ChapterPDF Available

„Ich geb nem Jungen nen Check und keine Umarmung“ - Jungen und Bildung in der Schule

Authors:

Abstract

Ein Politik-Grundkurs der Klassenstufe 11 diskutiert eine geschlechter-stereotype Werbung und kurze Interviews zum Thema Frauenwahlrecht aus den 1950er Jahren und spricht darüber, ob in Deutschland mittler-weile Geschlechtergerechtigkeit erreicht ist. Danach entwickelt sich eine Debatte, in der insbsondere mehrere Jungen im Kurs über erreichte Ge-schlechtergerechtigkeit und verbliebene Ungleichheit wie den gender pay gap oder Geschlechterstereotype und vergeschlechtliche Erwartun-gen diskutieren. Im Laufe der Diskussion meint ein Schüler: „Und die Gesellschaft ist noch weiter im Wandel, aber wir sind noch lange nicht an ner wirklichen Equality oder wie sich das nennt. Also (…) also ich kenn das so, ich geb ʼnem Jungen ʼnen Check und keine Umarmung, wenn man draußen ist und sich trifft. Das ist so….weiß nicht. Also, wenn das nicht mehr ist, dann wäre man schon mal näher dran“ (Fp4-S2-K4-P7). Der Schüler macht in dem Ausschnitt in kritischer Absicht die Ungleichheit der Geschlechter daran fest, dass die Körperpraktiken von Mädchen und Jungen nach wie vor unterschiedlich seien. Jungen umarmen sich nicht, sondern begrüßen sich mit eher kumpelhaften, wenig körperlichen Begrü-ßungsritualen. Diese Aussage ist anschlussfähig an vorliegende Studien im Kontext der Jungen-, Männer- und Geschlechterforschung, die tabuisierte Körperlichkeit und Zärtlichkeit unter Jungen und Männern (vor allem in protestantischen Kulturen) mit Rückgriff auf Bourdieu (Bourdieu 2005) als Teil eines vergeschlechtlichten Habitus analysieren. Der Schüler beschreibt vergeschlechtlichte Differenzen in seinem eigenen sozialen Umfeld, seine Aussage deutet zugleich auf seine eigene geschlechter- und männlichkeits-kritische Positionierung hin. Zudem zeugen die Inhalte der Debatte (z.B. verschiedene Rechenmodelle des gender pay gap) zugleich von einem hohen Diskurswissen der Schüler*innen. Lassen sich anhand solcher Szenen im Unterrichtsgeschehen Transformationen von Männlichkeit, Junge-Sein bzw. Geschlecht ausmachen? Wann und wie wird Geschlecht in der Schule von Lehrer*innen und Schüler*innen relevant gemacht? Welche Konstruktionen von Männlichkeit und Junge-Sein finden sich in der Schule? Das ethnographische For-schungsprojekt „Jungen und Bildung in der Schule“ hat das Anliegen, die Frage nach dem Beharren und der Transformation von Geschlecht zu diskutieren. Bevor das Forschungsprojekt und die Ergebnisse vorgestellt werden, erfolgt zunächst ein kurzer Einblick in den Forschungsstand.
Jungen in Bildungskontexten
Studien zu Differenz, Bildung und Kultur
herausgegeben von
Jürgen Budde
Band 11
Jürgen Budde/Thomas Viola Rieske (Hrsg.)
Jungen in
Bildungskontexten
Männlichkeit, Geschlecht und Pädagogik
in Kindheit und Jugend
Verlag Barbara Budrich
Opladen • Berlin • Toronto 2022
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://portal.dnb.de abrufbar.
© 2022 Dieses Werk ist bei der Verlag Barbara Budrich GmbH erschienen und steht
unter der Creative Commons Lizenz Attribution 4.0 International
(CC BY 4.0): https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Diese Lizenz erlaubt die Verbreitung, Speicherung, Vervielfältigung und Bearbeitung
unter Angabe der UrheberInnen, Rechte, Änderungen und verwendeten Lizenz.
www.budrich.de
Die Verwendung von Materialien Dritter in diesem Buch bedeutet nicht, dass diese
ebenfalls der genannten Creative-Commons-Lizenz unterliegen. Steht das verwendete
Material nicht unter der genannten Creative-Commons-Lizenz und ist die betreffende
Handlung gesetzlich nicht gestattet, ist die Einwilligung des jeweiligen
Rechteinhabers für die Weiterverwendung einzuholen. In dem vorliegenden Werk
verwendete Marken, Unternehmensnamen, allgemein beschreibende Bezeichnungen
etc. dürfen nicht frei genutzt werden. Die Rechte des jeweiligen Rechteinhabers
müssen beachtet werden, und die Nutzung unterliegt den Regeln des Markenrechts,
auch ohne gesonderten Hinweis.
Dieses Buch steht im Open-Access-Bereich der Verlagsseite zum kostenlosen
Download bereit (https://doi.org/10.3224/84742534).
Eine kostenpflichtige Druckversion (Print on Demand) kann über den Verlag bezogen
werden. Die Seitenzahlen in der Druck- und Onlineversion sind identisch.
ISBN 978-3-8474-2534-2 (Paperback)
eISBN 978-3-8474-1682-1 (PDF)
DOI 10.3224/84742534
Umschlaggestaltung: Bettina Lehfeldt, Kleinmachnow www.lehfeldtgraphic.de
Typographisches Lektorat: Angelika Schulz, Zülpich
Druck: docupoint GmbH, Barleben
Printed in Europe
5
Inhalt
Jürgen Budde und Thomas Viola Rieske
Erziehungswissenschaftliche Jungenforschung – eine Einleitung .................. 7
Jürgen Budde und Thomas Viola Rieske
Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Jungen – Systematisierung
eines Forschungsfeldes ................................................................................. 35
Thomas Viola Rieske und Jürgen Budde
Zur Relationierung von Jungen, Männlichkeit und Bildung – Eine
subjektivierungstheoretische Skizze ............................................................. 63
Männliche Akteure in Bildungsinstitutionen
Michael Cremers und Jens Krabel
Die Relevanz der Kategorie ‚Geschlecht‘ im Feld der frühen Kindheit.
Un/doing gender in Kindertageseinrichtungen ............................................. 93
Anette Dietrich und Jürgen Budde
„Ich geb ‚nem Jungen nen Check und keine Umarmung“ – Zwischen
Transformation und Tradierung von Männlichkeiten in der Schule ........... 117
Philippe Greif und Hartwig Schuck
Wenn Man(n) dazugehört – Zum Verhältnis von Männlichkeit und
Zugehörigkeit in gemischtgeschlechtlichen pädagogischen Kontexten
non-formaler Bildung .................................................................................. 151
6
Männliche Jugendliche und junge Männer in der Ausbildung
Barbara Scholand und Marc Thielen
Berufliche und geschlechtsbezogene Orientierungen von männlichen
Auszubildenden in geschlechtsuntypischen Berufen. Ein
exemplarischer Vergleich von Assistenzberufen im Erziehungs- und
Gesundheitssektor ....................................................................................... 181
Kevin Stützel und Sylka Scholz
Sorge als Beziehungsverhaltnis – Zum Umgang männlicher
Auszubildender mit Emotionen in der Pflege ............................................. 211
Barbara Scholand und Kevin Stützel
Jenseits von Dominanz und Hegemonie? Männliche Auszubildende in
der Pflege .................................................................................................... 231
Theoretische Perspektiven auf Forschungen zu männlichen
Akteuren in Bildungskontexten
Jürgen Budde
Männlichkeitskonzeptionen in Kindheit und Jugend im Kontext von
Bildungs- und Erziehungsinstitutionen ....................................................... 253
Kevin Stützel im Gespräch mit Jürgen Budde, Stephan Höyng, Marc
Thielen, Thomas Viola Rieske und Sylka Scholz
Was heißt heutzutage ‚mannlich‘ sein? Von ‚dicken Begriffen‘,
‚diskursiven Brecheisen‘, ‚Barbiepuppen als Spiderman‘, ‚Jungs im
rosa Kleid‘ und dem Ringen um Begriffe und
männlichkeitstheoretische Konzepte in der Forschungspraxis.................... 289
Autor*innen und Projektbeteiligte .............................................................. 321
Erziehungswissenschaftliche Jungenforschung – eine
Einleitung
Jürgen Budde und Thomas Viola Rieske1
1 Einleitung
Die Kategorie ‚Junge‘ bildet bereits seit längerem einen Gegenstand erzie-
hungswissenschaftlicher Geschlechterforschung. Dabei wurden im Laufe der
letzten Jahrzehnte unterschiedliche Perspektiven eingenommen. Dabei bilden
etwas Bedingungen männlicher Sozialisation, Kompetenzdifferenzen in for-
malen Bildungsinstitutionen, berufliche Orientierung und Berufswahlpro-
zesse, die Bedeutung von Gewalt und Risikohandeln, Körperkonstruktionen,
Fürsorge oder die Vorbildfunktion von Pädagog*innen nur einige der Themen,
die in den Blick genommen wurden. Nicht selten wurde und wird die Frage
nach Tradierungen und/oder Transformationen der Relevanz von Geschlecht
und Männlichkeit für Jungen diskutiert. Vor diesem Hintergrund wurde das
Forschungsprojekt „Jungen und Bildung“ entwickelt. Das Projekt beschaftigte
sich von 2017 bis 2021 mit Bildungsprozessen von Jungen im Kontext gesell-
schaftlicher Transformationen und mit Blick auf Arbeitswelten, Geschlechter-
verhältnisse und Bildungsinstitutionen.
Die Einleitung bietet einen Überblick über die Historie erziehungswissen-
schaftliche Jungenforschung und sich daraus ableitende Herausforderungen
(Kap. 2). Anschließend wird der Aufbau des Forschungsprojektes sowie die
theoretischen Grundlgen expliziert (Kap. 3). Kap. 4 präsentiert zentrale
Befunde der Teilprojekte und bietet mit dem Modell divergierender nnlich-
keiten einen theoretischen Rahmen. Zum Ende werden kurz die Beiträge des
Sammelbandes zusammengefasst dargestellt (Kap. 5).
1Wir danken Michael Cremers, Phillippe Greif, Jens Krabel, Bernard Könnecke, Barbara
Scholand, Sylka Scholz, Hartwig Schuck, Kevin Stützel und Marc Thielen für die hilfreichen
Anregungen.
8
2 Erziehungswissenschaftliche Jungenforschung
Die Veröffentlichung „Kinder: Geschlecht mannlich. Padagogische Jungen-
forschung“ (Schultheis et al. 2006) im Jahr 2006 markierte eine Zäsur in der
deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Seit
den 1980er-Jahren wurden Geschlechterthemen im erziehungswissenschaftli-
chen Feld zunächst vorrangig mit Fokus auf weibliche Perspektiven bearbeitet
was sich etwa im Titel der 1984 gegründeten AG Frauenforschung in der
Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft sowie in den Themen die-
ses Arbeitszusammenhangs dokumentierte (vgl. Faulstich-Wieland 1989). Im
Zuge der Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes wie auch zunehmender
theoretischer Auseinandersetzungen über die Kategorie Geschlecht bzw. gen-
der etablierte sich Frauen- und Geschlechterforschung als Oberbegriff des For-
schungsfeldes (vgl. Schlüter 2019). Mit der Einführung des Begriffes „(pada-
gogische) Jungenforschung“ in die Erziehungswissenschaft wurde ein Feld
markiert, das zwar vereinzelt bereits früher bearbeitet wurde (insbes. Böhnisch
und Winter 1993; vgl. auch Metz-Goeckel 1993 für eine frühere Verwendung
des Begriffs „Jungenforschung“), doch ab den 2000er Jahren zunehmend als
explizites Teilgebiet erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung be-
griffen wurde (vgl. auch Budde und Rieske in diesem Band).
Schultheis und Fuhr (2006) konnten in ihrer Systematisierung des damali-
gen Forschungsstands der Jungenforschung bereits auf umfangreichere Litera-
tur zurückgreifen, da sie zum einen auch Studien der nicht nur auf Jungen fo-
kussierten Geschlechterforschung nutzten und zum anderen ebenfalls eng-
lischsprachige Publikationen einbezogen. Parallel dazu entwickelte sich eine
große Produktivität von Forschung zu Jungen in Deutschland. Insbesondere in
Reaktion auf die Veröffentlichung der PISA-Studie im Jahr 2001, die geringere
Werte bei der Lesekompetenzen von Jungen im Vergleich zu denen von Mäd-
chen diagnostiziert, boomte nicht nur medial (vgl. hierzu Fegter 2012), sondern
auch – mit einiger Verzögerung die wissenschaftliche Auseinandersetzung
mit der Bildungssituation von Jungen (vgl. u.a. die Sammelbände von Budde
und Mammes 2009 und Pech 2009 sowie Cremers 2007, Rieske 2011 und
Jungenbeirat 2013).
Doch nach der verstärkten Forschungs- und Publikationstätigkeit v.a.
zwischen 2005 bis 2012 gibt es zunehmend weniger Veröffentlichungen neuer
empirischer Ergebnisse und kaum theoretische Weiterentwicklungen. Die
Forschung zu Jungen bezieht sich vorrangig auf die männlichkeitstheo-
retischen Arbeiten von Connell (1999), Bourdieu (2005) und den -
Interaktionismus, teilweise ergänzt durch stärker subjektbezogene Theorien
etwa von und Böhnisch (2013) sowie intersektionale Perspektiven (vgl. Budde
und Rieske in diesem Band). Daneben werden auch system- bzw. differenz-
ierungstheoretische Perspektiven verwendet, die Geschlecht und Männlichkeit
9
im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung diskutieren. Es dominiert die
Sichtweise, dass Praktiken von und mit Jungen von der Aneignung und
Einübung von Normen bzw. Orientierungen gekennzeichnet sind, die die
Handlungsspielräume von Jungen in für sie und andere nachteiliger Weise
einschränken und die hierarchische Relationen unter Jungen sowie zwischen
Jungen und Mädchen – und in der Folge auch unter Männern sowie zwischen
Männern und Frauen (re-)produzieren (siehe dazu ausführlich Rieske und
Budde in diesem Band). Diese Situation ist in mehrfacher Hinsicht
unbefriedigend.
Erstens wird sich vielfach auf Theorien bezogen, deren empirische Basis
beschränkt und veraltet ist. Bourdieu (2005) bezog sich auf Beobachtungen in
der Kabylei in den 1950er Jahren, Connell (1999) auf Interviews mit Jungen
und Männern in den frühen 1980ern. Bei beiden Studien ist zusätzlich die em-
pirische Basis schmal. Böhnisch (2013) entwickelt seine Theorie nicht anhand
eigener Forschung und reflektiert auch nur sehr beschränkt aktuelle Studien zu
Jungen. Butler (2001), die in der erziehungswissenschaftlichen Jungenfor-
schung ebenfalls mehrfach aufgegriffen wird, hat ebenfalls ohne empirische
Daten subjektphilosophisch gearbeitet. Die genannten Zugänge haben sich als
theoretisch wie empirisch fruchtbar erwiesen, doch die Aufnahme neuerer,
dazu in Widerspruch stehender Ergebnisse, ist bislang nicht systematisch ge-
schehen und eine empirische Fundierung der Theorien erweist sich ob der
praktischen Komplexität von Geschlecht als herausfordernd. Auch wird der
Bezug auf feministische Theoriebezüge zunehmend undeutlicher (vgl. Budde
und Rieske 2019).
Dies ist vor allem dann relevant, wenn zweitens auch Transformationen
der Geschlechterverhältnisse berücksichtigt werden sollen. Diese sind bei
Connell und Bourdieu tendenziell weniger berücksichtigt, denn beide Ansätze
fokussieren auf die Beschreibung und Erklärung der Tradierung der Dominanz
von Männern, sie liefern jedoch keine Erklärung bei der Theoretisierung a) von
neuen Formen von Geschlechterhierarchien, die eventuell mit „Dominanz von
Mannern“ nicht mehr angemessen beschrieben sind und b) von nicht-hegemo-
nialen oder gegendominanten Praktiken, die (scheinbar) ohne Hierarchisierung
auskommen oder eine Integration von als weiblich geltenden Aktivitäten in die
Praxis von Jungen und Männern zeigen (vgl. Rieske und Budde 2019). Die
teilweise öffentlich dargestellte, gewachsene Akzeptanz von Homosexualität
in modernen Demokratien etwa stellt eine theoretische Herausforderung dar,
da die Figur des schwulen Mannes nicht mehr umstandslos als Beispiel für
untergeordnete Männlichkeit gesehen werden kann wie dies bei Connell
beschrieben wird (vgl. (Heilmann 2014). Auch die Bedeutung der verstärkten
öffentlichen Thematisierung von Gewalt durch Jungen bzw. Männer (etwa im
Rahmen von #metoo) wie auch von Gewalt gegen Jungen (etwa im Kontext
der Aufdeckung sexualisierter Gewalt gegen Jungen in pädagogischen
Institutionen) wären zu reflektieren, da sie an Grundelementen männlicher
10
Sozialisation (Gewaltausübung als Norm, Gewaltbetroffenheit als Tabu)
rütteln. Darüber hinaus sind Be-/Deutungsverluste der Relevanz von
Geschlecht als soziale Ordnungskategorie mit Hegemonie- oder Habitustheo-
rien nur schwer erklärbar. Während beispielsweise früher in deutschen Bil-
dungseinrichtungen nach Mädchen und Jungen monoedukativ eingeteilt und
unterschiedliche geschlechtsbezogene Lern- sowie Erziehungsziele verfolgt
wurden, gilt gegenwärtig generell das abstrakte Gleichheitspostulat und
Bildungseinrichtungen sind in der Regel koedukativ organisiert. Geschlecht
wird also zusehends mittels formalisierter Verfahren neutralisiert.
Auch die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse verändern sich drit-
tens, weg von einer Industriegesellschaft hin zu Dienstleistungsgesellschaft.
Damit transformiert sich eine zentrale Bastion traditioneller männlicher Sub-
jektivierungsweisen. Denn Mannlichkeit wird in den ‚klassischen Theorien‘
maßgeblich über die Trennung von Produktion und Reproduktion entlang der
heteronormativen Dichotomie ‚mannlich‘ und ‚weiblich‘ konturiert, nach der
‚produktive‘ Arbeit als mannliche Sphare verstanden wird, wahrend Frauen als
zuständig für reproduktive und fürsorgliche Tätigkeiten naturalisiert werden.
Der zunehmende Wegfall typischer gering qualifizierter Arbeitsplätze in Land-
wirtschaft und Industrie im globalen Norden bringt einen Wandel der Arbeits-
welt mit sich; berufliche Perspektiven liegen verstärkt in Pflege- und Dienst-
leistungsberufen, die nicht unmittelbar anschlussfähig sind an Konzepte des
männlichen Habitus. Für ressourcenschwache Männer bleibt bisweilen der
Rückgriff auf Männlichkeit als eine der wenigen Möglichkeiten, überhaupt
Ressourcen mobilisieren zu können, wenngleich diese „protestierende Mann-
lichkeit“ (Connell 1999) oftmals wenig soziale Inklusion ermöglicht.
Heilmann (2014) spricht von einem doppelten Reproduktionsdilemma für
Männer, weil die Reproduktion der eigenen Person nicht mehr im gleichen
Maße von den Frauen übernommen wird, die nunmehr auch in den Arbeits-
markt integriert sind und weil Prekarisierungsprozesse es erschweren, das
Ideal des Familienernährers zu erreichen (auch Holter 2007). Auch die Forde-
rung nach verstärkter Berufstätigkeit von Frauen und größerem reproduktivem
Engagement von Männern, insbesondere Vätern (wie sie etwas in der Neure-
gelung des Elterngeldes angelegt war), verändert und dynamisiert die Relevanz
von Beruflichkeit für Männlichkeitskonzeptionen ebenso wie die globale Öko-
nomisierung von Care-Tätigkeiten.
Viertens ist der generelle Wandel der politischen und ökonomischen
Verhältnisse in Richtung einer globalisierten, digitalisierten, postfordistischen
und neoliberalen Gesellschaft zu reflektieren. Diese wirkt etwa in Form der
Ökonomisierung von Bildung (Hartong et al. 2018), gewandelter Arbeits-
marktanforderungen (Elster 2007) oder der Reproduktionskrise (Aulenbacher
und Dammayr 2014) auf die Bildungsprozesse von Jungen. Die gesellschaft-
liche Individualisierung bringt eine Flexibilisierung, bzw. einen Bedeutungs-
verlust traditioneller Zugehörigkeitskategorien mit sich. Budde (2010) bringt
11
den Begriff der „Just-in-time Mannlichkeit“ in die Diskussion. Damit werden
jene Männlichkeiten gefasst, die ihre Konstruktionen ganz im Sinne der Ideo-
logie moderner Produktionsverfahren flexibel und situationsangemessen
einsetzen oder auch ‚zurückfahren‘ können. Dies schließt an das Individuali-
sierungsparadigma (spät-)moderner Gesellschaften an, innerhalb dessen
feministische Kämpfe um Emanzipation und neoliberale Individualisierung
paradoxe Verflechtungen aufweisen können (Walgenbach 2015). Die Flexi-
bilität von Männlichkeiten erweist sich so gerade als wichtige Triebfeder bei
der Aufrechterhaltung des Konstruktes Männlichkeiten so wie Flexibilität,
Pluralität und Individualität generell ein herausstechendes Merkmal von
modernen Gesellschaften darstellen. Ebenfalls relevant allerdings ist auf der
anderen Seite das Erstarken anti-emanzipatorischer Kräfte nicht zuletzt als
Widerstand gegen gesellschaftliche Individualisierung wie im Fall von Anti-
feminismus und autoritärem Populismus, die auch neue dominanzorientierte
männliche Subjektivierungsweisen präsentieren.
Jenseits des Aktualisierungsbedarfs aufgrund gesellschaftlicher Transfor-
mationen wäre fünftens außerdem eine Weiterentwicklung unter Rückgriff auf
neue Theorien – v.a. queere und intersektionale Beiträge – sinnvoll. Aus quee-
rer Perspektive wäre u.a. die enge Verknüpfung von Jungen, Männern und
Männlichkeit zu bearbeiten: Männlichkeit wird in der Männlichkeitsforschung
meist ‚an‘ Jungen bzw. Mannern erforscht und so Mannlichkeitskonstruktio-
nen mit Aktivitäten von Jungen bzw. Männern gleichgesetzt. Somit wird
Mannlichkeit in gewisser Weise ‚reontologisiert‘, und der Anspruch, das So-
ziale als Konstruktion zu verstehen, unterlaufen (Degele 2007). Das diskursive
Dreieck Junge-Mann-Männlichkeit wird fortgeführt (Jungen werden Männer
und müssen dafür Männlichkeit von Männern lernen und dies mit anderen Jun-
gen; Männer sind für die Mannwerdung von Jungen zuständig und sollen daher
Männlichkeit vorleben/bearbeiten; Männlichkeit ist das, was Jungen und Män-
ner tun und tun sollen). Die Einarbeitung intersektionaler Perspektiven mag
zunächst unnötig erscheinen, denn bei Connell sind mit dem Begriff der Mar-
ginalisierung/marginalisierten Männlichkeit andere Herrschaftsverhältnisse
berücksichtigt, und einige Studien beziehen sich explizit darauf (z.B.
Scheibelhofer 2018; Thielen 2011, 2014; Huxel 2014). Aber auch hier gibt es
einerseits Potenziale der Weiterentwicklung der Theorie hinsichtlich Diskur-
sen um Flucht, Rassismus, Klassismus und Ability (und darauf bezogene ge-
sellschaftliche Transformationen), und andererseits Bedarfe, die Relationen
der Differenzkategorien zueinander theoretisch konsistenter zu erfassen
(Degele 2019). Entsprechende Entwicklungen in Diskursen der Jungenarbeit
sind hierfür instruktiv (vgl. Busche und Cremers 2009, Busche 2013).
