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Abstract

Willkommen zum fünften SUI Newsletter im deutschsprachigen Raum. Unser Netzwerk engagiert sich für den Einbezug von Nutzer*innen von sozialen Dienstleistungen in die Qualifizierungsprozesse von Fachkräften. Dieser Newsletter soll ein Hilfsmittel sein, um weitere Menschen für unser Netzwerk zu begeistern und sich durch den gegenseitigen Austausch zu unterstützen. Wir sammeln Erfahrungs-berichte unserer Netzwerkpartner*innen in der Umsetzung von SUI im deutschsprachigen Raum und stellen diese Schätze zur Verfügung.
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Willkommen zum fünften SUI Newsletter im deutschsprachigen Raum. Unser Netzwerk engagiert sich
für den Einbezug von Nutzer*innen von sozialen Dienstleistungen in die Qualizierungsprozesse von
Fachkräften. Dieser Newsletter soll ein Hilfsmittel sein, um weitere Menschen für unser Netzwerk zu
begeistern und sich durch den gegenseitigen Austausch zu unterstützen. Wir sammeln Erfahrungs-
berichte unserer Netzwerkpartner*innen in der Umsetzung von SUI im deutschsprachigen Raum und
stellen diese Schätze zur Verfügung.
1 Editorial S. 2–3
2 Professionalisierung des Service
User Involvements durch Quali-
kationsangebote S. 4–5
3 Service User Involvement in der
Ausbildung in Zürich: Ein Pilotprojekt
S. 6–7
4 Wie erlebt man Wohnungslosigkeit?
S. 8
5 Das Format der Werkstätten an der
FH Potsdam – Forschungsfragen
von Studierenden zu SUI S. 910
6 SUI-Talk mit Erfahrungsexpertinnen
und Studentinnen der Sozialen Arbeit
auf der Jahrestagung der DGSA
S. 1112
7 Recovery College Stuttgart S. 1314
8 SUI in Europa - persönliche Eindrücke
aus Nottingham und Amsterdam
S. 1516
9 Termine und Literaturtipps S. 17
Inhalt
August 2022
SUI Newsletter Service User Involvement
in Social Work Education
Erfahrungsbasierte Hochschule
im deutschsprachigen Raum
Wir suchen bereits für die nächste Ausgabe
Berichte, Statements und Erfahrungen von Ihnen
und freuen uns auf Ihre Beiträge und Anregungen!
i
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1 Editorial
Liebe Leser*innen,
langsam erwacht die Hochschullandschaft wieder und Lehr-Lernorte
werden — nach überwiegend digitalen Formaten in den letzten zwei Jah-
ren — mehr und mehr mit weiteren Sinnen erfahrbar. Ein guter Zeitpunkt
für unseren Newsletter, der eine zusätzliche Inspiration für die Umsetzung
von Service User Involvement bieten möchte. Zwischenzeitlich haben wir
auch digitale Formate angeboten, neben unseren regelmäßigen SUI Talks
waren wir mit einem Workshop auf der Buko to go im September 21 ver-
treten sowie mit einem eigenen Panel auf der der DGSA Jahrestagung im
Mai 22. Doch wir wollen uns auch bald wieder in Präsens austauschen
und haben die Planung für eine Fachtagung im Oktober 2023 gestartet.
Zwischenzeitlich wollen wir mit folgenden Beiträgen inspirieren:
David Dörrer und Karin Teroth berichten in ihrem Beitrag
Professionalisierung des Service User Involvements durch Qualika-
tionsangeboteüber den Einsatz von Bildungsfachkräften. Dabei neh-
men sie die Benets für die Menschen mit Behinderungserfahrungen in
den Blick und stellen sich die Frage, wie die Qualizierung ggf. Perspekti-
ven bzw. die Vertretung der Peergruppe verändern kann.
In ihrem Beitrag Service User Involvement in der Ausbildung in Zürich:
Ein Pilotprojektstellen Gisela Meier und Michael Herzig eine tatkräftige
Initiative für die Implementierung von SUI an der Fachhochschule Zürich
vor. Für die Erstellung des Konzeptes werden Studierende, Lehrende, Ad-
ressat*innen und Sozialarbeitende einbezogen.
Florian Günthert von der FH Esslingen schreibt in seinem Beitrag Wie
erlebt man Wohnungslosigkeit? aus der Perspektive eines Studenten
über ein SUI Projekt. Aus der Recherche über Wohnungslosigkeit kam das
Interesse zustande, die Stimmen derjenigen zu nden, die betroffen sind.
Herausgekommen ist eine Blog-Website mit Aussagen und Berichten von
interviewten Menschen und Textgraken.
Ein weiterer Einblick aus der Lehre kommt aus der FH Potsdam von
Olivia Aufschlag und Elena Sollmann. Sie berichten in dem Beitrag Das
Format der Werkstätten an der FH Potsdam –Forschungsfragen von
Studierenden zu SUIvon ihren Forschungsergebnissen über die Moti-
vation von Service Usern, ihr Wissen mit angehenden Sozialarbei-
ter*innen zu teilen. Gerahmt wird der Beitrag durch eine kleine Einleitung
zu dem Lehr-Lern-Format der Werkstatt von Marlene-Anne Dettmann.
Katharina Scholz bietet in ihrem Beitrag SUI-Talk mit Erfahrungsexper-
tinnen und Studentinnen der Sozialen Arbeit auf der Jahrestagung der
DGSAeine kleine Nachlese zu unserem Panel. Zu Wort kommen dabei
auch beteiligte Studentinnen der FH Esslingen und ihre Perspektive auf
SUI. Zusätzlich gibt es noch Links zu weiteren Materialien.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
Herausgeberin
Marlene-Anne Dettmann bewegt
Service User Involvement als Pro-
fessorin an der Fachhochschule
Potsdam und an der Hochschule
für Angewandte Wissenschaften
in Hamburg. Seit 2020 führt sie
den Newsletter fort, der von Prof.
Dr. Marion Laging und Prof. Dr.
Thomas Heidenreich von der
Hochschule Esslingen ins Leben
gerufen wurde.
Foto: Jonas Fischer
Marlene-Anne Dettmann
3
Fortsetzung
Sylvia Fahr-Armbruster, Conny Birkemeyer und Oscar Garcia stellen in
ihrem Beitrag Recovery College Stuttgarteinen neuen Ort der
lebendigen Selbsthilfeszenevor. Nach dem Motto Erfahrungswissen
lebendig teilenladen Menschen mit Krankheitserfahrungen zum
Austausch ein und sind offen für spannende Kooperationen mit Hoch-
schulen.
Mit dem Beitrag SUI in Europa –persönliche Eindrücke aus
Nottingham und Amsterdam teilt Marlene-Anne Dettmann ihre Be-
obachtungen zu den Entwicklungen im europäischen Raum, beispielswei-
se mit praktischen Umsetzungsideen und der sprachlichen Verwendung
von people with lived experience“.
