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Das Super-Wunderargument
(frühe Version)
Verfasser:
Johannes Heinle
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ......................................................................................................... 3
2. Die These der Humeschen Supervenienz ............................................................... 4
3. Das Erklärbarkeits-Problem ................................................................................10
4. Das materiale Induktionsproblem .......................................................................14
4.1. Das Problem ...............................................................................................14
4.2. Die Konsequenz ..........................................................................................17
5. Das Super-Wunderargument ..............................................................................21
5.1. Vorteile des Argumentes ..............................................................................22
5.2. Einwände gegen das Argument .....................................................................25
5.3. Motivation des Argumentes ..........................................................................25
5.3.1. Allgemeine Motivation ............................................................................27
5.3.2. Spezifische Motivation ...........................................................................29
6. Schlusswort .....................................................................................................34
7. Literaturverzeichnis ...........................................................................................39
3
1. Einleitung
Die humesche Doktrin besagt, dass es keine (de-re) notwendigen Verbindungen
respektive modale Fakten in der Natur gibt. Das heißt, es gibt, ganz generell gesprochen,
nichts, das irgendetwas in Bezug auf irgendetwas anderes (distinktes) im Universum
verändert (festlegt, steuert, hervorbringt, einschränkt, notwendig oder wahrscheinlicher
macht, o.ä.). Der Humeanismus ist die metaphysische Doktrin, nach welcher die
humesche These wahr ist. Der Anti-Humeanismus verneint dies. Was trifft zu? Diese
Frage kann als eine der zentralen Fragen in der kontemporären Naturphilosophie gelten.
Ihre Antwort legt uns darauf fest, wie wir Konzepte wie Kausalität, Naturgesetze,
Dispositionen, Determinismus oder Wahrscheinlichkeit überhaupt verstehen können. Sie
hat dementsprechend tiefe Auswirkungen auf unser Verständnis der Natur sowie der
Naturwissenschaften. In der vorliegenden Textprobe möchte ich im besten Fall einen
kleinen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage liefern und ein neues Argument für den
Anti-Humeanismus entwickeln sowie verteidigen. Es besteht im Kern in einer Inferenz
von dem empirischen Erfolg unserer wissenschaftlichen und auch alltäglichen
Gesetzesannahmen auf die Wahrheit des Anti-Humeanismus. In die Form eines
abduktiven Schlusses gebracht besagt es, dass der Anti-Humeanismus die einzige
zufriedenstellende Erklärung für diese empirischen Erfolge und deshalb wahr ist.
Meine Grundargumentation kann dabei wie folgt nachvollzogen werden: Die These der
Humeschen Supervenienz besagt, dass die wahren humeschen Gesetze durch die
gesamte Entwicklung ihres Gegenstandsbereiches festgelegt werden anstatt umgekehrt
(Abschnitt 2). Das führt zu dem bekannten Erklärbarkeits-Problem, nach dem ein
wahres humesches Gesetz seine Instanzen nicht zirkelfrei erklären kann (Abschnitt 3).
Darum geht es mir im Kern aber nicht. Erstens geht es mir nicht darum, ob, und, wenn
ja, wie ein Gesetz seine Instanz erklären kann, wenn dieses auftritt. Stattdessen geht es
mir darum, wie überhaupt erklärt werden kann, dass die Instanzen einiger Gesetze so
zuverlässig eintreten. Zweitens geht es mir nicht um die wahren, sondern um die
verfügbaren Gesetzesannahmen. Diese werden aufgrund einer begrenzten Beobachtung
ihres Gegenstandsbereiches über in einem weiten Sinne induktive Inferenzen aufgestellt.
Sie stützen kontrafaktische Annahmen in Bezug auf den unbeobachteten Teil ihres
Gegenstandsbereiches, was erfahrungsgemäß regelmäßig zu empirischen Erfolgen führt.
Meine These lautet, dass der Humeanismus ein besonderes und tiefes Problem bei der
Erklärung dieser Erfolge hat, das materiale Induktionsproblem (Abschnitt 4). Dieses
Problem bildet dann die Grundlage für mein Super-Wunderargument (Abschnitt 5). In
dieser Textprobe werden erste Vorteile (Abschnitt 5.1.) sowie mögliche Einwände
(Abschnitt 5.2.) und Motivationsstrategien (Abschnitt 5.3.) für das Argument skizziert.
4
2. Die These der Humeschen Supervenienz
David Lewis umreißt seine berühmte These der Humeschen Supervenienz so:
„Die Humesche Supervenienz ist nach den Ehren des großen Leugners notwendiger
Verbindungen benannt. Es ist die Lehre, dass alles, was zu der Welt gehört, ein großes
Mosaik lokaler, einzelner Fakten ist, hier ein kleines Ding und dann ein anderes. […] Wir
haben eine Geometrie: ein System von externen Relationen raumzeitlichen Abstands
zwischen Punkten. Vielleicht sind es Punkte der Raumzeit selbst, vielleicht punktförmige
Stücke von Materie oder Äther oder Feldern, vielleicht beides. Und an diesen Punkten haben
wir lokale Qualitäten: völlig natürliche intrinsische Eigenschaften, die nicht mehr als einen
Punkt benötigen, um aufzutreten. Kurz gesagt: Wir haben ein Arrangement von Qualitäten.
Und das ist alles. Es gibt keinen Unterschied ohne einen Unterschied in diesem Arrangement
von Qualitäten. Alles andere superveniert darauf.“
- David Lewis (1986a). Philosophical Papers. Volume 2. Oxford: Oxford University Press, S.
ix-x. (eigene Übersetzung).
Lewis setzt hier zwei unhintergehbare Annahmen voraus (Vgl. Esfeld 2008a, S. 325):
1
1. Die Welt wird von einem Netz raumzeitlicher, kategorialer Strukturen
festgehalten.
2. Die fundamentalen physikalischen, intrinsischen und kategorialen
Eigenschaften
2
der Materie treten an den Punkten dieses Netzes auf.
Alles andere in der Welt superveniert über der Verteilung dieser kategorialen
Eigenschaften. Daraus folgt, dass wenn eine mögliche Welt w2 ein Duplikat der aktualen
Welt w1 in Bezug auf die metrischen Relationen und die Verteilung der fundamentalen
physikalischen Eigenschaften ist, dann ist w2 schlechthin ein Duplikat von w1 (Jackson
1998, S. 21). Und es folgt auch, dass die Verteilung der kategorialen Eigenschaften die
Naturgesetz- und Kausalbeziehungen in der Welt festlegt und nicht etwa umgekehrt:
- Naturgesetze: Die Verteilung der fundamentalen Eigenschaften legt
Regularitäten zwischen diesen fest, die Naturgesetze sind insofern sie durch die
Axiome oder Theoreme des besten Systems des Wissens beschrieben werden.
1
Lewis lässt in dem Zitat oben die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Raumzeit und der Materie offen. An
anderer Stelle äußert er eine Präferenz für die Position, nach der alle physikalischen Eigenschaften letztlich
Eigenschaften an Punkten oder Gebieten der Raumzeit sind (Lewis 1986b, S. 76, Anmerkung 55). Es ist fraglich,
ob diese Position in Lewis´ Metaphysik kohärent ist (Esfeld 2008b, S. 139): Denn die Materieeigenschaften sind
nach ihm intrinsisch und können daher nicht mit den relationalen Eigenschaften der Raumzeit identisch sein.
2
Aus der Sicht der modernen Physik sind Ort, Impuls, Ruhemasse, Spin und Ladung Kandidaten für fundamen-
tale physikalische Eigenschaften. Das kann sich im Laufe eines radikalen Theorienwandels aber ändern.
5
Das beste System des Wissens ist diejenige vollständige Beschreibung der Welt,
welche die beste Balance zwischen empirischem Informationsgehalt und
Einfachheit erzielt (siehe Lewis 1973a, S. 72 – 75 und Lewis 1994, Abschnitt 3).
- Kausalität: Die Verteilung der fundamentalen Eigenschaften legt
kontrafaktische Abhängigkeiten zwischen diesen fest, die Kausalbeziehungen sind.
Vereinfacht gesagt sind zwei Ereignisse e1 und e2 kausal abhängig, gdw. gilt:
Wenn e1 (nicht) eingetreten wäre, dann wäre e2 auch (nicht) eingetreten (siehe
Lewis 1973b und 2000). Diese kontrafaktische Aussage ist wahr, wenn es
mindestens eine mögliche Welt
3
gibt, in der e1 und e2 auftreten und die unserer
aktualen Welt ähnlicher ist als alle anderen Welten, in denen e1 eintritt, aber nicht
e2 (Lewis 1973a). Die Ähnlichkeit der verschiedenen Welten in Bezug auf unsere
hängt nur von der Eigenschaftsverteilung und den Naturgesetzen in der aktualen
Welt ab. Deshalb gilt die humesche Supervenienzthese auch für Kausalrelationen.
Die kontrafaktische Theorie der Kausalität sieht sich mit internen Problemen konfrontiert.
Siehe u.a Hausman (1996) zu "Epiphänomenen" und Schaffer (2000) zu "Präemptionen".
Es gibt Versuche, diese Probleme zu lösen. Wie in der Philosophie üblich, ist jeder dieser
Versuche wiederum mit Einwänden konfrontiert, sodass die Debatte andauert. Wenn
man, wie wir, aber einen allgemeinen Blick auf die Humesche Metaphysik wirft, ist die
eigentlich entscheidende Frage aber, ob die zwei wesentlichen Grundannahmen, auf
welchen die kontrafaktische Theorie beruht, plausibel sind (Esfeld 2008b, S. 151):
(I) Kausalität als extrinsische Relation: Ob zwischen zwei Eigenschaften eine
Kausalrelation besteht, hängt nicht von den Eigenschaften selbst ab, sondern
davon, wie die Verteilung der Eigenschaften in der gesamten Raumzeit ist.
(II) Kausalität als kontingente Relation: Die Eigenschaft, die eine Ursache ist,
bringt die Eigenschaft, die ihre Wirkung ist, nicht hervor.
Es gibt demnach auch keine dispositionalen Eigenschaften in der Welt. Beschreibungen
von Dispositionen werden konsequent durch kategoriale Beschreibungen ersetzt. Die
Humesche Reduktion von Dispositionen wird in drei Schritten vollzogen (ebd., S. 141):
(a) semantischer Schritt: Aussagen, die Objekten dispositionelle Eigenschaften
zuschreiben, werden in kontrafaktische Konditionalaussagen übersetzt. Zum
Beispiel wird die Aussage "Wasser hat die Disposition, dieses Stück Zucker
aufzulösen" übersetzt in die kontrafaktische Aussage "Wenn dieses Stück Zucker
in Wasser eingetaucht werden würde, dann würde es sich im Wasser auflösen".
3
Lewis ist zwar modaler Realist. Seine Kausalitätstheorie ist aber nicht daran gebunden, dass man modaler
Realist statt bloß modaler Instrumentalist ist (siehe etwa Armstrong 2004, S. 445; Loewer 2007a, S. 308 - 316).
6
(b) epistemischer Schritt: Der Wahrmacher dieser kontrafaktischen Aussage ist
die Verteildung der fundamentalen, kategorialen Eigenschaften in der Raumzeit.
Zum Beispiel ist die Aussage "Wenn dieses Stück Zucker in Wasser eingetaucht
werden würde, würde das Wasser es auflösen" wahr wegen der Verteilung der
fundamentalen kategorialen Eigenschaften insbesondere von Zucker und Wasser.
(c) ontologischer Schritt: Es gibt daher keinen Grund dispositionelle
Eigenschaften als etwas, das es in der Welt gibt, anzuerkennen. Zum Beispiel wird
die Aussage "Wenn dieses Stück Zucker in Wasser getaucht werden würde, würde
es sich auflösen" zwar von etwas in der Welt wahr gemacht. Dieses etwas ist aber
die Verteilung der fundamentalen, kategorialen Eigenschaften in der Welt. Die
Annahme der Existenz von Dispositionen wird als ungerechtfertigt abgelehnt.
Daher ist die Humesche Reduktion ein Eliminativismus in Bezug auf Dispositionen.
Der Schritt (a) tritt in der konditionalen Analyse auf (Vgl. Bird 2007, Kapitel 2.2.2.):
D(S,W)x ↔ (Sx ⎕→Fx).
Diese Formel besagt: Ein Objekt x hat die Disposition D unter der Stimulusbedingung S
die funktionale Rolle F zu realisieren, gdw. gilt: Wenn x S ausgesetzt wäre, dann würde x
F spielen. Diese konditionale Analyse wurde vor allem in den neunziger Jahren des
vergangenen Jahrhunderts angegriffen. Siehe v.a. Charles Martin (1994) und David Lewis
(1997) für sogenannte "finkische Dispositionen". Sowie Mark Johnston (1992) und
Bird (1998) für sogenannte "Antidotes". Es gibt jedoch starke Humesche Antworten auf
diese Angriffe (siehe Lewis 1997; Gundersen 2002; Cross 2005; S. 323ff; Sparber 2006).