Aus Perspektive erziehungswissenschaftlicher Jungenforschung bieten die
genannten Ansätze sechstens vergleichsweise wenig Differenzierungspoten-
zial mit Blick auf die generationale Ordnung. Die Theorien beziehen sich vor-
rangig auf Erwachsene und die Differenzierungslinie Alter, die Männer und
12
Jungen voneinander unterscheidet, spielt kaum eine Rolle, bzw. wird als line-
ares Verhältnis verstanden (Connell 2000). In der Summe verweisen die hier
nur kurz skizzierten Perspektiven auf erheblichen Forschungsbedarf zum Ver-
hältnis von Jungen, Männlichkeit und Bildung, um Transformationen und Tra-
dierungen genauer beschreiben und theoretische Differenzierungen vorneh-
men zu können.
3 Der Forschungsverbund „Jungen und Bildung“2
3.1 Forschungsfragen und Aufbau des Forschungsverbundes
Vor dem skizzierten Hintergrund wurde das Forschungsprojekt „Jungen und
Bildung“ entwickelt. Das Projekt beschaftigte sich mit Bildungsprozessen von
Jungen im Kontext gesellschaftlicher Transformationen und mit Blick auf Ar-
beitswelten, Geschlechterverhältnisse und Bildungsinstitutionen. Das Projekt
wurde in einem Forschungsverbund realisiert, der insgesamt sechs Teilpro-
jekte umfasste (vgl. Abbildung 1).3 Leitend waren dabei die folgenden Frage-
stellungen:
Welche Männlichkeitskonzeptionen in Bezug auf Bildungsprozesse von
und mit Jungen zeigen sich in den Orientierungen, Praktiken sowie päda-
gogischen Institutionen und wie werden diese begründet?
Wie entwickeln sich Übergänge in geschlechtsuntypische Berufe von in-
stitutionell und biographisch? Welche Möglichkeiten und Blockaden r
eine Entstereotypisierung und damit für die Realisierung von Gleichstel-
lung auch in der Arbeitswelt finden sich?
Welche Ausdifferenzierungen der theoretischen Perspektiven sind nötig,
um Bildung von Männlichkeitskonzeptionen im Kontext sich wandelnder
Arbeitswelten, Geschlechterverhältnisse und Bildungsinstitutionen zu
verstehen?
Die Projekte nehmen somit verschiedene Aspekte der Relation von Jungen und
Bildung in den Blick. Die Projekte zu Schule und beruflicher Bildung betrach-
ten den Bereich der formalen Bildung, während die Projekte zur Frühpädago-
gik4 und zur offenen Jugendarbeit non-formale Bildung analysieren. Das Pro-
2 Die Textbausteine für das Design und die Ergebnisse der Teilprojekte wurden von deren
Mitarbeiter*innen beigesteuert und von den Autoren der Einleitung überarbeitet.
3 Das Verbundprojekt wurde durch Julia Perlinger administrativ unterstützt. Als Hilfskräfte
waren Christian Möstl und Claas Hundermark tätig. Allen dreien ist für dafür herzlich zu
danken.
4 Die Frühpädagogik wird in aktuellen Diskursen des Öfteren als informeller Lernort betrachtet
(Bollig et al. 2016). Hier wird allerdings der Unterscheidung gefolgt, die das DJI in die
13
jekt zu Bildungsbiographien steht dazu ebenso quer wie das theoretische Pro-
jekt. Hinsichtlich des Alters wiederum fokussieren die Projekte zu Frühpäda-
gogik und Schule die Kindheit, die Projekte zur Jugendarbeit und zur berufli-
chen Bildung sowie das Projekt zu Bildungsbiographie blicken auf Jugend und
das junge Erwachsenenalter, während das Theorieprojekt auch diesbezüglich
eine übergreifende Perspektive einnahm.5
Abbildung 1: Aufbau des Projektverbundes.
Das Teilprojekt „Jungen im Diskurs“6 übernahm die Aufgabe, aktuelle wissen-
schaftliche Diskurse, theoretische Differenzierungen und begriffsanalytische
Überlegungen in den Projektverbund sowie dessen Netzwerke und Öffentlich-
keit einzuspeisen und die Befunde des Forschungsverbunds theoretisch zu ver-
binden. Es ging in mehreren Teilstudien der Frage nach, wie die Bildung von
Debatte eingebracht hat und welche auch die Grundlage für den nationalen Bildungsbericht
des BMBF bildet (Rauschenbach et al. 2004; auch Budde in diesem Band).
5 Die Umsetzung dieses Verbundprojektes geschah in der zweiten Hälfte der Gesamtlaufzeit
unter erschwerten Bedingungen. Die Durchführung des Forschungsvorhabens wurde durch
die Covid-19-Pandemie und die darauf bezogenen Schutzmaßnahmen negativ beeinflusst.
Dies betraf zum einen die Gestaltung persönlicher Kontakte. Bereits vereinbarte oder
geplante Interviewtermine mussten verschoben und teils in (video-)telefonischer Form
durchgeführt werden. Im Projekt zu Frühpädagogik und zur Schule mussten Feldphasen
verkürzt werden. Diese Einbußen wurden durch zusätzliche analytische und theoretische
Arbeiten kompensiert. Eine spezifische thematische Berücksichtigung der Pandemiesituation
in Erhebung und Auswertung fand nicht statt, da die Forschungen bereits zu weit fort-
geschritten waren, um dies systematisch tun zu können.
6 Das Teilprojekt unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Budde an der Europa-Universität
Flensburg durch Dr. Thomas Viola Rieske bearbeitet.
Informelle
Bildung
Non-formale
Bildung
Formale
Bildung
Kindheit
Jungen und Bildung
in der frühen Kind-
heit
Jungen und Bildung
in Schule
Jugend &
junge
Erwachsene
Bildungsbiogra-
phie
Jungen und non-for-
male Bildung
Jungen in beruflicher
Bildung
14
Jungen charakterisiert und analysiert werden kann und strebte dabei einerseits
die Formulierung von Zeitdiagnosen zur gegenwärtigen Situation von Jungen
an und entwickelte andererseits programmatische Entwürfe für die Zukunft im
Sinne von Forschungs- und Handlungsbedarfen.
Das Teilprojekt „Jungen und Bildung in der frühen Kindheit“7 analysierte
als ethnographisches Forschungsprojekt soziale Praktiken der Humandifferen-
zierung in altersübergreifenden Kindertageseinrichtungen mit einem besonde-
ren Fokus auf Geschlecht und Jungen. Die Untersuchung zielte darauf, sowohl
die Relevanz geschlechtsbezogener Differenzierungen als auch deren Zusam-
menhang mit der Hervorbringung von Asymmetrien in diesem Feld zu rekon-
struieren. Neben der Relevanz geschlechtsbezogener Unterscheidungen galt
das Interesse dem undoing gender (vgl. u.a. Hirschauer 2001). Im Rahmen der
Untersuchung wurden teilnehmende Beobachtungen und Ad-hoc-Gespräche
mit Kindern und Fachkräften in zwei Einrichtungen in einem groß- und einem
mittelstädtischen Gebiet in nord-östlich liegenden Bundesländern durchge-
führt.
Das ebenfalls ethnographische Teilprojekt „Jungen und Bildung in
Schule“8 analysierte aus intersektionaler Perspektive Praktiken des doing und
undoing gender bzw. masculinity und (un)doing difference (Hirschauer 2014)
im Unterricht. Zentrale Fragestellungen waren, inwiefern in der Schule Ge-
schlecht von Lehrer*innen und Schüler*innen relevant gemacht wird und wel-
che als männlich vergeschlechtlichten Subjektivierungsweisen sich in Prakti-
ken von und mit Jungen an der Schule zeigen. Es wurde analysiert, welche
Konstruktionen von Junge-Sein (und Mädchen-Sein) sich abzeichnen und in-
wiefern sich im empirischen Material Hinweise für Transformationen oder ein
Beharren von Geschlechterkonstruktionen zeigen. Das empirische Material be-
inhaltete ethnographische Beobachtungsprotokolle aus vier verschiedenen
Schulen und vier Klassenstufen zwischen der 1. und der 11. Klasse. Mit dieser
Konstruktion eines ‚simulierten Langsschnitts‘ rückt der zeitliche Verlauf der
vergeschlechtlichten Subjektivierungen von Jungen in den Blick. Der Fokus
der ethnographischen Beobachtungen lag insbesondere auf unterrichtlichen
Praktiken. Neben den verschiedenen Klassenstufen stellten marginalisierte
Schule und bildungsbürgerliche Grundschule bzw. Gymnasium sowie Stadt
und Land weitere Kontrastierungen dar. Die Auswertung der Protokolle und
Gespräche erfolgte kodierend in Anlehnung an die Grounded Theory Method
(Glaser und Strauss 2010).
7 Das Teilprojekt wurde an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin von Jens Kra-
bel und Michael Cremers bearbeitet und von Prof. Dr. Stephan Höyng koordiniert.
8 Das Teilprojekt wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Budde an der Europa-Univer-
sität Flensburg durch Dr. Anette Dietrich bearbeitet.
15
Das Teilprojekt „Jungen und non-formale Bildung“9 erforschte die Umset-
zung geschlechterreflektierter Pädagogik mit Jungen in Angeboten non-forma-
ler Pädagogik sowie die Bezugnahmen und Perspektiven teilnehmender Jun-
gen auf selbige Angebote. In der ethnografisch angelegten Studie wurde die
Umsetzung geschlechterreflektierter Pädagogik mit Jungen in gemischtge-
schlechtlichen Settings non-formaler Bildung erforscht sowie untersucht, wie
Jungen diese Angebote wahrnehmen und welche Relevanz Geschlechterkon-
struktionen bzw. Männlichkeit für das Erleben und Handeln der Jungen in die-
sen Settings beizumessen ist. Dafür wurden nach der Durchführung von Ex-
perteninterviews mit Pädagog*innen vier Angebote der Offenen Kinder- und
Jugendarbeit beforscht, die ihrem Selbstverständnis nach einen geschlechter-
reflektierten pädagogischen Ansatz verfolgen. Es wurden qualitative Inter-
views mit teilnehmenden Jungen und ergänzende Interviews mit Jungen, die
früher selbst Teilnehmer waren und inzwischen selbst im Angebot mitarbeiten
sowie einigen Mädchen durchgeführt, um die Sinnkonstruktionen von Jungen
in Bezug auf ihre Teilnahme an dem jeweiligen pädagogischen Angebot erfas-
sen zu können. Mittels weiterer qualitativer Interviews wurden Deutungen und
Praktiken der Pädagog*innen in den Angeboten untersucht. Die Interviews
wurden in Anlehnung an die Methode der objektiven Hermeneutik nach
Oevermann (2001a, 2001b, 2002) ausgewertet. Ergänzt wurde diese Perspek-
tive durch teilnehmende Beobachtungen, um die Sinnkonstruktionen auf der
Deutungsebene mit den Handlungspraxen von Pädagog*innen und Jungen zu
kontrastieren.
Das ethnografische Teilprojekt „Jungen in beruflicher Bildung“10
erforschte in einer Vorstudie Aktivitäten und Prozesse der Ausbildungs-
vorbereitung an zwei berufsbildenden Schulen. Im Rahmen der Hauptstudie zu
jungen Männern in geschlechtsuntypischen Ausbildungen wurden insgesamt
24 Interviews mit männlichen Auszubildenden in den Berufen Altenpfle-
ger*in, Sozialpädagogische*r Assistent/in sowie Medizinische*r Fachange-
stellte*r durchgeführt. Im Mittelpunkt der Interviews stand die biographische
Darstellung der Berufswahlentscheidung. Die Daten wurden mittels Grounded
Theory ausgewertet, wobei ein Vergleich der Berufsfelder vorgenommen
wurde sowie Verlaufsmuster rekonstruiert wurden. Ergänzend wurden Inter-
views mit Lehrkräften der drei berufsbildenden Schulen sowie teilnehmende
Unterrichtsbeobachtungen durchgeführt.
Das Teilprojekt „Bildungsbiographie“11 untersuchte anhand von Auszubil-
denden im Bereich der Kranken- und Altenpflege, wie sich der Übergang von
9 Das Teilprojekt wurde unter der Leitung von Bernard Könnecke bei Dissens Institut für
Bildung und Forschung durch Hartwig Schuck und Philippe Greif bearbeitet.
10 Das Teilprojekt wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Marc Thielen an der Universität
Bremen durch Barbara Scholand bearbeitet.
11 Das Teilprojekt wurde unter der Leitung von Prof. Dr. Sylka Scholz an der Universität Jena
durch Dr. Kevin Stützel bearbeitet.
16
männlichen Jugendlichen in einen Pflegeberuf biographisch entwickelt. Aus-
gehend von einer rekonstruktiven, lebensgeschichtlichen Interviewstudie mit
männlichen Auszubildenden in der Alten- und Krankenpflege wurde rekon-
struiert, wie der Einstieg in den geschlechtersegregierten Pflegeberuf bewältigt
wird. Analysiert wurde darüber hinaus, inwiefern sich bei den befragten Ju-
gendlichen im Übergang in einen geschlechtsuntypischen Pflegeberuf, eine
Transformation geschlechtsbezogener Orientierungen dokumentiert. Im Ge-
gensatz zu bisherigen Forschungsarbeiten zu Berufsfindung und Geschlecht,
die entweder die Reproduktion geschlechtersegregierter Laufbahnen, also Be-
harrungskräfte fokussieren (siehe u. a. Busche 2013) oder Transformationspro-
zesse, d.h. sozialen Wandel (siehe u. a. Budde et al. 2009) herausstellen, wurde
Männlichkeit im Teilprojekt als Verschränkung von Persistenz und Wandel in
den Blick genommen.
3.2 Theoretische Ausgangspunkte der Teilprojekte
Den Projektverbund eint ein grundsätzliches Verständnis von Geschlecht als
soziale Konstruktion. Entgegen essentialistischen Vorstellungen, wonach Ge-
schlecht durch die Natur festgelegt sei, geht der Verbund davon aus, dass Ge-
schlecht ein Ergebnis sozialer Praxis ist. Das bedeutet nicht, dass etwa körper-
liche Gegebenheiten als irrelevant gesehen werden. Aber welche dieser Gege-
benheiten in welcher Weise geschlechtlich konnotiert werden und wann sie
relevant gemacht werden, ist Teil des Sozialen und historisch wie auch kultu-
rell veränderlich. Insofern folgen die Projekte dem doing gender-Paradigma
und verstehen Männlichkeit als sozial konstruierte Position innerhalb von Ge-
schlechterverhältnissen, die wenngleich nicht beliebig symbolischen und
sozialen Interpretations- und Wandlungsprozessen unterliegen.
Damit einher geht ein methodologisches Interesse an dem konkreten Tun
von Akteur*innen. Alle Teilprojekte verfolgen mithin eine qualitativ-rekon-
struktive Perspektive. Seien es Diskurs, Praktiken oder Orientierungsmuster,
der analytische Fokus richtet sich darauf, wie Männlichkeitskonzeptionen in
Praxis generiert und prozessiert werden. Insofern verweisen die Befunde auch
nicht auf Häufigkeiten oder Korrelationen, sondern auf die Aktivitäten sozialer
Akteur*innen.
Gemeinsam ist den Projekten darüber hinaus die Bezugnahme auf die
Annahme, dass die soziale Praxis unter anderem von einer Hegemonie andro-
zentrischer und heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit gekennzeichnet ist:
Soziale Praxis basiert oftmals auf der Annahme (bzw. der Durchsetzung) einer
dichotomen Zweigeschlechtlichkeit. Dies ist in den vergangenen Jahren vor
allem dahingehend problematisiert worden, dass Lebensweisen jenseits dieser
zweigeschlechtlichen Ordnung ausgegrenzt, angegriffen und marginalisiert
werden (etwa transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Lebensweisen
17
bzw. Personen). Doch normative Zweigeschlechtlichkeit betrifft auch jene, die
sich mit einer dieser beiden Geschlechterpositionen identifizieren können und
bei denen diese auch dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entspricht.
Denn normative Zweigeschlechtlichkeit impliziert auch, dass die
Handlungsmöglichkeiten von cisgeschlechtlichen Mädchen und Jungen bzw.
Frauen und nnern eingeschränkt sind: Wer als männlich oder weiblich
gelten will/soll, muss bestimmten Normen entsprechen. Teil normativer Zwei-
geschlechtlichkeit ist, trotz aller Entstigmatisierungsprozesse, eine Privile-
gierung von heterosexuellen Lebensweisen.
Neben Heteronormativität und normativer Zweigeschlechtlichkeit teilen
die Teilprojekte eine Sichtweise, die soziale Praxis ebenfalls von Hierarchien
gekennzeichnet versteht, die mit Begriffen wie männliche Herrschaft, Domi-
nanz, Hegemonie oder Androzentrismus beschreiben lassen. Im Kern geht es
hierbei um einen materiell wie auch symbolisch höheren Status von Männlich-
keit gegenüber Weiblichkeit, der sich in durchschnittlich höherem ökonomi-
schem Kapital oder einer durchschnittlich höheren Partizipation an politischen
Prozessen ebenso ausdrückt wie in einer größeren Betroffenheit von Frauen
bei gegen sie als Frauen gerichteter Gewalt. Gleichzeitig eint die Projekte das
Bemühen, diese Machtverhältnisse nicht umstandslos auf Kindheit und Jugend
zu übertragen, sondern deren je spezifische Ausdrucksweise zu erfassen.
Schließlich nehmen alle Projekte eine Sichtweise auf Jungen und Männer
ein, die neben Privilegierungen auch Nachteile sowie Vielfalt von Männlich-
keiten berücksichtigt. Einerseits gehen alle Teilprojekte davon aus, dass Jun-
gen und insbesondere Männer Vorteile aufgrund der dargestellten Geschlech-
terpraxis erfahren. Doch dies gilt nicht für alle Jungen und Männer im gleichen
Maße – aufgrund von Ungleichheitsverhältnissen wie Heteronormativität, Ras-
sismus, Ableismus und Klassismus sind Jungen höchst unterschiedlich mit Ka-
pitalien ausgestattet und damit auch sehr unterschiedlich positioniert. Sie alle
können zudem Nachteile erfahren, die mit männlichen Subjektivierungsweisen
einhergehen, so etwa die benannten Einschränkungen ihrer Möglichkeitsräume
oder negative Konsequenzen einer (fehlenden) Orientierung an vergeschlecht-
lichten Normen. Aus diesem Grund entwickeln alle Teilprojekte – entweder in
der Wahl der Forschungsfelder selber oder im Analysefokus – ein besonderes
Interesse an gegendominanten, queeren und undoing gender-Praktiken (vgl.
Budde in diesem Band).
Differenzen zwischen den Projekten bestehen zunächst in den Schwer-
punkten, die sie setzen. So werden unterschiedliche Bildungsinstitutionen bzw.
unterschiedliche Altersgruppen fokussiert. Weiter existieren ebenfalls theore-
tische Unterschiede hinsichtlich des jeweiligen Verständnisses vom Sozialen
und von Geschlecht sowie in methodologischer Hinsicht. Zwar verfolgten die
Teilprojekte alle einen rekonstruktiven Ansatz, der wie bereits angeführt
sich insbesondere für die Handlungspraxis interessiert – jedoch unterschiedlich
ausgestaltet wurde. Viele Projekte orientierten sich an einem ethnographischen
18
Forschungsdesign, mehrere kombinierten die Beobachtungen mit unterschied-
lich angelegten Interviews. Andere konzentrierten sich bei der Erhebung aus-
schließlich auf narrative Interviews. Auch bei der Auswertung kamen mit
GTM, dokumentarischer Methode sowie Objektiver Hermeneutik drei der im
deutschsprachigen Raum populärsten qualitativen Analyseverfahren zum Ein-
satz. Insofern differenziert auch der erkenntnistheoretische Standpunkt, je
nachdem, ob Praktiken, Orientierungen oder Sinnkonstruktionen rekonstruiert
wurden.
4 Befunde: Transformierte Männlichkeit
Alle Projekte zeigen in ihren empirischen Daten, dass Geschlecht und Männ-
lichkeit nach wie vor wichtiger Teil der sozialen Praxis sind. So finden sich
häufig Aussagen und Aktivitäten von Heranwachsenden wie auch Pädagog*in-
nen, die Geschlecht und/oder Männlichkeit offensichtlich oder beiläufig the-
matisierten.
Mit Blick auf die erste Forschungsfrage weisen die Befunde der Teilpro-
jekte insgesamt darauf hin, dass zweigeschlechtliche Ordnung und männliche
Dominanz weiterhin relevant für die Praxis von und mit Jungen in Bildungs-
kontexten sind. Die Gestaltung von Interaktionen und Inszenierungen, die Ver-
wendung von Namen und Personalpronomen, die Wahl von Spielzeug oder
Ausbildungsgängen kann von Geschlechternormen gekennzeichnet sein und
oftmals sind sie mit der Herstellung männlicher Dominanz verbunden. Aller-
dings gibt es ebenfalls Praktiken, in denen entweder derartige Konzepte expli-
zit zurückgewiesen werden oder aber Männlichkeit gar nicht relevant gemacht
wird. Diese können in spezifischen pädagogischen Kontexten vorherrschend
werden nnen. Es finden sich etwa geschlechtsuntypische Interessen oder
Ausbildungsentscheidungen, Zurückweisungen von Geschlechterstereotypen
und Kritik an Diskriminierungen. Sowohl dominanzorientierte als auch nicht
an Dominanz orientierte Praktiken können mit anderen Differenzkategorien
wie Migrationsgeschichte oder Milieu/Klasse verbunden sein. Ebenso können
in der Praxis auch kontextspezifische Differenzkategorien wie etwa Leistung,
Alter oder Beliebtheit im Vordergrund stehen. All dies wird wiederum von
Akteur*innen unterschiedlich interpretiert – so kann etwa eine Aktivität kon-
textabhangig als ‚mannlich‘ verstanden werden, in anderen Kontexten (oder zu
einem anderen Zeitpunkt) jedoch nicht.
Geschlecht und Männlichkeit besitzen also nach wie vor in pädagogischen
Handlungsfeldern Relevanz aber nicht immer und nicht überall in gleicher
Weise. Transformationen in Richtung Geschlechteregalität realisieren sich ins-
besondere dort, wo eine kritische Reflexion von Geschlechterverhältnissen
aufgrund entsprechender Ressourcen und Ausgangsbedingungen möglich ist
19
und aufgrund der Erwartungen von Eltern, Jugendlichen, Bildungspolitik oder
den Pädagog*innen selbst zum Thema wird. Darüber hinaus zeigt sich, dass
die Parallelität divergierender Subjektivierungsweisen auch innerhalb des glei-
chen Feldes sich als nicht nur als charakteristisch für männlichkeitsbezogene
Praxismuster erweist, sondern möglicherweise sogar als konstitutiv. Die Paral-
lelität zeigt sich sowohl in Bezug auf unterschiedliche Formen des Junge-Seins
als auch in Bezug auf gesellschaftliche Parallelität unterschiedlicher Männlich-
keitskonzeptionen. Die Ordnung divergierender männlicher Subjektivierungs-
weisen hängt jeweils von Kontexten und Konstellationen ab – je nach Kontext
können unterschiedliche männlichkeitsbezogene Praxismuster legitim oder
vorherrschend sein, so dass nicht von einer durchgangigen Idealisierung „or-
thodoxer“ (Anderson 2011) oder einer weitgehenden Auflösung zugunsten
„inklusiver“ (ebd.) Mannlichkeit gesprochen werden kann
Hinsichtlich der zweiten Forschungsfrage nach der Berufs- und Studien-
wahl wurden in den Teilprojekten, die sich nicht vorrangig mit dem Thema
Berufswahl beschäftigten, Praktiken beobachtet, die eine zweigeschlechtliche
Ordnung unterstützen, auf stereotype Interessensdifferenzen hinweisen und die
biographisch in tradierte Berufswahlentscheidungen einfließen können. So
zeigt sich etwa eine größere Affinität von Jungen zu Spielen mit selbstgebauten
Waffen, Computern und Handyspielen sowie eine höhere Beteiligung von
Schülern bei Informatikkursen und im Grundschulalter entsprechen Berufs-
wünsche vielfach männlich kodierten Tätigkeiten. Jene Teilprojekte, die sich
detaillierter mit Fragen der Berufs- und Studienwahl in Bezug auf untypische
Felder beschäftigten, finden verschiedene Wege von Männern in diese Felder.