Am Ende des Newsletters nden Sie noch Hinweise über aktuelle Publi-
kationen und anstehende Termine zum Thema Service User Involvement.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen und freue mich auf Ihre Rückmeldun-
gen und neuen Berichte.
Herzlichst
Marlene-Anne Dettmann
4
Seit November 2020 arbeiten am Annelie-Wellensiek-Zentrum für Inklu-
sive Bildung (AW-ZIB), einer wissenschaftlichen Einrichtung und Inklusi-
onsabteilung der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg, sechs
ehemals in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) tätige Perso-
nen. Diese Menschen mit Behinderungserfahrungen sind an der Hoch-
schule als Erfahrungsexpert:innen in einem sozialversicherungspichti-
gen, unbefristeten Arbeitsverhältnis angestellt (siehe Newsletter Mai
2021). Von 2017 bis 2020 absolvierten sie eine dreijährige Vollzeitquali-
zierung zu Bildungsfachkräften (BFK).
Damit wurde an der PH Heidelberg der Einbezug von Menschen mit Be-
hinderungserfahrung in die Lehre implementiert. Diese Ausgangslage
vereinfacht Vieles. Denn andernorts stoßen die beteiligten Personen
beim Einbezug von Erfahrungsexpert:innen in hochschulische Lehre im-
mer wieder auf Schwierigkeiten. Zu den sich regelmäßig stellenden Her-
ausforderungen zählen unter anderem Schwierigkeiten bei der Vergü-
tung der Erfahrungsexpert:innen, aber auch zusätzliche personelle Res-
sourcen, die ein solcher Einbezug erfordert. Zeitgleich verlangt der Ein-
bezug von den Erfahrungsexpert:innen selbst vielfältige Fähigkeiten und
Fertigkeiten. Dazu zählen beispielsweise methodische Kompetenzen, um
über persönliche Erfahrungen zu berichten und mit den Teilneh-
mer:innen darüber in Austausch zu kommen. Zugleich treten Erfahrungs-
expert:innen in SUI-Angeboten nicht nur als Einzelpersonen auf, sondern
werden als Stellvertreter:innen einer Gruppe in die hochschulische Lehre
einbezogen. Soll dieser Aspekt zum Tragen kommen, müssen persönli-
che Erfahrungen von der eigenen Person losgelöst betrachtet und in ge-
samtgesellschaftliche Strukturen und Kontexte eingeordnet werden
können. Auch das Wissen um hochschulische Strukturen, ein Bewusst-
sein über eigene Grenzen und Möglichkeiten sind Kompetenzen, die kei-
neswegs vorausgesetzt werden können.
In einem Konzept zur Qualizierung von in WfbM tätigen Menschen zu
BFK an Hochschulen vom Institut für Inklusive Bildung in Kiel werden die-
se Herausforderungen aufgegriffen. Die Teilnehmer:innen werden durch
die Qualizierung umfassend zur Bildungsarbeit befähigt. Zugleich wird
durch die Qualikation eine dauerhafte und verlässliche Implementie-
rung der Expertise in hochschulische Bildung und in Studiengänge ange-
strebt. Damit soll die Qualizierung den Erfahrungsexpert:innen auch
einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
2 Professionalisierung des
Service User Involvements
durch Qualikationsangebote
Foto: Privat
David Dörrer
Sonderpädagoge für die Förder-
schwerpunkte Lernförderung und
geistige Entwicklung. Nach seinem
Vorbereitungsdienst war er drei Jahre
an einer Gemeinschaftsschule in Baden
-Württemberg in der inklusiven Unter-
richtspraxis tätig. Seit August 2020 ist
er zur Promotion an die Pädagogische
Hochschule Heidelberg abgeordnet. In
seiner Promotion evaluiert Herr Dörrer
die Bildungsangebote der Bildungs-
fachkräfte. Die Promotion erfolgt im
Rahmen der Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses an den Pä-
dagogischen Hochschulen: For-
schungs - und Nachwuchskolleg
Forschungsschwerpunkt "Inklusive
Bildung" am Annelie-Wellensiek-
Zentrum für Inklusive Bildung der Päda-
gogischen Hochschule Heidelbergan
der Pädagogischen Hochschule Heidel-
berg
Kontaktdaten:
doerrer@ph-heidelberg.de
Pädagogische Hochschule Heidelberg,
Keplerstraße 87, 69120 Heidelberg,
www.ph-heidelberg.de/aw-zib/
ueber-uns.html
5
Foto: Privat
Karin Teroth
Sonderpädagogin und Diplom-
Heilpädagogin, Lehrende an der Päda-
gogischen Hochschule Heidelberg, Pro-
fessur für Pädagogik bei schwerer geis-
tiger und mehrfacher Behinderung und
Inklusionspädagogik, Leitung des Anne-
lie-Wellensiek-Zentrum für Inklusive
Bildung (gemeinsam mit Prof. Dr. Vera
Heyl)
Kontaktdaten:
teroth@ph-heidelberg.de
Pädagogische Hochschule Heidelberg,
Keplerstraße 87, 69120 Heidelberg,
www.ph-heidelberg.de/aw-zib/
ueber-uns.html
Fortsetzung
Die BFK am AW-ZIB blicken zufrieden auf ihre Qualizierung nach dem
Kieler Konzept zurück. Sie verfügen über ein vielfältiges Repertoire an
Methoden, kennen zentrale theoretische Begriffe und Modelle im Kon-
text Inklusion, Exklusion sowie Partizipation. Zudem haben sie in diesen
Bereichen Kenntnis über Rechtsgrundlagen und kennen die Struktur und
den Aufbau von sogenannten Sonderinstitutionen. Die BFK sind in der
Lage über gemachte Erfahrungen und eigene Lebensweisen reexiv
nachzudenken und über diese in Austausch zu kommen. In ihren Bil-
dungsveranstaltungen treten die BFK selbstsicher auf, sie leiten Interak-
tionen kompetent und haben eine klare Vorstellung davon, worüber sie
mit Studierenden in Austausch kommen und welche Fragen sie nicht
beantworten wollen. Die Qualizierung verleiht ihnen zugleich einen an-
deren Status, der ihnen sowohl von den Lehrenden, den Studierenden
aber auch im Diskurs an Hochschulen und bei Debatten in der Gesell-
schaft mit Wertschätzung und Respekt honoriert wird.
Lehrende schätzen den Einbezug qualizierter BFK, da diese eigenstän-
dig agieren und sich der Vorbereitungsaufwand dadurch reduziert. Denn
die BFK bereiten ihre Bildungsangebote selbständig vor und überneh-
men im Rahmen dieser die Rolle der Lehrenden und damit die Leitung
der Sitzungen.