Zusammenfassend sind Aussagen über Naturgesetze, Kausalität und Dispositionen nach
Lewis letztendlich wahr aufgrund der Verteilung der fundamentalen Eigenschaften als
Ganzes. Diese Verteilung selbst muss in der Humeschen Metaphysik aber als ein factum
brutum vorausgesetzt werden. Sie ist etwas Ursprüngliches, mit dem sich alles Weitere
erklären lässt, das aber selbst nicht innerhalb der Humeschen Metaphysik erklärt werden
kann. Sowohl die Verteilung als Ganzes als auch die Existenz jeder Eigenschaft in ihr ist
in diesem Sinne kontingent. Das heißt, generell gesagt, dass das Humesche Diktum gilt:
Humes Diktum: Es gibt keine de-re notwendigen Verbindungen bzw. modale
Fakten in der natürlichen Welt. Dh. es gibt generell gesprochen nichts, das irgend-
etwas in Bezug auf irgendetwas distinktes im Universum verändert (d.h. festlegt,
steuert, hervorbringt, einschränkt, notwendig oder wahrscheinlicher macht, o.ä.).
7
An dieser Stelle liegt der Referenzpunkt zum namensgebenden David Hume, nach dem
unser Glaube an notwendige Verbindungen in der Natur nicht rechtfertigbar ist. Denn
erstens lässt sich dieser nicht deduktiv rechtfertigen – aus Ursachen lassen sich keine
Wirkungen deduzieren. Zweitens lässt er sich nicht empirisch rechtfertigen – eine
notwendige Verbindung zwischen Eigenschaften o.ä. wird niemals direkt beobachtet. Der
erste Teil dieses Argumentes ist weitgehend akzeptiert. Der zweite Teil des Argumentes
ist dahingegen Teil einer anhaltenden Debatte (s.u.). Selbst wenn wir ihn akzeptieren,
stützt das Argument aber nur die epistemische These, dass wir nicht gerechtfertigt sind,
von notwendigen Verbindungen überzeugt zu sein. Es ist in der Literatur durchaus
umstritten, ob der historische Hume auch die ihm oft zugeschriebene und ontologische
Humesche These vertreten hat (siehe für eine gute Übersicht Psillos 2003, S. 19 – 56).
Nichtsdestotrotz bezeichnet man heutzutage jede Metaphysik, welche die Existenz von
notwendigen Verbindungen in der Natur bestreitet, als eine Humesche Metaphysik in
einem weiten Sinne. In einem engen Sinne bezeichnet man damit die Supervenienzthese
von Lewis sowie moderne Varianten von dieser (wie etwa die von Esfeld und Deckert
2017).
4
Da es überhaupt keine notwendigen Verbindungen innerhalb einer Humeschen
Metaphysik (sowohl in einem engen als auch im weiten Sinne) gibt, gilt das Prinzip der
freien Kombinierbarkeit: Es ist für jedes Vorkommnis einer fundamentalen Eigenschaft
möglich, an diesem festzuhalten und alle anderen fundamentalen Vorkommnisse zu
variieren. Das Resultat ist stets eine metaphysisch mögliche Welt (Beebee 2006).
Angenommen also, die Entwicklung der Verteilung der fundamentalen Eigenschaften in
der Welt hat ihren Ursprung in einer Singularität - dem sogenannten "Urknall". Dann ist
es nach der Humeschen Metaphysik möglich, gegeben einer Verdopplung des Urknalls in
w2, dass die Entwicklung der Verteilung der fundamentalen Eigenschaften in w2 völlig
verschieden von der in der aktualen Welt ist (Esfeld 2014). Trotzdem ist die Humesche
Metaphysik, wie ich kurz argumentieren werde, mit einem Determinismus kompatibel.
Eine Standarddefinition von "Determinismus" ist diese:
(D) Ein System S ist deterministisch, gdw. es möglich ist, aus einer vollständigen
Kenntnis der Rand- und Zustandsbedingungen von S zu einem beliebigen
Zeitpunkt t alle anderen Zustände von S zu jedem anderen Zeitpunkt abzuleiten.
Das Universum ist demnach deterministisch, gdw. sich aus einer vollständigen Kenntnis
der Naturgesetze und aller Eigenschaften im Universum zu einem beliebigen Zeitpunkt t
4
Ward (2002) und Roberts (2008) entwickeln je eine Humesche Metaphysik im weiten, aber nicht engen Sinne.
8
(z.B. während oder unmittelbar nach dem Urknall) alle anderen Zustände des Kosmos
(die komplette kosmische Evolution) deduzieren lassen. Es lässt sich widerspruchslos
vertreten, dass die Humesche Metaphysik wahr und das Universum deterministisch ist.
5
Dann handelt es sich aber nur um eine nomologische Determination im Sinne von
epistemologischer "Vorhersagbarkeit", nicht im Sinne von ontologischer Festlegung
oder Steuerung durch die Naturgesetze (Beebee 2000). Die Naturgesetze haben in der
Humeschen Metaphysik somit nur eine deskriptive Funktion: Sie fassen am Ende der
kosmischen Entwicklung markante Regularitäten zusammen. Da ihre Supervenienzbasis
die Verteilung der fundamentalen Eigenschaften während des gesamten kosmischen
Entwicklungsprozesses ist, stehen die Naturgesetze auch erst an dessen Ende fest.
Dass die Naturgesetze erst am Ende der kosmischen Entwicklung feststehen, führt zu
zwei altbekannten Problemen für den Humeanismus im weiten Sinne. Das erste
nenne ich das "Erkennbarkeits-Problem". Es besteht darin, dass die wahren
humeschen Gesetze für uns Menschen nicht erkennbar sind. Denn diese ergeben sich erst
am Ende der kosmischen Entwicklung. Da wir Menschen uns selbst in dieser Entwicklung
inbegriffen sehen, können wir diese – und daher die Gesetze – prinzipiell nie erkennen.
Eine naheliegende Reaktion auf dieses Problem lautet, dass der Humeaner sich auf
einen Eternalismus festlegen soll, nach dem die vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Ereignisse gleichermaßen existieren. Der Eternalismus ist dem Präsentismus
entgegengestellt, nach dem nur gegenwärtige Ereignisse existieren und dem
Possibilismus, nach dem vergangene und gegenwärtige Ereignisse real sind. Die
Kombination aus Humeanismus und Präsentismus oder Humeanismus und Possibilismus
ist in der Literatur bereits als "Open-Future-Humeanismus" bekannt (Backmann 2016,
Buckareff 2019, Friebe 2018 und Hüttemann 2013). Es liegt daher nahe, die Kombination
aus Humeanismus und Eternalismus "Closed-Future-Humeanismus" zu benennen.
Die Idee hinter dieser Reaktion ist also die Folgende: Wenn sich der Humeaner auf einen
Closed-Future Humeanismus festlegt, dann ist bereits die gesamte kosmische
Entwicklung festgelegt. Qua Supervenienzrelation sind dann auch bereits alle wahren
Gesetze festgelegt. Diese Reaktion verfehlt aber ganz offensichtlich das eigentliche
Problem: Denn selbst wenn ontisch bereits das gesamte humesche Mosaik festgelegt ist,
können wir epistemisch nur einen kleinen raumzeitlichen Ausschnitt daraus erkennen.
Der vorangegangene Abschnitt sollte in einige zentrale Themen des Humeanismus
5
Eine Humesches Universum muss aber nicht deterministisch sein. Es kann auch probabilistisch, statisch oder
derart sein, dass sich die Verteilung der fundamentalen Eigenschaften zwar entwickelt, es in ihr aber keine
Regularitäten gibt. Im letzten Fall gibt es dann gar keine Naturgesetze oder Kausalbeziehungen in dieser Welt.
9
einführen. Diese Themen werden im Laufe dieser Arbeit an verschiedenen Stellen
aufgegriffen und kritisiert. Das Erkennbarkeits-Problem wird in Abschnitt 6 verschärft.
10
3. Das Erklärbarkeits-Problem
Das zweite, bekannte Problem ist das "Erklärbarkeits-Problem". Es wird uns nachher,
zusammen mit einem gänzlich neuen Problem, zu meinem zentralen Argument führen.
Ich möchte hier daher etwas ausführlicher darauf eingehen. Marc Lange (2009, S. 17f.)
hat die Unterscheidung zwischen sub-nomischen und nomischen Fakten eingeführt. Diese
erfährt teilweise noch zu wenig Beachtung. Ein sub-nomischer Fakt wird ausgedrückt
durch einen Satz der Form "Es ist ein sub-nomischer-Fakt, dass p." Zum Beispiel ist es
ein sub-nomischer Fakt, dass sich gleichgeladene Systeme abstoßen. Ein nomischer
Fakt wird dagegen ausgedrückt durch einen Satz der Form "Es ist ein nomischer Fakt,
dass es ein Gesetz ist, dass p." Zum Beispiel ist es ein nomischer Fakt, dass es ein
Naturgesetz (Coulombsches Gesetz) ist, dass gleichgeladene Systeme sich abstoßen.
Wenn wir dieser Terminologie folgen, können wir das Inferenzprinzip so formulieren:
(IP) Wenn es der Fall ist, dass p ein Gesetz ist (nomischer Fakt), dann ist es auch
der Fall, dass p (subnomischer Fakt). Oder umgekehrt: Wenn es nicht der Fall ist,
dass p (subnomischer Fakt), dann ist es auch nicht der Fall, dass es ein Gesetz ist,
dass p (nomischer Fakt) (Loewer 1996, S. 111).
Das Prinzip (IP) ist plausibel. Wenn es beispielsweise ein Naturgesetz ist, dass
gleichgeladene Systeme sich abstoßen, dann sollte es auch der Fall sein, dass
gleichgeladene Systeme sich abstoßen. Wenn wir uns auf subnomische Fakten
beschränken, die Regularitäten betreffen, lässt (IP) sich formal auch so darstellen:
(IPFOR) L(∀x(Fx→Gx)) → ∀x(Fx→Gx).
Die Formulierung (IPFOR) macht deutlich, warum humesche Gesetze das Inferenzprinzip
trivialerweise erfüllen. Der Grund ist dieser: Eine Aussage der Form "∀x(Fx→Gx)" ist nur
dann ein humesches Gesetz, wenn diese erstens wahr ist und zweitens einige
epistemische Kriterien Cn erfüllt, die sie zu einem optimalen System zugehörig machen:
(LHum) ∀x(Fx→Gx) ∧ C1 ∧ C2 … ∧ Cn → L(∀x(Fx→Gx)).
Das heißt es kann – gegeben die Definition (LHum) – rein begrifflich (logisch) gar nicht
sein, dass das Antezedens im Prinzip (IP) wahr, aber sein Konsequenz falsch ist. Ich
möchte aber für Folgendes argumentieren: Genau der Grund, weshalb humesche Gesetze
(IP) erfüllen, ist auch der Grund, weshalb sie das Erklärungsprinzip (EP) nicht erfüllen:
(EP) Wenn es der Fall ist, dass p ein Gesetz ist (nomischer Fakt), dann soll dies
eine gute Erklärung dafür sein, dass es der Fall ist, dass p (subnomischer Fakt).
6
6
Siehe zu diesem Desideratum u.a. Dretske 1977, S. 262; Bird 2007, S. 86; Jaag und Schrenk 2020, S. 22.
11
Das Prinzip (EP) ist ebenfalls plausibel. Wenn es etwa ein Gesetz ist, dass gleichgeladene
Systeme sich abstoßen, dann sollte dieser Fakt eine gehaltvolle Erklärung dafür sein,
dass gleichgeladene Systeme sich abstoßen. Eine naheliegende Frage lautet daher, ob
humesche und oder anti-humesche Gestzestheorien das Desideratum (EP) erfüllen.
Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir erstens den zentralen Unterschied
zwischen humeschen und anti-humeschen Gesetzestheorien herausarbeiten (siehe für
ähnliche Unterscheidungen u.a. Beeebee 2000, S. 571; Schurz 2005; Sider 2021, S. 20):
humesche Gesetzestheorien: Die Gesetze fassen die Entwicklungen im
Universum am Ende unter bestimmten epistemischen Kriterien zusammen. Ein
Gesetz ist also in erster Linie eine sprachliche oder mathematische Entität.
7
anti-humesche Gesetzestheorien: Die Gesetze bringen die Entwicklungen im
Universum hervor, steuern und oder schränken sie ein. Ein Gesetz ist oder
grundiert also in erster Linie in einer ontologischen Entität mit modaler Kraft.