Es gibt Männer, die soziale und pflegerische Tätigkeiten in ihr Selbstkonzept
integrieren, so dass ein Widerspruch zu Männlichkeit nicht thematisch wird.
Für andere ist die Wahl dieses Berufsfeldes eher pragmatisch begründet, ohne
dass daraus eine besonders hohe Identifikation mit dem Thema Pflege
resultieren würde. Für manche ist diese Arbeit eine Zwischenstation, andere
wiederum treffen gar keine eigene Entscheidung im engeren Sinne, sondern
orientieren sich an Ratschlägen anderer. In der Summe zeigen sich plurale
Zugänge zu sozialen und pflegerischen Berufen, die längst nicht in allen Fällen
geschlechtlich konnotiert sind. Dementsprechend kann auch nicht
undifferenziert von caring masculinities (Elliot 2019: 240) für sämtliche
Kontexte gesprochen werden, in denen Männer in Sorgearbeit involviert sind.
In jedem Fall jedoch ist der Weg in einen geschlechtsuntypischen Beruf für
Männer mit der Herausforderung verknüpft, Spannungen zwischen
geschlechtlicher (Selbst-)Positionierung und Berufstätigkeit auszuhandeln.
Dies kann auch die Ebene von Emotionen berühren, wenn etwa negative und
positive Gefühle in Bezug auf fürsorgende Tätigkeit koexistieren.
Daraus lässt sich schließen, dass beim Blick auf Bildung und Jungen eine
relationale Perspektive des mehrfachen ‚Sowohl-als-auch‘ eingenommen wer-
den sollte: In der Praxis von und mit Jungen kann Geschlecht und Männlichkeit
20
eine Rolle spielen, dies kann aber auch nicht der Fall sein oder sich aus ver-
schiedenen Perspektiven unterschiedlich gestalten. Andere Differenzkatego-
rien können eine Rolle spielen, müssen es jedoch nicht. Kein Junge ist also in
jeder Situation ‚Junge‘, und was Junge-Sein in einer bestimmten Situation be-
deutet, ist abhängig von den jeweiligen Kontext und kann nicht in einfacher
Weise allgemein beschrieben werden. Insofern stellt sich Männlichkeit in der
sozialen Praxis als eine relative Kategorie dar, keine permanent relevante.
4.1 Begriffliche Differenzierung angesichts vielfältiger Praxis
In der Zusammenschau der Projekte schlagen wir daher Differenzierungen vor,
die die Grundlage eines Modells divergierender Männlichkeiten bilden (Ab-
bildung 2). Transformierte Männlichkeit meint eine begrifflich-theoretische
Konzeptionierung der Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrzehn-
ten in Bezug auf Geschlechterverhältnisse beobachten lassen und die im Dis-
kurs über Männlichkeit abgebildet werden sollten. Existierende Vorschläge
dazu sind bislang unbefriedigend, da sie häufig einseitig sind (vgl. Budde und
Rieske 2019) und vorrangig mit Blick auf erwachsene Männer formuliert wer-
den, ohne die Praxis von und mit Jungen zu berücksichtigen. Das hier vorge-
schlagene Modell spannt sich anhand von zwei Differenzierungslinien auf Do-
minanz – Egalität; explizit – implizit).
Die erste Linie ergibt sich zwischen den Polen Dominanz einerseits und
Egalität auf der anderen Seite. Denn beim Blick auf die soziale Praxis von und
mit Jungen dokumentieren sich häufig männlichkeitsbezogene Praxismuster,
die an der Herstellung oder dem Erhalt einer dominanten Position, der Unter-
ordnung von Weiblichkeit, Mädchen bzw. Frauen sowie anderen Jungen bzw.
Frauen orientiert sind und dabei Normen der Zweigeschlechtlichkeit und
hegemonialer Männlichkeit beinhalten. Allerdings deuten sich verschiedene
Modi an, in denen egalitäre und alternative Geschlechterkonzeptionen von
Jungen bzw. in der Praxis mit ihnen deutlich werden. So zeigen sich
Aktivitäten unter Peers, welche Konzepte hierarchischer Zweigeschlechtlich-
keit explizit durch geschlechterkritisches Wissen und Praxis in Frage stellen
und erweitern. Auch Professionelle prozessieren in pädagogischen Praktiken
Geschlechterkritik. Die zweite Linie des Modells spannt sich zwischen
expliziten oder impliziten Bezügen auf Männlichkeitskonzeptionen auf. Diese
Unterscheidung ist primär theoretisch modelliert, insofern explizite und
implizite Orientierungen oder Praktiken selbstverständlich immer aufeinander
verweisen und eben nur theoretisch-analytisch zu unterscheiden sind.
Allerdings rekurrieren der intentionale Charakter von pädagogischer Praxis im
Allgemeinen oder etwa die normativ explizite Kritik an dominanten
Männlichkeitskonzeptionen im Besonderen auf explizite Thematisierungen.
Hingegen weisen die starken Bezugnahmen auf implizites Wissen im Rahmen
21
des doing gender-Ansatzes in der Jungenforschung oder die Befunde der
Teilprojekte des Forschungsverbundes auf die Bedeutung implizit verge-
schlechtlichter Vollzugs- und Interpretationsroutinen etwa für die Stabilisie-
rung tradierter Geschlechterdifferenzen hin. Deswegen erscheint es plausibel,
ein besonderes Augenmerk auf das Spannungsfeld zwischen expliziten und
impliziten Vollzügen männlichkeitsbezogener Praxismuster zu richten (Budde
et al. 2017; Bittner und Budde 2017). Durch die beiden Spannungslinien wird
eine 4-Felder-Matrix konturiert, welche im Folgenden theoretisch ausgestaltet
und knapp mit Befunden der Teilprojekte empirisch fundiert wird. Damit kann
eine polarisierende Gegenüberstellung, etwa von ‚hegemonialer‘ und ‚inklusi-
ver‘ Mannlichkeit zugunsten komplexerer Positionen, überwunden werden.
Abbildung 2: Modell divergierender Männlichkeiten.
Die Begriffe sind hier im Sinne von männlichkeitsbezogenen Praxismustern
zu verstehen. Dabei wird bewusst auf eine Begriffsbildung verzichtet, die Ad-
jektive mit „Mannlichkeit“ verknüpft (wie etwa in „caring masculinities“ oder
„inklusive Mannlichkeit“). Denn die Gleichsetzung der Praxis von und mit
Jungen mit der Herstellung von Männlichkeit wird dieser Praxis nicht gerecht,
da diese sich zuweilen gerade durch eine Nicht-Dramatisierung von Männlich-
keit auszeichnet (vgl. auch die Überlegungen zum Verhältnis von Jungen und
Männlichkeit in Rieske und Budde in diesem Band).
Pol Dominanz: Mit Blick auf die soziale Praxis von und mit Jungen wer-
den häufig Muster beschrieben, die geschlechternormenbasierte Dominanzver-
hältnisse herstellen. Gemeint ist damit eine Dominanz von Männern, bzw. Jun-
gen gegenüber Frauen, bzw. Mädchen sowie als abweichend markierten männ-
lichen Subjektivierungsweisen. Ebenfalls werden darunter Zuschreibungen an
und Homogenisierungen von Jungen und damit verbunden eine auf Differenz-
22
konstruktionen beruhende, zweigeschlechtliche Ordnung verstanden. Dieser
Bezug auf die Herstellung von Dominanz drückt sich in zweierlei Weise aus:
a.) Offen-dominantes Praxismuster: Nach wie vor bestehen in vielen gesell-
schaftlichen Bereichen und entsprechend auch pädagogischen Institutio-
nen tradierte Geschlechterkonzeptionen und Hierarchien. In der Praxis
werden dominante Formen von Männlichkeit prozessiert, die sich an dem
orientieren, was Connell als ‚hegemoniale Mannlichkeit“ (1999) be-
schreibt. Geschlechternormenbasierte Dominanz und Unterordnung ge-
genüber als abweichend markierten Subjektivierungsweisen wird mittels
expliziter Bezugnahme auf Elemente hegemonialer Männlichkeit (d.h.
insbesondere sprachliche oder körperliche Grenzverletzungen) durchge-
setzt. Männlichkeit wird hier (wie bei Bourdieus männlichem Habitus) als
abgrenzende Differenzkonstruktion wirksam. Die Bedeutung von Ge-
schlecht für diese Art der Dominanzherstellung liegt unmittelbar zutage
(‚oben auf‘), etwa indem sie in der Praxis thematisiert und gegen Weib-
lichkeitskonzeptionen abgegrenzt wird. Diese manifestieren sich zum Bei-
spiel in materiellen Arrangements wie der Einteilung in Jungen- und Mäd-
chentoiletten oder in geschlechterstereotypen Materialien. In der Praxis
von Pädagog*innen zeigt sich dies beispielsweise in explizit homogeni-
sierenden Adressierungen von „Jungs“. Auch öffentliche Beschamung
etwa von unsportlichen Jungen durch Mitschüler*innen oder Lehrer*in-
nen impliziert Differenz und Dominanz zugleich. Mit Budde (2011),
Scholz (2015) oder Debus und Stuve (2012) ist darauf hinzuweisen, dass
die jeweilige Form der Dominanz kontextspezifisch geprägt ist. Dies gilt
gerade im pädagogischen Bereich, da dieser weiblich konnotiert und ge-
nerational organisiert ist, sodass Fragen vergeschlechtlichter Macht und
Dominanz aus diesen Gründen in mehrfache Widersprüche eingespannt
sind und der ‚Grad‘ der Dominanz variieren kann.
b.) Schweigend-souveränisierendes Praxismuster: Nicht immer geschieht die
Herstellung von Dominanz durch explizite Bezüge auf Männlichkeit,
sondern (häufiger) in impliziten Aktivitäten, die in ihren Routinen die
Herstellung von geschlechternormenbasierter Dominanz implizieren. Hier
liegt Mannlichkeit nicht ‚oben auf‘, sondern ist in die Aktivitaten als
implizit handlungsleitende Orientierung eingearbeitet. Dies zeigt sich
etwa in einer Studie zu Mono- und Koedukation (Budde et al. 2014), die
dokumentiert, dass sich der Unterricht in Jungenklassen eher an Wett-
kampf und Bewegung orientiert und in Mädchenklassen eher an Verge-
meinschaftung und Fleiß. Männlichkeit wird in den Orientierungen der
Aktivitäten mit Jungen zwar prozessiert, aber nicht offen thematisiert, in
diesem Sinne also verschwiegen. In der Praxis von Pädagog*innen zeigt
sich dies etwa in implizit vergeschlechtlichten Kommunikations- und
Adressierungsmustern und auf Seiten der Jungen in geschlechterstereo-
typen Spieltätigkeiten. Gleichzeitig liegen an Souveränität, funktionaler
23
Körperlichkeit und Wettkampf orientierten Aktivitäten mit Jungen
stillschweigende normative und dominanzbezogenen Vorstellungen von
Männlichkeit zugrunde, die ebenfalls durch Differenzkonstruktionen
abgesichert werden. Diese Form ist trotz der fehlenden Offensichtlichkeit
nicht ‚hierarchiearmer‘ als die offen-dominanten Praxismuster (a) oder als
explizites undoing gender (Hirschauer 2001) im Sinne einer
Transformation von Männlichkeit zu verstehen.
Pol Egalität: Allerdings weisen wie oben schon dargestellt vorliegende
Befunde der Jungenforschung ebenso wie die Teilprojekte des Forschungsver-
bundes ‚Jungen und Bildung‘ darauf hin, dass nicht immer geschlechternor-
menbasierte Dominanz im Vordergrund sozialer Praxis steht, sondern auch ex-
plizite oder implizite Gegenpositionen sichtbar werden, die im weitesten Sinne
auf Egalität und Vielfalt abzielen. Die hierarchisierenden und/oder normativen
Orientierungen werden praktisch ignoriert oder kritisiert. Auch hier lassen sich
anhand des Grandes ihrer Explizitheit zwei Typen unterscheiden.
c.) Programmatisch-kritisches Praxismuster: Theoretisch wie empirisch wird
zunehmend auf die Relevanz geschlechterkritischer Orientierungen und
Aktivitäten hingewiesen. Gemeint sind Aktivitäten von Peers und/oder
Professionellen, die Vorstellungen hierarchischer Zweigeschlechtlichkeit
explizit durch geschlechterkritisches Wissen und Praxis in Frage stellen
und erweitern. So konnte in der pädagogischen Praxis geschlechter-
kritisches Wissen sowie ein Eintreten von Jungen gegen Diskriminierung
beobachtet werden. Auch einige Professionelle Erzieher*innen,
Lehrer*innen und Ausbildner*innen gestalteten explizit geschlechter-
kritische Bildungsangebote und/oder implementieren strukturelle
Maßnahmen etwa zur Prävention geschlechtlicher Diskriminierung oder
zur Unterstützung non-binärer Jugendlicher. Anspruch ist die Transfor-
mation von geschlechtlich konnotierten Differenzkonstruktionen. Kenn-
zeichen ist darüber hinaus die explizite Kritik an geschlechter-
normenbasierter Dominanz, wie sie etwa in feministischen oder queeren
Perspektiven deutlich wird, die auf die Veränderung sozialer Ordnungen
abzielt.
d.) Beiläufig-egalitäres Praxismuster: Ebenfalls wurden im Sinne Ander-
sons (2011) oder Scholz und Heilmanns (2019) alternative männlich-
keitsbezogene Praxismuster beobachtet, die sich nicht an männlicher Do-
minanz, sondern an Vielfalt von Junge-Sein, Fürsorglichkeit oder sozialer
Inklusion orientieren. Im Gegensatz zur Geschlechterkritik geht es weni-
ger darum, explizit soziale Geschlechterordnungen zu kritisieren und zu
ändern, sondern für die eigene Lebensperspektive alternative oder inklu-
sive Perspektiven zu verfolgen. Entsprechend zeigen in allen Projekten
Jungen und männliche Jugendliche wie auch pädagogische Professionelle
fürsorgende Aktivitäten. Die praktische Erweiterung des individuellen
Handlungsspielraums steht im Vordergrund, verknüpft mit egalitären An-
24
nahmen. Geschlechterfragen sind eher irrelevant und nicht thematisch,
sondern verbleiben implizit.
‚Zwischen‘ den beiden Spannungslinien haben die empirischen Analysen eine
weitere Position ergeben, die sich dadurch auszeichnet, dass zwar verge-
schlechtliche Differenzierungen aufgerufen werden, diese aber weder an Do-
minanz noch an Vielfalt gebunden werden, sondern organisationalen Zwecken
pädagogischer Institutionen dienen, um die jeweiligen institutionsspezifischen
Handlungs- und Differenzierungsnotwendigkeiten zu bearbeiten.
e.) Pragmatisch-differenzierendes Praxismuster: Insbesondere im Elemen-
tar- und dem Primarbereich lässt sich eine spezifische Variante der
Differenzkonstruktion beobachten, nämliche eine explizite Verwendung
von Geschlecht als zwar differenzielle, gleichwohl nicht notwendiger-
weise hierarchische Ordnungskategorie. Dies ist zumeist dann der Fall,
wenn die institutionellen Regelungen routinisierte Einteilungen in Grup-
pensettings erfordern. Die Unterscheidung in Jungen und Mädchen bietet
hier einen scheinbar ‚einfachen‘ Mechanismus zur Ordnung sozialer
Situationen. Dabei gehen mit der Differenzsetzung keine situativen
Hierarchisierungen oder Dominanzverhältnisse einher, sondern die
pädagogisch notwendige Organisation von Arbeitsfähigkeit in Gruppen
(etwa beim Rausgehen in der Kita, bei der Ämtervergabe, der Sitzordnung
im Morgenkreis oder der Verteilung des Rederechts) soll auf der Basis von
Geschlechterverteilung reibungsfrei organisiert werden. Am Beispiel der
sogenannten ‚Aufrufkette‘ in der Grundschule zur selbstorganisierten
Verteilung des Rederechts unter Schüler*innen wird sogar ein Gerechtig-
keitsbezug sichtbar, da durch die Quotierung formale Gleichbeteiligung
von Jungen und Mädchen gewährleistet werden soll. Zwar ruft eine
explizit geschlechterdichotome Aufrufkette im Schulunterricht Homoge-
nisierungen von Jungen und Mädchen hervor, nicht aber notwendiger-
weise geschlechtsbezogene Dominanz. Gleichwohl ist diese Form der
Differenz insofern selbstverständlich nicht machtfrei, als dass sie eine
dichotome Geschlechterordnung zugrunde legt, zur Positionierung inner-
halb dieser Ordnung zwingt und non-binäre Akteur*innen ausschließt.
Außerdem zeigt sich, dass Männlichkeit als interdependente (Teil)Kategorie
mit anderen Differenzkategorien verwoben ist und auch gegenüber anderen
Differenzkategorien in den Hintergrund treten kann. Auch hier spielt die Spe-
zifik des Pädagogischen eine besondere Rolle.
f.) Un/Doing Differences: Männlichkeitsbezogene Praxis kann mit weiteren
Differenzkategorien verwoben sein. Dies können strukturell verankerte
Differenzkategorien sozialer Ungleichheit sein, wie etwa Migrationsge-
schichte, Dis/Ability oder Milieu, bzw. Klasse. Allerdings könne in der
Praxis auch eher dem pädagogischen Feld inhärente Differenzkategorien
wie etwa Alter, Leistung oder Beliebtheit im Vordergrund stehen (Budde
2013). Die Unterscheidung beider Bereiche ist rein analytischer Natur und
25
dient der Systematisierung. In der sozialen Praxis etwa sind Milieu und
Beliebtheit oder Migrationsgeschichte und Leistung eng miteinander ver-
knüpft. Doing differences in pädagogischen Institutionen kann ebenso als
undoing gender auf eine Irrelevant-Setzung abzielen, indem Geschlecht
zugunsten anderer Differenzierungen in den Hintergrund tritt.
Das hier vorgestellte Modell verzichtet darauf, einer bestimmten Ausdrucks-
gestalt der Praxis eine umfassende Geltung zuzuweisen. Zumindest in Bezug
auf die in dem Projekt „Jungen und Bildung“ untersuchten Institutionen und
darüber hinaus für pädagogische Institutionen insgesamt erscheint es nicht pas-
send, eine einseitige Dominanzorientierung oder aber eine primäre Orientie-
rung an Inklusion als vorherrschend zu bezeichnen, wie das insbesondere in
der Diskussion um hegemoniale und inklusive Männlichkeit der Fall ist (vgl.
Budde und Rieske 2019). Vielmehr geht dieses Modell von einer Variabilität
der in konkreten Kontexten vorherrschenden Praxis aus. Dies soll allerdings
nicht im Sinne einer ‚friedlichen Koexistenz‘ verschiedener Muster verstanden
werden. Dominanz- und egalitär orientierte Praktiken sind in ihren jeweiligen
Logiken nicht miteinander vereinbar und beinhalten unter anderem eine Ab-
lehnung der jeweils anderen Logik.
4.2 Zentrale Befunde der empirischen Teilprojekte zu Praktiken des
doing masculinity
Die vorgestellten Praxismuster waren nicht in jedem Teilprojekt in gleicher
Weise zu beobachten. Im Folgenden werden daher zentrale Befunde der Pro-
jekte mit Blick auf die Kategorien des Modells divergierender Männlichkeiten
dargestellt.
Teilprojekt Jungen und Bildung in der frühen Kindheit
In den beobachteten Kindertageseinrichtungen ließ sich geschlechternormen-
basierte Dominanz identifizieren. Bestimmte, mit Männlichkeit konnotierte
Attribute wie Abenteuer, Stärke und Coolness zeigten sich einerseits in den
Interaktionen der Jungen, ‚liefen‘ jedoch ebenso im Hintergrund der Interakti-
onen mit, etwa in den Bild- und Schriftmotiven der Kleidungsstücke T-Shirts
und Basecaps der Jungen. In einigen Situation war zu beobachten, dass Jungen
sich von weiblich konnotierten Spielsachen bzw. Kleidungsstücken abgrenz-
ten. Außerdem zeigten sich explizite Ausdrucksformen dominanter Männlich-
keit im Spielverhalten. So ließen sich in beiden Einrichtungen zahlreiche hete-
ronormative Rollenspiele der Kinder beobachten, in denen Mädchen wie Jun-
gen in der Regel traditionelle Geschlechterrollen übernahmen.
Praktiken, die explizit Vorstellungen hierarchischer Zweigeschlechtlich-
keit in Frage stellten, konnten weder bei Fachkräften noch bei Kindern doku-
26
mentiert werden. Öfter hingegen wurden Praktiken beobachtet, in denen Fach-
kräfte und Kinder implizit Geschlechterstereotype bzw. geschlechtsbezogene
Adressierungen kritisch in Frage stellten bzw. neutralisierten, zum Beispiel
weil Kinder situativ individuelle Spiel- und Freiräume aushandelten. Weiter-
hin zeigt sich, dass Kinder geschlechterstereotypisierende bzw. -differenzie-
rende Adressierungen des pädagogischen Personals neutralisierten, bspw. in-
dem sie den Aufforderungen, die mit den Adressierungen einhergingen, in ei-
ner eigensinnigen Art und Weise nicht Folge leisteten.
Einerseits ‚konkurrierte‘ die Kategorie Geschlecht in beiden beobachteten
Einrichtungen mit vielfältigen anderen Humandifferenzierungen, die ebenfalls
mit negativen oder positiven Bewertungen und Beurteilungen einhergingen.
Die Untersuchung zeigt, dass in Bezug auf Hierarchisierungen in Kindertages-
einrichtungen ‚Alter‘ die relevanteste Humandifferenzierung darstellte; gender
spielte im Vergleich dazu eine eher untergeordnete Rolle. Die Differenzierung
Alter markierte einerseits das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kinder.
Andererseits strukturierte Alter das Verhältnis zwischen den älteren und jün-
geren Kindern, z.B. wenn ältere Kinder oder Vorschulkinder (Mädchen wie
Jungen) Macht und Einfluss darüber hatten, welche Kinder in welcher Weise
sich an Gruppenprozessen oder Spielen beteiligen konnten oder wenn sie (Vor-
bild-)Aufgaben durch die Fachkräfte übertragen bekamen und Verantwortung
für jüngere Kinder übernehmen sollten (u.a. Fürsorgetätigkeiten, Begleitung
bei Toilettengängen, etc.).
Teilprojekt Jungen und Bildung in der Schule
Im simulierten Längsschnitt des schulischen Teilprojektes zeigen sich
unterschiedliche normative Männlichkeitskonstruktionen, die sich je nach
Lage der Schule (Stadt/Land), Schultyp (marginalisierte Schule/ bildungs-
bürgerliche Schule) und nach Alter (Grundschule/weiterführende Schule bzw.