Diese positiven Erfahrungen, die mit der Qualizierung einhergehen, füh-
ren dazu, dass an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg ab Okto-
ber 2022 zwei weitere Personen zu BFK qualiziert werden. Dazu wurde
auf Grundlage der Erfahrungen aus der Qualizierung in den Jahren von
2017 bis 2020 und auf Grundlage der Erfahrungen, die im Rahmen der
Tätigkeit der BFK als solche in den vergangenen eineinhalb Jahren ge-
sammelt wurden, das Kieler Modulhandbuch weiterentwickelt. Die Quali-
zierung wurde an hochschulische Strukturen angelehnt und gliedert
sich fortan in insgesamt sechs Semester. Wichtiges und neues Element
ist zudem der über die gesamte Qualikation hinweg stattndende Aus-
tausch zwischen den sechs bereits qualizierten BFK und den sich in der
Qualikation bendenden Personen.
Im wissenschaftlichen Diskurs wird die Qualizierung von Service Usern
auch kritisch gesehen. Unter anderem entfernen sich die BFK durch die
Qualizierung und die Festanstellung mehr und mehr von den WfbM, von
den dort tätigen Personen und deren Lebenswelten. Die BFK berichten
als Zielgruppenvertreter:innen retrospektiv von ihren Erfahrungen in der
WfbM. Inwiefern können sie aufgrund dieses Umstands noch als Stellver-
treter:innen der in WfbM tätigen Personen sprechen? Gerne wollen wir
als AW-ZIB mit Ihnen hierüber in Austausch kommen. Inwieweit kann
diese Form der Professionalisierung des Service User Involvements hilf-
reich sein, welche bedenkenswerten oder fragwürdigen Aspekte erge-
ben sich aus Ihrer Sicht aber auch durch eine solche?
David Dörrer und Karin Teroth
6
Bis heute werden Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit an
der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) nur
punktuell in die Lehre mit einbezogen. Vereinzelt wird auch zu Theorie
und Methoden von Service User Involvment (SUI) unterrichtet, was pri-
mär vom persönlichen Interesse der verschiedenen Lehrpersonen ab-
hängig ist. Eine systematische Teilhabe und Teilgabe von Expertinnen
und Experten aus Erfahrung ist derzeit noch nicht institutionalisiert. Mit
unserem Projekt (02.2022-08.2023) möchten wir das ändern.
Unser Vorhaben ist es, den zukünftigen Einbezug zu konzipieren, indem
wir einbeziehen. Anders formuliert: Wir wollen in der Interaktion mit Ad-
ressatinnen und Adressaten, Sozialarbeitenden aus der Praxis und Stu-
dierenden aus Bachelor- und Masterstufe mögliche Formen von SUI in
der Lehre entwerfen, daraus ein Konzept ableiten und dieses sämtlichen
Lehrpersonen zur Verfügung stellen. Die parallel laufende Curriculums-
entwicklung an unserem Departement sehen wir dabei als Chance, Er-
fahrungswissen als Ergänzung zu wissenschaftlichem und Praxis-Wissen
in die Ausbildung zu verankern. Konkret führen wir im kommenden Studi-
enjahr drei dreitägige Seminare durch. Für Studierende sind dies einer-
seits Lehrveranstaltungen zu SUI, gleichzeitig entwickeln sie in diesen
Seminaren gemeinsam mit Adressatinnen und Adressaten sowie erfah-
renen Sozialarbeitenden aus dem Bereich der Existenzsicherung mögli-
che künftige Formen für die Umsetzung von SUI in der Lehre. Die Semi-
nare sind für 10-15 Studierende gedacht, zusätzlich nehmen drei Adres-
satinnen und Adressaten sowie drei Sozialarbeitende teil. Gearbeitet
wird mit Methoden des Design Thinkings, wie sie üblicherweise für die
Entwicklung von nutzenorientierten Produkten oder Dienstleistungen
eingesetzt werden. Dazu gehören Instrumente wie Stakeholder- oder
Empathy-Maps, die Beschreibung von idealtypischen Nutzenden
(Persona), Customer-Journeys oder das schnelle Entwickeln und Testen
von Prototypen. Der Methodenlogik ist inhärent, dass wir die Ideen aus
dem bzw. den vorherigen Seminare im darauffolgenden Seminar auspro-
bieren und weiterentwickeln.
Die drei Seminare werden hinsichtlich Prozess und Wirkung von Master-
Studierenden evaluiert. Flankierend dazu werden alle interessierten
Lehrpersonen einbezogen, indem wir deren Haltung zu SUI in der Ausbil-
dung anhand einer Mixed-Method-Befragung erheben und auswerten.
Wir beabsichtigen damit einerseits eine Sensibilisierung für das Thema
SUI generell, andererseits und hauptsächlich eine gewisse Ausrichtung
der nalen Konzeptempfehlungen hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit nach
unserem Projekt:
Fortsetzung auf der folgenden Seite
3 Service User Involvement in
der Ausbildung in Zürich:
Ein Pilotprojekt
Foto: ZHAW
Gisela Meier
Gisela Meier ist wissenschaftliche Mit-
arbeiterin an der Zürcher Hochschule
für angewandte Wissenschaften
(ZHAW), Departement Soziale Arbeit.
Kontaktdaten:
gisela.meier@zhaw.ch
Foto: ZHAW
Michael Herzig
Michael Herzig arbeitet als Dozent an
derselben Fachhochschule. Von 2022
bis 2023 verantworten die beiden ein
Projekt zur Verankerung des Service
User Involvements im Bachelor- und
Master-Curriculum Sozialen Arbeit.
Kontaktdaten:
michael.herzig@zhaw.ch
7
Fortsetzung
SUI soll in jenem Rahmen empfohlen oder implementiert werden, in wel-
chem es bei Lehrpersonen auf möglichst hohe Akzeptanz stößt und in
seiner Relevanz für die Ausbildung verstanden wird.
Der Prozess ist insofern ergebnisoffen, als weder von den Ausbildungs-
verantwortlichen noch von uns Projektleitenden vorgängige inhaltliche
Erwartungen hinsichtlich der zu entwickelnden Ideen bestehen. Es müs-
sen nicht zwingend Lehrveranstaltungen konzipiert werden und es gibt
weder Denkverbote noch -gebote. Unser Ziel ist, so nahe als möglich an
die Bedürfnisse aller Beteiligten heranzugehen und dabei einen kreati-
ven, lernorientierten Dialog in Gang zu setzen. Schliesslich beabsichtigen
wir einen Beitrag für mehr SUI in der Hochschulausbildung der Sozialen
Arbeit in der Schweiz.
Michael Herzig und Gisela Meier
8
Diese Frage bildete das Fundament für das Forschungsinteresse der
vierköpgen Gruppe an Studierenden der Hochschule Esslingen, welcher
ich angehörte, im Rahmen unserer Projektsemester zum Thema Service
User Involvement in Social Work Education“.