Und die obenstehende Frage lässt sich nur beantworten, wenn wir zweitens den
Erklärungsbegriff in (EP) explizieren. Das ist bekanntlich keine einfache Aufgabe. Es
lassen sich wiederum grob zwei Strömungen auseinanderhalten (Bartelborth 2007):
vereinheitlichende Erklärung: Wenn ein (singuläres; generelles) Phänomen P
vereinheitlichend erklärt wird, wird gezeigt, dass P aus einem allgemeinen
Zusammenhang abgeleitet und somit unter diesem subsumiert werden kann.
tiefere Erklärung: Wenn ein (singuläres; generelles) Phänomen P tiefer erklärt
wird, dann wird gezeigt, dass etwas P hervorbringt, lenkt, erzwingt, notwendig
oder wahrscheinlich macht, einschränkt o.ä. (ebd., Kapitel 3).
Es ist offensichtlich, dass humesche Gesetze ihre Instanzen nicht tiefer erklären
können. Das folgt rein logisch aus der humeschen Doktrin, auf welche jede humesche
Gesetzestheorie festgelegt ist. Es erscheint aber genauso offensichtlich, dass humesche
Gesetze ihre Instanzen vereinheitlichend erklären können (so u.a. explizit die Humeaner
Loewer 1996, S. 133; Smart 2013; Miller 2015, Abschnitt 4; Esfeld und Deckert 2017, S.
7
Es erscheint mir unklar, ob bestimmte sprachliche Aussagen oder mathematische Formeln im Humeanismus
Naturgesetze sind oder beschreiben. Meist betrachtet Lewis Naturgesetze als linguistische Entitäten
(bestimmte interpretierte Sätze) oder Propositionen (siehe seine berühmten Lewis 1973a, S. 73 sowie Lewis
1983a, S. 367). Manchmal identifiziert er Naturgesetze aber auch direkt mit den Regularitäten in der Welt
(Lewis 1986, S. 54 - 55).
12
53; Esfeld 2019, Kapitel 2.2.; Bhogal 2021a, Abschnitt 2.1.). Schließlich sind humesche
Gesetze nichts weiter als gewisse Zusammenfassungen ihrer Instanzen!
Aber stimmt das? Können humesche Gesetze ihre Instanzen vereinheitlichend erklären?
Bei solchen Fragen muss man sich immer fragen, was den Zusammenhang festlegt,
welcher ein Explanandum vereinheitlichend erklären soll. Bei humeschen Gesetzen ist die
Antwort klar: Es ist das humesche Mosaik, d.h. die gesamte kosmologische Entwicklung,
welche die Gesetze festlegt. Das führt uns aber zu dem Erklärbarkeits-Problem: Die
humeschen Gesetze sind nur gewisse Zusammenfassungen des humeschen Mosaiks.
Wenn nun genau diese humeschen Gesetze herangezogen werden, um etwas in diesem
Mosaik zu erklären, dann erklärt man dieses etwas auch durch sich selbst. Deshalb sind
humesche vereinheitlichende und nomische Erklärungen immer zirkuläre Erklärungen!
8
Andreas Hüttemann (2013, S. 35) findet hier eine schöne Analogie: Angenommen John
und Lisa wollen heiraten. Tatsächlich tun sie es aber nicht. Warum? Eine vereinheitlich-
ende Erklärung lautet, dass John sein Leben lang Junggeselle geblieben ist. Und es ist für
einen Junggesellen begrifflich (logisch) unmöglich verheiratet zu sein. Diese
Erklärung entspricht der Erklärung von sub-nomischen Fakten durch ihre entsprechenden
humeschen Gesetze. Aber ist es auch eine gute Erklärung? Nein. Denn der Begriff
"Junggeselle" fasst nur zusammen, dass John sein ganzes Leben lang keine Person
geheiratet hat. Wenn nun genau dieser Begriff herangezogen wird, um zu erklären,
weshalb John Lisa nicht geheiratet hat, dann ist diese Erklärung klarerweise zirkulär.
Aber das Problem geht meiner Meinung nach noch viel tiefer. Was ist überhaupt eine
gute Erklärung? Eine gute Erklärung liefert eine zufriedenstellende Antwort auf eine
Warum-Frage. Sie fördert unser Verständnis des Explanandum-Phänomens. Ignorieren
wir für einen Moment den zirkulären Charakter der obigen Erklärung. Das heißt
ignorieren wir die Definition von "Junggeselle". Dann besteht die Erklärung darin, dass
ein bestimmtes Verhalten von John unter einer allgemeinen Verhaltensregularität
zusammengefasst wird. Aber dass es unter einer allgemeinen Verhaltensregularität fällt,
fördert kaum unser Verständnis dessen, warum John Lisa nie geheiratet hat. Mehr noch:
Diese Regularität ist noch erklärungsbedürftiger als das ursprüngliche Explanandum!
Mir scheint, dass eine gute Erklärung für Johns Verhalten interne (psychologische) und
externe (soziale) tiefere Faktoren benennen muss. Diese Faktoren fassen Johns
Verhalten nicht zusammen, sondern legen dieses fest, erzwingen es, lenken es, machen
es wahrscheinlicher usw. Beispielsweise könnte John während der Bekanntschaft mit Lisa
8
Siehe für den diesbzgl. humeschen Standardeinwand Loewer (1996, S. 189). Siehe dagegen aber Marshall
(2015), Hicks und van Elswyk (2015) und v.a. Lange (2013, 2016). Siehe Jaag (2015) für eine Übersicht.
13
eine Bindungsangst entwickelt und deswegen nie geheiratet haben. Diese Angst erklärt
dann, weshalb John und Lisa nie geheiratet haben und auch wieso John ein Junggeselle
geblieben ist. Diese Erklärung ist also tief und dadurch vereinheitlichend.
Überdies ist sie in einem nicht-zirkulären und viel gehaltvolleren Sinne vereinheitlichend
als die Erklärung über "Junggeselle", da Johns Verhalten nicht durch sich selbst erklärt
wird, sondern durch tiefere Faktoren, welche sein Verhalten hervorgebracht haben. Wenn
ich im Folgenden also von "erklären" schreibe, meine ich damit, sofern nicht explizit
anders erwähnt, immer ein gutes Erklären im Sinne von tiefem Erklären (siehe zu einer
allgemeinen Kritik an rein vereinheitlichenden Erklärungsmodellen Woodward 2003).
Übertragen auf diese Analogie, versuche ich im nächsten Abschnitt Folgendes zu zeigen:
Angenommen wir kennen Johns Leben, bis er Lisa aus den Augen verliert. Wir wissen,
dass John bisher nicht geheiratet hat. Nun wollen wir sein weiteres Verhalten
vorhersagen. Der Humeaner kann Johns bisheriges Verhalten zusammenfassen und es
dann induktiv verallgemeinern: Weil John bislang nie geheiratet hat, wird er dies auch
zukünftig nicht tun. Er benennt damit aber keine tieferen Faktoren, welche diese
Prognose wahr machen könnten. Mehr noch: Die Behauptung der humeschen Doktrin,
übertragen auf diese Analogie, lautet, dass es solche Faktoren schlichtweg nicht gibt!
Das heißt, es mag zwar sein, dass John tatsächlich nie heiratet und die Prognose des
Humeaner sich bewahrheitet. Dieser Prognoseerfolg ist dann aber ein Wunder insofern
das zukünftige Verhalten von John primitiv und kontingent ist. Der Anti-Humeaner
hingegen erkennt solche tieferen Faktoren im Sinne von modalen Fakten an. Damit kann
er verständlich machen, weshalb wir unter Bezugnahme auf diese Fakten Johns Verhalten
erfolgreich vorhersagen und manipulieren können. Etwa stützt der Fakt, dass John eine
Bindungsangst entwickelt hat, die kontrafaktische Annahme, dass wenn sich nichts
ändern würde, John wahrscheinlich nie heiraten würde. Es geht aber nicht nur um simple
Regularitäten. Das Gesetz stützt auch die Annahme, dass wenn man John in eine gute
Bindungsangsttherapie schicken würde, er danach heiraten könnte. Die Bindungsangst
macht dabei erst ersichtlich, weshalb diese kontrafaktischen Annahmen zuverlässig zu
empirischen Erfolgen führen. Kommen wir auf die ursprüngliche Debatte zurück. Mir geht
es im Nachstehenden also nicht um wahre Gesetze. Stattdessen geht es mir vorranging
um die verfügbaren Gesetze, die wir auf Grundlage von begrenzten Beobachtungen
ihres Gegenstandsbereiches aufstellen. Des Weiteren geht es mir nicht darum, wie
Gesetze kontrafaktische Annahmen oder ihre Prognosen stützen. Stattdessen geht es mir
um die Frage, warum diese zu neuartigen empirischen Erfolgen hinsichtlich des Teiles
ihres Gegenstandsbereiches führen, der bei der Konstruktion des Gesetzes noch nicht
gebraucht wurden war. Noch einmal etwas anders ausgedrückt: Es geht nicht darum, wie
ein Gesetz seine Instanz erklären kann, wenn sie auftritt. Sondern ob überhaupt etwas
den Umstand erklären kann, dass die Instanzen einiger Gesetze so zuverlässig eintreten.
14
4. Das materiale Induktionsproblem
4.1. Das Problem
Die Verteilung der Eigenschaften in der Welt ist nicht irgendeine, sondern weist einige
Regularitäten auf. Dabei kann grob die folgende Unterscheidung getroffen werden:
- Wenn zwei Eigenschaften (oder Objekte mit Eigenschaften) a und b regelmäßig
zeitlich nacheinander auftreten, dann ist das eine diachrone Regularität.
- Wenn zwei Eigenschaften (oder Objekte mit Eigenschaften) a und b regelmäßig
räumlich nebeneinander auftreten, dann ist das eine synchrone Regularität.
Aufgrund dieser Regularitäten entwickeln wir sowohl in den Wissenschaften als auch im
Alltag durch in einem weiten Sinne induktive Inferenzen Annahmen über gesetzesartige
Zusammenhänge. Gesetzesannahmen stützen wiederum kontrafaktische
Konditionalaussagen. Hier ist ein sehr einfaches
9
Beispiel (Hüttemann 2009, 2013):
pV = NkBT.
Die obige Formel beschreibt das ideale Gasgesetz. Dabei steht "p" für den Druck des
Gases, "V" für das Volumen, "kB" ist die Boltzmannkonstante, "N" die Molekülzahl und "T"
die Temperatur. Dieses Gesetz wurde aufgrund von beobachteten Regularitäten zwischen
den Messgrößen p, V, N und T aufgestellt. Aufgrund dieses Gesetzes wissen wir aber
nicht nur, dass diese Messgrößen in dem oben dargestellten, funktionalen
Zusammenhang stehen. Wir wissen beispielsweise auch, wie hoch die Temperatur eines
bestimmten Gases wäre, wenn der Druck bei konstantem Volumen erhöht werden würde.
Dass Gesetzesannahmen kontrafaktische Konditionalaussagen stützen, ist der
Hauptgrund dafür, dass wir mithilfe dieser Annahmen empirische Erfolge erzielen
können. Unter empirischen Erfolgen verstehe ich vor allem Prognoseerfolge und
Manipulations- bzw. Interventionserfolge. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Weil das
ideale Gasgesetz kontrafaktische Konditionalaussagen stützt, können wir erfolgreich
vorhersagen, wie hoch der Druck eines bestimmten Gases wäre, wenn der Druck bei
9
Das Gesetz gilt nur für ideale Gase. Wenn wir weniger idealisierte Gesetze für Gase betrachten – wie das Van-
der-Waals-Gesetz oder die Dieterici-Zustandsgleichung – kommen Komplikationen hinzu, z.B. weitere
Variablen, ohne an meinem Punkt etwas zu ändern. Ich bleibe daher beim einfachen Boyle-Mariott-Gesetz. Im
Abschnitt 5.2.2. komme ich nochmal auf das Boyle-Mariott Gesetz zurück und behalte diese Vereinfachung bei.
15
konstantem Volumen verdoppelt werden würde. Und daher wissen wir auch, wie wir das
Volumen eines Gases manipulieren müssten, wenn wir dessen Druck verdoppeln wöllten.
Abbildung 1: Wenn wir das Volumen eines Gases halbieren würden, würde sich sein Druck verdoppeln.
Das Boyle-Mariott-Gesetz wurde im 17. Jahrhundert aufgrund beobachteter Regularitäten
aufgestellt. Diese Regularitäten sind auch heute noch in Experimenten beobachtbar. In
diesem Sinne sind einige Regularitäten in der Welt stabil. Weil die damals beobachteten
Regularitäten stabil sind, können wir auch heute noch mit dem Boyle-Mariott-Gesetz
empirische Erfolge erzielen. In diesem Sinne sind einige empirische Erfolge anhaltend.