Gymnasium) differenzieren. In der Grundschule finden sich z.T. Abwertungen
von Weiblichkeit, so werden bestimmte Mädchen (z.B. mit langen blonden
Haaren) mit dem Begriff „Tussi“ adressiert oder die Farbe rosa wird abwertend
der Sphäre der Mädchen zugeschrieben. In einer untersuchten marginalisierten
Grundschule formulieren die meisten Jungen eher traditionelle Vorstellungen
von Männlichkeit und orientieren sich z.B. an körperlicher Stärke. Solche
Orientierungen sind in der ebenfalls beforschten, bildungsbürgerlichen Grund-
schule eher randständig. In den weiterführenden Schulen ist insbesondere der
Sportunterricht an Wettkampf und Leistung orientiert und prozessiert domina-
nte Männlichkeitskonzeptionen, die Sportlichkeit und körperliche Leistungsfä-
higkeit nicht zuletzt mittels Beschämungen durch die Sportlehrer konstruieren.
Gleichwohl wird Geschlecht in vielen Unterrichtsbeobachtungen nicht
explizit, sondern implizit relevant gemacht. Dies äußert sich z.B. in unter-
schiedlichen Kommunikationsstilen und Beziehungsmustern der Lehrer*innen
27
gegenüber den Schüler*innen in Abhängigkeit von deren Geschlechtszuge-
hörigkeit.
In der eher bildungsbürgerlichen Grundschule formulieren insbesondere
Mädchen geschlechterkritisches Wissen. In der Oberstufe eines städtischen
Gymnasiums herrscht in einigen Stunden ein hohes reflexives Diskurswissen
vor, hier werden Geschlechterstereotype, Zweigeschlechtlichkeit und Homo-
negativität kritisiert. Einige Jungen der 8. und 11. Klasse kritisieren normati-
ven Männlichkeitskonzeptionen aufgrund eigener Betroffenheiten. Geschlech-
terkritik wird auch implizit formuliert, indem bestimmte Erwartungen oder
Leistungsanforderungen unterlaufen werden. Darüber hinaus zeigen sich in al-
len beobachtenden Klassen fürsorgliche und sorgende Praktiken bei Jungen
gegenüber anderen Jungen, Mädchen und gegenüber Lehrer*innen. Körper-
kontakt und Zärtlichkeit unter Jungen werden weder von anderen Schüler*in-
nen noch von Lehrkräften sanktioniert.
In den Praktiken einiger Lehrer*innen zeigen sich ethnisierte Deutungs-
muster, die zugleich bestimmte Männlichkeitskonzeptionen und deren Kritik
aufrufen. Prominent ist dies im Bild des „Paschas“ oder des Jungen, der sich
in der Schule wie ein „Chef“ (und nicht wie ein Schüler) hinsetzt, ausgedrückt.
Entsprechend äußern sich die Konstruktionen des Junge-Seins in
Verbindungen mit anderen Strukturkategorien als dominante Männlichkeits-
konzeptionen, so sind die normativen Erwartungen im Gymnasium andere als
die in der Hauptschule (vgl. Wellgraf 2009).
Teilprojekt Jungen und non-formale Bildung
Mehr oder weniger offene Dominanzgesten, Ausgrenzungsmechanismen, ho-
mophobe oder sexistische Sprüche, Inszenierungen von Wehrhaftigkeit und
Autonomie oder konkurrenzorientiertes Handeln von Jungen wurden in allen
vier beforschten Angeboten non-formaler Bildung gelegentlich beobachtet
in den Offenen Bereichen etwas häufiger, in der Tanzgruppe selten. Dabei ist
zu beachten, dass die zentrale gemeinsame Praktik der Tanzgruppe, das chore-
ografische Tanzen, von vornherein eine kooperative Handlungsorientierung
zumindest innerhalb der Gruppe strukturell nahelegt, während einige der Prak-
tiken, die in den Offenen Bereichen häufig ausgeübt werden – Fußball, Schach,
Basketball, Tischtennis –, eher zum Wettbewerb anregen. Darüber hinaus ließ
sich in den Offenen Bereichen insgesamt (wenn auch in unterschiedlichem
Maße) eine Marginalisierung von Mädchen beobachten, die erstens zahlenmä-
ßig meist schwächer vertreten waren als Jungen und zweitens sozial und räum-
lich oftmals eher ‚am Rand‘ des Geschehens positioniert waren, wahrend Jun-
gen im Mittelpunkt standen. Hier ließe sich von einer männlichem (bzw. Jun-
gen-)Dominanz gegenüber Mädchen sprechen.
Orientierungen an Geschlechternormen erfolgen bekanntlich häufig impli-
zit. Dies war auch in den beforschten Angeboten non-formaler Bildung erkenn-
28
bar. Wenn beispielsweise das Verhalten eines als ‚cool‘ wahrgenommenen
Rappers von einem Jungen nachgeahmt wurde, wurde dieses meist nicht aus-
drücklich als ‚mannlich‘ bezeichnet. Thematisierungen erfolgten dann durch
Ansprache von Pädagog*innen. Explizite Kritik an Geschlechternormen durch
teilnehmende Jungen wurde im Feld eher selten beobachtet. Reproduktive Tä-
tigkeiten wie Kochen sowie Fürsorgepraktiken von Jungen wie Trösten oder
Hilfeleistung bei kleinen Verletzungen waren in allen Angeboten zu beobach-
ten.
Teilprojekt Jungen in beruflicher Bildung
Dem Teilprojekt lag die Annahme zugrunde, dass alle Auszubildenden
aufgrund vorherrschender Geschlechternormen herausgefordert sind, ihren
Übergang in einen geschlechtsuntypischen Beruf in irgendeiner Weise zu be-
arbeiten, um entweder eine Passung zum Beruf und/oder eine Legitimierung
der Ausbildungswahl herzustellen. In den Fällen, in denen die Interviewten ein
anschließendes Studium planten, konnten die Ausbildung im weiblich codier-
ten Beruf als notwendige ‚Zwischenstation‘ legitimiert werden, um die
Voraussetzungen in Form von Bildungszertifikaten (mittlerer Schulabschluss,
Fachabitur) für den weiteren Bildungsaufstieg zu schaffen. In anderen Fällen,
in denen der Verbleib im Ausbildungsberuf unsicher erscheint und der
anschließende Wechsel in einen eher männlichen Beruf im gleichen Berufsfeld
geplant wird, wird zum Teil auf Geschlechter- und Männlichkeitsnormen
rekurriert, um eine Abgrenzung gegenüber Weiblichkeit zu konstruieren.
Eine paradox erscheinende De-Thematisierung – d.h. eine Zurückweisung
der Bedeutung von Geschlecht – bei gleichzeitig hoher Relevanz homosozialer
Peerkontakte findet sich bei Auszubildenden aller analysierten Berufe. Denn
die Frage, ob der hohe Anteil an Kolleginnen im Beruf für sie eine Rolle spielt,
wird von den meisten Interviewpartnern verneint. Gleichzeitig geben die meis-
ten Auszubildenden an, in der Berufs(fach)schule primär Kontakt zu männli-
chen Mitauszubildenden zu haben, die als wichtige Ressource zu Bewältigung
der Ausbildung im weiblichen codierten Beruf erscheinen. Diese Praktiken
sind nicht nur, aber in ausgeprägter Form bei einigen Auszubildenden zum So-
zialpädagogischen Assistenten zu erkennen, die sich darüber von weiblich
konnotierten Tätigkeiten distanzieren. Eine Passung zum Beruf wird bspw.
über die als Pendant zur Mutterrolle konzipierte Vaterrolle oder über die Vor-
bildfunktion für Jungen qua traditioneller Männlichkeit hergestellt.
Undoing gender zeigt sich dort, wo Auszubildende es unterlassen, sich von
weiblich codierten Fähigkeiten oder Tätigkeiten, die der Beruf erfordert, zu
distanzieren. Auszubildende benennen bspw. ‚für Kinder da sein‘ und ‚Men-
schen helfen‘ als Dimensionen ihres Berufs und lassen eine sorgende Zuwen-
dung erkennen. Das unspektakulär praktizierte Überschreiten tradierter Ge-
schlechtergrenzen transformiert Männlichkeit – weg vom ‚Ideal hegemonialer
29
Mannlichkeit‘ und hin zu einer erweiterten, fürsorglichen Form. Es findet sich
im Material an einer Stelle eine Äußerung, die auf ein Wissen um unterschied-
liche geschlechtliche Existenzweisen verweist, welche im Fallzusammenhang
jedoch nicht als ‚queering masculinity‘ gelesen werden kann (vgl. den Beitrag
von Scholand und Stützel).
Teilprojekt Bildungsbiografien: Wege männlicher Jugendlicher in
Pflegeberufe
Im Teilprojektes „Bildungsbiografien. Wege männlicher Jugendlicher in
Pflegeberufe“ wurden drei Muster des Zugangs in einen Pflegeberuf
differenziert: das pragmatische, das altruistische und das generative Muster,
die sich jeweils im Vier-Felder-Schema unterschiedlich verorten lassen.
Dominante Männlichkeit zeigt sich etwa im Sinne einer Orientierung an Re-
Souveränisierung bei den Fällen des Typus Altruistisches Muster. Vor dem
Hintergrund biographischer Krisensituationen, bei denen die Befragten als
geradezu von äußeren Ereignissen getrieben erscheinen, bietet die Tätigkeit in
der Pflege ein hohes Maß an Dankbarkeit und Anerkennung. Die Tätigkeit
wird als eine Art Hobby geschildert („Steckenpferd“), bei dem es um das
Schaffen einer positiven Atmosphare geht („zauber den irgendwo nen Lacheln
damit ins Gesicht“). Auch die Falle des Typus Generatives Muster weisen
Bezüge zur dominanten Männlichkeit auf, wobei sich ein Zusammenspiel von
Persistenz und Wandel zeigt. Auf der einen Seite wird die Höherwertigkeit
männlicher Fachkräfte betont. Die Befragten grenzen sich von Pflegekräften
ab, die missmutig ihre Arbeit erledigen. Als positiver Horizont werden
Pflegekrafte geschildert „die wirklich mit Herz dabei sind“, was mit
männlichen Pflegekräften in Verbindung gebracht wird. Auf der anderen Seite
werfen die Befragten eine schicksalhafte Bestimmung für den Pflegebereich
auf, die mit einer familiaren „Pflegeader“ begründet wird.
Als De-Thematisierung von Männlichkeit lässt sich hingegen der Typus
pragmatisch Muster charakterisieren. Gleichzeitig finde sich hier Bezüge zu
alternativen Männlichkeiten. Die Befragten machen ein Art Umlernen in Be-
zug auf ihre Tätigkeit in der Pflege deutlich, dass sich vor allem auf Affekte
(Ekel, Scham, Geduld) bezieht. Hieraus folgt für die Befragten, dass sie ange-
sichts von herausfordernden Situationen eine andere Bezugnahme, auf die zu
Pflegenden entwickeln müssen.
5 Zu den Beiträgen in diesem Band
Der Sammelband umfasst sowohl Berichte aus den Forschungsprojekten als
auch übergreifende Artikel. Im Anschluss an die Einleitung analysieren Jürgen
30
Budde und Thomas Viola Rieske in dem Beitrag Erziehungswissenschaftliche
Forschung zu Jungen den aktuellen Stand des Diskurses der Jungenforschung
mit Blick auf theoretische Bezüge, Forschungsmethodologien oder etwa The-
men. Daran anschließend entwerfen Thomas Viola Rieske und Jürgen Budde
in dem Beitrag Zur Relationierung von Jungen, Männlichkeit und Bildung -
Eine subjektivierungstheoretische Skizze Perspektiven eine heuristische theo-
retische Rahmung für die Relationierung des Dreieckes aus Jungen, Männlich-
keit und Bildung.
Der anschließende Teil „Männliche Akteure in Bildungsinstitutionen“
widmet sich den Befunden der Teilprojekte aus Kindheit und Jugend. Michael
Cremers und Jens Kabel diskutieren in ihrem Text die Relevanz der Kategorie
‚Geschlecht‘ im Feld der frühen Kindheit und blicken damit auf den Beginn
institutionalisierter pädagogischer Praxis. Anette Dietrich und Jürgen Budde
analysieren unter dem Titel Ich geb nem Jungen nen Check und keine Umar-
mung Praktiken von und mit Jungen in der Schule. Perspektiven auf non-
formale Bildungsinstitutionen entwickeln Philippe Greif und Hartwig Schuck
in ihrem Text, Wenn Man(n) dazugehört Zum Verhältnis von Männlichkeit
und Zugehörigkeit in gemischtgeschlechtlichen pädagogischen Kontexten non-
formaler Bildung.
Der nächste Teil „Mannliche Jugendliche und junge Manner in der
Ausbildung“ zu pflegerischen und sozialpadagogischen Berufen widmet sich
dem Thema Beruflichkeit in der späten Jugendphase. Berufliche Bildung in
geschlechteruntypischen Berufen analysieren Barbara Scholand und Marc
Thielen in ihrem Text Berufliche und geschlechtsbezogene Orientierungen von
männlichen Auszubildenden in geschlechtsuntypischen Berufen, in dem sie
unterschiedliche Muster identifizieren können. Auch Kevin Stützel und Sylka
Scholz tragen in ihrem Beitrag Sorge als Beziehungsverhaltnis. Zum Umgang
männlicher Auszubildender mit Emotionen in der Pflege zu einer Ausdifferen-
zierung der Perspektiven bei, indem sie eine Typologie der biographischen
Orientierungen von Auszubildenden für sozialen und pflegerischen Berufen
herausarbeiten. Der Beitrag enseits von Dominanz und Hegemonie? Männliche
Auszubildende in der Pflege von Kevin Stützel und Barbara Scholand bringt
die Befunde beider Teilprojekte in einer Systematisierung zusammen.
Der letzte Teil „Theoretische Perspektiven auf die Forschung zu Jungen,
mannlichen Jugendlichen, jungen Mannern in Bildungskontexten“ nimmt Ver-
knüpfungen zwischen den Teilprojekten vor. Der Text Männlichkeitskonzepti-
onen in Bildungs- und Erziehungskontexten in Kindheit und Jugend von Jür-
gen Budde analysiert und systematisiert Material und Befunde aus den Teil-
projekten zwischen Tradierung und Transformation von Männlichkeit.
Eine Gruppendiskussion, die Kevin Stützel mit Jürgen Budde, Stephan
Höyng, Marc Thielen, Thomas Viola Rieske und Sylka Scholz zu dem Thema
Was heißt heutzutage ‚mannlich‘ sein? geführt hat, gibt einen Einblick in die
31
Zusammenarbeit des Forschungsverbundes und das gemeinsame Ringen um
Begriffe und Konzepte.
Literaturverzeichnis
Anderson, Eric (2011): Inclusive masculinity. The changing nature of masculinities.
New York: Routledge.
Bittner, Martin/Budde, Jürgen (2017): Der Zusammenhang vom Impliziten und expli-
ziten in praxistheoretischen Perspektiven. In: Budde, Jürgen/Bittner, Martin/Bos-
sen, Andrea/Rißler, Georg (Hrsg.): Konturen praxistheoretischer Erziehungswis-
senschaft. Weinheim: Juventa, S. 32–50.
Budde, Jürgen/Rieske, Thomas Viola (2019): Auseinandersetzungen mit (Neuen) The-
orien für die erziehungswissenschaftliche Forschung zu Männlichkeiten. In: Ku-
bandt, Melanie/Schütz, Julia (Hrsg.): Methoden und Methodologien in der erzie-
hungswissenschaftlichen Geschlechterforschung, S. 234–256.
Meuser, Michael (2007): Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im
Wettbewerb der Männer. In: Meuser, Michael: Herausforderungen. Männlichkeit
im Wandel der Geschlechterverhältnisse. Köln: Köppe, S. 11–25.
Böhnisch, Lothar (2013): Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Weinheim: Ju-
venta.
Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard (1993): Männliche Sozialisation. Weinheim: Ju-
venta.
Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert (2013): Ethnografie. Die Pra-
xis der Feldforschung. Konstanz: UTB.
Budde, Jürgen (2010): Flexibilisierung von Männlichkeit in transformierenden berufli-
chen und sozialen Kontexten. In: Ethik-Wissen-Erwägen 21 (3), S. 343–345.
Budde, Jürgen (2013): Intersektionalität als Herausforderung für eine erziehungswis-
senschaftliche soziale Ungleichheitsforschung. In: Siebholz, Susanne/Schneider,
Edina/Schippling, Anne/Busse, Susann/Sandring, Sabine (Hrsg.) (Re-)Produktion
sozialer Ungleichheiten. Wiesbaden: Springer, S. 245–257.
Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hrsg.) (2009): Jungenforschung empirisch. Zwi-
schen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: Springer.
Budde, Jürgen/Willems, Katharina/Böhm, Maika (2009): „Ich finde, es gehört einfach
zum Leben dazu, anderen Leuten zu helfen“. Positionierungen junger Manner zu
Berufsfeldern Sozialer Arbeit. In: Budde, Jürgen/Willems, Katharina (Hrsg.): Bil-
dung als sozialer Prozess. Weinheim, München: Juventa, S. 193–210.
Budde, Jürgen/Hietzge, Maud/Kraus, Anja/Wulf, Christoph (2017): ‚Schweigendes‘
Wissen in Lernen und Erziehung, Bildung und Sozialisation. Einführung. In:
Budde, Jürgen/Hietzge, Maud/Kraus, Anja/Wulf, Christoph (Hrsg.): Handbuch
Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Weinheim,
Bergstr: Juventa, S. 11–18.
Busche, Mart (2013): Von Unterschieden, die einen Unterschied machen – Heteroge-
nität als Herausforderung für die Jungenarbeit. In: Miguel Díaz, Doro-Thea Chwa-
32
lek/Fegter, Susann/Graff, Ulrike (Hrsg.): Jungen-Pädagogik. Praxis und Theorie
von Genderpädagogik. Wiesbaden: Springer, S. 108–118.
Busche, Mart/Cremers, Michael (2009): Jungenarbeit und Intersektionalität. In: Pech,
Detlef (Hrsg.): Jungen und Jungenarbeit eine Bestandsaufnahme des For-
schungs- und Diskussionsstandes. Baltmannsweiler: Schneider, S. 13–31.
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frank-
furt/Main: Suhrkamp.
Connell, Raewyn [Robert] W. (2000): The man and the boys. Cambridge.
Degele, Nina (2007): Männlichkeit queeren. In: Bauer, Robin/Hoenes, Josch/Wolters-
dorff, Volker (Hrsg.): Unbeschreiblich männlich. Heteronormativitätskritische
Perspektiven. Hamburg: Männerschwarm, S. 29–42.
Degele, Nina (2019): Intersektionalität: Perspektiven der Geschlechterforschung. In:
Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch interdiszipli-
näre Geschlechterforschung. Bd. 65. Wiesbaden: Springer, S. 341–348.
Faulstich-Wieland, Hannelore (1989): Die Arbeitsgruppe Frauenforschung in der Deut-
schen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. In: dies (Hrsg.): Weibliche Identi-
tät. Bielefeld, S. 3–11.
Fegter, Susann (2012): Die Krise der Jungen in Bildung und Erziehung. Diskursive
Konstruktion von Geschlecht und Männlichkeit. Wiesbaden: Springer.
Heilmann, Andreas (2014): Normalität auf Bewährung. Outings in der Politik und die
Konstruktion homosexueller Männlichkeit. Bielefeld: Transcript.
Hirschauer, Stefan (2001): Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Ka-
tegorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
logie (Sonderheft 41/2001), S. 208–235.
Hirschauer, Stefan (2014): Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörig-
keiten/Un/doing Differences. The Contingency of Social Belonging. In: Zeitschrift
für Soziologie 43 (3), S. 125. DOI: 10.1515/zfsoz-2014-0302.
Holter, Oystein G. (2007): Men’s Work and Family Reconciliation in Europe. In: Men
and Masculinities 9 (4), S. 425–456. DOI: 10.1177/1097184X06287794.
Huxel, Katrin (2014): Männlichkeit, Ethnizität und Jugend. Präsentationen von Zuge-
hörigkeit im Feld Schule. Wiesbaden: Springer.
Metz-Goeckel, Sigrid (1993): Jungensozialisation oder Zur Geschlechterdifferenz aus
der Perspektive einer Jungenforschung. In: Zeitschrift für Frauenforschung 11
(1+2), S. 90–110.
Oevermann, Ulrich (2001a): Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern.
In: Sozialer Sinn 2 (1), S. 3–34.
Oevermann, Ulrich (2001b): Die Struktur sozialer Deutungsmuster. Versuch einer Ak-
tualisierung. In: Sozialer Sinn 2 (1), S. 35–82.
Oevermann, Ulrich (2002): Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der
objektiven Hermeneutik. Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung.
Institut für hermeneutische Sozial- und Kulturforschung e.V. www.ihsk.de/publi-
kationen/Ulrich_Oevermann-Manifest_der_objektiv_her-meneutischen_Sozial-
forschung.pdf [Zugriff: 12.08.2021].
Pech, Detlef (Hrsg.) (2009): Jungen und Jungenarbeit. Eine Bestandsaufnahme des For-
schungs- und Diskussionsstandes. Baltmannsweiler: Schneider.
Rieske, Thomas Viola/Budde, Jürgen (2019): Auseinandersetzungen mit (Neuen) The-
orien für die erziehungswissenschaftliche Forschung zu Männlichkeiten. In: Ku-
33
bandt, Melanie/Schütz, Julia (Hrsg.): Methoden und Methodologien in der erzie-
hungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. S. 234–256.
Scheibelhofer, Paul (2018): Der fremd-gemachte Mann. Zur Konstruktion von Männ-
lichkeiten im Migrationskontext. Wiesbaden: Springer.
Schlüter, Anne (2019): Erziehungswissenschaft: Geschlecht als Kategorie für pädago-
gische Praxis und erziehungswissenschaftliche Forschung. In: Kortendiek,
Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja (Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Ge-
schlechterforschung, Bd. 65. Wiesbaden: Springer, S. 673–681.
Scholz, Sylka (2015): Männlichkeitssoziologie. Studien aus den sozialen Feldern Ar-
beit, Politik und Militär im vereinten Deutschland. Münster: Westfälisches Dampf-
boot.
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (2019): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der
Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München: oekom.
Schultheis, Klaudia/Fuhr, Thomas (2006): Grundfragen und Grundprobleme der Jun-
genforschung. In: Schultheis, Klaudia/Strobel-Eisele, Gabriele/Fuhr, Thomas
(Hrsg.): Kinder: Geschlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung. Stuttgart:
Kohlhammer, S. 12–71.
Schultheis, Klaudia/Strobel-Eisele, Gabriele/Fuhr, Thomas (Hrsg.) (2006): Kinder:
Geschlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung. Stuttgart: Kohlhammer.
Thielen, Marc (2011): „Bist du behindert Mann?“. Überlegungen zu Geschlecht und
Geschlechterinszenierungen in sonder- und integrationspädagogischen Kontexten
aus einer intersektionalen Perspektive. In: Zeitschrift für Inklusion. Online
verfügbar unter www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/
view/106/106 [Zugriff: 12.08.2021].
Thielen, Marc (2014): Männlichkeit verpflichtet. Die pädagogische Bearbeitung rand-
ständiger Männlichkeit im Zuge der Herstellung von Ausbildungsreife in der Be-
rufsvorbereitung. In: Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina
(Hrsg.): Männlichkeiten. Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutio-
nen. Opladen: Budrich (Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erzie-
hungswissenschaft, Folge 10/2014), S. 171–184.
Walgenbach, Katharina (2015): Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationspro-
zessen. Opladen: Budrich.
Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Jungen –
Systematisierung eines Forschungsfeldes
Jürgen Budde und Thomas Viola Rieske
1 Einleitung
Seit mehreren Jahrzehnten gibt es Forschungen, die sich mit dem Thema Jun-
gen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive beschäftigen. Allerdings ist
die Theoriebildung nicht zufriedenstellend. Zentrale Fragen etwa die nach
der Relation zwischen Bildung als erziehungswissenschaftlichem, nnlich-
keit als sozial- und kulturwissenschaftlichem und Jungen als praktisch-klassi-
fikatorischem Konzept oder die nach der Relation von geschlechter- und erzie-
hungswissenschaftlicher Theorie sind ungeklärt (Rieske und Budde 2019;
Budde und Rieske 2020; Budde und Mammes 2009). Vor diesem Hintergrund
verfolgt dieser Text das Anliegen, den aktuellen Stand der Forschung zu Bil-
dungsprozessen von und mit Jungen zu rekonstruieren und auf diese Weise
eine Kartierung und Systematisierung vorzunehmen, gewissermaßen die ‚Ord-
nung des wissenschaftlichen Diskurses‘ zu rekonstruieren.1 Unsere grundle-
gende These ist, dass nicht nur zentrale theoretische Fragen in der Jungenfor-
schung kaum geklärt sind – dies gilt für viele erziehungswissenschaftliche Fel-
der – sondern dass relevante theoretische Fragen nicht hinreichend bearbeitet
werden. Weiter gehen wir von der Annahme aus, dass erziehungswissenschaft-
liche Grundlegungen wenig prominent vertreten sind, sodass sich aus diesem
Grund bislang keine Forschungslandschaft ausprägen konnte.
2 Kurze Geschichte der erziehungswissenschaftlichen
Forschung zu Männlichkeit, Jungen und Bildung
Bereits seit langem werden geschlechtsbezogene Fragestellungen in
Pädagogik und Erziehungswissenschaft implizit wie explizit diskutiert. Schon
zu Beginn des modernen pädagogischen Diskurses bestehen Bezüge zum
1Wir danken Julia Perlinger, Oscar Yendell, Christian Möstl und Claas Hundertmark für die
intensive Recherche und Auswertung.
36
Thema Geschlecht. In der Regel wurden dabei dichotome und komplementäre
Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit vertreten, wie beispielsweise
Rousseaus Schriften zur Erziehung zeigen (Rousseau 2010; vgl. Strotmann
1999). Anfang des 20. Jahrhunderts fanden sich in den Debatten zu Mono- und
Koedukation im Kontext der ersten deutschen Frauenbewegung neben
erneuten Bezügen zu Geschlechterstereotypen auch gerechtigkeitstheoretische
Argumente, die eine gleichberechtigte(re) gesellschaftliche Stellung von
Mädchen und Frauen begründen sollten (Pestalozza 1922; Budde et al. 2016).
Diese gleichstellungsorientierten Argumente waren dabei oftmals mit Natura-
lisierungen über den ‚natürlichen Charakter‘ oder die ,natürliche Eignung‘ von
Männern und Frauen verwoben. Auch bei der Herausbildung pädagogischer
Professionen war eine Vermischung von Gleichstellung und Naturalisierung
zu beobachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts strebten Frauenrechtlerinnen
die Ermöglichung von Berufstätigkeit von Frauen in pädagogischen Feldern,
insbesondere der Sozialen Arbeit, an. Dabei wurden Frauen mit dem von
Helene Lange gepragten Konzept der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ als in
besonderer Weise für pädagogische und fürsorgende Tätigkeiten qualifiziert
konstruiert (Deutsch 1912; Baader 2018).
Während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus und auch nach der
Befreiung wurde an die intensiven und politisch aufgeladenen Debatten zu-
nächst kaum angeknüpft. Bis Anfang der 1970er Jahre dominierten in West-
deutschland weitestgehend monoedukative Bildungseinrichtungen und damit
die Vorstellung von Geschlechterdifferenzen als natürliche Gegebenheiten.
Dies wurde insbesondere in programmatischen Texten etwa zu Sexualaufklä-
rung, Didaktik des monoedukativen Sport- und Handarbeitsunterrichts oder
mädchenspezifischer Literatur thematisiert. In Ostdeutschland galt mit der flä-
chendeckenden Koedukation das Thema Geschlechtergerechtigkeit als hinrei-
chend bearbeitet (Horstkemper 1995; Hempel 1995).
Erst im Zuge feministischer Proteste der zweiten Frauenbewegung wurden
in der Erziehungswissenschaft Westdeutschlands ab Mitte der 1970er Jahre
geschlechtsbezogene Fragestellungen wieder intensiver unter macht- und
patriarchatskritischer Perspektive aufgegriffen. Neben Beiträgen zum Thema
Koedukation (Faulstich-Wieland 1987; Hurrelmann et al. 1986) und weib-
lichen Berufsbiographien (Faulstich-Wieland 1981) wurden Studien zur
Sozialisation und zu Bildungsbenachteiligungen von Mädchen (Hurrelmann et
al. 1986), (Frasch und Wagner 1982) publiziert. Bildungsprozesse von und mit
Jungen, die sich mit einer expliziten Fokussierung auf Männlichkeit und/oder
Jungen beschäftigen, gerieten ab den 1980er Jahren erst sehr langsam in den
Blick der Erziehungswissenschaft. Ein Bereich, der seit den 1980er Jahren in
der erziehungswissenschaftlichen Debatte aufgegriffen wurde, war das Thema
Jungenpädagogik, bzw. -arbeit (Heimvolkshochschule "Alte Molkerei Frille"
1988; Sielert 1989; Möller 1997; zur Geschichte von Konzepten der Jungen-
arbeit vgl. auch Rieske 2015).
37
In den 1990er Jahren war dann die Auseinandersetzung mit Sozialisations-
theorien besonders prägend für die Debatte, die einen Beginn der Erforschung
von Jungen in Bildungskontexten von und mit Jungen darstellte. Die Studie
der Arbeitsgruppe um Tillmann (1992) knüpfte an sozialwissenschaftliche
Überlegungen zu geschlechtsbezogener Sozialisation feministischer Autorin-
nen innerhalb und außerhalb der Erziehungswissenschaft an und liefert auch
wichtige Einsichten in Konstruktionsprozesse von Männlichkeit. Der Band
von Böhnisch und Winter (1993) widmet sich dem Thema männliche Soziali-
sation unter einer stärker psychologischen Perspektive. Neben entsprechenden
Studien, die Geschlechterrelationen aus einer interaktionistischen Perspektive
im Laufe schulischer Sozialisationsprozesse in den Blick nehmen – etwa die
ethnographischen Studien von Krappman und Oswald (1995) oder von Brei-
denstein und Kelle (1998) – fokussieren andere expliziter bzw. exklusiver auf
Männlichkeitspraktiken beispielsweise von marginalisierten Jugendlichen
(Tertilt 2001). Daneben entstanden eine Reihe von Arbeiten, die männlich-
keitstheoretisch bedeutsame Teilbereiche fokussieren, wie etwa das Thema
Gewalt (Lenz 1996), Sexualität (Winter und Neubauer 1998) sowie sexuelle
Gewalt (van Outsem 1993). Parallel wurde das Thema auch in journalistischen
und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen aufgegriffen (Schnack und
Neutzling 1991).
Nach der Jahrtausendwende veränderten sich die Themenfelder. Durch in-
ternational-vergleichende Kompetenzmessungen gerieten (schon längere be-
stehende) Geschlechterdifferenzen im Schulsystem in den Fokus der öffentli-
chen Wahrnehmung. Insbesondere die ab 2000 alle drei Jahre durchgeführten
PISA-Studien richteten die Aufmerksamkeit auch auf Jungen (Stanat und
Kunert 2004; Zimmer et al. 2006). Die geringeren Kompetenzwerte der Jungen
in der Domäne Lesen im Vergleich zu denen der Mädchen wurden von man-
chen als Hinweis auf eine „Krise der Jungen“ interpretiert bzw. als Beleg dafür
herangezogen (Fegter 2012). PISA kann als eine Art Diskursereignis verstan-
den werden, welches zu einer neuen wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf
Jungen geführt hat. Im Anschluss daran wurde zum einen intensiv darüber de-
battiert, wie die Bildungssituation von Jungen zu beschreiben und zu erklären
ist (Preuss-Lausitz 2005; Rose 2005; Tischner 2008; Rieske 2011). Zum zwei-
ten kam es – in Verbindung mit den genannten sozialisationstheoretischen, so-
zialpsychologischen, machttheoretischen sowie sozialkonstruktivistischen
Perspektiven – Anfang der 2000er Jahre vermehrt zu empirischer Forschung.
Vor allem qualitativ orientierte Erziehungswissenschaftler*innen rekonstruie-
ren Praktiken von und mit Jungen in Bildungskontexten. Neben der Schule
(Budde 2005; Krebs 2008) bilden Freundschaften (Jösting 2005; Michalek
2006), Gewalt in informellen Zusammenhängen (Meuser 2002; Kassis 2003)
sowie die Situation von sozioökonomisch marginalisierten Jungen (Phoenix
2008; Wellgraf 2012; Huxel 2014) weitere inhaltliche Schwerpunkte dieser
Studien. Einen zusätzlichen – ähnlich wie die PISA-Studie nicht primär auf
38
Jungen blickenden Teilbereich stellen Studien dar, die auf die Schul- und
Unterrichtsentwicklung blicken, oftmals aus einer zweigeschlechtlichen Per-
spektive (Koch-Priewe 2002; Faulstich-Wieland et al. 2004; Budde et al.
2008). (Fach-)Didaktische Beiträge sind hier allerdings die Ausnahme
(Jahnke-Klein 2001). Als ein weiterer Bereich der Diskussion kann die Aus-
differenzierung der Diskussionen um Jungenarbeit identifiziert werden
(Sturzenhecker und Winter 2002; Jantz und Grote 2003; Pech 2009).
Zu Beginn der Jungenforschung seit den 1980er Jahren richtete sich der
inhaltliche Blick zunächst vor allem auf Macht- und Herrschaft, daneben auch
auf jene Risiken, die mit männlichen Sozialisationsanforderungen verbunden
sind (Raithel 2005). Später gab eine Reihe von erziehungswissenschaftlichen
Studien, die expliziter Bildungsprozesse von und mit Jungen thematisieren.
Das Erkenntnisinteresse hierbei speiste sich einerseits aus Beiträgen von Fe-
ministinnen zu geschlechtsbezogenen Ungleichheiten in Gesellschaft und Bil-
dungssystem (Faulstich-Wieland 1987). Entsprechend ist das Theoriespektrum
bis in die 2000er Jahre hinein geprägt von soziologisch informierten Macht-
und Hegemonietheorien (Budde 2005). Andererseits gab es ein Bemühen, aus
stärker sozialpädagogischer Perspektive die Lebenssituation von Jungen und
deren Verhaltensweisen zu betrachten (vgl. Böhnisch und Winter 1993). Auch
wurden Impulse zu einer psychologischen Männlichkeitsforschung im
deutschsprachigen Raum zur Kenntnis genommen. So lieferte etwa die psy-
choanalytisch fundierte Auseinandersetzung mit Abwehr und Abspaltung, die
beispielsweise Theweleit (1983) vorlegte, wichtige Impulse.
Bereits früh wurden jene Diskussionen geführt, die auch heute noch einen
bedeutsamen Teil der Auseinandersetzungen prägen. Dies sind beispielsweise
das Problem der Homogenisierung und Naturalisierung ‚der‘ Jungen, indem
diese vergeschlechtlichte (und generational strukturierte) Differenzkategorie
als verbindendes Element auf Jungen angewendet wurde. Weiter wird in den
Forschungsarbeiten die Herausforderung thematisch, einerseits eine relative
Homogenität von gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen anzuneh-
men und andererseits der Pluralität von Jungen-Biographien Rechnung zu tra-
gen. Dieses Spannungsfeld (welches auch als Verhältnis zwischen Struktur
und Individuum reformuliert werden kann) bildet sich in den zentralen Zugän-
gen ab.
Mittlerweile existieren zahlreiche Publikationen im Kontext erziehungs-
wissenschaftlicher Jungen- und Männlichkeitsforschung. Allerdings gibt es
keine systematische, theorie- wie empiriebasierte Darstellung des Stands der
Forschung, sondern vielmehr eine beachtliche Anzahl an einzelnen Befunden
mit divergierenden Zugriffen, Themen, Theorien und Aussagen. Mehrere
thematisch einschlägige Sammelbände (Budde et al. 2014; Forster et al. 2011;
Pech 2009; Schultheis et al. 2006) konnten bislang kaum zu einer Struk-
turierung des Diskurses beitragen. Deswegen widmet sich der Beitrag nicht nur
den inhaltlichen Erträgen erziehungswissenschaftlicher Forschung zu Jungen,
39
sondern auch der Gestalt des Diskurses, indem theoretische und praktische
Bezüge analysiert werden.
3 Analyse der Beiträge zu einer
erziehungswissenschaftlichen Forschung zu Jungen
unter männlichkeitstheoretischer Perspektive von 2010
bis 2020
3.1 Vorgehen und Korpusbeschreibung
Um eine Systematisierung und Theoriebildung voranzutreiben, wurden 95
deutschsprachige Texte aus dem Zeitraum von 2010 bis 2020 analysiert, die
sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive theoretisch und empirisch
mit Praktiken von und mit Jungen beschäftigen. Aufgrund des Interesses an
Jungenforschung wurden keine Studien berücksichtigt, die zwar auf Heran-
wachsende mit Geschlechterperspektive blicken, aber Jungen dabei nicht fo-
kussiert betrachten. Beiträge, die im Anschluss an die Diskussion über Jungen
als Bildungsverlierer die Bedeutung des Geschlechts der Pädagog*innen un-
tersuchen, wurden ebenso wenig in den Korpus aufgenommen, sofern sie nicht
auch auf Praktiken mit Jungen blicken. Soziologisch oder psychologisch infor-
mierte Beiträge wurden berücksichtigt, insofern sie sich mit Bildungspraktiken
von und mit Jungen beschäftigen. Zwar sind die Ränder nicht trennscharf kon-
turiert, gleichwohl lässt sich auf diese Weise das Feld thematisch eingrenzen.
Die Recherche erfolgte über FIS-Bildung2 sowie über eigene Feldkenntnis. Die
95 Texte reprasentieren eine ‚Vollerhebung‘ aller Texte, die in (oder an den
Rändern) der Schnittmenge der drei Kriterien Zeitraum, Thema und diszipli-
näre Verortung liegen. Viele Texte stellen Befunde empirischer Studien dar,
es befinden sich aber auch theoretische Beiträge sowie theorieorientierte pro-
grammatische Schriften darunter.
Die 95 Beiträge wurden in einer Kombination von deduktiv und induktiv
gebildeten Codes kodiert. So wurden deduktiv vier diskursstrukturierende
Oberkategorien gebildet. Dies sind a) theoretische Zugänge, b) pädagogische
Dimensionen, c) Forschungsgegenstände sowie d) methodisch-methodolo-
gische Zugänge. Innerhalb dieser Oberkategorien wurden thematische Unter-
teilungen vorgenommen und Kategorien entwickelt, die wiederum zum Teil
deduktiv gesetzt wurden (wie etwa bestimmte Theorietraditionen) und zum
größeren Teil induktiv aus den kodierten Texten stammen (wie etwa der Code
„Körper“). Innerhalb der jeweiligen Oberkategorien und thematischen
2 Schlagworte waren z.B. „Jungen“, „mannlich“, „Mannlichkeit“, „masculinity“.
40
Unterteilungen konnten Texte je nach verwendeten Bezügen mehrfach
kategorisiert werden (zur Übersicht vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1: Kategoriensystem
Die Publikationsformate der Texte sind unterschiedlich. Es gibt Autor*innen
wie etwa Budde, Fegter oder Rieske, die im Zeitraum mehrere thematische
Texte publiziert haben. Diese bringen im Laufe der analysierten zehn Jahre
entsprechend mehrere Perspektiven in den Diskurs ein. In einigen Fällen lassen
sich Arbeitszusammenhänge erkennen, so etwa die Forschungsgruppe um
King und Koller oder um Neuber. Allerdings überwiegen Beiträge von
Autor*innen, die lediglich mit ein oder zwei Texten beteiligt sind. Die Mehr-
zahl der Texte ist in Sammelbänden erschienen (N=62). Deren inhaltlicher
Fokus ist zu je 1/3 auf Geschlechterthemen, auf Männlichkeiten sowie auf
sonstige Themen orientiert. 18 der 95 Texte sind Monografien, davon sind 14
Dissertationsschriften. Zwölf Texte wurden in Zeitschriften publiziert, von
denen die Mehrzahl ein Qualitätssicherungsverfahren durchlaufen hat, drei
Beiträge sind der Kategorie Graue Literatur zuzuordnen. Damit dominieren im
Korpus kürzere Beiträge, die kein wissenschaftliches Qualitätssicherungsver-
fahren durchlaufen haben, so dass der Diskurs insgesamt als wenig formalisiert
zu beschreiben ist. Es bilden sich im relativ kurzen Analysezeitraum keine
‚Diskurskerne‘ oder Schlüsseltexte heraus.
41
3.2 Theoretische Zugänge
In der Oberkategorie „Theoretische Zugange“ wurde zwischen sozial- und ge-
sellschaftstheoretischen Zugängen einerseits und erziehungswissenschaftli-
chen Zugängen andererseits differenziert.
Für die sozial- und gesellschaftstheoretischen Bezüge zeigt sich eine
deutliche Priorität hegemonie- und habitustheoretischer Perspektiven
(Abbildung 2). Insbesondere die hegemonietheoretische Rezeption der
Arbeiten von Connell (52 Kategorisierungen) und der machttheoretischen
Ansätze nach Bourdieu (49 Kategorisierungen) verweist darauf, dass sich mehr
als die Hälfte aller von 2010 bis 2020 publizierten Texte zu Bildungsprozessen
von und mit Jungen auf diese beiden Theoriefundamente beziehen. Im Fokus
der entsprechend kategorisierten Texte stehen beispielsweise Peer-Praktiken
oder Analysen von Ungleichheit, die immer einen Bezug zu Fragen von Macht
und Herrschaft aufweisen. Die dritte, mit 36 Nennungen ebenfalls häufig
verwendeter Kategorie bezieht sich auf den symbolischen Interaktionismus in
Anlehnung an das going gender-Paradigma (West und Zimmerman 1991)
sowie Goffman (1999). Beiträge der Kategorie psychologische Theorien (mit
einer primär sozialwissenschaftlichen Ausrichtung) wurden in 20 Texten
zitiert, wobei diese in sich wiederum ausdifferenzierbar sind. Einige Texte
beziehen sich auf psychoanalytische Theorien, insbesondere auf die Beiträge
von Nancy Chodorow zur Entwicklung männlicher Identität. Andere lassen
sich eher als psychologische Entwicklungstheorien jenseits der Psychoanalyse
bezeichnen. Eine dritte Gruppe psychologischer Texte gehört zum sozial- und
kognitionspsychologischen Diskurs, der insbesondere in quantitativ vorgeh-
enden Studien der empirischen Bildungsforschung vorkommt. Auffällig ist,
dass psychologische Theorien weniger stark als sozialwissenschaftliche
Theorien präsent sind das Forschungsinteresse der meisten Autor*innen
bezieht sich auf die (Re-)Produktion von Machtverhältnissen bzw. die
interaktive Herstellung von Geschlecht, während das Thema der psychischen
Entwicklung von Jungen nur marginal behandelt wird. Im Gegensatz zu den
‚klassischen‘ macht- und interaktionstheoretischen Ansätzen werden
aktuellere Theoriegebäude vergleichsweise wenig aufgegriffen. So finden sich
beispielsweise nur wenig Bezüge auf Intersektionalität (15 Kategorisierungen)
oder poststrukturalistische Theorien (10 Kategorisierungen), auf queere
Perspektiven wird sogar lediglich in drei Texten substanziell Bezug
genommen. Nur sieben der Texte weisen keinerlei sozial- oder gesellschafts-
wissenschaftlichen Bezug auf, sodass von einer starken sozial- und
gesellschaftstheoretischen Fundierung des Diskurses gesprochen werden kann.
42
Abbildung 2: Häufigkeiten sozial- und gesellschaftswissenschaftlicher Theo-
riebezüge (Mehrfachkategorisierungen möglich).
Dieser Befund wird noch untermauert, wenn man Mehrfachkategorisierungen
in den Blick nimmt (Tabelle 1). Insgesamt 35 Texte beziehen sich sowohl auf
Connell als auch auf Bourdieu. Darüber hinaus weisen die Bezüge zu diesen
beiden Theorien starke Überschneidungen mit Bezügen zum symbolischen In-
teraktionismus auf. Immerhin 22 Texte kombinieren diese Theorieperspektive
mit Connell und 24 mit Bourdieu. 17 Texte – und damit knapp 1/5 – verwenden
sogar alle drei Theorieperspektiven. Damit liegt einem beachtlichen Teil des
Datenkorpus ein geschlossenes soziologisch informiertes und an Fragen von
Macht und Herrschaft interessiertes Theoriegebäude zugrunde. Texte, die mit
Intersektionalität kategorisiert sind, verwenden zu 2/3 Bezüge auf Connell,
Bourdieu sowie den symbolischen Interaktionismus. Intersektionalität ist mit-
hin weniger eine eigenständige Theorieperspektive, sondern eine Ergänzung
einer sowieso angelegten machttheoretischen Theoriefolie. Von allen, mit In-
tersektionalität kodierten Texte nutzt knapp die Hälfte alle drei Theoriebezüge.
Auch auf poststrukturalistische Theorie referierende Texte beziehen sich häu-
fig auf Bourdieu und Connell (6 Texte). Beiträge, denen eine psychologische
Fundierung zugrunde liegt, sind hingegen mit anderen Theoriebezügen kaum
verknüpft. Mit lediglich drei gemeinsam kategorisierten Texten bestehen eben-
falls vergleichsweise wenig Bezüge zwischen intersektionalen und poststruk-
turalistischen Theorien.
52 49
36
20 15 10 63
19
7
0
10
20
30
40
50
60
43
Tabelle 1: Anzahl an Mehrfachkategorisierungen (Sozial- und Gesellschafts-
theorie).
Hegon.-
theor.
35
Habitus-
theor.
22
24
Symb.
Interakt.
10
8
7
Psycho-
logie
1
1
1
1
Queer
11
11
10
1
1
Intersek-
tional
6
6
3
-
1
3
Post-
strukt.
3
3
-
1
-
-
1
Variab.-
modell
11
9
4
5
-
3
1
-
Andere
Explizite erziehungswissenschaftliche Bezüge – etwa auf Grundbegriffe wie
Lernen, Bildung Sozialisation oder Erziehung oder auf Klassiker wie
Humboldt, Klafki oder Prange – finden sich selten in den Texten. 25 und damit
ca. 30% der Texte besitzen gar keinen expliziten erziehungswissenschaftlichen
Zugang im Sinne abgesicherter Theorienutzung, sondern erziehungswissen-
schaftliche Bezüge werden vor allem durch eine pädagogische Rahmung des
Forschungsfeldes hergestellt (vgl. Abbildung 3). Ebenfalls 25 Kategorisie-
rungen weisen die beiden deduktiv generierten Begriffe Adoleszenz und
Sozialisation auf. Damit liegen sie in der Gesamtzahl der Nennungen deutlich
hinter den primären sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Kategorien.
Der Identitätsbegriff wird in 17 der Texte verwendet. Erziehungswissen-
schaftliche Theoriebestände wie etwa Professionalisierungstheorien (13 Kate-
gorisierungen), Organisationstheorien (7 Kategorisierungen) oder Anerken-
nungstheorien (3 Kategorisierungen) spielen keine besondere Rolle. Auch die
disziplinär zentralen Begriffe Bildung (8 Kategorisierungen) und Erziehung (5
Kategorisierungen) werden nur sehr vereinzelt aufgegriffen. Diese Kategorien
wurden ebenfalls deduktiv gebildet.
44
Abbildung 3: Häufigkeit erziehungswissenschaftlicher Theoriebezüge (Mehr-
fachkategorisierungen möglich).