Eine Notwendigkeit, Service User der Wohnungslosenhilfe zu involvieren,
ergab sich bereits bei unserer Grundlagenrecherche. Wir stellten fest,
dass das Themenfeld bereits intensive theoretische Erforschung in der
Wissenschaft erfährt und fachlich fundierte Verständnisse darüber vor-
liegen. Anknüpfend daran erhielten wir den Eindruck, dass bei den in-
haltlichen Diskursen eine wichtige Komponente zu kurz kommt: die Stim-
men derjenigen, die tatsächlich vom Sachverhalt betroffen sind. Zwi-
schen allen Wohnungslosenstatistiken, sowie soziologischen und psy-
chologischen Perspektiven in der Ursachenforschung bemerkten wir das
Fehlen eines alltagsbasierten Inputs von wohnungslosen und von Woh-
nungslosigkeit bedrohten Menschen. So entschlossen wir uns dazu, der
Wissenschaft der Sozialen Arbeit exakt dies bereitzustellen: eine reali-
tätsnahe Erfassung und der unverfälschte Transfer der Lebensgeschich-
ten von Adressat:innen der Wohnungslosenhilfe.
Nachdem wir mithilfe unserer begleitenden Projektdozentin Kontakt zu
einer Einrichtung des Arbeitsfelds aufnehmen konnten und nach Dar-
stellung unseres Projektanliegens auf viel Unterstützung stießen, war es
uns möglich, mehrere Interviewtermine mit freiwilligen Gesprächs-
partner:innen durchzuführen – sie selbst würden sich letztendlich ihre
jeweiligen Pseudonyme geben: Ivo, Hilde, Paule, sowie die gemeinsam
lebenden Claudia & Hans-Peter.
Die Lebenswelten dieser Menschen bilden das Herzstück des Produkts,
das wir letztendlich kreieren würden: Wohnungslosigkeit erleben“, eine
Blog-Website, die die Aussagen und Berichte der fünf Interviewten als
Einblick in ihre alltägliche Realität transferiert. Interviewzitate wurden
hierfür von uns als Textgraken aufbereitet und mit eigenen Interpreta-
tions- und Analyseeindrücken wissenschaftlich kontextualisiert.
Die Einordnung in thematische Teilbereiche ermöglicht eine inhaltliche
Navigation.
Letztendlich stand der Erkenntnisgewinn, dass es nicht denoder die
Wohnunglose:n gibt und auch nicht daseine universalgültige Erleben
innerhalb der Thematik. Doch gerade dadurch bestätigte sich uns die
wissenschaftliche Bedeutsamkeit von Praxisnähe und Multiperspektivi-
tät, die das Konzept des Service User Involvements im Kontext der Woh-
nungslosenhilfe ermöglichte.
Florian Güntert
4 Wie erlebt man
Wohnungslosigkeit?
Foto: Privat
Florian Güntert
Ich bin Student an der Hochschule
Esslingen im Bachelorstudiengang
Soziale Arbeit. Im Rahmen zweier Pro-
jektsemester zum Thema "Service User
Involvement in Social Work Education"
war ich gemeinsam mit drei weiteren
Studierenden an der Entwicklung einer
Blog-Webseite zum Thema Service
User Involvement mit Adressat:innen
der Wohnungslosenhilfe beteiligt. Link
zum Blog:
wohnungslosigkeit.jimdosite.com/
Kontaktdaten:
gusp00@hs-esslingen.de
9
An der FH Potsdam gibt es ein besonders geeignetes Format, bereits
frühzeitig mit Studierenden intensiv über einen längeren Zeitraum aktu-
elle Themen zu erkunden. Mit den Grundzügen des Forschenden Ler-
nens bietet unsere sogenannte Werkstatt für Studierende einen Einstieg
in das erste Semester und begleitet sie bis zum Ende des zweiten Se-
mesters. Die Wahl der Studierenden erfolgt in der ersten Orientierungs-
woche des Studiums, es werden regelhaft bis zu neun thematisch ver-
schiedene Werkstätten angeboten. Eine davon ndet seit vier Jahren
zum Thema SUI/Erfahrungswissen statt. Nach der Wahl ndet das offene
Format anschließend einmal in der Woche ganztägig statt. Ziel einer
Werkstatt ist es, die jeweils 12-15 Studierenden bei einer ersten selbst-
bestimmten Forschungsfrage zu begleiten. Bestandteile der Werkstatt
sind das wissenschaftliche Arbeiten und die Erkundung von ersten For-
schungsmethoden. Ihre Erkenntnisse stellen sie in einer Endpräsentation
und einem Abschlussbericht zusammen.
In den vergangenen Semestern haben sich Studierende der SUI-
Werkstatt beispielsweise dazu entschieden, SUI selbst umzusetzen.
Hierzu haben die Studierenden, in Kooperation mit Kolleg*innen für de-
ren jeweilige Vorlesungen und Seminare, zu abgesprochenen Themen
Erfahrungsexpert*innen gesucht und mit ihnen Inputs vorbereitet sowie
umgesetzt. Im ersten Jahr der Pandemie wurde zusätzlich der aktuelle
Aspekt der Einbindung von Service Usern in digitale Lehr-Lern-Formate
bewegt. Es gab auch eine Werkstatt, die sich mit der Frage einer SUI-
Datenbank als Erleichterung für die Organisation beschäftigte oder Stu-
dierende nach ihrer Einstellung zu SUI befragten. Gerade hat die vierte
Werkstatt zum Thema Erfahrungswissen ihre Arbeit beendet. Sie starte-
ten im Wintersemester 2021 und beschlossen, die Motivation der Ser-
vice User in den Blick zu nehmen. Die zwei Werkstattmitglieder Olivia
Aufschlag und Elena Sollmann berichten hier ihre Eindrücke und Er-
kenntnisse zu ihrer selbstgewählten Forschungsfrage.
Marlene-Anne Dettmann
Im Rahmen unserer Werkstatt haben wir uns bezüglich unserer For-
schungsfrage viel mit Literatur beschäftigt, um zu schauen welche The-
men noch wenig erforscht worden sind. Dabei sind wir auf die Motivati-
on der Adressat*innen und Lehrenden gestoßen. Ein weiterer Grund des
Interesses an der Motivation ist, dass einige Werkstattmitglieder das
Seminar Motivationspsychologiebelegten. Hier sahen wir eine gute
Möglichkeit, Seminare und Themenbereiche zu verknüpfen.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
5 Das Format der Werkstätten an der
FH Potsdam – Forschungsfragen von
Studierenden zu SUI
Foto: Privat
Elena Sollmann
Kontaktdaten:
elena.sollmann@fh-potsdam.de
Foto: Privat
Olivia Aufschlag
Kontaktdaten:
olivia.aufschlag@fh-potsdam.de
Elena Sollmann und Olivia Aufschlag
sind seit 2021 Studentinnen des BA-
Studiengangs SozialenArbeit an der
Fachhochschule Potsdam und waren
in den Semestern 2021/2022 Teil der
Werkstatt Service User Involve-
mentvon Prof Dr. Marlene-Anne
Dettmann.