Natürlich ist das Boyle-Mariott-Gesetz nicht perfekt! Es gilt nur unter idealen Rahmen-
bedingungen und liefert auch dann nur annähernd wahre Vorhersagen. Aber wenn Robert
Boyle und Edme Mariotte im 17. Jahrhundert unter bestimmten Bedingungen bestimmte
Regularitäten beobachtet haben, dann können heutige Physiker unter den gleichen
Bedingungen die gleichen Regularitäten beobachten. Und wenn Boyle und Mariotte darauf
aufbauend eine Gesetzesannahme formulieren und in einem bestimmten Rahmen Erfolge
erzielen konnten, dann können heutige Physiker im gleichen Rahmen und mit derselben
Annahme die gleichen Erfolge erzielen. Anders gesagt wissen wir heute, dass Boyle und
Mariotte auf eine Annahme vertrauen konnten, nach dem sich die Natur in den nächsten
350 Jahren weitgehend gleichförmig verhalten wird. Diese ist in der Literatur als die
"Annahme der Uniformität der Natur" (PUN) bekannt (Hume 1739, Skt. 1.3.6.):
(AUN) Wenn die Verteilung der Eigenschaften in einem beobachteten Raumzeit-
abschnitt unter bestimmten Bedingungen bestimmte Regularitäten aufweist, dann
wird die Verteilung der Eigenschaften außerhalb dieses Abschnittes (im gesamten
Kosmos) unter den gleichen Bedingungen die gleichen Regularitäten aufweisen.
Das Vertrauen in (AUN) durchdringt sowohl unsere wissenschaftlichen als auch unsere
alltäglichen Praxen. Zum einen wissen wir heute, dass wir in der Vergangenheit auf
16
(AUN) vertrauen konnten. Zum anderen gehört es zu unseren gewöhnlichsten
Erfahrungen, dass unser Vertrauen in (AUN) stets auch weiterhin bestätigt wird.
Der Humeanismus hat ein besonderes Problem mit der Rechtfertigung von (AUN). Es
handelt sich um das materiale Induktionsproblem. Ansätze zur Formulierung dieses
Problem finden sich bereits in Esfeld (2008a, S. 145; 2010a, S. 122) und Bhogal (2020,
Abschnitt 1.3.; 2021b, Abschnitt 6.4.). Ich schlage die folgende, neue Formulierung
vor: Der Mensch kennt immer nur einen Ausschnitt aus der Verteilung der Eigenschaften
in Raum und Zeit. Das Problem besteht darin, dass es im Rahmen des Humeanismus
nichts geben kann, das es erzwingt, wahrscheinlicher macht oder ähnliches, dass die
Verteilung der Eigenschaften außerhalb dieses Ausschnittes der innerhalb dieses
Ausschnittes ähnlich sein wird. Denn nach der humeschen Doktrin gibt es generell
gesprochen nichts, das irgendetwas in Bezug auf irgendetwas anderes (distinktes) im
Universum festlegt. Weil der Humeanismus im weiten Sinne auf die humesche Doktrin
festgelegt ist, kann er das materiale Induktionsproblem prinzipiell nicht lösen.
Dementsprechend gilt das materiale Induktionsproblem auch für den Closed-Future-
Humeanismus. Nach dem Closed-Future Humeanismus steht die gesamte Verteilung
der Eigenschaften in Raum und Zeit bereits fest. Im Besonderen steht auch der
unbeobachtete Teil dieser Verteilung bereits fest. Das ändert aber nichts am materiale
Induktionsproblem. Denn selbst wenn der unbeobachtete Teil der Verteilung der
Eigenschaften bereits feststeht, ändert das nichts an der Tatsache, dass es im
Humeanismus nichts geben kann, das es erzwingt, lenkt, o.ä., dass die Verteilung in
diesem Teil der im beobachteten Teil ähnlich und nicht etwa vollkommen anders ist.
Das materiale Induktionsproblem kann nur im Rahmen eines Anti-Humeanismus gelöst
werden. Nehmen wir an, in einem beobachteten Raumzeitgebiet sind alle Fs auch Gs.
Dann besteht das Problem darin, dass es im Humeanismus nur partikulare Fs und Gs und
daher nichts geben kann, das es erzwingt, o.ä., dass auch außerhalb dieses
Raumzeitgebietes ein bestimmtes oder alle Fs Gs sind. Dieses Problem lässt sich nur
lösen, wenn man modale Fakten bzw. notwendige Verbindungen in die Ontologie mit
aufnimmt. Im einfachsten Fall betreffen diese Fakten bzw. Verbindungen die Fs und Gs.
10
Es gibt in der gegenwärtigen Debatte grob gesagt drei Hauptstrategien dies zu tun:
(I) Die DTA-Theorie besagt, dass eine Nezessierungsrelation zwischen den Universalien F
und G besteht (Armstrong 1983). (II) Die dispositionalistische Theorie besagt, dass die
dispositionale Natur von Fs darin besteht Gs hervorzubringen (Bird 2007).
11
(III) Und
10
In einem komplizierten Fall betreffen die notwendigen Verbindungen andere Eigenschaften H und I, aber
diese Verbindung begründet (im Sinne von engl. "Grounding"), dass alle oder alle beobachteten Fs auch Gs
sind. Siehe dazu ausführlich Abschnitt 4.2.1. in dieser Arbeit.
11
Ich gehe hier davon aus, dass die Disposition F keine äußeren Manifestationsbedingungen hat (Esfeld 2011).
17
die fundamentalistische Theorie sagt schließlich aus, dass es ein primitives Naturgesetz
ist, dass alle Fs zwingend Gs sind (Carroll 1987, 1994; Maudlin 2009a). In allen drei
Fällen ist es nomologisch notwendig der Fall, dass im gesamten Kosmos alle Fs Gs sind.
4.2. Die Konsequenz
Der Mensch kennt zwar nur einen Ausschnitt aus der Verteilung der Eigenschaften in
Raum und Zeit. Trotzdem entwickelt er aufgrund der Muster in diesem Ausschnitt bereits
Gesetzesannahmen (Maudlin 2009a, S. 67). Diese stützen ihrerseits kontrafaktische
Annahmen in Bezug auf den unbeobachteten Teil des Kosmos. Nun bewegt der Mensch
sich stets sowohl vorwärts in der Zeit und (schon allein aufgrund der Bewegung der
Milchstraße durch den Kosmos) auch durch den Raum. Das heißt, wir befinden uns stets
in Raumzeitbereichen, in denen wir noch nie zuvor waren. Es gehört zu unseren
gewöhnlichsten Erfahrungen, dass unsere Gesetzesannahmen auch in diesen neuen
Raumzeitbereichen zu empirischen Erfolgen führen. Das materiale Induktionsproblem
impliziert aber Folgendes: Es kann im Humeanismus nichts geben, das es erzwingt, o.ä.,
dass die Verteilung der Eigenschaften in diesen neuen Raumzeitbereichen den
Voraussagen über die Verteilung dieser Eigenschaften aus unseren Gesetzen entspricht.
Anders gesagt ist es eine Konsequenz aus dem materialen Induktionsproblem, dass der
Humeanismus den empirischen Erfolg unserer alltäglichen und wissenschaftlichen
Gesetzesannahmen prinzipiell nicht erklären kann (Ladyman et al. 2007, S. 72, 79).
Diese Konsequenz kann für das Fortschreiten in der Zeit wie folgt präziser
herausgearbeitet werden. Denken wir uns an einen von Lewis´ Raumzeitpunkten, an
denen ein fundamentales Eigenschaftsvorkommnis (Ereignis) auftritt. Dann kann man im
Rahmen der Relativitätstheorie für diesen Punkt P einen Lichtkegel definieren. Im
Vergangenheitslichtkegel von P liegen alle und nur die Ereignisse, die in der relativen
Vergangenheit von P liegen. Und in dem Zukunftslichtkegel von P liegen alle und nur die
Ereignisse, die in der relativen Zukunft von P liegen. Nehmen wir nun an, wir können in
den Vergangenheitslichtkegel von P schauen und beobachten eine stabile Regularität der
Form ∀x(Fx→Gx). Aufgrund dessen entwickeln wir ein Gesetz der Form L(∀x(Fx→Gx)).
18
Das materiale Induktionsproblem stellt sich in diesem Fall in Folgendem: Es kann im
Humeanismus nichts geben, das es erzwingt, wahrscheinlicher macht, o.ä., dass die
Regularität ∀x(Fx→Gx), die im Vergangenheitslichtkegel von P auftritt, auch im
Zukunftslichtkegel von P auftreten wird. Im Besonderen sind die Eigenschaften im
Vergangenheitslichtkegel von P kategorial und haben keinerlei kausale Kraft, um die
Eigenschaften im Zukunftslichtkegel von P hervorzubringen. Und die humeschen Gesetze
fassen die Entwicklungen im Kosmos nur zusammen anstatt diese zu steuern o.ä.
Trotzdem kann man aus dem Gesetz L(∀x(Fx→Gx)) u.a. diese kontrafaktische
Annahme über die Verteilung der Eigenschaften im Zukunftslichtkegel von P ableiten:
➢ (KA) Wenn wir in den Zukunftslichtkegel von P reisen und dort ein x, das ein F
ist, beobachten würden, dann wäre dieses x auch ein G.
Wenn wir also gedanklich bei P stehen, dann können wir mit Hilfe des Gesetzes
L(∀x(Fx→Gx)) vorhersagen, dass wenn wir in den Zukunftslichtkegel von P reisen, das
nächste x, das wir beobachten und das ein F ist, auch ein G sein wird. Es gibt aber
gemäß dem materialen Induktionsproblem im Humeanismus nichts, das es
erzwingt, wahrscheinlicher macht o.ä., dass diese Prognose sich bewahrheitet. Denn die
Entwicklung der Verteilung der Eigenschaften im Zukunftslichtkegel von P ist völlig
kontingent. Es kann also zwar sein, dass wir in den Zukunftslichtkegel von P reisen und
das nächste x, das wir sehen und das ein P ist, auch ein G ist. Dann stimmt unsere
Prognose mit dem Weltverlauf überein.
12
Aber diese Übereinstimmung ist im Humean-
ismus eine "kosmologische Koinzidenz" im Sinne eines unerklärbaren Phänomens.
Das materiale Induktionsproblem stellt sich im Humeanismus für alle Raumzeitpunkte-
12
Ich vertrete und setze auch hier eine alethische Wahrheitstheorie voraus.
19
bzw. bereiche.
13
Der Grund ist die humesche These. Das heißt, dass der Humeanismus
den Erfolg unserer Gesetzesannahmen generell nicht erklären kann. Das macht ihn in
meinen Augen zu einer enorm unattraktiven metaphysischen Doktrin.
Das möchte ich anhand eines konkreten Beispiels deutlich machen.
14
Die auffälligste
Regularität in der Welt ist wohl die anziehende Bewegung von Massekörpern. Aufgrund
dieser Regularität habe ich im Alltag so etwas wie eine einfache Gravitationstheorie
entwickelt. Diese Theorie habe ich nie für mich gedanklich expliziert oder auf einem
Papier niedergeschrieben. Aber ohne diese könnte ich mich im Alltag nicht zurechtfinden.
Gestern zum Beispiel wollte ich einen Ball von meinem 2,50 m hohen Schrank holen.
Ohne darüber nachzudenken, wusste ich, dass wenn ich am Schrank rütteln würde,
sodass der Ball über die Kante rollt, der Ball nach unten und nicht etwa nach oben fallen
würde. Am Zeitpunkt t1 habe ich dann am Schrank gerüttelt und der Ball ist tatsächlich
nach unten gefallen. Und heute Mittag wollte ich laufen. Ohne einen Gedanken darauf zu
verwenden, wusste ich, dass wenn ich mich stark mit dem linken Bein vom Boden
abdrücken würde, ich bald danach wieder zum Boden fallen und nicht etwa in die
Stratosphäre fliegen würde. Zu t2 habe ich dann den ersten Schritt gemacht und bin bald
wieder auf dem Boden gelandet. Wie kann der Humeaner diese Erfolge erklären?
Die grobkörnige Antwort lautet: Gar nicht. Es gab zum Zeitpunkt t1 keinen Grund zu
der Annahme, dass der Ball tatsächlich nach unten fallen würde. Es ist nach dem
Humeanismus ein Wunder, dass ich mithilfe einer Gesetzesannahme, die ich aufgrund
vergangener Beobachtungen entwickelt habe, die Welt um mich herum so manipulieren
konnte, dass der Ball herunterfällt. Und es gab zum Zeitpunkt t2 auch keinen Grund zu
der Annahme, dass ich nach meinem beherzten Schritt bald wieder auf dem Boden
landen würde. Der Humeanismus macht daher aus Alltagserfolgen wie dem erfolgreichen
Runterrütteln oder Laufen Wunder im Sinne von absolut unerklärlichen Phänomenen.
Das ist aber nur die halbe Geschichte. Denn mein Körper und der Ball bestehen ja aus
Aberquadrillionen von Atomen!
