildung als Wissen oder Bildung als Subjektentwicklung). 19 Doch
haben die Diskussionen weniger mit dem Lernbegriff im altgriechischen Sinne gemein,
denn eher mit der konkreten Ausgestaltung der Auseinandersetzung. In letzter
Konsequenz resultierte diese Diskussion rund um die systemische Einbindung des
Lernprozesses zu einer „Umstellung der Pädagogik vom Lernen spezifischer
Qualifikationen (…) auf die formale Kompetenz vom Lernen des Lernens“ (Göhlich
19 Diese bildungsbegriffliche Unterscheidung trifft Bernd Overwien in einem bislang unveröffentlichten
Arbeitspapier zum Thema Bildung – besten Dank für die Bereitstellung des Entwurfs.
© acw Kompetentes Lernen in der Netzwerkgesellschaft 45
und Zirfas 2007, 41) - und damit zum handlungsleitenden Motiv des LLL.
Allerdings erfolgte dieser Perspektiv-Wechsel nicht widerspruchslos. Bereits 1978
kritisierte Theodor Ballauff,
„(...), dass der Begriff der Bildung durch den des Lernens ersetzt
werde und man meine, dadurch einen nüchternen pädagogischen Begriff
gegenüber dem traditionsüberladenen Bildungsgedanken zu gewinnen.“
(Michael Schmidt 2005, 9)
Diese Stimme ist zwischenzeitlich zu einem Chor angeschwollen, der „Klagelieder“
singt angesichts einer zunehmenden Instrumentalisierung des Lernbegriffes zugunsten
einer beruflichen Ausrichtung. Lernen in diesem funktionalen Verständnis orientiere
sich entlang der gesellschaftlichen Brauchbarkeit und löse den Bildungsbegriff von der
Persönlichkeitsbildung -inklusive der individuellen Selbstbestimmung- ab. Erziehung
reduziere sich in dieser Logik zur gestaltenden Kraft: der notwendigen Anpassung des
Individuums an die sozio-ökonomischen Bedürfnisse als das dominierende
Momentum.
2.2.2.1 DIFFERENZIERUNG D E S INDIVIDUELLEN LERNBEGRIFFS
Um die Fokussierung des Lernbegriffs auf einen außerhalb des Lernenden gelagerten
Lerngegenstand aufzulösen, entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten eine
ganzheitliche Perspektive, die allerdings weiter am „Mensch als Subjekt des Lernens“
(Künkler 2011, 20) festhält. Beispielhaft sei hier eine komplexitätsreduzierende,
pädagogische Sicht angeführt, demnach Lernen inhaltlich auf vier miteinander
verbundenen Ebenen verläuft:
1. Wissen-Lernen: Versuch, über einen gesellschaftlich anerkannten Wissenskanon
objektives, den Menschen äußerliches oder entäußertes Wissen weiterzureichen.
Der schulische Lehrplan dient als „systematisierte und didaktisierte Version des
kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft“ (Göhlich und Zirfas 2007, 183).
2. Können-Lernen: Hier geht es um „praktisches Wissen“ als „verkörperlichte und so
ggf. auch reflexionslos reaktivierbare Handlungsfähigkeit“ (ebd., 184), die sich
nicht objektiviert, sondern an den Körper des Einzelnen gebunden ist. Dieses
Können kann gelernt werden durch Mimesis, Nachahmung und Übung (ebd., 186).
3. Leben-Lernen: Jeder Mensch muss zunächst lernen, sein persönliches Leben zu
meistern. Um pädagogisch angemessen darauf reagieren zu können, können sechs
verschiedene Facetten unterschieden werden: Neben dem Überleben-Lernen sind
dies das Lebensbewältigung-, Lebensbefähigung-, Biographisches-, Lebenskunst-
und Sterben-Lernen. Je nach konkretem Bedarf müssten Pädagog/innen
unterschiedliches Wissen und Können vermitteln (ebd., 187ff.). In diesem Kontext
ist das Verhältnis von Leben zu Lernen als pädagogisches Dauerthema
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anzusiedeln. Historisch durchgesetzt hat sich eine Lehrorientierung, die die Welt
(idealerweise) aus dem pädagogischen Raum ausschließt (ebd., 100).
4. Lernen-Lernen: Dieser Aspekt läuft in jedem anderen Lernen mit und zielt auf die
persönlichen „Fähigkeiten und Fertigkeiten des Umgangs mit Lernsituationen und
Lernprozessen sowie der Transformation von Situationen in Lernprozessen“ (ebd.,
190). Pädagogisch geht es darum, Lernkompetenzen für die gesamte Lernzeit, also
das lebenslange Lernen, aufzubauen.
Diese vier Ebenen sind alle gemeinsam, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, an den
meisten Lernprozessen beteiligt (ebd., 181) und bespielen zusammen genommen vier
Modi des persönlichen Lernens (ebd., 180):
Erfahrungsbezogen stößt Lernen immer eine Modifikation vorhandener
Erfahrungen an;
Dialogisch bedarf Lernen einer gelingenden Auseinandersetzung mit Anderem/
Anderen;
Sinnvoll muss sich Lernen in einem Geschehenssinn auf körperlicher,
biographischer, sozialer oder kultureller Ebene äußern;
Ganzheitlich berührt Lernen immer den gesamten Lernenden und transformiert
den Lernenden auf verschiedenen Ebenen - auch jenseits des im Lernen
Fokussierten.
Inwiefern diese Modi zwangsläufig einer pädagogischen Einbindung bedürfen bzw. die
für das individuelle Lernen erforderlichen Beziehungspersonen zwangsläufig in
formalen Bildungsinstitutionen verankert sein müssen, ist fraglich (vgl. zur
Ausdifferenzierung einer relationalen Lernkonzeption Künkler 2011, 542ff.).20
Um modernes „Lernen“ in der Netzwerkgesellschaft weiter analysieren zu können, soll
zunächst die Bedeutung einer raumzeitlichen Lernkonzeption historisch eingeordnet
werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann das für kollektive, netzbasierte
Bildung bedeutsame informelle Lernen strukturell diskutieren, um anschließend
mögliche erzieherische Einflusspotenziale für