10
Fortsetzung
Da unser Interesse an der Motivation der Adressat*innen höher war, ha-
ben wir uns auf die Motivation von ihnen fokussiert. Um unsere For-
schung zu spezialisieren, haben wir unsere Forschungsfrage auf Men-
schen mit Suchterfahrungen konkretisiert. Anschließend haben wir einen
quantitativen Fragebogen erstellt (online und Paper-pencil). Diesen ha-
ben wir dann online verbreitet und in Einrichtungen verteilt. Zusätzlich
haben wir Plakate an öffentlichen Orten verteilt, um mehr Menschen zu
erreichen. Die Auswertung verlief über das Computerprogramm SPSS.
Der Prozess war umfangreich, da wir die Daten zunächst bereinigten und
auf Seriosität bzw. Ernsthaftigkeit lterten.
Die Ergebnisse erfreuten uns, da 70 % der befragten Adressat*innen sich
vorstellen könnten, an SUI-Projekten mitzuwirken und ihre Erfahrungen
mit angehenden Sozialarbeiterinnen zu teilen. Die meistgenannte Moti-
vation von allen befragten Personen für eine Beteiligung war die persön-
liche Entwicklung gefolgt von Akzeptanz/Wertschätzung/Anerkennung
und dem Austausch. Hingegen spielte die Bezahlung als Motivation eine
untergeordnete Rolle.
Außerdem stellte sich heraus, dass Adressat*innen, die bereits positive
Erfahrungen mit dem Hilfesystem machten, eher ihre Erfahrungen teilen
würden.
Aus den Ergebnissen unserer Forschung kann gesagt werden, dass das
Interesse und die Motivation von Menschen mit Suchterfahrung durch-
aus bestehen. Wichtig für SUI Projekte wäre das Eingehen auf die Be-
dürfnisse der Adressat*innen, beispielsweise wurde ein geschützter
Raum als wichtige Rahmenbedingung genannt. Ziel für die Hochschulen
sollte sein, dass sich die Adressat*innen selbstbestimmt und intrinsisch
motiviert an SUI Projekt beteiligen können.
Olivia Aufschlag und Elena Sollmann
11
Am 29.04. und 30.04.2022 fand die Jahrestagung der Deutschen Ge-
sellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) statt. Via Zoom konnten die Teilneh-
menden an über 50 Panels und Vorträgen zum Thema "Geteiltes Wis-
sen Wissensentwicklung in Disziplin und Profession Sozialer Arbeit"
teilnehmen. Organisiert von Marlene-Anne Dettmann und Bettina Müller
fand auch ein SUI-Panel mit dem Titel "Erfahrungsbasiertes Wissen in
der Hochschullehre" statt. Dieser Beitrag soll als kleine Nachlese einen
Eindruck vermitteln.
Den Ausgangspunkt des Panels bildete ein Talk mit denjenigen, um die
es bei SUI geht: Erfahrungsexpert:innen und Student:innen. Moderiert
von Timo Ackermann und Katharina Scholz berichteten zwei Erfahrungs-
expertinnen und drei Studentinnen über ihre Erfahrungen mit SUI in der
Hochschullehre. Die Teilnehmerinnen hatten unterschiedliche Formate
erlebt:
die Mitgestaltung der Lehre durch Erfahrungsexpert:innen in Form
eines Vortrages mit Diskussion,
das Mitwirken von Erfahrungsexpert:innen bei der Erarbeitung von
Materialien sowie
das Geben von Feedback durch Erfahrungsexpert:innen zu erstellten
Materialien bzw. Präsentationen von Studierenden.
Anhand dieser Beispiele konnten die Tagungsteilnehmer:innen einen Ein-
blick in die Vielfalt von SUI erhalten.
Die Erfahrungsexpertinnen berichteten u. a. darüber, was sie motiviert
hat, sich an den Formaten zu beteiligen. Sie teilten den Wunsch, ange-
henden Sozialarbeiter:innen zu vermitteln, dass Service User Menschen
mit Fähigkeiten sind. Die Studierenden möchten sie sensibilisieren, ihren
(zukünftigen) Adressat:innen etwas zuzutrauen. Insbesondere Menschen
mit Behinderung werde von Sozialarbeitenden teilweise Einiges unge-
fragt abgenommen. In Bezug auf die Umsetzung von SUI wurde insbe-
sondere die Wichtigkeit der Anerkennung der Erfahrungsexpert:innen
thematisiert – sowohl von Seiten der Lehrenden und Studierenden als
auch durch die Hochschulen, z. B. in Form eines Honorars.
Die Studentinnen Elena Großhans, Larissa Meckel und Ann-Sophie Gro-
mer, haben im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit der Hochschule Ess-
lingen an dem Projektseminar Service User Involvement in Social Work
Educationunter Leitung von Bettina Müller teilgenommen.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
6 SUI-Talk mit Erfahrungsexpertinnen
und Studentinnen der Sozialen
Arbeit auf der Jahrestagung der
DGSA
Foto: Privat
Katharina Scholz
Katharina Scholz ist M. A. Sozialarbeit-
erin und arbeitet im Krankenhaus-
sozialdienst. Seit 2019 hat sie an der
Hochschule für Angewandte Wissen-
schaften in Hamburg für und mit Prof.
Dr. Marlene-Anne Dettmann zum
Thema Service User Involvement
gearbeitet.
Kontaktdaten:
katharina.scholz@haw-hamburg.de
12
Fortsetzung
In diesem wurden Materialien für die Lehre entwickelt. Die drei berichte-
ten über ihr Projekt, in dem sie Bewohnerinnen einer Mutter-Kind-
Wohngruppe zu ihren Perspektiven bezüglich der Aspekte Kontrolle und
Selbstbestimmung innerhalb der Wohngruppe befragt haben. Die Sicht-
weisen der Bewohnerinnen haben sie in einem Video zusammengefasst
(s. u.). Auch den Mitarbeiterinnen wurden die Ergebnisse vorgestellt, so-
dass sie diese in die Reexion ihrer Arbeit einießen lassen konnten.
Dieses Beispiel illustrierte, wie SUI sowohl Studierenden Einblicke in die
Lebenswelten von Adressatinnen ermöglichen als auch zur Veränderung
der Praxis beitragen kann. Die Studentinnen teilten den Wunsch und die
Motivation der Erfahrungsexpertinnen, dass SUI zur Bildung einer positi-
ven Haltung der (angehenden) Sozialarbeitenden ihren Adressat:innen
gegenüber beitragen kann. Sie gaben an, durch SUI eine erweiterte Per-
spektive auf Soziale Arbeit erhalten zu haben und stellten heraus, wie
wichtig der Einbezug für die Gestaltung von Angeboten ist. In ihrem Fazit
zur Tagung benennen sie den Austausch als wichtigen Schritt auf dem
Weg zur Verstetigung von SUI: "Wir haben den Austausch über das The-
ma SUI in der Hochschullehre auf dem Panel als sehr wertvoll empfun-
den. Besonderes die Sicht der Service Userinnen auf die Thematik fan-
den wir spannend und wichtig. Wir glauben, dass SUI in der Hochschul-
lehre sehr bedeutsam ist und der gemeinsame Austausch über Erfah-
rungen und Wünsche einen wichtigen Schritt in der dauerhaften Umset-
zung darstellt."