15
Atome werden wiederum durch Elementarteilchen
konstituiert. All dies superveniert nach Lewis auf die fundamentalen Eigenschaften. Diese
Eigenschaften sind kategorial und intrinsisch. Sie treten also sowohl kausal als auch
13
Je nachdem, ob man die Formulierung des materialen Induktionsproblems in Bezug auf Raumzeitbereiche
(Abschnitt 3.1.) oder Raumzeitpunkte (Abschnitt 3.2.) bevorzugt.
14
Siehe auch das Gravitationsbeispiel von Foster (1982, S. 89; 2004, S. 17); das Fermionen-Beispiel von
Filomeno (2014, Kapitel 2; 2021, S. 5206); das Elektronen-Beispiel von Swartz (2018, Abschnitt 7); das EPR-
Beispiel von Esfeld et al. (2017, S. 153f); das Murmel-Beispiel von Carroll (2008, S. 77), das Kaffeemaschinen-
Beispiel von Hüttemann (2013, S. 31) sowie die berühmte Bildschirm-Analogie von Strawson (2014, S. 25 - 26).
15
Das ist noch viel zu niedrig angesetzt. Nach der Chemikern Suzanne Bell besteht der menschliche Körper aus
etwa einer Okzillon (1048) Atomen. Das sind 24 Zehnerpotenzen mehr als eine Quaddrillion! (Kaplan 2016).
20
ontologisch unabhängig voneinander an den Raumzeitpunkten auf.
16
Die feinkörnige
Antwort lautet daher: Es ist im Humeanismus ein Wunder, dass zu den Zeitpunkten t1
und t2 die fundamentalen Eigenschaften gerade so angeordnet waren, dass sie meinen
Ball respektive meinen Körper konstituiert haben. Und es ist ein noch größeres Wunder,
dass diese Aberquadrillonen von fundamentalen Eigenschaften sich danach in Raum und
Zeit gerade so arrangiert haben, dass sie meine Alltagsprognosen wahr gemacht haben.
Und das waren nur zwei einzelne Alltagsbeispiele! Empirische Erfolge aufgrund von
Gesetzesannahmen stellen sich in unzähligen alltäglichen und wissenschaftlichen
Kontexten ein. Es ist eine direkte Konsequenz aus dem materialen Induktionsproblem,
dass der Humeanismus die Gesamtheit dieser Erfolge als ein einziges globales Wunder
oder eine einzige "kosmologische Koinzidenz" hinnehmen muss. In meinen Augen ist
diese Konsequenz absurd. Hierauf baut dann mein eigenes Argument auf.
16
Siehe zum Begriff der ontologischen Abhängigkeit Simons (1987, Ab. 9.3.); Fine (1995); Tahko&Lowe (2020).
21
5. Das Super-Wunderargument
Mein Argument besteht im Kern in einer Inferenz vom empirischen Erfolg unserer
alltäglichen und wissenschaftlichen Theorien auf die Wahrheit des Anti-Humeanismus:
SWA: Der empirische Erfolg der alltäglichen und wissenschaftlichen Theorien Tn
→ die Wahrheit des Anti-Humeanismus.
Ich nenne dieses Argument das Super-Wunderargument für den Anti-Humeanismus
(kurz: SWA). Mehr dazu später. Die bisherige Hinführung zu diesem Argument legt es
nahe, das Argument in die Form eines Schlusses auf die beste Erklärung zu bringen:
P1a. Die Wahrheit des Anti-Humeanismus ist die einzige Erklärung für den
empirischen Erfolg unserer alltäglichen und wissenschaftlichen Theorien.
K1. Also: Der Anti-Humeanismus ist wahr.
Das Super-Wunderargument ist ein Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit. Dabei
kann ein Argument ganz generell immer auf zwei Weisen diskutiert und beurteilt werden:
(1) inhaltlich: Sind alle Prämissen des Argumentes wahr? Das heißt in unserem
Fall: Ist der Anti-Humeanismus tatsächlich die einzige Erklärung für den
empirischen Erfolg unserer alltäglichen und wissenschaftlichen Theorien?
(2) formal: Wenn die Prämissen des Argumentes wahr sind, ist es deshalb
rational, die Konklusion für wahr zu halten? Das heißt in unserem Fall: Wenn der
Anti-Humeanismus die einzige Erklärung für den empirischen Erfolg unserer
Theorien ist, ist es deshalb rational den Anti-Humeanismus für wahr zu halten?
Ich hoffe im vorangegangen Abschnitt 4 gezeigt zu haben, dass beide Fragen für das
SWA bejaht werden sollten. Das heißt, ich hoffe erstens durch das materiale
Induktionsproblem gezeigt zu haben, dass der Anti-Humeanismus die einzige Erklärung
für den Erfolg unserer Theorien ist. Und ich hoffe zweitens anhand des Beispiels der
alltäglichen Gravitationsannahme gezeigt zu haben, dass es deshalb rational ist, den
Anti-Humeanismus für wahr zu halten. In diesem Abschnitt 5 möchte ich mich genauer
mit dem SWA auseinandersetzen. Im Abschnitt 5.1. arbeite ich Vorteile des SWA heraus.
Im Abschnitt 5.2. versuche ich einen Einwand gegen das SWA zu antizipieren und zu
entkräften. Schließlich motiviere ich es in Abschnitt 5.2. auf einer systematischen Weise.
22
5.1. Vorteile des Argumentes
Das Super-Wunderargument (SWA) hat Parallelen zum klassischen Wunderargument
(KWA) für den wissenschaftlichen Realismus. Die 2 Argumente lassen sich so darstellen:
KWA: empirischer Erfolg von Tn → die wortwörtliche Wahrheit von Tn.
SWA: empirischer Erfolg von Tn → die Wahrheit des Anti-Humeanismus.
Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Argumenten ist dieser hier:
Beim klassischen Wunderargument wird vom Erfolg bestimmter Theorien Tn auf die
wortwörtliche Wahrheit eben dieser Theorien Tn geschlossen. Dahingegen ist beim Super-
Wunderargument in der Konklusion gar nicht von den Theorien Tn die Rede. Das ist ein
Vorteil des SWA. Denn die Zuverlässigkeit des Schlusses beim SWA wird nicht von
Fällen untergraben, in denen eine Theorie erfolgreich, aber nicht wahr ist – im Gegenteil!
Hier ist ein Beispiel: Die Newtonsche Gravitationstheorie postuliert, dass Massepunkte
mit einer anziehenden Gravitationskraft aufeinander einwirken. Diese Theorie ist in einem
bestimmten Rahmen auch heute noch sehr erfolgreich. Beispielsweise lassen sich mit ihr
nach wie vor relativ genau die Bewegungen der Planeten um die Sonne vorhersagen.
Nach dem klassischen WA sollten wir daher auf die wortwörtliche Wahrheit der
Newtonschen Gravitationstheorie schließen. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist diese
Theorie jedoch falsch. Solche Beispiele unterminieren die Zuverlässigkeit des Schlusses
im KWA von dem Erfolg bestimmter Theorien auf ihre Wahrheit (siehe auch Heinle 2022).
Das materiale Induktionsproblem zeigt hier Folgendes: Denken wir uns in die Zeit von
Isaac Newton zurück. Es kann im Humeanismus nichts geben, dass es erzwingt, etc.,
dass das Newtonsche Gravitationsgesetz in einem bestimmten Rahmen bis heute
erfolgreich ist. Es gibt beispielsweise nichts, dass es erzwingt, etc., dass sich die Planeten
annähernd so wie von der Newtonschen Gravitationstheorie vorhergesagt um die Sonne
bewegen. Es hätte zu jedem Zeitpunkt auch genauso gut sein können, dass sich plötzlich
alle Planeten um die Erde drehen oder alle Planeten aus ihrer Sonnenumlaufbahn fallen.
Nehmen wir nun an, der Anti-Humeanismus ist wahr. Die gegenwärtige Theorie der
Gravitation ist die Allgemeine Relativitätstheorie. Angenommen, diese ist ebenfalls wahr.
Es ist weithin bekannt, dass die Allgemeine Relativitätstheorie in bestimmten Grenzfällen
annähernd dieselben empirischen Vorhersagen trifft wie die Newtonsche
Gravitationstheorie. Das kann mit Hilfe von intertheoretischen Beziehungen
mathematisch präzise aufgezeigt werden (Bunge 1973, Kapitel 9 und Battermann 2001).
23
Denken wir uns nun erneut in die Zeit von Isaac Newton zurück. Dass der Anti-
Humeanismus und die Allgemeine Relativitätstheorie wahr sein sollen, impliziert, dass
sich die Natur gemäß der Allgemeinen Relativitätstheorie verhalten muss.
17
Damit
verfügen wir über eine perfekt rationale Erklärung dafür, dass die Newtonsche
Gravitationstheorie in bestimmten Grenzfällen erfolgreich ist, obwohl sie falsch ist. Denn
die Natur muss sich so verhalten, wie die Allgemeine Relativitätstheorie es voraussagt
und die Allgemeine Relativitätstheorie prognostiziert in diesen Grenzfällen bekanntlich
annähernd dieselben empirischen Phänomene wie die Newtonsche Gravitationstheorie.
Das klassische Wunderargument geht in seiner heutigen Form auf John J. C. Smart
(1963, S. 39; 1987, S. 133f.) und Hilary Putnam (1975, S. 73; siehe auch sein 1978, S.
18 – 19) zurück. Hilary Putnam hat die berühmte Formulierung geprägt, dass der
wissenschaftliche Realismus "die einzige Philosophie ist, die den Erfolg der Wissenschaft
nicht zu einem Wunder macht" (Putnam 1975, S. 73). Und Smart hat geschrieben, dass
es eine "kosmische Koinzidenz" (Smart 1963, S. 39) sei, wenn eine wissenschaftliche
Theorie erfolgreich, aber nicht wahr ist. Das stimmt so nicht. Wie das vorherige
Beispiel zeigt, kann der empirische Erfolg einer Theorie meist durch die Wahrheit ihrer
Nachfolgetheorie plus des Anti-Humeanismus erklärt werden. Bspw. kann der Erfolg der
Newtonschen Mechanik einfach durch den Anti-Humeanismus plus die Allgemeine
Relativitätstheorie erklärt werden. Die Erfolge dieser Theorien sind keine "kosmische
Koinzidenz" und kein "Wunder". Mehr noch: Das KWA wird wie das SWA auch oft in die
Form eines Schlusses auf die beste Erklärung gebracht (Heinle 2021). Aber die
Wahrheit einer Theorie scheint gar nicht generell die beste Erklärung für ihren Erfolg zu
sein. Oftmals ist die Nachfolgetheorie eine bessere Erklärung für den Erfolg der
entsprechenden Vorgängertheorie. Denn diese erklärt auch, warum die Vorgängertheorie
nur in bestimmten Bereichen erfolgreich ist, wieso sie nur annähernd erfolgreich ist, etc.
Das Super-Wunderargument hat dahingegen all diese Probleme nicht: Der Schluss im
SWA wird durch falsche, erfolgreiche Theorien nicht nur nicht geschwächt, sondern sogar
bestärkt. Denn auch der Erfolg dieser Theorien lässt sich nur durch den Anti-
Humeanismus erklären. Der Schluss im SWA ist entsprechend nicht nur ein Schluss auf
die beste Erklärung, sondern sogar auf die einzige Erklärung. Das heißt: Wenn der Anti-
Humeanismus falsch ist, dann ist der Erfolg unserer wissenschaftlichen und alltäglichen
Theorien tatsächlich ein Wunder bzw. eine kosmische Koinzidenz. Der Grund für all das
ist das materiale Induktionsproblem. Der Name "Super-Wunderargument" soll dann
17
siehe beispielhaft für eine anti-humesche, dispositionalistische Sicht auf die Allgemeine Relativitätstheorie
Dorato 2000, Lam 2005, Bird 2009, Esfeld 2010b, Bartels 2011 und 2013.
24
zum Ausdruck bringen, dass das SWA "super" oder "superior" ist in dem Sinne, dass es
dem klassischen Wunderargument in den genannten Weisen überlegen ist.
25
5.2. Einwände gegen das Argument
Der Eternalismus-Einwand gegen das SWA besagt, dass dieses nur den Open-Future-
Humeanismus betrifft (siehe sinngemäß Hüttemann 2013, S. 38). Im Folgenden möchte
ich erst einmal versuchen diesen Einwand nachzuvollziehen. Der Open-Future-
Humeanismus sagt aus, dass die zukünftige Naturentwicklung noch nicht feststeht. A
Fortiori stehen auch die Regularitäten in dieser Entwicklung, die wahren humeschen
Gesetze und die Wahrheitswerte der kontrafaktischen Konditionalannahmen noch nicht
fest. Die Grundidee beim Eternalismus-Einwand lautet, dass dies der Grund ist, weshalb
der Humeanismus den empirischen Erfolg unserer Gesetzesannahmen nicht erklären
kann. Wenn dies zutreffen sollte, dann muss der Humeaner sich nur auf einen Closed-
Future-Humeanismus festlegen und dann kann er das Explanandum im SWA erklären.