Nicht nur werden erziehungswissenschaftliche Theoriebezüge seltener in den
Texten verwendet, auch lassen sich weniger eindeutige Zusammenhänge
zwischen ihnen herstellen (Tabelle 2).
Tabelle 2: Anzahl an Mehrfachkategorisierungen.
Erzieh-
ung
2
Bildung
1
1
Adoles-
zenz
2
1
5
Sozialisa-
tion
-
-
5
6
Identität
1
2
1
2
1
Organisa-
tion
1
1
1
2
-
-
Aner-
kennung
3
4
2
2
-
1
1
Profes-
sion
1
2
3
1
4
-
-
1
Andere
26 24
17
13
8753
12
28
0
5
10
15
20
25
30
45
Die meisten gemeinsamen Kategorisierungen bestehen zwischen Sozialisation
und Identität mit 6 Texten sowie zwischen Adoleszenz und Sozialisation, bzw.
Identität (jeweils 5 Texte). Damit fällt die Anzahl an Doppeltkategorisierungen
hier vergleichsweise gering aus, was angesichts der theoretischen Überschnei-
dungen zwischen diesen drei Begriffen durchaus überrascht. Weitere deutli-
chere Übereinstimmungen in den Kategorisierungen lassen sich kaum finden,
bzw. sind (wie bei den gemeinsamen Kategorisierungen von Anerkennungs-
theorien und Sozialisationstheorien) aufgrund der geringen Anzahl nur von
eingeschränkter Aussagekraft.
Damit zeigt sich bei der theoretischen Rahmung einerseits eine Dominanz
macht- und hegemonieorientierter gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher
Ansätze und eine vergleichsweise geringe Bezugnahme auf erziehungswissen-
schaftliche Theoriebestände. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht stellt
dies eine Schwierigkeit dar, weil der Schwerpunkt auf der Beschreibung und
Erklärung bestehender Herrschaftsverhältnisse liegt und damit pädagogische
Dimensionen tendenziell unterbelichtet bleiben. Zwar enthalten diese Theorien
teilweise auch Annahmen über Erziehung und Bildung – Bourdieus Begriff der
„Strukturübungen“ etwa ist hier relevant, ebenso poststrukturalistische Theo-
rien der Subjektivierung –, doch diese spielen eine nur geringe Rolle. Erzie-
hungswissenschaftliche Jungenforschung zielt weniger darauf, explizit zu Dis-
kursen über Erziehung und Bildung beizutragen. Vielmehr stehen die ge-
schlechtertheorieorientierten Diskursbezüge nur in losem Bezug zu erzie-
hungswissenschaftlichen Forschungen. Anzunehmen ist, dass auf diese Weise
die wiederholt konstatierte Marginalisierung der erziehungswissenschaftlichen
Geschlechterforschung auch dadurch reproduziert wird, dass sie sich nicht hin-
reichend mit den Kerntheorien ihres Fachs auseinandersetzt.
3.3 Pädagogische Dimension
Die Kategorisierung der pädagogischen Praxisdimensionen wird entlang des
Bezuges auf das Thema Jungen differenziert. Dazu wurde eine Unterteilung in
‚über Jungen‘, ‚mit Jungen‘ sowie ‚von Jungen‘ gewahlt (Abbildung 4). Als
erste Praxisdimension werden mit der Kategorie ‚über Jungen‘ Arbeiten
verschlagwortet, die mediale oder wissenschaftliche Artikulationen über
Jungen bearbeiten. Damit sind etwa diskursanalytische Beiträge beschrieben.
Davon abgegrenzt sind Texte, die Aktivitaten ‚mit Jungen‘ behandeln,
bevorzugter Weise von Pädagog*innen. Dies umfasst etwa die Beobachtung
der Aktivitäten von Pädagog*innen mit Jungen im Unterricht der Schule oder
des Morgenkreises der Kita. Auch zugeordnet werden Texte, die sich
programmatisch damit beschäftigen, wie die Praxis mit Jungen aussehen sollte.
Damit zielt diese Kategorie auf padagogische Praktiken. Die Kategorie ‚von
Jungen‘ umfasst Praxisformen der Aktivitaten und Orientierungen von Jungen.
46
Hier sind Texte kategorisiert, welche die Praxis ‚von Jungen‘ behandeln. Das
kann eine Beobachtung des Unterrichtsverhaltens von Jungen sein oder auch
eine Interviewstudie, die Jungen zu ihren Sichtweisen auf Berufsorientierung
befragt.
In der Verteilung zeigt sich deutlich, dass sich mit 64 Kategorisierungen
ca. 2/3 aller Texte mit der Praxis ‚von Jungen‘ beschaftigen. Auch Studien zur
padagogischen Praxis ‚mit Jungen‘ finden sich vergleichsweise haufig. Mit 47
Kategorisierungen sind hier knapp die Hälfte aller Texte verschlagwortet.
Beide Kategorien zielen eher auf die Interaktionsebene des Sozialen ab, wäh-
rend die reprasentationsorientierte Kategorie ‚über Jungen’ lediglich in elf
Texten und damit vergleichsweise selten verwendet wird. Mit Blick auf die
theoretischen Bezüge irritiert diese starke Fokussierung der kategorisierten
Studien auf Praxis von und mit Jungen, da diese gesellschaftstheoretischen Be-
züge insbesondere Macht- und Herrschaftsverhältnisse fokussieren. Eben diese
Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind aber auf der Ebene der Interaktionen
nur teilweise analysierbar und benötigen zur umfassenden Bearbeitung auch
andere Zugänge (z.B. Diskursanalyse von Materialen, Vorgaben oder Leitli-
nien).
Abbildung 4: Jungenbezogene Praxisdimensionen (Mehrfachkategorisierung-
möglich).
Bei der Differenzierung der pädagogischen Handlungsfelder, auf die sich die
Texte beziehen, wurde der Unterteilung in formale, non-formale und infor-
melle Bildung gefolgt (Rauschenbach et al. 2004). Dabei zeigt sich, dass alle
drei Bildungsbereiche etwa gleich häufig kategorisiert wurden (Abbildung 5).
Die Vermutung, dass aufgrund der PISA-Studien Bildungsprozesse von und
mit Jungen vor allem als schulischen Themen erforscht werden, kann nicht
11
47
64
über Jungen (Diskurse) mit Jungen (Pädagogik) von Jungen (Praxis)
47
bestätigt werden. Möglicherweise liegt dies darin begründet, dass Schulfor-
schung aufgrund des grundlegend koedukativen Charakters primär Geschlech-
terrelationen in den Blick nimmt und weniger eigenständige Beiträge zu Jun-
gen und Männlichkeit liefert.3 Darüber hinaus werden viele der Themen (vgl.
Kap 3.4) insbesondere mittels sozialpädagogischer Handlungsansätze bearbei-
tet.
Abbildung 5: Handlungsfelder
3.4 Themen der Studien
Die Kategorien zu den in den Texten untersuchten Gegenständen wurden in-
duktiv erstellt (Abbildung 6). In diesem Sinne bilden sie keine Systematik ei-
nes erziehungswissenschaftlichen Forschungsfeldes ab, sondern die prakti-
schen Relevanzsetzungen der kategorisierten Studien. Mit 32 Einträgen wurde
der Gegenstand ‚Bildungsverlaufe und -karrieren‘ am haufigsten kategorisiert,
wobei die hier versammelten Studien schwerpunktmäßig Übergänge in und
zwischen formalen Bildungsinstitutionen betrachten. Ebenfalls häufig taucht –
aufgrund der starken Orientierung an Macht- und Hegemonietheorien erwart-
bar der Gegenstand ‚Macht und Herrschaft‘ mit 29 Kategorisierungen auf.
Weitere Gegenstände, die in jeweils knapp ¼ der Texte behandelt werden, sind
‚Migration‘, ‚Beruf und Berufswahl‘ sowie ‚Gewalt‘, wobei es mit acht Texten
wenig gemeinsame Nennungen der beiden Kategorien Macht und Gewalt gibt.
Jeweils 15- bis 17-mal wurden die Kategorien ‚Körper‘, ‚Sport‘ und ‚Jungen-
3 Diese Annahme wäre in weiteren Studien zu erforschen.
40
32
31
formal non-formal informell
48
padagogik‘ vergeben. Der Gegenstand ‚Peers‘, welches zu Beginn der For-
schung zu Bildungsprozessen von und mit Jungen unter dem Sozialisationspa-
radigma großes Interesse auf sich zog, spielt mit zwölf Kodierungen keine be-
sonders herausragende Rolle. Weitere Gegenstände – wie etwa ‚Care‘, ‚Sexu-
alitat‘, ‚Emotionen‘ oder ‚Rechtsextremismus‘ – tauchen nur vereinzelt auf.
Hinsichtlich der Randstellung von Forschungsgegenstanden wie ‚Care‘ oder
‚Emotionen‘ ließe sich fragen, ob diese Marginalisierung auch eine Reproduk-
tion der Marginalisierung dieser Aspekte in Konstruktionen von Männlichkeit
darstellt oder ein Folgeeffekt der Fokussierung auf Macht, Herrschaft und Ge-
walt ist. Erstaunlich ist weiterhin die geringe Repräsentation des Gegenstandes
‚Homosexualitat‘, welches in Theorien der mannlichen Sozialisation (Böh-
nisch und Winter 1993) ebenso zentral gesetzt wird wie in Connells Hegemo-
nietheorie. Ob dies nun an latenter Homophobie innerhalb der Scientific Com-
munity liegt, oder an einer Fokussierung auf die Probleme von (aufgrund von
Ethnizität oder Klassenlage) soziokulturell marginalisierten Männlichkeiten
kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.
Abbildung 6: Forschungsgegenstände (Mehrfachkategorisierungen möglich).
Die gegenstandsbezogene Gliederung zeigt zweierlei: Zum ersten verweisen
die haufigen Nennungen der Kategorien ‚Bildungskarrieren‘ und Arbeit/
Beruf‘ darauf, dass padagogische Institutionen als Rahmen für Karrierewege
thematisch werden. Beziehungen hingegen wie in den Kategorien ‚Peers‘,
‚Jungenpadagogik‘ oder ‚Care‘ verhandelt – spielen als Forschungsthemen im
Gegensatz zu dieser institutionalisierten Perspektive weniger eine Rolle. Zum
zweiten zeigt sich, dass sich die starken sozialwissenschaftlichen Theorie-
32 29
25 22 21
17 15 15 12
764 4 2
25
0
5
10
15
20
25
30
35
49
bezüge auch in den Gegenständen (Macht/Herrschaft, Gewalt) widerspiegeln.
Alternative Forschungsgegenstände hingegen sind wie auch schon bei den
sozial- und gesellschaftstheoretischen Bezügen – nur marginal repräsentiert.
3.5 Methodisch-methodologischer Zugang
In methodologischer und methodischer Hinsicht dominieren qualitative
Verfahren mit 51 Kategorisierungen das Feld (Abbildung 7). Dies sind
insbesondere Interviewstudien vor ethnographischen Beobachtungen. Die
meisten dieser Studien haben vergleichsweise kleine Samples, es handelt sich
um ‚Case Studies‘ mit explorativen Interpretationen. Weit weniger Texte
haben eine primär theoretische Ausrichtung (21 Kategorisierungen). Mit 17
Kategorisierungen spielen quantitative Zugänge eine vergleichsweise geringe
Rolle. Des Öfteren werden quantitative Daten in Dissertationsschriften ver-
wendet. Aufgrund des Zuschnitts des Samples haben vergleichsweise wenig
programmatische Texte Eingang gefunden. Längsschnittstudien, international
vergleichende Untersuchungen, Meta-Analysen oder etwa historische Arbei-
ten sind nicht im Sample vertreten, solche Designs haben bislang keinen Ein-
zug in die Jungenforschung gefunden, wären aber zukünftig von besonderer
Relevanz. Den Schwerpunkt bilden vielmehr begrenzte Einzelfallstudien.
Abbildung 7: Forschungszugang.
51
17
21
6
Qualitativ Quantitativ Theoretisch Programmatisch
50
4 Perspektiven der Jungenforschung zwischen Struktur,
Interaktion und Subjekt
Die bisher dargestellten Analysen zeigen, dass erziehungswissenschaftliche
Forschung zu Jungen zwischen 2010 und 2019 in, auf Case-Studies basieren-
den Subdiskurse aufgesplittert ist und wenig auf erziehungswissenschaftliche
sowie aktuellere sozial- und gesellschaftswissenschaftliche Diskurse jenseits
von Männlichkeitstheorien Bezug genommen wird. In einem zweiten Schritt
werden die Texte dahingehend kodiert, welche häufiger genannten Autor*in-
nen sie zitieren und dabei Bezugnahmen auf Texte des Korpus (4.1), sowie
Bezugnahmen auf Referenztexte (4.2) untersucht.
4.1 Theoretische Bezugnahmen im Korpus
Wenngleich sich der Korpus über den Zeitraum von zehn Jahren erstreckt, so
fällt auf, dass relativ wenig Bezüge der Texte zueinander bestehen (vgl.
Abbildung 8). So können einerseits keine ‚Schlüsseltexte‘ identifiziert werden,
auf welche andere Texte besonders häufig Bezug nehmen. Dass Dissertations-
schriften nicht unbedingt zu ‚Schlüsseltexten‘ werden, scheint aufgrund der
spezifischen Qualifikationsanforderungen noch verständlich, für die Entwick-
lung eines Forschungsfeldes hingegen ist das relative Fehlen zentraler Bezugs-
texte eine eher hinderliche Strategie. Wenige der kategoriesierten Texte wer-
den von mehreren anderen Autor*innen zitiert, anders als bei den ‚Klassikern‘
lassen sich keine weiteren genuin erziehungswissenschaftlichen Beiträge
identifizieren, die eine herausragende Stellung im Diskurs als Referenztexte
einnehmen Vergleichsweise häufig noch werden die Texte von Burmester und
Neuber (2015) und Fegter (2012; je 4 Mal) sowie Cremers (2012; 3 Mal)
zitiert, allerdings sind auch diese Zahlen insgesamt sehr gering. Die meisten
Texte werden kaum von anderen Autor*innen aufgegriffen, sondern sind
relativ isolierte Beiträge.
Darüber hinaus zeigt die Darstellung andererseits, dass die einzelnen Dis-
kursbeiträge unverbunden nebeneinanderstehen. Innerhalb des analysierten er-
ziehungswissenschaftlichen Jungenforschung bestehen mehrere kleinere, in
den gegenseitigen theoretischen Bezügen parzellierte und isolierte (sowie ten-
denziell selbstreferenzielle) Subdiskurse, die allerdings kein gemeinsames
Forschungsfeld konturieren.
51
Abbildung 8: Theoretische Bezugnahmen im Korpus.
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Budde et al
Budde
Budde/ Krüger
Budde
Budde et al.
Scholz
Cremers
Diaz/ Wenzel
Calmbach
Rieske
Rieske
Rieske
Horstkemper
Litau/ Steuber
Brandes
Winter
Hunsiker
Böhnisch
Kanitz
May
Neuber/
Blomberg
Müller
Marienfeld
Neuber
Neuber/
Pfitzner
Burmester/
Neuber
Kreuz
Westphal/
Mühlenhoff
Kämpfe/
Westphal
Meuser
Bereswill/
Ehlert
Mühlenhoff
Godel-Gaßner/
Frick
Fegter
Fegter
Krämer/
Stieglitz
Aigner/
Rohrmann
Fegter
Schulz
52
4.2 Zitationskorrelationen zwischen Texten
Für die Analyse der Bezugnahmen auf Referenztexte werden Autor*innen
berücksichtigt, deren Texte innerhalb des Datenkorpus besonders häufig zitiert
wurden. Auf dieser Basis wurden Korrelationen zwischen den Zitationen ge-
bildet. Aus den Korrelationen wurden wiederum Cluster gebildet, die inhaltlich
sinnvolle Zusammenhänge abbildeten (vgl. Abbildung 9). Eine Schwierigkeit
dieses Vorgehens besteht darin, dass die reine Zitation nicht bereits eine
positive Bezugnahme bedeutet.4 Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass
Autor*innen teils für eine theoretische Grundlegung zitiert werden, teils
jedoch auch für die von ihnen vorgestellten Ergebnisse empirischer Studien
bzw. Überblicksarbeiten. Doch dies kann vernachlässigt werden, da die drei
Cluster Struktur, Interaktionen und Subjektebene differente Schwerpunktle-
gungen zum Ausdruck bringen und im Folgenden beschrieben werden.
Aufgrund des Eindrucks einer geringeren und überwiegend unsystematischen
Bezugnahme auf erziehungswissenschaftliche Autor*innen wurden zusätzlich
einige erziehungswissenschaftliche Klassiker einbezogen. Doch dies ergab
keine weitere Erkenntnis bezüglich miteinander zusammenhängender
Literaturverweise – dafür waren die entsprechenden Verweise zu selten.
Erwartungsgemäß und passend zu den theoretischen Bezügen (vgl. Kap.
3.1) bildet sich ein Cluster aus vorrangig an Macht und Herrschaft orientierten
Texten, die sich auf eine strukturelle Ebene von Ungleichheiten in
Geschlechterverhältnissen beziehen. Es ist deutlich zu sehen, dass es Zusam-
menhänge zwischen der Bezugnahme auf Connell (v.a. Connell 1999),
Bourdieu (v.a. Bourdieu 1997) und Meuser (v.a. Meuser 2010) gibt – alles drei
soziologisch orientierte Beiträge der Männlichkeitstheorie. Häufiger in diesem
Cluster ist auch Bereswill vertreten (z.B. Bereswill 2007). Ebenfalls in diesem
Cluster findet sich Budde, der auf Basis der Theorien von Connell, Bourdieu
und Meuser Praktiken von und mit Jungen erforscht und Verstehensmodelle
für die Verläufe von Bildungsprozessen bei Jungen formuliert hat (z.B. Budde
2005, 2009). In empirischen Studien schärft diese Literatur den Blick für
vergeschlechtlichte Machtverhältnisse. Stach (2012) zitierte bspw. alle vier
Autor*innen dieses Clusters und keine Autor*innen der anderen. Sie
untersuchte in Gruppendiskussionen mit Jungen deren Rezeption der Sendung
Germanys Next Topmodel. Connell, Bourdieu und Meuser werden hier als
Quellen für die These herangezogen, dass die Abgrenzung von Weiblichkeit
und die Hierarchiebildung zwischen Männern zentrale Elemente der
Herstellung von Männlichkeit seien, die wiederum in Wettbewerbspraktiken
geschehe. Unter Bezugnahme auf Bereswill weist sie darauf hin, dass es jedoch
Konfliktdynamiken gebe, die sich in Brüchigkeiten der Männlichkeitsentwürfe
4 Insbesondere Monografien (und gerade die vielen Qualifikationsarbeiten) haben einen aus-
führlichen Abschnitt zum Forschungsstand oder behandeln Theorien in abgrenzender Form,
eine Analyse ohne Monografien brachte allerdings gleiche Ergebnisse.
53
zeigten. Anhand des empirischen Materials sieht sie diese Thesen im
Wesentlichen bestätigt: Über die Models werde verachtend gesprochen; dabei
dominieren einige Sprecher die Diskussion, wenngleich Verunsicherung
angesichts der starken Frauen durchaus spürbar sei.
Ein zweites Cluster an Bezügen umfasst Autor*innen, die für die Erfor-
schung der interaktiven Herstellung von Geschlecht (insbesondere im Kontext
Schule) relevant sind. West und Zimmerman sowie Goffman werden in Stu-
dien zitiert, die sich mit der interaktiven Herstellung von Geschlecht befassen;
Texte von Rieske und Hurrelmann repräsentieren eher sozialisationstheoreti-
sche Fragestellungen. Von Rieske wird vor allem eine Studie zum Thema Jun-
genbenachteiligung zitiert (Rieske 2011). Bei West und Zimmerman (West
und Zimmerman 1991) geht es vor allem um ihre Theorie des „doing gender“,
bei Goffman werden differente Texte zitiert, darunter auch interaktionstheore-
tische Überlegungen. Es gibt anders als beim ersten Cluster keinen Text im
analysierten Korpus, der viele Quellen aus diesem Cluster und zugleich keine
aus anderen Clustern anführt.5 Paradigmatisch ist etwa der Beitrag von Litau
et al. (2012) zur Herstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit in jugendkul-
turellem Rauschtrinken. Der Beitrag fokussiert soziale Praxis als Identitätsar-
beit und verweist auf West und Zimmerman sowie Goffman zur Fundierung
einer sozialkonstruktivistischen Perspektive auf diese Praxis. Alkoholkonsum
wird dabei als „Bühne und Spielraum für Selbstinszenierungen“ verstanden
(ebd.: 146) – wobei für Jungen eine Orientierung an Männlichkeit beschrieben
wird, für Mädchen eher eine Begrenzung des Konsums durch Weiblichkeits-
normen. Aber auch Momente der Überschreitung bzw. Verschiebens von Ge-
schlechternormen – Abgrenzung von heroischem Trinken bei Jungen und An-
eignung von Alkoholkonsum bei Mädchen wird beschrieben. Auffällig ist,
dass weniger Geschlechterhierarchien als Geschlechternormen im Fokus ste-
hen und somit das Verhältnis von Jungen/Männlichkeit zu Mädchen/Weiblich-
keit anders als bei Stach (2012) nicht genauer analysiert wird.
Ein drittes Cluster umfasst Quellen, die primär die Subjektebene aus erzie-
hungswissenschaftlicher und pädagogischer Perspektive sowie aus psychoana-
lytischer Perspektive in den Blick nehmen. Auch hier gibt es durchaus Bezüge
zu Macht und Herrschaft oder Interaktionen doch der Schwerpunkt liegt in
der Theoretisierung von Subjektivität oder psychischen Spannungen bzw. Be-
wältigungsstrategien. Zentral sind dabei Texte von Böhnisch (2013), Böhnisch
und Winter (1993) sowie Winter und Neubauer (2001). Bemerkenswerterweise
wird auch Butler (insbes. 1991) häufig zitiert, obwohl diese sich von einer
5 Besonders viele sind es bei Kanitz (2017), die sich mit Männlichkeit und Schule beschäftigt.
Theoretisch bezieht sie sich jedoch auch stark auf Anerkennungstheorie, die in den Clustern
nicht abgebildet ist. Nur aus diesem Cluster zitieren bspw. Budde und Böhm (2014) vor
allem Selbstzitationen der beiden AutorInnen –, wo die Quellen vor allem der Entwicklung
des Themas Schule und Geschlecht (mit Fokus auf Lehrkräfte) dienen.
54
Dekonstruktion von Geschlecht eher abgrenzen.6 Dieses Cluster ist weniger
alleinstehend als die anderen – nur ein Drittel aller Texte des Korpus, die Quel-
len aus diesem Cluster zitieren, beziehen sich nicht auch auf Quellen der an-
deren Cluster. Bei den anderen Clustern ist das bei immerhin jeweils knapp der
Hälfte der Texte der Fall. Die psychische, bzw. subjektive Dimension scheint
also am ehesten eine Ergänzung der anderen Perspektiven darzustellen. Dort,
wo diese Dimension im Fokus steht (und nicht als Ergänzung fungiert), geht
dies mit im Diskurs randständig zur Kenntnis genommenen Geschlechtertheo-
rien einher. So erklären etwa Aigner und Rohr-mann (2012) vergeschlecht-
lichte Selbst- und Weltverhältnisse bei Kindergartenpädagogen mit deren früh-
kindlichen Beziehungserfahrungen. Sie deuten Interviews mit Männern, die
den Weg in das weiblich konnotierte Feld der Frühpädagogik gefunden haben,
mit einem psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Ansatz. Sie stellen fest,
dass bei mehreren der interviewten Pädagogen bestimmte Zuwendungserfah-
rungen durch die eigene Mutter und den eigenen Vater sowie die Verarbei-
tungsweisen dieser Erfahrungen grundlegend dafür sind, dass (die interview-
ten) Männer in Kindergärten arbeiten und wie sie ihre berufliche Rolle ausge-
stalten.