Gerahmt wurde der Talk mit einem Vortrag von Judith Rieger mit dem
Titel "Geteiltes Wissen? Von der Be-Lehrung zur trialogischen Konstruk-
tion". In diesem wurde SUI in der Lehre als einer von mehreren möglichen
Beteiligungsbereichen von Erfahrungsexpert:innen in der Hochschulqua-
lizierung Sozialer Arbeit mit seinen Chancen und Herausforderungen
vorgestellt. Abschließend gab es die Gelegenheit, Fragen zu stellen und
in die Diskussion zu treten.
Die Erfahrungsexpertin Ninja Junge, Peer-Evaluatorin bei Gut Gefragt in
Hamburg, resümiert: "Mir hat die Tagung sehr gut gefallen. Ich hoffe, dass
ich einen guten Einblick vermitteln konnte. Ich hätte es sehr schön ge-
funden, wenn die Tagung in Präsenz hätte stattnden können."
Neugierig geworden? Bis zum 30.11.2022 kann unter diesem Link eine
Materialsammlung zur Tagung abgerufen werden: SUI-PADLET
Neben dem o. g. Video der Studentinnen ist ein weiteres SUI-Beispiel der
Hochschule Esslingen zu nden: Eine unter Einbezug von Service Usern
entwickelte Website zum Thema "Wohnungslosigkeit Erleben". Auch die
Vortragsfolien von Judith Rieger zu ihrem Impulsbeitrag auf der Tagung
können hier abgerufen werden.
Katharina Scholz
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Anfang 2020 gründete sich der Arbeitskreis Recovery College Stuttgart
bestehend aus Mitgliedern der Initiative der Psychiatrieerfahrenen
Stuttgart (IPE) , der Offenen Herberge e.V. und der Evang. Gesellschaft
Stuttgart e.V. und weiteren Interessierten mit dem Ziel, in Stuttgart ein
Recovery College aufzubauen, zu gestalten und durchzuführen.
Was genau heißt Recovery College“?
Der Begriff Recoverykommt aus dem Englischen und bedeutet so viel
wie Erholung, Genesung und Gesundung. Der englische Begriff kommt
daher, dass es Recovery Colleges in englischsprachigen Ländern schon
länger gibt und die Idee von dort übergeschwappt ist. Ein Recovery Col-
lege ist eine Bildungseinrichtung für Menschen mit und ohne psychische
Krisenerfahrung, in der es rund um Themen der psychischen Gesundheit
und des Wohlbendens geht. Im Mittelpunkt steht die Vermittlung von
Erfahrungswissen durch krisenerfahrene Menschen, die Interessierten
und Betroffenen verschiedene Möglichkeiten zur Lebensgestaltung er-
öffnen und stärkend für die Psyche sein kann.
Wie kam es ursprünglich zu der Idee?
Die Recovery-Idee geht auf Psychiatrie-Erfahrene in den USA zurück, die
als chronisch psychisch krank diagnostiziert worden waren, aber die Er-
fahrung gemacht hatten, dass Genesungsschritte für sie möglich waren.
Recovery meint also ein befriedigendes aktives und hoffnungsvolles
Leben auch mit den Einschränkungen durch die Erkrankung
selbst(Wilhelm Anthony 1993). So entstand eine Recovery-Bewegung,
die sich gegen den Pessimismus der negativen Prognosen der Psychiat-
rie wandte und stattdessen sich mit der Frage beschäftigte, was es
braucht, damit Menschen eigene Genesungsschritte gehen können.
Warum ein Recovery Collegein Stuttgart?
In Stuttgart gibt schon lange eine sehr lebendige Selbsthilfe für psy-
chisch belastete Menschen und eine aktive und gut entwickelte Sozial-
psychiatrie. So fand sich schnell eine Gruppe von Interessierten, die die-
se Recovery College Idee aufgriff und Anfang 2020 einen Arbeitskreis
Recovery College Stuttgart gegründet hat bestehend aus Mitgliedern
der Initiative der Psychiatrieerfahrenen Stuttgart (IPE), der Offenen Her-
berge e.V., der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart e.V. und weiteren
Interessierten. Ein Recovery College könnte eine Bereicherung für die
Stadt und für alle sein, ein Ort, um Bildungsangebote zur Festigung der
seelischen Gesundheit zu entwickeln. Es füllt damit eine Lücke und gibt
krisenerfahrenen Menschen eine Möglichkeit, ihr Erfahrungswissen wei-
ter zu geben. Wir würden es begrüßen , wenn wir hierzu mit der Hoch-
schule Esslingen in Kooperation kommen. Des weiteren dadurch
"erfahrungsbasiertes Lernen " an Bedeutung gewinnt.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
7 Recovery College Stuttgart
Sylvia Fahr-Armbruster
Ich bin Sozialpädagogin, habe lange in
sozialpsychiatrischen Einrichtungen
gearbeitet und bin heute in eigener
Praxis in der Fort- und Weiterbildung
und als Supervisorin tätig. Seit
November 2021 arbeite ich im
Recovery College Team mit und freue
mich sehr darüber, den Aufbau und
den Prozess des Recovery Colleges
Stuttgart mit gestalten zu können.
Kontaktdaten:
fahr-armbruster@
recoverycollegestuttgart.de
Conny Birkemeyer:
Ich bin von Beruf Gesundheits- und
Krankenpegerin mit der Zusatzausbil-
dung Pegemanagement. 2010 habe
ich die Qualizierung zur Genesungs-
begleiterin bei EX-IN Stuttgart - Träger
ist die Offenen Herberge e.V. Stutt-
gart - absolviert sowie anschließend
die EX-IN Trainerqualikation. Danach
habe ich 10 Jahre im ABW im GPZ
Möhringen gearbeitet. Seit November
2021 arbeite ich im Recovery College
Stuttgart mit und freue mich im Auf-
bau bei der Prozessgestaltung dabei
zu sein.
Kontaktdaten:
Birkemeyer@
recoverycollegestuttgart.de
Oscar Garcia:
Ich bin Mitarbeiter der Offenen Her-
berge e.V. - bin also aus der Selbsthil-
fe; ursprünglich komme ich aus dem
technischen Bereich. Als die Offene
Herberge in das Projekt Recovery Col-
lege mit eingestiegen ist, habe ich die
Gelegenheit ergriffen, mich an diesem
innovativen Vorhaben zu beteiligen.