Gehen wir diesen Grundgedanken Schritt-für-Schritt durch. Der Mensch nimmt
(individuell oder kollektiv) eine Regularität der Form ∀x(Fx→Gx) wahr und stellt darauf
aufbauend ein Gesetz der Form L(∀x(Fx→Gx)) auf. Dieses Gesetz stützt die
kontrafaktische Annahme Fx ⎕→ Gx in Bezug auf alle Objekte im (individuell oder
kollektiv) unbeobachteten Abschnitt der kosmischen Evolution. Dem Closed-Future-
Humeanismus zufolge steht dieser unbeobachtete Abschnitt der kosmischen Entwicklung
bereits fest. Der oben beschriebene Einwand geht aber noch einen Schritt weiter. Er
besagt, dass diese Entwicklung die Annahmen unserer verfügbaren Gesetze wahr macht.
Nach David Lewis´ Semantik ist die Annahme Fa ⎕→ Ga wahr in unserer aktualen Welt
w, gdw. es mindestens eine Fa ∧ Ga-Welt w* gibt, die w ähnlicher ist als alle Fa ∧ ¬Ga-
Welten w´. Das heißt, wenn es eine mögliche Welt gibt, in denen a F und G ist und wenn
diese Welt der aktualen ähnlicher ist als alle Welten, in denen a F, aber nicht G ist.
Der entscheidende Punkt ist dieser: Es mag sein, dass die zukünftige Entwicklung der
Natur bereits feststeht. Es mag sogar sein, dass diese Entwicklung derart ist, dass diese
die Prognosen unserer verfügbaren Gesetze wahr macht. Aber dass diese Entwicklung
derart ist, wird beim Eternalismus-Einwand nur ad-hoc vorausgesetzt anstatt erklärt.
Es lohnt sich hier zwei Explananda auseinanderzuhalten:
Explanandum1: Wie kann ein Gesetz seine Instanz erklären, wenn es auftritt?
Explanandum2: Wie kann überhaupt erklärt werden, dass die Prognosen aus
unseren verfügbaren Gesetzen so zuverlässig mit dem tatsächlichen Naturverlauf
übereinstimmen?
26
Das Explanandum1 hat in der Fachdiskussion bereits viel Aufmerksamkeit erfahren
(siehe etwa Jaag 2015). Die Behauptung der Humeaner ist, dass Gesetze ihre Instanzen
vereinheitlichend erklären, wenn diese auftreten. Das Erklärbarkeits-Problem stellt sich
darin, dass diese Erklärung bei wahren Gesetzen einen zirkulären Charakter hat.
Mir ist es wichtig zu betonen, dass das Explanandum1 nicht das Explanandum im SWA ist.
Das Explanandum im SWA ist das Explanandum2. Das heißt, die Übereinstimmung
zwischen theoretischer Prognose und tatsächlichem Naturverlauf. Diese Übereinstimmung
wird beim Eternalismus-Einwand nur vorausgesetzt und nicht erklärt. Mehr noch: Die
Prämisse des SWA lautet, dass sie im Humeanismus gar nicht erklärt werden kann.
Übertragen auf unser Beispiel kann man dies so illustrieren: Das Gesetz L(∀x(Fx→Gx))
wird aufgrund der Regularität ∀x(Fx→Gx) im beobachteten Abschnitt der kosmologischen
Evolution aufgestellt. Es stützt Annahmen in Bezug auf den unbeobachteten Abschnitt der
kosmologischen Evolution. Wenn wir also ein neues x beobachten, dass ein F und auch
ein G ist, dann kann der Humeaner dieses sub-nomische Faktum durch das Gesetz
L(∀x(Fx→Gx)) vereinheitlichend erklären. Dass dieses x ein F und auch ein G ist, kann er
dadurch aber nicht erklären. Denn das Gesetz L(∀x(Fx→Gx)) ist nur eine elitäre
Zusammenfassung der Regularitäten im bislang beobachteten Ausschnitt der
kosmologischen Evolution. Weder etwas in diesem Ausschnitt noch sonst irgendetwas
legen im Humeanismus etwas in Bezug darauf fest, was in Bezug auf die unbeobachtete
kosmische Evolution gilt, insofern diese Evolution völlig kontingent und primitiv ist.
Fassen wir zusammen: Der Eternalismus-Einwand verfehlt die eigentliche Prämisse
im SWA. Die Prämisse des SWA lautet, dass der Anti-Humeanismus die einzige Erklärung
für den empirischen Erfolg unserer Gesetze ist. Diese Annahme wird durch den
Eternalismus-Einwand nicht in Frage gestellt. Es wird kein alternatives Explanans
vorgeschlagen. Stattdessen wird einfach vorausgesetzt, dass der Humeanismus wahr und
unsere Gesetze erfolgreich sind. Das von mir angebrachte Beispiel ist dabei natürlich
stark vereinfacht: Tatsächliche Gesetze werden in der Regel nicht durch einfache
enumerativ-induktive Schlüsse gewonnen, sondern aus einem Komplex von vielen
verschiedenen (oft abduktiven) Schlüssen. Sie stützen auch erfolgreiche Prognosen über
neuartige Phänomene. Die Allgemeine Relativitätstheorie hat beispielsweise die
Existenz des Lichtablenkungseffektes und die der Gravitationswellen erfolgreich
vorausgesagt. Diese Phänomene sind nicht in die Konstruktion der ART mit eingeflossen.
Es handelt sich bei Prognoseerfolgen also nicht einfach nur um ein erfolgreiches
Extrapolieren von bisherigen Phänomentypen auf neue Situationen. Das durch das SWA
aufgeworfene Problem ist daher nicht mit dem Problem identisch, wie der Humeanismus
stabile Regularitäten erklären kann (siehe zu diesem Problem etwa Bhogal 2021a, b).
Auch wenn ich hoffe, dass sich meine Ideen auch auf diese Diskussion übertragen lassen.
27
5.3. Motivation des Argumentes
5.3.1. Allgemeine Motivation
Das Super-Wunderargument wurde bereits im Abschnitt 4 motiviert. Das geschah vor
allem durch das materiale Induktionsproblem und dem Beispiel einer alltäglichen
Gravitationsannahme. Ich möchte in diesem Abschnitt diese Motivation in einen größeren
systematischen Zusammenhang stellen. Das soll auch eine systematische Diskussion
des SWA erleichtern. Fundamentale Gesetze zeichnen sich u.a. durch ihre Universalität
aus. Es gibt vier Sinne oder Lesarten dieser Behauptung (Hüttemann 2009, S. 139ff.):
(1) Naturgesetze gelten unter allen Umständen.
(2) Naturgesetze gelten an allen raumzeitlichen Positionen.
(3) Naturgesetze gelten für alle Systeme.
(4) Naturgesetze gelten für alle determinierten Werte ihrer Variablen.
Siegfried Jaag und Markus Schrenk greifen diese Lesarten auf und schreiben dazu:
„Aber selbst wenn nicht alle Gesetze diese Universalitätskriterien vollständig erfüllen, weisen
zumindest die meisten Gesetze ein sehr hohes Maß an Invarianz auf. Ohne diese Invarianz
würden sie ihren unschätzbaren praktischen Wert verlieren: Änderten sich die Gesetze
beispielsweise von Ort zu Ort oder über die Zeit gravierend […], wären Naturwissenschaften
und Technologie, wie wir sie kennen, wohl kaum möglich, […].“
- Siegfried Jaag und Markus Schrenk (2020). Naturgesetze. DeGruyter: Berlin, S. 18 - 19.
Jaag und Schrenk sprechen hier zwei wichtige Punkte an. Erstens sind gerade unsere
bisher konzipierten Gesetze nicht vollkommen universell gültig. Zweitens scheinen sie
aber in einem bestimmten Rahmen universell gültig zu sein und dieser Punkt hängt eng
mit ihrem empirischen Erfolg zusammen. Wenn wir diese Punkte berücksichtigen, können
wir analog zu den vier Sinnen von "Universalität" vier Sinne von "Erfolg" definieren:
(1*) Gesetze werden auf viele neue Umstände erfolgreich angewendet.
(2*) Gesetze werden auf viele neue Raumzeitpositionen erfolgreich angewendet.
(3*) Gesetze werden auf viele neue Systeme erfolgreich angewendet.
(4*) Gesetze werden auf viele neue Situationen für viele Nachkommastellen der
(determinierten) Werte ihrer Variablen erfolgreich angewendet.
Wir können nun diese Frage stellen: Warum können wir Gesetze überhaupt – im Sinne
von (1*) – (4*) - erfolgreich auf neue Kontexte extrapolieren respektive anwenden?
18
Wenn man ein wenig darüber nachdenkt, kann man erkennen, dass das materiale Induk-
18
Andreas Hüttemann (2021a, Abschnitt 2.3.; 2021b, Abschnitt 2.1.) nennt dieses Problem in Bezug auf den
Sinn (1*) das Problem der Extrapolation. Vergleiche auch Steel (2008, S. 3). Er argumentiert, dass ein anti-
humescher Dispositionalismus hinreichend, aber nicht unbedingt notwendig zur Lösung dieses Problems ist.
Meine These in dieser Arbeit lautet, dass der Anti-Humeanismus hierfür notwendig, aber nicht hinreichend ist.
28
tionsproblem für jeden der Sinne zeigt, wie der Humeanismus Erfolg in diesem Sinne
nicht erklären kann. Dies soll eine feingliedrigere Diskussion des SWA ermöglichen.
29
5.3.2. Spezifische Motivation
Ich möchte in diesem Abschnitt auf einen spezifischen Aspekt des Erfolges unserer
Theorien hinweisen. Dieser steckt implizit schon in der Lesart (4*) versteckt. Das ist aber
wenig offensichtlich. Außerdem erscheint mir dieser Aspekt zentral, wird aber kaum in
der Literatur behandelt (siehe für Ausnahmen Hüttemann 2013 und Schrenk 2014).
Betrachten wie die folgenden beiden Aussagen:
(A) Für alle x: Wenn x ein Klumpen angereichertes Uran (235U) ist, dann hat x
eine Masse, die kleiner ist als 100 Kilogramm.
(B) Für alle x: Wenn x ein Klumpen Gold (AU) ist, dann hat x eine Masse, die
kleiner ist als 100 Kilogramm.
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen den Aussagen (A) und (B): Die Aussage
(A) ist nomologisch notwendig wahr. Denn die kritische Masse von 235U liegt bei 50
Kilogramm. Das heißt die freien Elektronen in 235U würden schon bei einem Klumpen von
50 Kilogramm eine Kettenreaktion von Zerfallsprozessen auslösen, die den Klumpen
explodieren lassen würden. Die Aussage (B) dahingegen ist, wenn überhaupt, bloß
kontingent wahr. Denn es gibt absolut nichts, dass es zwingend macht, dass es keinen
Klumpen Gold mit einer Masse von 100 Kilogramm oder mehr geben kann. Sie beschreibt
höchstens eine akzidentielle Regularität und damit kein wirkliches Naturgesetz.
Eine Gesetztheorie sollte diesen Unterschied einfangen können. Diese Herausforderung
geht auf Hans Reichenbach (1947, S. 368) zurück. Sie ist in der Literatur deshalb auch
als das "Reichenbach-Problem" bekannt. Die humesche Gesetzestheorie von David
Lewis kann das Reichenbach-Problem lösen. Denn die Aussage (A) ist eine deduktive
Konsequenz eines idealen Systems (insofern die Gesetze der Quantenphysik zu diesem
System gehören). Da alle deduktiven Konsequenzen aus einem idealen System ebenfalls
nomologisch notwendig wahr sind (Lewis 1973a, S. 5; siehe auch van Fraassen 1989, S.
44f.), ist die Aussage (A) nomologisch notwendig wahr. Die Aussage (B) ist dahingegen
keine Konsequenz aus einem idealen System und deshalb auch nicht notwendig wahr.
Nun möchte ich allerdings zwei neue Begriffe einführen: "widerspenstig" und "stur".
Die Natur verhält sich gegenüber vielen Sachverhalten widerspenstig oder stur. Was
meine ich damit? Wenn ich davon spreche, dass die Natur widerspenstig ist gegenüber
einem Sachverhalt S, dann meine ich damit, dass auch wenn man jetzt unter idealen
Bedingungen versucht S herbeizuführen, dies nicht gelingt. Und wenn ich schreibe, dass
die Natur stur ist gegenüber einem Sachverhalt S, dann verstehe ich darunter, dass auch
wenn man jetzt unter idealen Bedingungen versucht S zu verhindern, dies nicht gelingt.