Bei der Zuordnung der 95 Texte zu den drei Clustern zeigt sich, dass 27 der
Texte vorrangig theoretische Bezüge mit dem Schwerpunkt Struktur aufwei-
sen, 19 mit dem Schwerpunkt Interaktion und 13 mit dem Schwerpunkt Sub-
jekt (Abbildung 9). Insgesamt 18 Texte beziehen sich auf zwei Theoriecluster,
15 Texte zitieren Quellen aus allen drei Clustern. Es fällt auf, dass die unter-
suchten Texte zwar in der Erziehungswissenschaft verortet sind, jedoch weni-
ger eine erziehungswissenschaftliche Fundierung aufweisen. Sie fokussieren
eher Fragen von Herrschaft, Macht und Struktur und nehmen weniger die
Ebene der Subjekte in den Blick. Man könnte von einem vorrangig soziologi-
schen Zugriff auf das Thema sprechen und einer Nachrangigkeit psychologi-
scher und pädagogischer Bezüge.
6 Fegter (2012) etwa nutzt Butlers Überlegungen in einer diskursanalytischen Studie, nennt
aber auch kurz Böhnisch – doch eher nebenbei. Andere, die sich explizit auch auf die Theorie
etwa von Winter/Neubauer beziehen (z.B. Neuber und Blomberg 2015), gehen wiederum
nicht auf Butler ein. Doch obwohl die Diskussion von Beispielen hier vage bleibt der
inhaltlich durchaus stimmige Zusammenhang eines Interesses am Subjekt bildet sich in der
Korrelation entsprechender Literaturverweise ab.
55
Abbildung 9: Clusterung der Texte
5 Fazit
Die vorgelegte Analyse von erziehungswissenschaftlichen Texten zu Jungen
aus den Jahren 2010 bis 2019 kommt zu dem Schluss, dass die
Forschungsliteratur zu Jungen und Bildung im vergangenen Jahrzehnt aus
miteinander tendenziell unverbundenen Texten besteht, deren Schwerpunkt in
der Rekonstruktion bzw. Thematisierung von Machtstrukturen und Männlich-
keitskonstruktionen in der Praxis von und (etwas weniger häufig) der Praxis
mit Jungen liegt. Häufungen in den Literaturbezügen der 95 analysierten Texte
bestehen in sozial- und gesellschaftstheoretischen Texten, wobei die Theorien
zu hegemonialer Männlichkeit, zum männlichen Habitus sowie zu doing
gender überwiegen. Seltener hingegen werden psychologische Theorien sowie
queere und intersektionale Perspektivierungen zitiert. Zwar mag es der Natur
des Korpus geschuldet sein, dass insbesondere Männlichkeitstheorien herange-
zogen werden. Der Datenkorpus ist eher an institutionellen Praktiken und
weniger an individuellen Entwicklungsdynamiken oder subjektorientierten
Gegenstanden orientiert. Die ‚Ordnung des wissenschaftlichen Diskurses‘
verweist auf wenige gegenseitige Bezugnahmen jenseits machttheoretischer
Bezüge und besteht vor allem aus parzellierten und isolierten (sowie tenden-
ziell selbstreferenziellen) Subdiskursen. Die Autor*innen beziehen sich relativ
56
wenig aufeinander. Erziehungswissenschaftliche Theoriebezüge wurden
insgesamt seltener gefunden (und mehr Texte, die keine solche Bezüge auf-
wiesen), bei ihnen überwiegen Theorien zu Adoleszenz, Sozialisation und
Identität, wobei innerhalb dieser Bezüge keine voneinander abgrenzbaren
Zugänge zu erkennen waren. Auch hinsichtlich der gewählten Forschungs-
gegenstände zeigt sich die Dominanz sozialwissenschaftlicher Zugänge. Die
gewählten Gegenstände – z.B. Macht, Migration, Gewalt und Arbeit sind
zweifelsohne für erziehungswissenschaftliche Forschung relevant. Doch
genuin erziehungswissenschaftliche Gegenstände, die an Kernbegriffe wie
Bildung, Erziehung und Lernen anschließen, finden sich kaum. Auch die für
Geschlechterdiskurse relevante innovative und Perspektiven jenseits von
Hegemonietheorien eröffnende Gegenstände wie Care, Homosexualität und
Emotionen wurden nur selten bearbeitet, sondern anstatt dessen insbesondere
Themen im Bereich männlicher Dominanz. Diese Einseitigkeit manifestiert
nicht nur Ausschlüsse von Thematiken, die ‚quer‘ zur Hegemonieperspektive
liegen, sondern kann auch dazu tendieren, tradierte und stereotype Männlich-
keitskonzeptionen zu reifizieren. Die Gegenstandswahl konturiert auf diese
Weise den Gegenstand. Die fehlenden gegenseitigen Bezugnahmen können
mit einem latenten theoretischen Isolationismus einhergehen. Bearbeitet
wurden vorrangig Praktiken von Jungen sowie Praktiken mit ihnen. Diskurse
über Jungen wurden hingegen nur selten in den Blick genommen. Formale,
non-formale und informelle Bildung waren in etwa in gleichem Maße Thema
der Texte. Methodologisch überwiegen qualitative Case-Studies.
Übergreifend konnten hinsichtlich der theoretischen Prägung drei Muster
rekonstruiert werden, die sich in Literaturbezügen, Fragestellungen und For-
schungsgegenständen ausdrücken, wobei einzelne Beiträge teils mehrere die-
ser Perspektiven anwendeten:
Machttheoretische Perspektiven betrachteten vor allem die Wirkungs-
weise von Normen und Hierarchien in der Praxis von und mit Jungen. Ent-
sprechende Texte zitieren Männlichkeitstheorien wie jene von Bourdieu
und Connell und finden vielfach die Reproduktion hegemonialer Männ-
lichkeit bzw. des männlichen Habitus.
Interaktionistisch orientierte Perspektiven blicken vorrangig auf die Her-
stellung von Geschlecht und Männlichkeit in Interaktionen oder Biogra-
phien. Sie zitieren Theorien des doing gender wie etwa von West und Zim-
merman und finden unterschiedliche Formen der Herstellung, Aushand-
lung, aber auch der Nicht-Thematisierung von Geschlecht und Männlich-
keit in Praktiken von und mit Jungen.
Subjektorientierte Perspektiven interessieren sich vor allem für die Per-
spektive einzelner Jungen und Männer. Sie zitieren häufig psychoanalyti-
sche bzw. konflikttheoretische Quellen sowie psychologische Literatur
zur Identitätsbildung o.ä. Dieser Perspektive rekonstruiert vielfach kon-
57
flikthafte Aneignungen bzw. Aushandlungen von Geschlecht und Männ-
lichkeit in Praktiken von Jungen oder jungen Männern.
Zusammengefasst zeigt sich weiter, dass die soziologisch inspirierte
Perspektive mit einem Fokus auf die Herstellung von Macht bzw. die Wirkung
von Geschlechternormen im Diskurs dominiert gegenüber einem Blick auf die
Herstellung von Geschlecht in sozialen Kontexten sowie gegenüber den am
seltensten angewendeten Perspektiven auf Subjekt und Psyche. Die konsta-
tierten theoretischen Defizite – Fokus auf Bourdieu und Connell bei Vernach-
lässigung anderer Perspektiven auf Jungen und Männlichkeit, nur geringe
Berücksichtigung intersektionaler und queerer Perspektiven, Nachholbedarf
mit Blick auf gegenwärtige gesellschaftliche Transformationen bestätigten
sich und wurden durch die Diagnose einer auffallend gering ausgeprägten
Theoretisierung des Gegenstands Bildung bzw. Erziehung (zugunsten einer
mehr oder weniger explizit gemachten sozialisationstheoretischen Perspek-
tiven) ergänzt.
Für die weitere erziehungswissenschaftliche Diskursivierung von ‚Jungen‘
lassen sich folgende Desiderate identifizieren, die in erziehungswissenschaft-
licher Jungenforschung bearbeitet werden sollten:
Studien und Publikationen sollten verstärkt auf die bestehende erziehungs-
wissenschaftliche Literatur Bezug nehmen, damit neue theoretische Zu-
gänge fundiert werden.
Erziehungswissenschaftliche theoretische Zugänge sollten vermehrt in
Studien über Jungen berücksichtigt werden. Die dezidierte Integration the-
oretischer Bezüge etwa zu Bildung und Lernen, Erziehung und Sozialisa-
tion sowie Unterricht und Didaktik machen Jungenforschung anschlussfä-
hig an erziehungswissenschaftliche Diskurse.
Forschung zu Jungen sollte einerseits trotz des bisherigen Schwerpunktes
nicht auf macht- und herrschaftsanalytische sowie interaktionstheore-
tische Fundierungen verzichten. Daneben sollten verstärkt subjekttheo-
retische Perspektiven integriert werden, die eine Grundlage für eine
erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema
‚Jungen‘ bieten.
Literaturverzeichnis
Aigner, Josef Christian/Rohrmann, Tim (Hrsg.) (2012): Elementar - Männer in der pä-
dagogischen Arbeit mit Kindern. Abschlussbericht des FWF-Forschungsprojekts
P 20621-G14 „Public fathers“ - Austrian‘s male workforce in child care (2008 -
2010). Opladen: Barbara Budrich.
Baader, Meike Sophia (2018): Von der Normalisierung zur De-Zentrierung nach 1968.
Mütterlichkeit, Weiblichkeit und Care in der Alten und in der Neuen
58
Frauenbewegung. In: Langer, Antje /Mahs, Claudia/Rendtorff, Barbara (Hrsg.):
Weiblichkeit Ansätze zur Theoretisierung. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag
Barbara Budrich (Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der
Erziehungswissenschaft, 14/2018), S. 15–37.
Bereswill, Mechthild (2007): Undurchsichtige Verhältnisse: Marginalisierung und
Geschlecht im Kontext der Männlichkeitsforschung. In: Klinger, Cornelia/Knapp,
Gudrun-Axeli/Sauer, Birgit (Hrsg.): Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von
Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt am Main: Campus, S. 84–99.
Böhnisch, Lothar (Hrsg.) (2013): Männliche Sozialisation. Eine Einführung. 2. Auf-
lage. Weinheim: Beltz Juventa.
Böhnisch, Lothar/Winter, Reinhard (Hrsg.) (1993): Männliche Sozialisation. Wein-
heim: Juventa.
Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, Irene/Krais, Beate
(Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis.
Frankfurt/Main, S. 153–216.
Breidenstein, Georg/Kelle, Helga (1998): Geschlechteralltag in der Schulklasse. Eth-
nographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim: Juventa.
Budde, Jürgen (Hrsg.) (2005): Männlichkeit und gymnasialer Alltag. Doing gender im
heutigen Bildungssystem. Bielefeld: Transcript. (Theorie Bilden, 2).
Budde, Jürgen (2009): Perspektiven für Jungenforschung an Schulen. In: Budde, Jür-
gen/Mammes, Ingelore (Hrsg.): Jungenforschung empirisch. Zwischen Schule,
männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: VS, S. 73–90.
Budde, Jürgen/Kansteiner, Katja/Bossen, Andrea (Hrsg.) (2016): Zwischen Differenz
und Differenzierung. Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Mono- und Ko-
edukation. Wiesbaden: VS.
Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (2009): Positionen und Perspektiven von Jungenfor-
schung. In: Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hrsg.): Jungenforschung empi-
risch. Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: VS, S.
10–18.
Budde, Jürgen/Rieske, Thomas Viola (2020): Männlichkeit und Gewalt in pädagogi-
schen Kontexten aktuelle Befunde und neue theoretische Impulse. In: Breiten-
bach, Eva/Hoff, Wallburga/Toppe, Sabine (Hrsg.): Geschlecht und Gewalt. Lever-
kusen: Barbara Budrich, S. 47–62.
Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore (Hrsg.) (2008): Ge-
schlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Per-
spektiven einer gendersensiblen Schulkultur. Weinheim: Juventa.
Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.) (2014): Männlichkei-
ten: Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen. Opladen: Barbara
Budrich (Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissen-
schaft, 10).
Butler, Judith (Hrsg.) (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/Main: Suhr-
kamp.
Connell, Robert W. (Hrsg.) (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von
Männlichkeiten. Opladen.
Deutsch, Regine (1912): Soziale Mutterschaft. In: Schreiber, Adele (Hrsg.): Mutter-
schaft. Ein Sammelwerk für die Probleme des Weibes als Mutter. München: Albert
Langen, S. 56–67.
59
Faulstich-Wieland, Hannelore (Hrsg.) (1981): Berufsorientierende Beratung von Mäd-
chen. Frankfurt am Main: Diesterweg.
Faulstich-Wieland, Hannelore (Hrsg.) (1987): Abschied von der Koedukation? Frank-
furt am Main: Fachbereich Sozialarbeit.
Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/Willems, Katharina (Hrsg.) (2004):
Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen
Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim: Juventa.
Fegter, Susann (Hrsg.) (2012): Die Krise der Jungen in Bildung und Erziehung. Dis-
kursive Konstruktion von Geschlecht und Männlichkeit. Wiesbaden: VS.
Forster, Edgar/Rendtorff, Barbara/Mahs, Claudia (Hrsg.) (2011): Jungenpädagogik im
Widerstreit. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Frasch, Heidi/Wagner, Angelika (1982): Auf Jungen achtet man einfach mehr…“. Eine
empirische Untersuchung zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Lehrer/-
innenverhalten gegenüber Jungen und Mädchen in der Grundschule. In: Brehmer,
Ilse (Hrsg.): Sexismus in der Schule. Der heimliche Lehrplan der Frauendiskrimi-
nierung. Weinheim: Beltz, S. 260–278.
Goffman, Erving (Hrsg.) (1999): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kom-
munikation. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Heimvolkshochschule „Alte Molkerei Frille“ (Hrsg.) (1988): Parteiliche Mädchenar-
beit und antisexistische Jungenarbeit. Abschlußbericht des Modellprojektes „Was
Hanschen nicht lernt, verandert Clara nimmer mehr!“ Frille: Eigenverlag.
Hempel, Marlies (Hrsg.) (1995): Verschieden und doch gleich. Schule und Geschlech-
terverhältnisse in Ost und West. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Horstkemper, Marianne (1995): Die Koedukationsdebatte in Ost- und Westdeutsch-
land. Was folgt daraus für die Gestaltung von Schule? In: Melzer, Wolfgang/Sand-
fuchs, Uwe (Hrsg.): Schulreform in der Mitte der 90er Jahre. Strukturwandel und
Debatten um die Entwicklung des Schulsystems in Ost- und Westdeutschland. Le-
verkusen: Leske u. Budrich, S. 165–186.
Hurrelmann, Klaus/Rodax, Klaus/Spitz, Norbert/Naundorf, Gabriele/Wildt,
Carola/Rabe-Kleberg, Ursula (Hrsg.) (1986): Koedukation, Jungenschule auch für
Mädchen. Opladen: Leske + Budrich.
Huxel, Katrin (Hrsg.) (2014): Männlichkeit, Ethnizität und Jugend. Präsentationen von
Zugehörigkeit im Feld Schule. Wiesbaden: VS.
Jahnke-Klein, Sylvia (Hrsg.) (2001): Sinnstiftender Mathematikunterricht für Mädchen
und Jungen. Baltmannsweiler: Schneider. Hohengehren.
Jacobi, Juliane (1990): „Geistige Mütterlichkeit“. Bildungstheorie oder strategischer
Kampfbegriff gegen Männerdominanz im Mädchenschulwesen? In: Horstkemper,
Marianne/Wagner-Winterhager, Luise (Hrsg.): Mädchen und Jungen - Männer und
Frauen in der Schule. Weinheim: Juventa (Die deutsche Schule. Beiheft. 1), S.
208–224.
Jantz, Olaf/Grote, Christoph (Hrsg.) (2003): Perspektiven der Jungenarbeit. Konzepte
und Impulse aus der Praxis. HVHS Frille. Opladen: Leske und Budrich.
Jösting, Sabine (2005): Jungenfreundschaften. Zur Konstruktion von Männlichkeit in
der Adoleszenz. Wiesbaden: VS.
Kassis, Wassilis (Hrsg.) (2003): Wie kommt die Gewalt in die Jungen. Bern, Stuttgart,
Wien: Haupt.
Koch-Priewe, Barbara (Hrsg.) (2002): Schulprogramme zur Mädchen- und Jungenför-
derung. Die geschlechterbewusste Schule. Weinheim und Basel: Beltz.
60
Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (Hrsg.) (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtun-
gen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim und
München.
Krebs, Andreas (Hrsg.) (2008): Jungen erleben Schule. Personzentrierte Jungenfor-
schung; Methodik, Ergebnisse und Perspektiven für schulische Jungenarbeit. Mün-
chen: Meidenbauer.
Lenz, Hans-Joachim (Hrsg.) (1996): Spirale der Gewalt. Jungen und Männer als Opfer
von Gewalt. Berlin: Morgenbuch.
Litau, John/Stauber, Barbara (2012): Riskante Identitätsarbeit? Zur Herstellung von
Männlichkeit und Weiblichkeit in jugendkulturellem Rauschtrinken. In: Moser,
Vera/Rendtorff, Barbara (Hrsg.): Riskante Leben? Geschlechterordnungen in der
Reflexiven Moderne. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich (Jahrbuch
Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft, 8), S. 141–
153.
Meuser, Michael (2002): „Doing Masculinity“ – Zur Geschlechtslogik männlichen Ge-
walthandelns. In: Dackweiler, Regina-Maria/Schäfer, Reinhild (Hrsg.): Gewalt-
Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt. Frankfurt
am Main, New York: Campus, S. 53–78.
Meuser, Michael (Hrsg.) (2010): Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie
und kulturelle Deutungsmuster. Wiesbaden: VS.
Michalek, Ruth (Hrsg.) (2006): „Also, wir Jungs sind …“. Geschlechtervorstellungen
von Grundschülern. Münster: Waxmann.
Möller, Kurt (Hrsg.) (1997): Nur Macher und Machos? Geschlechtsreflektierende Jun-
gen- und Männerarbeit. Weinheim und München: Juventa.
Pech, Detlef (Hrsg.) (2009): Jungen und Jungenarbeit. Eine Bestandsaufnahme des For-
schungs- und Diskussionsstandes. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Pestalozza, Hanna Gräfin von (Hrsg.) (1922): Der Streit um die Koedukation in den
letzten 30 Jahren in Deutschland. Langesalza: Beyer & Söhne.
Phoenix, Ann (2008): Racialised Young Masculinities. Doing Intersectionality at
School. In: Seemann, Malwine (Hrsg.): Ethnische Diversitäten, Gender und
Schule. Geschlechterverhältnisse in Theorie und schulischer Praxis. Oldenburg:
Bibliotheks- und Informationssystem der Carl von Ossietzky Universität Olden-
burg, S. 19–39.
Preuss-Lausitz, Ulf (2005): Anforderungen an eine jungenfreundliche Schule. Ein Vor-
schlag zur Überwindung ihrer Benachteiligung. In: Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft (Hrsg.): Die deutsche Schule 97 (2), S. 222–235.
Raithel, Jürgen (Hrsg.) (2005): Die Stilisierung des Geschlechts. Jugendliche Lebens-
stile, Risikoverhalten und die Konstruktion von Geschlechtlichkeit. Weinheim: Ju-
venta.
Rauschenbach, Thomas/Leu, Hans-Rudolf/Lingenauber, Sabine (Hrsg.) (2004): Non
formale und informelle Bildung in Kinder und Jugendalter: konzeptionelle Grund-
lagen für einen nationalen Bildungsbericht. Bonn.
Rieske, Thomas Viola (Hrsg.) (2011): Bildung von Geschlecht. Zur Diskussion um Jun-
genbenachteiligung und Feminisierung in deutschen Bildungsinstitutionen. Frank-
furt/Main: GEW.
Rieske, Thomas Viola (Hrsg.) (2015): Pädagogische Handlungsmuster in der
Jungenarbeit. Eine Untersuchung zur Praxis von Jungenarbeit in kurzzeit-
pädagogischen Settings. Opladen: Budrich.
61
Rieske, Thomas Viola/Budde, Jürgen (2019): Auseinandersetzungen mit (Neuen) The-
orien für die erziehungswissenschaftliche Forschung zu Männlichkeiten. In: Ku-
bandt, Melanie/Schütz, Julia (Hrsg.): Methoden und Methodologien in der erzie-
hungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. S. 234–256.
Rose, Lotte/Schmauch, Ulrike (Hrsg.) (2005): Jungen - die neuen Verlierer? Auf den
Spuren eines öffentlichen Stimmungswechsels. Köngsstein/Taunus: Helmer.
Rousseau, Jean-Jacques (2010): Émile oder über die Erziehung. Köln: Anaconda.
Schnack, Dieter/Neutzling, Rainer (Hrsg.) (1991): Kleine Helden in Not. Jungen auf
der Suche nach Männlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Schultheis, Klaudia/Strobel-Eisele, Gabriele/Fuhr, Thomas (Hrsg.) (2006): Kinder: Ge-
schlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung. Stuttgart: Kohlhammer.
Sielert, Uwe (Hrsg.) (1989): Jungenarbeit. Weinheim: Juventa.
Stach, Anna (2012): Mannliche Selbstinszenierungen im Gesprach über Germany’s
Next Topmodel Ergebnisse einer tiefenhermeneutischen Rezeptionsstudie mit
Jugendlichen. In: Baader, Meike Sophia/Bilstein, Johannes/Tholen, Toni (Hrsg.):
Erziehung, Bildung und Geschlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Stu-
dies. Wiesbaden: VS, S. 191–204.
Stanat, Petra/Kunter, Mareike (2004): Kompetenzerwerb, Bildungsbeteiligung und
Schullaufbahn von Mädchen und Jungen im Ländervergleich. In: PISA-Konstor-
tium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in
Deutschland - Ergebnisse des zweiten Iiternationalen Vergleichs. Münster/New
York/München/Berlin: Waxmann, S. 211–242.
Strotmann, Rainer (1999): Zur Konzeption und Tradierung von Geschlechterrollen in
ausgewählten Schriften pädagogischer Klassiker. In: Rendtorff, Barbara/Moser,
Vera (Hrsg.): Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in der Erziehungswissen-
schaft. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich, 117–134.
Sturzenhecker, Benedikt/Winter, Reinhard (Hrsg.) (2002): Praxis der Jungenarbeit.
Modelle, Methoden und Erfahrungen aus pädagogischen Arbeitsfeldern. Wein-
heim und München: Juventa.
Tertilt, Hermann (Hrsg.) (2001): Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugend-
bande. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Theweleit, Klaus (1983): Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte.
Frankfurt/Main: Roter Stern.
Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.) (1992): Jugend weiblich - Jugend männlich. Sozialisa-
tion, Geschlecht, Identität. Opladen: Leske und Budrich (Studien zur Jugendfor-
schung, Bd. 10).
Tischner, Wolfgang (2008): Bildungsbenachteiligung von Jungen im Zeichen von Gen-
der-Mainstreaming. In: Matzner, Michael/Wolfgang Tischner (Hrsg.): Handbuch
Jungen-Pädagogik. Weinheim: Beltz, S. 343–365.
Van Outsem, Ron (Hrsg.) (1993): Sexuelle Mißbrauch an Jungen. Forschung Praxis
Perspektiven. Ruhnmark: Donna Vita.
Wellgraf, Stefan (Hrsg.) (2012): Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von
Verachtung. Bielefeld: Transcript.
West, Candace/Zimmerman, Don H. (1991): Doing gender. In: Lorber, Judith/Farell,
Susann A. (Hrsg.): The social construction of gender. London/New Dehli: Sage,
S. 13–37.
62
Winter, Reinhard/Neubauer, Gunter (Hrsg.) (1998): Kompetent, Authentisch und Nor-
mal? Aufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung
von Jungen. Köln.