Kontaktdaten:
garcia@
recoverycollegestuttgart.de
14
Fortsetzung
Warum ist es so wichtig, auf das Wissen und die Erfahrung von Men-
schen mit psychischen Erkrankungen oder Psychiatrieerfahrung aufzu-
bauen? Ärzt*innen und Psycholog*innen bringen ihre Sichtweise als Pro-
s mit und setzen vorwiegend akademisches Wissen um. Sie orientieren
sich vor allem an Symptomen und Deziten, die sie behandeln, was na-
türlich eine eminent wichtige und zentrale Hilfe für psychisch erkrankte
Menschen ist. Das Recovery College will und kann das natürlich nicht
ersetzen, sondern hat einen anderen Ansatz: es fragt nicht nach Dezi-
ten, sondern nach Ressourcen, also Fähigkeiten, Wünschen, Zielen, Inte-
ressen, Neugier und nach persönlichen Erfahrungen. So können Men-
schen mit Krankheitserfahrung ihr Expert*innenwissen über ihre Le-
benserfahrungen miteinander teilen und auf diese Weise einen Beitrag
leisten, das bestehende Hilfesystem um etwas Neues ergänzen.
Wie sehen die Angebote des Recovery Collegeaus?
Wir wollen Workshops anbieten, die stärkend für die Psyche und das
Wohlbenden sein sollen – für seelisch belastete Menschen und genau-
so auch für Gesunde“. Getreu nach dem Motto Erfahrungswissen le-
bendig teilensollen die Kursleiter*innen und die Teilgeber*innen – also
alle die an einem Workshop teilnehmen voneinander lernen, was ihnen
hilft, gesund zu bleiben. Auch gemeinsame Aktivitäten können den Men-
schen guttun. Das Besondere ist, dass alle Workshops von Betroffenen
und Pros gemeinsam in sogenannten Tandems geleitet werden, wovon
mindestens eine(r) der Kursleiter*innen selbst seelische Krisen durch-
lebt hat. Diese können dadurch mehr Selbstbewusstsein erlangen und
ihr eigenes Erfahrungswissen weitergeben.
Derzeit sind wir noch in der Findungs- und Erprobungsphase. Dazu ha-
ben wir eine Arbeitsgruppe Seminarplanung gebildet, die die Themenan-
gebote bespricht und ausarbeitet. Jede/r, die/der eine Idee hat, kann sie
zur Diskussion einbringen. Zurzeit nden interne sogenannte Probeläufe
statt, in denen wir an unseren Workshopangeboten arbeiten, z. B. zu
Themen wie Smalltalk für Schüchterne und Ängstliche“, „Lernen von
Bienen“, „Radfahren“, „Waldspaziergang mit allen Sinnen“, „Bewegung –
Achtsam in Bewegung kommen“, „Eine Seelenfarbe in Theorie und Pra-
xis“, „In Würde zu sich stehenund Recovery-Wege entdecken“. Ab Juni
werden wir dann die ersten Workshops anbieten und auf unserer Home-
page, die demnächst fertig ist, ankündigen.
Gibt es Möglichkeiten der Mitwirkung?
Ja natürlich! Das Recovery College versteht sich als Mitmachangebot.
Jede/r, der an Workshops teilnimmt, ist aufgerufen, auch Teilgeber*in
zu sein und ihre/seine eigene Erfahrung zu teilen. Weiterhin können so-
wohl Betroffene als auch Pros Ideen zu eigenen Workshops in die AG
Seminarplanung einbringen und man kann auch im Arbeitskreis mitar-
beiten, dort eigene Ideen beisteuern und an der weiteren Entwicklung
des Projekts mitwirken.
Wie kann man uns erreichen, wenn
man mehr wissen möchte?
Inzwischen haben wir unsere Ge-
schäftsstelle des Recovery College
Stuttgart in den Räumen der Psycho-
logische Beratungsstelle für politisch
Verfolgte und Vertriebene (PBV) ein-
gerichtet:
Ansonsten stehen wir Ihnen für Fragen
und Anregungen gerne zur Verfügung:
Kontaktdaten:
Schloßstraße 76, 70176 Stuttgart
info@recoverycollegestuttgart.de
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Mit dem folgenden Beitrag möchte ich meine Eindrücke und Recherchen
teilen, die ich durch eine Exkursion an die Nottingham Trent University
(NTU) und durch die Teilnahme an der European Conference for Social
Work Research (ECSWR) in Amsterdam gewonnen habe.
Die NTU setzt SUI um, so wie alle Hochschulen in Großbritannien, die
Sozialarbeiter*innen qualizieren. Die Hochschulen werden seit 2017 von
der öffentlichen Einrichtung "Social Work England" akkreditiert und be-
gleitet. Im aktuellen "Qualifying education and training standards
guidance (2021)" gibt es einige Neuerungen, u.a. die durchgehende
Bezeichnung "people with lived experience of social work". Empfohlen
werden die Prinzipien von "co-production", deniert als
"Zusammenarbeit mit Menschen als gleichberechtigte Partner bei der
Gestaltung, Durchführung und Überprüfung der Ausbildung in der Sozial-
arbeit." Somit ergeben sich sechs Bereiche, in denen die Ansichten, Be-
dürfnisse und Erkenntnisse von Erfahrungsexpert*innen das Curriculum
mitprägen sollen: Zulassung und Auswahl; Planung und Entwicklung des
Studiengangs; Lehr- und Lernaktivitäten; Feedback und Bewertung von
Studierenden; Qualitätssicherung, Überwachung und Bewertung. Es ist
sehr lohnenswert, sich den Leitfaden anzuschauen, da er praktische Um-
setzungen aufzeigt und interessanterweise auch an einigen Stellen den
Umgang mit dem Erfahrungswissen der Studierenden aufgreift. Meinem
Verständnis nach gibt es neben dem Leitfaden keine weiteren, konkret
formulierten Anforderungen an die Hochschulen. Im Akkreditierungspro-
zess müssen die Hochschulen regelmäßig narrativ ihre individuelle Um-
setzung beschreiben.
An der NTU durfte ich Ende März zwei Beispiele erleben, wie Erfahrungs-
expert*innen in Prüfungssituationen des Masterstudiengangs involviert
wurden. Zum einen durfte ich ein Rollenspiel beobachten, in dem ein
Student einen Berater spielte und mit einem Erfahrungsexperten in der
Rolle eines Adressaten eine Unterstützung plante. Das Rollenspiel war
eine von dreien, die als Prüfungsaufgaben vor dem Praktikum erfolgreich
bestanden werden müssen. Die Erfahrungsexpert*innen bewerten bei-
spielsweise, wie gut die Studierenden im Rollenspiel die verschiedenen
angesprochenen Probleme verstanden, auf Emotionen reagiert und re-
levante Fragen gestellt hat oder ob sie unvoreingenommen waren. Das
zweite Beispiel einer Kollegin der NTU waren Fallbeispiele für schriftliche
Prüfungen, die sie mit Erfahrungsexpert*innen gemeinsam erarbeitet hat
und mit deren Hilfe aktuelle Probleme der Adressat*innen thematisiert
werden können.
Fortsetzung auf der folgenden Seite
8 SUI in Europa - persönliche
Eindrücke aus Nottingham
und Amsterdam
Foto: Jonas Fischer
Marlene-Anne Dettmann
Nach langer Tätigkeit als Sozialpäda-
gogin im Hamburger Jugendamt ist sie
seit 2017 Professorin an der Fachhoch-
schule Potsdam und seit 2020 an der
Hochschule für Angewandte Wissen-
schaften in Hamburg. Am liebsten lehrt
und erkundet sie Formen der Partizipa-
tion. Sie bewegt seit 2020 zusammen
mit Prof. Dr. Bettina Müller von der FH
Esslingen das SUI-Netzwerk und veröf-
fentlicht jährlich den SUI-Newsletter.