30
Unsere wissenschaftlichen und alltäglichen Theorien sagen uns sehr zuverlässig voraus,
dass sich die Natur gegenüber einigen Sachverhalten widerspenstig oder stur verhalten
wird (Hüttemann 2013). Etwa sagt uns das Gasgesetz zuverlässig voraus, dass wir nicht
die Temperatur eines Gases verdoppeln und sein Volumen und Druck gleichhalten
können. Und die Relativitätstheorie sagt uns, dass wir kein massereiches Teilchen auf
Überlichtgeschwindigkeit beschleunigen können. Selbst wenn wir noch so viel Geld in
einen Teilchenbeschleuniger stecken, wird uns das nicht gelingen. Die Natur wird sich gg.
Versuchen, einen solchen Sachverhalt herbeizuführen, widerspenstig verhalten.
Betrachten wir also wieder die beiden Aussagen:
(A) Für alle x: Wenn x ein Klumpen angereichertes Uran (235U) ist, dann hat x
eine Masse, die kleiner ist als 100 Kilogramm.
(B) Für alle x: Wenn x ein Klumpen Gold (AU) ist, dann hat x eine Masse, die
kleiner ist als 100 Kilogramm.
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen diesen Aussagen
(Hüttemann 2013): Die Aussage (A) beschreibt einen Sachverhalt, gg. dem die Natur
stur ist. Es ist nicht nur so, dass es keinen Klumpen Uran (235U) gibt. Selbst wenn ich
versuchen würde einen solchen Klumpen unter idealen Umständen zu formen, würde mir
das nicht gelingen. Die Aussage (B) dahingegen beschreibt keinen Sachverhalt, gg. dem
die Natur stur ist. Wenn mir jetzt jemand genügend Gold, Werkzeuge, kompetente
Mitarbeiter etc. zur Verfügung stellt und ich versuche, einen Klumpen Gold von 100
Kilogramm zu formen, wird mir das gelingen. Ich kann (B) prinzipiell falsch machen.
Ein metaphysisches Programm sollte diesen Unterschied verständlich machen können.
Der Humeanismus kann das prinzipiell nicht. Der Grund dafür ist mal wieder das
materiale Induktionsproblem. Denn es gibt im Humeanismus prinzipiell nichts, dass es
erzwingt, festlegt, etc., dass sich die Natur gegenüber manchen Sachverhalten
widerspenstig oder stur verhalten wird. Beispielsweise gibt es nichts, das es erzwingt,
festlegt, etc., dass ich keinen Klumpen Uran (235U) über 100 Kilogramm formen kann.
Das ist ein riesen Problem für den Humeanismus. Denn es gehört zu unseren alltäglich-
sten und beständigsten Erfahrungen, dass sich die Natur widerspenstig und stur verhält.
Die Humeaner Helen Beebee und Alfred Mele erkennen dieses Problem an und schreiben:
„Fred kann morgen Kuchen zum Frühstück essen, sofern dies mit seiner Weltvergangenheit
(und den Gesetzen der Logik) vereinbar ist. Aber er ist auch in der Lage, in exakt dem
gleichen Sinne, seinen Arm schneller als Licht zu bewegen und mit einem Sprung über das
Rathaus von Manchester zu springen. Dies ist eine berechtigte Sorge, denn dies ist tatsächlich
31
eine Konsequenz aus der Humeschen Sichtweise.“
- Helen Beebee und Alfred Mele (2002). Humean Compatibilism. Mind 111(442), S. 212
(eigene Übersetzung).
Damit haben wir ein neues Problem motiviert. Dafür sind wir auf eine Dimension des
empirischen Erfolges eingegangen, der in der Literatur kaum behandelt wird. Dann haben
wir gezeigt, wie das materiale Induktionsproblem dazu führt, dass der Humeanismus
diese Dimension des Erfolges nicht erklären kann. Anders ausgedrückt kann dieser nicht
den oben beschriebenen, wichtigen Unterschied zwischen Aussagen wie der Aussage (A)
und Aussagen wie der Aussage (B) einfangen. Dieses Problem haben wir parallel zum
Reichenbach-Problem formuliert. Daher mag man es im Kontrast zu diesem "alten
Reichenbach-Problem" auch als das "neue Reichenbach-Problem" bezeichnen. Mir ist
es aber wichtig zu betonen, dass auch dieses Problem sich wieder vollständig auf das
materiale Induktionsproblem zurückführen bzw. sich aus diesem ableiten lässt.
Es liegt denke ich nahe das neue Reichenbach-Problem analog zum alten lösen zu wollen.
Das heißt man übersetzt "stur" mit "nomologisch notwendig" und "widerspenstig" mit
"nomologisch unmöglich". Dann geht man wie gehabt vor: Die Aussage (A) beschreibt
einen nomologisch notwendigen Sachverhalt, weil sie eine direkte Konsequenz des
idealen Systems ist. Die Aussage (B) dahingegen beschreibt keinen nomologischen
notwendigen Sachverhalt, weil sie keine direkte Konsequenz eines solchen Systems ist.
Diese Übersetzung verfehlt aber, wie ich die Begriffe "stur" und "widerspenstig" zuvor
definiert habe. Der humesche Begriff der "nomologischen Unmöglichkeit" und mein
Widerspenstigkeitsbegriff sind nicht intensionsgleich. Der Satz "die Natur ist
widerspenstig gegenüber S" drückt aus, dass man S jetzt selbst unter idealen
Bedingungen nicht herbeiführen kann. Beispielsweise kann ich jetzt auch unter idealen
Bedingungen kein Perpetuum mobile herstellen. Dieser Umstand kann nicht angemessen
in das humesche Vokabular übersetzt werden. Der Humeaner kann zwar sagen "S ist
nomologisch unmöglich". Bspw. kann er sagen, dass es nomologisch unmöglich ist, dass
es ein Perpetuum mobile gibt. Aber damit behauptet er nur, dass es am Ende der
kosmischen Entwicklung kein Perpetuum mobile gegeben haben wird und die Gesetze der
Thermodynamik einige epistemische Kriterien erfüllen. Der Punkt ist aber dieser: Diese
Entwicklung ist kontingent und determiniert die Gesetze statt umgekehrt! Das heißt, es
gibt im Humeanismus nichts, was dagegenspricht, dass ich jetzt ein Perpetuum mobile
baue und damit die Gesetze der Thermodynamik falsch mache respektive breche.
19
19
Siehe u.a. Beebee und Mele 2002; Swartz 2003 S. 126; Perry 2004, S. 237 – 239; Backmann 2013; Ismael
2016, S. 111; Esfeld et al. 2017, S. 152. Andreas Hüttemann und Christian Loew (2019, 2022; Hüttemann 2022)
nennen dieses Problem auch passend das Problem der radikalen Freiheit.
32
Damit kann der Humeanismus auch nicht verständlich machen, weshalb die Gesetze der
Thermodynamik so erfolgreich sind. Er kann nicht verständlich machen, weshalb uns
diese erfolgreich anweisen, dass es wenig empfehlenswert ist, Geld in eine Firma zu
investieren, die verspricht, ein Perpetuum mobile zu entwickeln. In demselben Sinne
kann er auch nicht plausibel machen, weshalb wir es für inkohärent halten sollten, wenn
jemand einen Ingenieur anweist, ein Raumschiff zu konstruieren, das mit Überlicht-
geschwindigkeit fliegen kann (das letzte Beispiel stammt aus van Inwagen 1983, S. 62).
Die hier gemachten Punkte sind mir wichtig. Ich möchte sie daher noch an dem Beispiel
von Hüttemann (2013) zusammenfassen: Die Natur verhält sich gegenüber
bestimmten Sachverhalten widerspenstig oder stur. Wenn ein Gas beispielsweise einen
bestimmten Wert von Druck (p) und von Volumen (V) hat, dann ist es stur gegenüber
dem Sachverhalt, dass es auch einen bestimmten Temperaturwert (T) hat. Gegeben
einen bestimmten Wert von Druck (p) und von Volumen (V), kann ich folglich auch unter
idealen Bedingungen nicht verhindern, dass es diesen bestimmten Temperaturwert
haben wird. Umgekehrt gilt auch, dass wenn ein Gas einen bestimmten Wert von Druck
(p) und Volumen (V) hat, dann ist die Natur widerspenstig gegenüber dem Sachverhalt,
dass das Gas einen beliebigen anderen Temperaturwert besitzt. Gegeben einen
bestimmten Wert von Druck (p) und von Volumen (V), kann ich auch unter idealen
Bedingungen nicht herbeiführen, dass das Gas einen der anderen Temperaturwerte
haben wird. Der Humeanismus kann dieses allgegenwärtige Phänomen im Rahmen seines
Programms nicht rekonstruieren. Denn es gibt gegeben bestimmte Werte für Druck (p)
und Volumen (V) im Humeanismus nichts, dass es festlegt, etc. dass ein Gas nur einen
gewissen Temperaturwert haben oder alle anderen Temperaturwerte nicht haben kann.
Nehmen wir also an, dass der Temperaturwert eines Gases konstant ist. Und nehmen wir
an, dass wir seinen Druck in Abhängigkeit von seinem Volumen messen. Dann haben alle
n bisherigen Messreihen in etwa eine lineare Abhängigkeit zwischen diesen Messgrößen
ergeben. Das materiale Induktionsproblem lehrt uns aber, dass es im Humeanismus
nichts geben kann, dass es erzwingt, dass wir bei der n+1.ten Messung für ein bestimm-
tes Volumen und bei konstanter Temperatur plötzlich jeden anderen Druckwert messen:
33
Das Boyle-Mariott-Gesetz verbietet die n+1.te Messreihe natürlich. Wenn ein Gas einen
bestimmten Wert von Druck (p) und Volumen (V) hat, dann lässt dieses Gesetz nur einen
bestimmten Temperaturwert zu. Deshalb hat Karl Popper Gesetze auch als "Verbote"
konzipiert (Popper 1934, §15). Der Erfolg dieser Verbote ist im Humeanismus aber ein
Wunder. Es ist im Humeanismus ein Wunder, dass alle n bisherigen Messungen Boyle-
Mariott-Gesetz annähernd bestätigen. Und es ist im Humeanismus ein Wunder, wenn die
nächste Messung das Gesetz bestätigt (und nicht etwa wie oben dargestellt verläuft).
Dies alles zeigt die Unzulänglichkeit von humeschen nomischen Erklärungen auf.
Angenommen das Boyle-Mariott-Gesetz ist ein wahres Naturgesetz. Und angenommen
der Humeanismus ist ebenfalls wahr. Dann ist das Boyle-Mariott-Gesetz eine wahre
Zusammenfassung des regulären Verhaltens insbesondere von Gasen, die zusätzlich
einige epistemische Kriterien erfüllt. Wenn man nun das Verhalten eines bestimmten
Gases durch das Boyle-Mariott-Gesetz erklären möchte, erklärt man dieses Verhalten
u.a. durch sich selbst. Humesche nomische Erklären sind aus diesem Grund zirkulär.
Aber das Problem geht noch tiefer. Wir können für einen Moment ignorieren, wie
humesche Gesetze zustandekommen. Dann besteht die oben skizzierte Erklärung darin,
dass eine bestimmte Regularität unter einer allgemeinen Regularität subsumiert wird.
Das fördert aber erstens kaum unser Verständnis der ursprünglichen Regularität. Und
zweitens ist die allgemeine Regularität natürlich noch viel erklärungsbedürftiger als das
ursprüngliche Explanandum (Vergleiche bis hierher mit dem Abschnitt 3 in dieser Arbeit).
Das ist aber nicht der Punkt hinter dem materialen Induktionsproblem. Der Punkt
hinter dem materialen Induktionsproblem ist es nicht einfach, dass Erklärbarkeits-
Problem zu wiederholen. Das Erklärbarkeits-Problem besteht darin, das humesche
Gesetze ihre positiven Instanzen nicht erklären können. Das materiale Induktionsproblem
lehrt uns, dass es im Humeanismus gar keine tiefere Erklärung für die positiven
Instanzen bzw. den Erfolg von Gesetzen geben kann. Dies ist eine direkte (d.h. logisch-
begriffliche) Folge aus dem materialen Induktionsproblem und dieses ist wiederum eine
direkte (d.h. logisch-begriffliche) Folge aus der Humeschen Doktrin. Dabei scheinen mir
die gewählten Definitionen dieser Begriffe (intensionalen und extensional) angemessen.
Das macht dann die Stärke des Super-Wunderargumentes aus: Erstens ist die
Prämisse analytisch wahr. Dass der Humeanismus den Erfolg unserer Theorien nicht tief
erklären kann, folgt analytisch aus der Definition dieser Begriffe. Es ist also mehr als
rational die Prämisse des SWA für wahr zu halten. Zweitens ist es daher rational die
Konklusion des SWA für wahr zu halten. Dafür – für die Gültigkeit des SWA – habe ich in
dieser Arbeit – v.a. in den Abschnitten 4.2. und 5.2.2. – versucht zu argumentieren.
34
6. Schlusswort
Das Schlusswort einer Arbeit ist ein Platz, um ein paar eigene Gedanken anzubringen, die
über das enge Thema der Arbeit hinausgehen. Das möchte ich hier machen. Der
Philosoph Tim Maudlin weist auf einen interessanten Umstand hin:
„[Wissenschaftler] suchen Gesetze, verkünden Gesetze und analysieren Gesetze. Aber sie
versuchen nicht einmal, sie im Hinblick auf den gesamten physikalischen Status des
Universums oder irgendetwas anderes zu analysieren.“
- Tim Maudlin (2009a). The Metaphysics within Physics. Oxford: Oxford University Press, S.
67. (eigene Übersetzung).
Das ist ein interessanter Punkt! Humeaner analysieren Gesetzesaussagen im Hinblick
auf die gesamte kosmologische Evolution. Sie betonen dabei oft, dass ihre Analyse
Gesetze wieder näher an die wissenschaftliche Praxis rückt (siehe etwa Smithson 2020).
Maudlin weist in dem Zitat oben aber darauf hin, dass Wissenschaftler in der Praxis gar
nicht erst versuchen, Gesetzesaussagen im Hinblick auf die gesamte kosmologische
Evolution zu analysieren. Die Humeaner Michael Esfeld und Dirk André Deckert scheinen
darin sogar einen Vorteil für ihre Position zu sehen: Wissenschaftler beobachten nur
einen Ausschnitt aus der gesamten kosmologischen Evolution und stellen darauf
aufbauend Gesetzesaussagen auf. Diese sind die "besten Vermutungen" (Esfeld und
Deckert 2017, S. 44), welche mit neuer empirischer Evidenz widerlegt werden können.
Der Humeanismus scheint somit einen begrüßenswerten Fallibilismus nahezulegen.
Ich habe in dieser Arbeit jedoch Folgendes gezeigt: Der Mensch beobachtet (individuell
oder kollektiv) immer nur einen Ausschnitt aus der gesamten kosmologischen Evolution.
Es kann im Humeanismus nichts geben, dass es erzwingt, wahrscheinlicher macht, o.ä.,
dass die Verteilung der Eigenschaften außerhalb dieses Ausschnittes der innerhalb dieses
Ausschnittes ähnlich sein wird (Abschnitt 4.1.). Dieses materiale Induktionsproblem hat
min. zwei unerfreuliche Konsequenzen für den Humeanismus: Erstens bestärkt es
das Erkennbarkeits-Problem. Das Erkennbarkeits-Problem besteht darin, dass wir
Menschen nicht die gesamte kosmologische Evolution und also auch nicht die darüber
supervenierenden, wahren humeschen Gesetze erkennen können (Abschnitt 2). Eine
natürliche Reaktion hierauf ist es anzunehmen, dass die Regularitäten in der gesamten
Evolution der in der beobachteten Evolution ähnlich sein werden. Das heißt, dass man
sich über die beobachtete Evolution die gesamte Evolution und darüber dann die wahren
humeschen Gesetze erschließen kann. Das Problem ist, dass es im Humeanismus nichts
geben kann, dass diese Annahme wahr machen könnte. Die kosmologische Evolution
könnte in der nächsten Sekunde in jeder Hinsicht komplett anders verlaufen als bislang.
35
Wir können daher zwischen zwei Formen des Erkennbarkeits-Problems unterscheiden:
- schwaches Erkennbarkeits-Problem: Der Mensch kann nicht direkt die ganze
kosmische Evolution und also nicht die wahren humeschen Gesetze erkennen.
- starkes Erkennbarkeits-Problem: Der Mensch kann nicht direkt die ganze
kosmische Evolution und also nicht die wahren humeschen Gesetze erkennen
und er kann sich im Humeanismus auch nicht auf zuverlässiger Weise über die
Regularitäten in der beobachteten Evolution die Regularitäten in der gesamten
Evolution und darüber dann indirekt die wahren humeschen Gesetze erschließen.
Bislang haben wir das materiale Induktionsproblem vor allem in Bezug auf die
unbeobachtete Zukunft diskutiert. Es gilt natürlich aber auch für die unbeobachtete
Vergangenheit, das räumlich Unbeobachtete und auch das Unbeobachtbare. Der relative
Ausschnitt aus der kosmologischen Evolution, den wir kollektiv oder individuell direkt
beobachten, ist sehr klein. Das materiale Induktionsproblem zeigt, dass wenn der
Humeanismus wahr ist, wir aus den Regularitäten in diesem Ausschnitt nicht zuverlässig
auf etwas in Bezug außerhalb dieses Ausschnittes schließen können. Das alles zeigt
denke ich auf vielfacher Weise, dass der Humeanismus und der wissenschaftliche
Realismus nicht kompatibel sind. Das im Detail aufzuzeigen, ist sicher Aufgabe für eine
andere Arbeit. Hier können wir so viel sagen: Der humesche Fallibilismus ist zu stark für
einen gehaltvollen wissenschaftlichen Realismus. Unsere reifsten Gesetze mögen unsere
"besten Vermutungen" sein. Das starke-Erkennbarkeitsproblem zeigt aber, dass es keine
guten oder ernstzunehmenden Vermutungen über die wahren humeschen Gesetze sind.
Zweitens ist es eine direkte Konsequenz aus dem materialen Induktionsproblem, dass
der Humeanismus prinzipiell nicht erklären kann, dass wir in den Wissenschaften und im
Alltag überhaupt erfolgreich den Weltverlauf vorhersehen und in diesen eingreifen
können (Abschnitt 4.2.). Diese Konsequenz ist der Ausgangspunkt für mein Super-
Wunderargument (Abschnitt 5). Das SWA spricht sich dafür aus, den praktischen Erfolg
unserer Gesetze und Theorien durch die Wahrheit des Anti-Humeanismus zu erklären.
Das wirft eine Folgefrage auf: Warum meinen Humeaner, dass ihre Position nahe an der
wissenschaftlichen Praxis ist? Wir sollten hier zwei Fragen auseinanderhalten:
Metaphysik der Natur: Wie ist die Natur grundlegend beschaffen?
deskriptive Erkenntnistheorie der Natur
20
: Wie versuchen wir in der
20
Siehe zum Begriff der deskriptiven Erkenntnistheorie, wie ich ihn hier verwende, Koppelberg (1996).
36
alltäglichen und wissenschaftlichen Praxis herauszufinden, wie die Natur
grundlegend beschaffen ist?
Das materiale Induktionsproblem zeigt, dass der Humeanismus keine befriedigende
Antwort auf die erste Frage liefern kann. Barry Loewer (2007b, S. 325) weist aber darauf
hin, dass er eine gute Antwort für die zweite Frage parat hält. Das heißt, der Humean-
ismus ist nahe an der Praxis der Theoriebildung. Erstens beginnt Theoriebildung
häufig irgendwo mit Beobachtungen. Diese Beobachtungen müssen natürlich nicht die
gesamte kosmische Evolution betreffen. Zweitens versucht man diese Beobachtungen
dann häufig durch einen Schluss auf die beste Erklärung (das beste System) zu
systematisieren (Lipton 2004). Die Güte einer Erklärung (eines Systems) muss dabei
natürlich nicht oder nicht nur durch ihre Einfachheit und ihren Informationsgehalt
bemessen werden (Loew und Jaag 2018). In der praktischen Theoriebildung können viele
unterschiedliche explanatorische Werte eine Rolle spielen. Unter anderem diese hier:
a. Umfang: Bessere Erklärungen erklären mehr Sachverhalt-Typen.
b. Präzision: Bessere Erklärungen erklären Sachverhalte genauer.
c. Kausaler Informationsgehalt: Bessere Erklärungen liefern mehr Informat-
ionen über die kausalen Mechanismen, welche dem Phänomen zugrundeliegen.
d. Vereinheitlichung: Bessere Erklärungen fassen verschiedene (scheinbar
disparate) Tatsachen in ein einheitliches Prinzip zusammen.
e. Einfachheit: Bessere Erklärungen bieten ein einfacheres Wirklichkeitsbild.
Der Anti-Humeanismus kann die Besten-System-Analyse als eine deskriptiv-adäquate
Erkenntnistheorie der Natur übernehmen.
21
Daraus resultiert eine, wie ich denke,
plausible Sicht der Dinge: Die tatsächlichen, anti-humeschen Gesetze legen die
kosmologische Evolution fest. Daher hat diese Sicht der Dinge nicht mit dem materialen
Induktionsproblem zu kämpfen. Die jeweilige Beobachtung eines Ausschnittes der
kosmischen Evolution zusammen mit den jeweils verwendeten explanatorischen Werten
legen umgekehrt unsere Gesetzesannahmen fest. Daher ist diese Sicht der Dinge nahe
an unserer epistemischen Praxis. Sie ist "das beste aus zwei Welten".
Bleibt noch eine Frage: Sind unsere Gesetzesannahmen zumindest annähernd oft
teilweise wahr? Das ist eine Frage aus der normativen Erkenntnistheorie der Natur.
Sie kann bejaht werden, wenn jeweils verwendeten explanatorischen Werte, die uns zu
unseren Gesetzesannahmen führen, in unserer aktualen Welt wahrheitsförderliche
21
Bartels (2021, S. 160). Es gibt in der Literatur schon interessante Versuche, den anti-humeschen
Dispositionalismus mit der Beste-System-Analyse zu vereinen. Siehe etwa Vetter (2015, S. 289), Bhogal (2017),
Demarest (2017) und Kimpton-Nye (2017, 2020). John Stuart Mill (1843, S. 445), einer der Urväter der Besten-
System-Analyse, spricht schon von einer Systematisierung dispositionaler Fakten (Schrenk 2007, S. 72).
37
Eigenschaften von Gesetzesannahmen sind. Das heißt, wenn die tatsächlichen, anti-
humeschen Gesetze wirklich tendenziell einfach, vereinheitlichend usw. sind.
In einem größeren Kontext betrifft diese Frage aus der normativen Erkenntnistheorie der
Natur jene Frage, unter welchen Umständen induktive (d.h. nicht-demonstrative)
Schlüsse zuverlässig sind. John Norton (2003, 2021) unterscheidet hier zwei Theorien:
(1) Die formale Theorie der Induktion besagt, dass ein induktiver Schluss
dadurch zuverlässig wird, dass er eine Instanz eines allgemein gültigen induktiven
Inferenzschemas ist.
(2) Die materiale Theorie der Induktion besagt, dass ein induktiver Schluss
"lokal" durch bestimmte, ontische relevante Hintergrundfakten zuverlässig wird.
Die formale Theorie der Induktion ist so etwas wie die Standardtheorie der Induktion.
Norton kritisiert sie scharf. Es gibt nach Norton nur universell zuverlässige deduktive
Inferenzschemata, aber keine universell zuverlässige induktive Inferenzschemata. Er
macht dies – wie ich finde, sehr überzeugend – anhand des Schlusses auf die beste
Erklärung und des Bayesianismus deutlich. Die materiale Theorie der Induktion wird dann
von Norton als eine Alternativtheorie zu der formalen Theorie der Induktion entwickelt.
Betrachten wir für ein besseres Verständnis ein Beispiel (Siehe Norton 2003, S. 649):
(A) Diese n Wismutproben schmelzen bei 271°C. Also: Alle Wismutproben
schmelzen bei 271°C.
(B) Diese n Wachsproben schmelzen bei 50°C. Also: Alle Wachsproben schmelzen
bei 50°C.
Die formale Theorie muss hier aussagen, dass beide Schlüsse entweder starke
induktive Schlüsse sind oder nicht. Denn beide sind Instanzen desselben induktiven
Inferenzschemas. Nach Norton ist aber nur (A) ein starker induktiver Schluss, (B) ist es
nicht. Den Unterschied kann nur die materiale Theorie deutlich machen. Denn wir
wissen, dass Proben desselben Elements schmelztemperaturrelevante Eigenschaften
teilen. Die n Wismutproben sind Proben desselben Elementes. Diese lokale
Hintergrundfakten machen den Schluss (A) zuverlässig. Bei Schluss (B) fehlen sie.
Norton sagt aber nichts darüber, was diese relevanten Hintergrundfakten auszeichnet.
Wenn man aber eine Theorie der Induktion aufstellt, möchte man wissen, was den
Eigenschaften gemeinsam ist, welche die induktiven Schlüsse lokal jeweils erfolgreich
machen. Eine Forschungshypothese hinter meinem Dissertationsprojekt lautet, dass es
sich hierbei um irreduzible modale Fakten oder modal interpretierte Fakten handeln
muss. Ansonsten können sie nicht die ihnen zugedachte Funktion erfüllen. Diese
Hypothese ging aus dieser Textprobe noch nicht hervor. Da sie aber zentral ist, um
38
meine Sicht auf Induktion, Rationalität und letztlich auf das materiale Induktionsproblem
und das SWA zu verstehen, wollte ich sie hier am Ende nochmal explizit erwähnt haben.
39
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