Kontaktdaten:
marlene-anne.dettmann@
fh-potsdam.de
16
Fortsetzung
Als weitere Überraschung habe ich die Umsetzung der Koordination von
SUI erlebt. Die NTU arbeitet mit der lokalen NGO "SEA" zusammen. "Sea"
setzt sich einerseits als Dienst für Anwaltschaft und Beteiligung von
Menschen mit Anliegen in den Bereichen Wohnen, Gesundheit und
Sozialfürsorge ein. Andererseits motivieren sie Adressat*innen, als Erfah-
rungsexpert*innen an der NTU mitzuwirken und übernehmen die Vorbe-
reitung sowie die Begleitung. Dies erscheint mir auch für den deutsch-
sprachigen Raum eine spannende Kooperationsmöglichkeit zwischen
Hochschulen und Selbstvertretungen zu sein.
Anfang April habe ich auf der European Conference for Social Work Re-
search (ECSWR) in Amsterdam einen Tag lang eine sogenannte
Special Interest Group zu SUI besucht, in der Vertreter*innen aus den
Niederlanden, Schweden, Belgien, Polen, Schottland, UK, Norwegen und
Italien kurze Blitzlichter zur aktuellen Praxis in ihren Ländern vortrugen.
Sie sind mit Beiträgen alle im neuen Sammelband (siehe Literaturemp-
fehlungen auf der letzten Seite) vertreten. Interessant war, dass nach wie
vor nur Großbritannien verbindliche Strukturen bietet, die mit wichtigen
Ressourcen für die Umsetzung einhergehen. Berichten zufolge können
SUI Erfolge in Projektform zu schnell dem Rotstift zum Opfer fallen. Des-
halb sind Bestrebungen in Richtung Curriculum so wichtig (siehe Beitrag
in diesem Heft zum Vorhaben in Zürich). Des Weiteren wurde über den
Begriff "Service User" diskutiert und eine Tendenz erkennbar, dass
"people with lived experience" oder "Experiential knowledge" bald stärker
genutzt wird. Die nächste ECSWR ndet übrigens im April 2023 in Mai-
land statt.
Marlene-Anne Dettmann
17
Termine
Der nächste digitale SUI-Netzwerk-Talk ndet am
Freitag, den 07. Oktober von 13:30-15:30 Uhr statt.
Weitere Termine werden über den Netzwerkverteiler mitgeteilt.
Die Talks nden mit Zoom statt. Bitte schreiben Sie mich für die
Zugangsdaten an: dettmann@fh-potsdam.de
Neue Literatur aus unserem Netzwerk
Ackermann, Timo; Dettmann, Marlene-Anne (2022): Service User In-
volvement in der Hochschulbildung gelebte Partizipation?! In: Die Neue
Hochschule 3/2022 (S. 6-9).
Dettmann, Marlene-Anne; Scholz, Katharina (2021): Service User In-
volvement in der Hochschulqualizierung für Soziale Arbeit. Chancen und
Wirkungen. In: die hochschule (1/2021), S. 5669.
Driessens, Krystel; Lyssens-Danneboom, Vicky (Hrg) (2021): Involving
Service Users in Social Work Education, Research and Policy: A Compa-
rative European Analysis. Bristol: University Press.
Heidenreich, Thomas; Laging, Marion (2021): Joint Workshops with
students and service users in social work education: experiences from
Esslingen, Germany. In: Driessens, Krystel; Lyssens-Danneboom, Vicky
(Ed.): Involving Service Users in Social Work Education, Research and
Policy: A Comparative European Analysis. Bristol: University Press.
S. 109-116.
So erreichen Sie unser
SUI-Netzwerk:
Prof. Dr. Marlene-Anne Dettmann
Fachhochschule Potsdam
Kiepenheuerallee 5
14469 Potsdam
dettmann@fh-potsdam.de
Prof. Dr. Bettina Müller
Hochschule Esslingen
Flandernstraße 101
73732 Esslingen
bettina.mueller@hs-esslingen.de
Der Newsletter
Der SUI Newsletterim deutsch-
sprachigen Raum erscheint einmal
im Jahr. Er wird kostenlos per E-
Mail an alle angemeldeten Netz-
werkpartner*innen und interessier-
te Menschen versendet und darf
gerne weiterverteilt werden.
Die vorliegende Ausgabe wurde mit
großartiger Unterstützung von
Juliane Franz erstellt.
Verantwortlich für den
SUI-Newsletter:
Prof. Dr. Marlene-Anne Dettmann
Kiepenheuerallee 5
14469 Potsdam
E-Mail: dettmann@fh-potsdam.de
Unter dem folgenden Link nden
Sie alle alle SUI-Newsletter online:
researchgate Projekt SUI
Newsletter
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Article
Full-text available
Dieser Artikel geht der Frage nach, wie Adressat*innen während des Studiums an der Vermittlung von Wertestandards beteiligt werden können. Hierzu wird das Konzept Service User Involvement (SUI) vorgestellt, welches die systematische Beteiligung von Adressat*innen als Service User an der akademischen Ausbildung für Soziale Arbeit einfordert. Dabei wird begründet, wann die Beteiligung als bedeutsam für die Service User angesehen werden kann. Anschließend werden auch Hürden für den Wirkungsnachweis von SUI thematisiert. Das Design einer eigenen Evaluation eines Lehr-Lern-Arrangements mit Service Usern wird beispielhaft an dem Lernziel der Empathie vorgestellt und reflektiert. Wir verweisen auf ein Kompetenzverständnis, welches neben im Studium erlernten Techniken auch die Wichtigkeit von Haltung berücksichtigt. Im Ausblick plädieren wir für Lehr-Lern-Arrangements mit Beteiligung von Service Usern, die zu einer veränderten Praxis führen kann, welche bedeutsam für die Service User ist.
Service User" diskutiert und eine Tendenz erkennbar, dass "people with lived experience" oder "Experiential knowledge" bald stärker genutzt wird. Die nächste ECSWR findet übrigens im
  • Begriff
Begriff "Service User" diskutiert und eine Tendenz erkennbar, dass "people with lived experience" oder "Experiential knowledge" bald stärker genutzt wird. Die nächste ECSWR findet übrigens im April 2023 in Mailand statt.
Oktober von 13:30-15:30 Uhr statt
  • Freitag
Freitag, den 07. Oktober von 13:30-15:30 Uhr statt.
Involving Service Users in Social Work Education
  • Germany Esslingen
Esslingen, Germany. In: Driessens, Krystel; Lyssens-Danneboom, Vicky (Ed.): Involving Service Users in Social Work Education, Research and Policy: A Comparative European Analysis. Bristol: University Press.