Winter, Reinhard/Neubauer, Gunter (Hrsg.) (2001): Dies und Das! Das Variablenmo-
dell „balanciertes Junge- und Mannsein“ als Grundlage für die padagogische Ar-
beit mit Jungen und Männern. Tübingen: Neuling.
Zimmer, Karin/Stick, Antje/Burba, Desirée/Prenzel, Manfred (2006): PISA 2003 -
Kompetenzmuster von Jungen und Mädchen in den deutschen Ländern. In: Unter-
richtswissenschaft 34 (4), S. 310–327.
Zur Relationierung von Jungen, Männlichkeit und
Bildung – Eine subjektivierungstheoretische Skizze
Thomas Viola Rieske und Jürgen Budde
1 Einleitung
In der erziehungswissenschaftlichen Forschung zu Jungen bestehen theoreti-
sche Desiderate, die sich sowohl auf die geschlechtertheoretische als auch auf
die bildungstheoretische Fundierung beziehen. Erstens wird die Verwendung
der Klassifikation Jungen nur ungenügend reflektiert. Trotz aller kritischen
Einwürfe gegen eine umstandslose Verwendung von Geschlechterkategorisie-
rungen und der daran anschließenden Vorschläge, diese selbst zum Gegen-
stand von Forschung zu machen, wird die Kategorie Junge in der Jungenfor-
schung meist ohne weitere Problematisierung genutzt. Zweitens ist die Bezug-
nahme auf das Konzept Männlichkeit reflexionsbedürftig. Zum einen muss ge-
klärt werden, was unter Männlichkeit theoretisch zu verstehen ist, zum anderen
ist das Verhältnis von Junge(n) und Männlichkeit theoretisch wie empirisch zu
bearbeiten. Auch diesbezüglich finden sich nur selten Problematisierungen, da
Jungenforschung zumeist als Männlichkeitsforschung verstanden wird, mithin
der Bezug zwischen Jungen und Männlichkeit bereits als selbstverständlich
vorausgesetzt wird. Drittens schließlich ist eine genuin erziehungswissen-
schaftliche Perspektive auf Bildung kaum vorfindlich. Zwar werden in der Jun-
genforschung vielfach Gegenstände der Erziehungswissenschaft bearbeitet,
doch dabei werden überwiegend Theorien der Sozialwissenschaften verwen-
det, ohne dass bildungstheoretische Erörterungen systematische Grundlage
sind (vgl. hierzu auch Budde und Rieske in diesem Band).
Die Ausarbeitung und Relationierung von Bildung als erziehungswissen-
schaftlichem, Männlichkeit als geschlechtertheoretischem und Jungen als
praktisch-klassifikatorischem Konzept ist in der erziehungswissenschaft-
lichen Forschung also noch nicht hinreichend. Zur Bearbeitung dieser nur
knapp skizzierten Probleme ist ein theoretischer Ansatz notwendig, der eine
kritische Reflexion von Klassifizierungspraktiken, von Geschlechterverhält-
nissen sowie von Bildungsfragen ermöglicht. Das Konzept der Subjekti-
64
vierung bietet hierfür eine sinnvolle Grundlage. Denn zum einen können damit
sowohl bildungs- als auch geschlechtertheoretische Fragen diskutiert werden,
wie entsprechende Beiträge zeigen (Fegter et al. 2021; vgl. z.B. Ricken et al.
2019; Kleiner und Rose 2014). Zum anderen behandeln subjektivierungs-
theoretische Studien mit ihrem diskurstheoretischen Hintergrund auch
Praktiken der Klassifikation (vgl. die Überlegungen von Ivanova-Chessex et
al. 2020 zu Pädagogik als klassifizierender und subjektivierender Disziplin).
Die folgenden Ausführungen erkunden daher das Potenzial des
Subjektivierungskonzepts für die Analyse von Bildungsprozessen von und mit
Jungen. Dazu wird das Subjektivierungskonzept zunächst vorgestellt (Kap. 2)
und dann in seinem Potenzial für die Relationierung von Jungen (Kap.3),
Männlichkeit (Kap. 4) und Bildung (Kap. 5) erkundet. Zum Abschluss werden
Konsequenzen für die erziehungswissenschaftliche Forschung zu Jungen
formuliert (Kap. 6).
2 Subjektivierung: brüchige Handlungsfähigkeit in
Ordnungen der (Il-)Legitimität und Abhängigkeit
2.1 Subjektbegriff
Das Konzept der Subjektivierung basiert auf der Annahme, dass menschliche
Akteur*innen in sozialer Praxis als Subjekte (lat.: das Zugrundeliegende, das
Unterworfene) zu begreifen sind. Sie sind weder eine vollkommen eigenstän-
dige und unabhängige Grundlage ihres Handelns noch lediglich Produkte von
Kräften jenseits ihrer Einflussnahme. Vielmehr sind sie zugleich selbst- und
fremdbestimmt, ihre Handlungsfähigkeit ist eine bedingte und relationale und
somit bestimmt-unbestimmt. Denn menschliche Existenz ist einerseits zeitlich
und körperlich begrenzt, sie ist durch diskursive Ordnungen, soziale Verhält-
nisse sowie die organische und anorganische Umwelt gerahmt, und sie ist
durch interpersonelle Abhängigkeiten und ein Angewiesen-Sein auf andere ge-
kennzeichnet. Andererseits kann und muss ein menschliches Leben bei aller
Bedingtheit und Bezogenheit immer selbst gelebt werden. Es verfügt über (be-
grenzte) Spielräume und kann teilweise auch die Grenzen der eigenen Existenz
verändern. Menschliches Dasein enthält zudem die Möglichkeit zu einem re-
flexiven Bezug auf sich und die Welt. Auch dieser Bezug ist als ein bedingter
zu begreifen, enthält zugleich dennoch Momente des Unbestimmten und des
Eigenen (vgl. u.a. Meyer-Drawe 1990; Ricken 1999, 2013).
Ein solcher Zugang unterscheidet sich von Subjekttheorien, wie sie im
humanistischen und aufklärerischen Denken der frühen Neuzeit entwickelt
wurden (vgl. Kible et al. 1998). Nicht zuletzt auch als kritische Abgrenzung
65
von einer (christlichen) Weltordnung der Fremdbestimmung wurden in der
neuzeitlichen Subjekttheorie Momente der Aktivität, der Selbstbezüglichkeit
und der Selbstbestimmung betont bzw. als erstrebenswert konzipiert,
wohingegen Momente der Passivität, des Fremden sowie der Fremd-
bestimmung ausgegrenzt wurden (vgl. Waldenfels 1987: 115ff.). Damit wurde
das Subjekt als Quelle von Kritik an Herrschaft denkbar (vgl. Meyer-Drawe
1990). Im 20. Jahrhundert wurden erneut in der Absicht, eine Kritik der
gesellschaftlichen Praxis zu ermöglichen zunehmend Theorien formuliert,
die die Ambivalenz des Subjektbegriffs betonten: Etwas Zugrundeliegendes
und Formbares kann als bestimmend und dauerhaft gesehen werden, aber auch
als bestimmt und veränderlich (vgl. Zima 2017: 3). Das Subjektivierungskon-
zept folgt dieser Verschiebung und fragt nicht nach der Essenz des Subjekts,
sondern nach dessen Form in historisch-konkreten Kontexten (vgl. Foucault
2005a).
Zentral ist dabei eine relationale Perspektive, durch welche die Gleichzei-
tigkeit von Selbst- und Fremdbestimmung anerkannt und der Möglichkeit ei-
nes reflexiven Selbstbezugs berücksichtigt werden kann. Als Subjekte sind
Menschen im sozialen Raum positioniert und positionieren sich darin, sie ent-
stehen und bewegen sich in Relationen und transformieren diese. Das Subjekt
ist „pure Relationalitat“ (Alkemeyer und Bröckling 2018: 21), es existiert und
agiert in Verhaltnissen und bezieht sich darauf zugleich reflexiv, es ist ein
Verhaltnis, das sich zu sich selbst verhalt“ (Kierkegaard 1849, zit. n. ebd.).
Unter Rückgriff auf eine verbreitete Formulierung im bildungstheoretischen
Diskurs können Subjekte daher auch als ein dynamisches, nie vollkommen be-
stimmbares Gefüge von Selbst-, Anderen- und Weltverhältnissen verstanden
werden (vgl. Rucker 2014). Der Begriff ‚Junge‘ etwa bezeichnet nicht einfach
eine eigenständige, unabhängige und aus sich selbst oder aus Naturverhältnis-
sen heraus entstehende Personenform. Vielmehr wird mit ‚Junge‘ eine Position
beschrieben, die erstens auf ein Feld von Selbstkonzepten verweist, d.h. Vor-
stellungen von ‚sich selbst‘ mitsamt damit verbundenen Akzentuierungen phy-
sischer oder psychischer Elemente und darauf bezogene Praktiken. Zweitens
verweist diese Position auf einen Weltentwurf mitsamt Vorstellungen von dem
Platz von ‚Jungen‘ in dieser Welt. Beides impliziert Relationierungen einer
Person zu sich selbst, zu anderen und zur Welt und umgekehrt. Damit jemand
zum Subjekt ‚Junge‘ werden bzw. als ein solches gelten kann, sind somit ver-
schiedene Ins-Verhältnis-Setzungen durch die Person selbst sowie durch an-
dere Akteur*innen notwendig, und diese Setzungen geschehen wiederum in-
nerhalb eines Feldes bereits bestehender Relationierungen.
66
2.2 Subjektivierungsweisen als Ordnungen (il-)legitimer
Subjektivitäten
In einem Kontext sind nicht unendlich viele dieser Relationengefüge möglich.
Vielmehr gibt es historisch und kulturell spezifische Ordnungen (il-)legitimer
Subjektpositionen, die machtvoll etabliert werden und zugleich umkämpft
sind. So hat etwa Michel Foucault herausgearbeitet, dass in der griechisch--
mischen Antike und im frühen Christentum jeweils unterschiedliche Modelle
dessen zirkulierten, was ein moralisches Subjekt sei, und dass zu einer be-
stimmten Zeit und an einem bestimmten Ort mehrere Subjektkonzepte koexis-
tieren können (vgl. Foucault 2005b). Dies impliziert zugleich Konflikte und
Ambivalenzen. Denn mit Ordnungen (il-)legitimer Subjektivitäten gehen Prak-
tiken der Marginalisierung und des Ausschlusses, aber auch der Befähigung
und des Einschlusses einher. Sie sind Ermöglichungsbedingungen, und so ist
Subjekt-Sein charakterisiert von einer „grundlegenden Abhangigkeit von ei-
nem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise
erst unsere Handlungsfahigkeit ermöglicht und erhalt“ (Butler 2001: 8).
Da es immer mehrere Ordnungen gibt, die miteinander in Widerstreit sind,
müssen sich Akteur*innen diesbezüglich positionieren. Subjektivierung be-
deutet dann eine „Positionierung in einer Situation des Überschusses an Struk-
turierungen“ (Wrana 2019, S. 69) und enthält sowohl die Dimension der Indi-
vidualität und Eigensinnigkeit als auch die Dimension der Regelhaftigkeit. Der
Begriff der ‚Ordnungen‘ im Plural verdeutlicht die genannte Koexistenz meh-
rerer Ordnungen sowie den Umstand, dass es weniger die eine etablierte Ord-
nung gibt als vielmehr eine Praxis des Ordnens mit Ein- und Ausschlüssen, Er-
und Entmächtigungen, Widersprüchen und Inkohärenzen. Mit Blick auf Indi-
viduen verweist der Begriff zugleich auf das, was aus diesen jeweiligen Ord-
nungen ausgeschlossen ist und damit im eigenen Erleben bzw. in der eigenen
Praxis nicht existiert oder in Form von Verdrängung und Verwerfung weiter-
lebt und Grundlage von Unbehagen und Neuordnungen werden kann (vgl.
hierzu Butler 2001).
Die sich daraus ergebende Frage nach konkret gegebenen (il-)legitimen
Subjektpositionen sowie nach dem Verhältnis zwischen einerseits model-
lierten bzw. möglichen und andererseits übernommenen bzw. realisierten
Subjektivitäten hat in der Subjektivierungsforschung einen zentralen
Stellenwert. Methodologisch wird dies vielfach mittels Begriffen wie
Adressierung bzw. Anrufung umgesetzt, womit die Verwobenheit von
Subjektivierung und Machtausübung erforscht werden kann (zu den theore-
tischen Bezügen vgl. Saar 2013; aktuell zu Fragen des Widerstands Künstler
2021). Interaktionen werden etwa als ein (Re-)Adressierungsgeschehen
gefasst, in welchem Akteur*innen kontinuierlich Verhältnisse zu sich selbst,
zu anderen, zur Welt und darin vorfindlichen Normen artikulieren und zugleich
einander zuschreiben oder nahelegen (vgl. Ricken et al. 2017). Eine so
67
konzipierte Subjektivierungsforschung trägt zu einer machtkritischen
Wissensproduktion bei, indem sie eine „Analyse der uns gesetzten Grenzen
und Probe auf ihre mögliche Überschreitung“ (Foucault 2005c: 707) betreibt.
2.3 Autonomie-Heteronomie-Verhältnisse
Eine Forschung zu Grenzen und Grenzüberschreitungen muss allerdings die
Relationalität von Subjektivität, die diskursive Konstitution von Handlungsfä-
higkeit, die unaufhebbare Angewiesenheit von Subjekten sowie deren Fähig-
keit zur Reflexivität anerkennen. Eine Überschreitung der Bedingtheit mensch-
licher Existenz ist nicht möglich, weshalb auch keine Daseinsweisen jenseits
von Subjektivität gesucht werden müssen. Möglich sind jedoch unterschiedli-
che Formen von Subjektivität, d.h. unterschiedliche Relationengefüge, die sich
hinsichtlich der Gestaltung von Relationalität und in zentraler Weise hin-
sichtlich des Umgangs mit Autonomie und Heteronomie – unterscheiden (vgl.
zum Folgenden auch Rieske 2021). Denn wie insbesondere herrschaftskriti-
sche Analysen von Produktions- und Geschlechterverhältnissen sowie Migra-
tionsregimen und Körperpolitiken allgemeiner gesprochen: von Praktiken
der Privilegierung, Marginalisierung und Ausbeutung – gezeigt haben, gibt es
eine differenzielle Verteilung von Autonomie und Heteronomie. Mit anderen
Worten: die Möglichkeiten der (Mit-)Bestimmung über das eigene Leben und
dessen Bedingungen (Autonomie) bzw. das Ausmaß an Fremdbestimmung
(Heteronomie) hängen von der eigenen sozialen Position innerhalb einander
überlagernder Ungleichheitsverhältnisse ab, und eine relativ größere Hetero-
nomie der einen ist die Grundbedingung für eine relativ größere Autonomie
anderer.1 Subjektivierung bedeutet vor diesem Hintergrund nicht nur die (Um)
Formung der Verhältnisse eines Individuums zu sich, zu anderen und zur Welt,
sondern – wie bereits ausgeführt eine (Um-)Formung sozialer Verhältnisse
insgesamt.
Deshalb gilt es, in Analysen von Ordnungen der (Il-)Legitimität danach zu
fragen, wie darin jeweils Figuren der Autonomie und der Heteronomie
enthalten sind und ob bestimmte Abhängigkeiten, Zuständigkeiten, Freiheiten
differenziell und ggf. in vergeschlechtlichter Weise verteilt sind. Wenn sich
bspw. zeigt, dass Mädchen zwar in zunehmendem Maße die vormals eher
männlich konnotierte Idee von Handlungsfähigkeit zugestanden wird, Jungen
im Gegenzug aber weiterhin nicht mit der weiblich konnotierten Idee von
Bezogenheit assoziiert oder gar konfrontiert werden (vgl. hierzu Rendtorff
2015), kann eine andauernde Vergeschlechtlichung der Relationalität von
Handlungsfähigkeit diagnostiziert werden Abhängigkeit, Bezogenheit und
1 Diese Überlegungen sind insbesondere von Diskursen über Sorgeverhältnisse bzw. Care-
Ökonomien inspiriert. Vgl. u.a. Aulenbacher et al. 2014 und mit Blick auf Männlichkeiten
Scholz und Heilmann 2019 sowie Dinges 2020.
68
Heteronomie werden abgespalten und tendenziell weiblich assoziiert. Erneut
kann dies einerseits hinsichtlich gesellschaftlicher Verhältnisse, andererseits
hinsichtlich individueller Dynamiken betrachtet werden. So geraten etwa die
intrapsychischen wie auch interpersonellen Konflikte, die mit einer
Idealisierung und Vermännlichung von Autonomie einhergehen, in den Blick.
2.4 Zusammenfassung: Subjektiverungsforschung als relationale
Analyse
Subjektivierungsanalysen blicken also in mehrfacher Weise auf Formungen
relationaler Handlungsfähigkeit. Hinsichtlich der Ordnungen der (Il-)Legitimi-
tät geht es darum, wie Machtordnungen prozessiert, aber auch, welche diskur-
siven und materiellen Grenzen den Handlungsräumen Einzelnen und Gruppen
gesetzt sind und werden, wie diese Grenzen verhandelt werden und welche
Verwerfungen damit sozial und psychisch verbunden sind. Hinsichtlich der
Relationengefüge geht es darum, in welcher Weise Autonomie und Heterono-
mie in und zwischen Subjektivierungsweisen verteilt sind und welche Relati-
onen zwischen verschiedenen Subjektivierungsweisen und Subjektpositionen
bestehen. So kann insgesamt ein dynamisches Gefüge von Subjektivierung be-
schrieben werden und zum Gegenstand von Reflexion und Intervention wer-
den.
Mit dieser Perspektive wird nun im Folgenden auf die Begriffe Jungen,
Männlichkeit und Bildung sowie deren Relation geblickt. Die Ausführungen
gehen der Frage nach, inwieweit die oben genannten Desiderate der Forschung
zu Jungen von der dargestellten subjektivierungtheoretischen Perspektive be-
arbeitet werden und ggf. welche neuen Fragen sich daraus ergeben.
3 Jungen als Klassifikationsbegriff von Jungenforschung
Forschung zu Bildungsprozessen von und mit Jungen arbeitet mit der genera-
tional wie geschlechtlich konnotierten Klassifikation „Junge“, mit der übli-
cherweise männliche Kinder und Jugendliche gemeint sind (vgl. Budde und
Rieske i.E.). Aber eine umstandslose Anwendung der Klassifikation ‚Junge‘
etwa anhand des Personenstands eines Kindes oder anhand eigener Zuschrei-
bungen wäre problematisch, da eine Reihe an Fragen ungeklärt bliebe.
Allen Jungen gemeinsam scheint zwar die Zugehörigkeit zu einer bestimm-
ten Altersgruppe zu sein. Doch insbesondere die obere Altersgrenze, ab der
nicht mehr von Jungen, sondern von (jungen) Männern gesprochen werden
kann, ist nicht in allen Kontexten gleich. Laut Duden wird das Wort „Junge“
bspw. sowohl für männliche Kinder als auch umgangssprachlich für (junge)
69
Männer verwendet. Im Süddeutschen ist auch von Burschen die Rede, womit
Jugendliche und junge Männer bezeichnet werden. Im pädagogischen Diskurs
gibt es den Begriff „Jungenarbeit“ als Sammelbezeichnung für die geschlech-
terreflektierte Arbeit mit Jungen, aber auch mit jungen Männern, so dass die
Bundesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit als Adressaten dieses Ansatzes junge
Menschen – entlang den Altersgrenzen im Kinder- und Jugendhilfegesetz – bis
zum Alter von 27 bezeichnet (vgl. BAG Jungenarbeit 2016). Doch gerade äl-
tere Jugendliche und junge Manner lehnen teilweise die Bezeichnung „Junge“
für sich ab, da diese ihre generationale Position gerade nicht angemessen ab-
zubilden scheint. In Bezug auf Neugeborene und Kleinkinder ist wiederum zu
fragen, ab wann der Begriff „Junge“ Verwendung findet. Zusammenfassend
verweist dies darauf, dass der Begriff „Junge“ einen unscharfen generationalen
Gehalt mit sich führt. Die Kopplung zwischen Jungen und Generation ist also
eine lose.
Eine zweite Gemeinsamkeit von Jungen ist der Bezug auf Männlichkeit
und damit eine geschlechtsbezogene Fundierung. Auch hier bestehen Unschär-
fen in der Bestimmung dieses Bezugs. Denn Männlichkeit ist als soziale Kon-
struktion kein festgelegtes, sondern ein in Bewegung befindliches Konzept,
dessen Inhalte und Ränder immer wieder neu hergestellt werden. Ob jemand
als männlich gilt, hängt von historischen, kulturellen und situativen Konstella-
tionen ab. Sich in der Forschung auf Personen zu beschränken, die als Jungen
gelten, würde jedoch zum einen jene Personen außer Acht lassen, die sich als
Jungen identifizieren, aber nicht als solche in ihrem Umfeld anerkannt sind;
zum anderen würde sie jene Personen umstandslos einbeziehen, die sich nicht
oder nur in ambivalenter Weise mit dieser Kategorie identifizieren. Auch kann
nicht die Praxis von Jungen umstandslos mit Konstruktionsprozessen von
Männlichkeit gleichgesetzt werden. Sylka Scholz spricht bspw. von
„Ju(n)gendlichkeit als einem kollektiven Deutungsmuster“ (Scholz 2013: 125)
angesichts des Umstands, dass männliche Jugendliche sich in Gruppendiskus-
sionen eher auf ihren Status als Heranwachsende bezogen als auf den Begriff
‚Junge‘. Die Kopplung zwischen Jungen und Männlichkeit ist also ebenfalls
eine lose.
Welche Konsequenz hat dies für die Verwendung der Kategorie ‚Junge‘?
Kann sie in einer Weise verwendet werden, die Junge-Sein nicht als eine
fraglos gegebene Tatsache voraussetzt, zugleich aber der realen Bedeutung
dieser Kategorie gerecht wird? Können sowohl subjektive Deutungen
Einzelner als auch Wirkungsweisen jenseits dieser Deutungen berücksichtigt
werden? Eine subjektivierungstheoretische Perspektive kann hier weiter-
führen. Die Kategorie „Junge“ ist aus dieser Sicht eine existenzermöglichende
Kategorie – ihre Aneignung und Verkörperung verspricht eine legitime Exis-
tenz innerhalb von Geschlechter- und Generationenverhältnissen. Im Prozess
des Heranwachsens bietet sie eine Möglichkeit, die widersprüchliche Welt des
Sozialen zu ordnen und durch die Bezugnahme auf eine diskursiv zur
70
Verfügung gestellten Subjektposition eine Zugehörigkeit zu finden. Für
Kinder und Jugendliche stellt dies jedoch nicht nur eine Möglichkeit dar,
sondern auch eine unumgehbare Notwendigkeit: Sie müssen sich angesichts
der Allgegenwärtigkeit von Geschlechterklassifizierungen zu diesen
positionieren und erfahren dabei, dass unterschiedliche legitime und illegitime
Positionierungen mit unterschiedlichen Autonomie- und Heteronomiegraden
einhergehen können. Eine Identifikation mit und Einübung einer Positio-
nierung des fürsorglichen Junge-Seins kann beispielsweise einerseits Anerken-
nung und positive Erfahrungen mit sich bringen, aber auch Zurückweisung
oder Unverständnis; die Verweigerung einer Identifikation als Junge entgegen
gesellschaftliche Stereotype kann Ausgrenzung und Diskriminierung zur
Folge haben, zugleich aber auch verworfene Möglichkeiten lebbar machen.
Genau in dieser Widersprüchlichkeit und Ambivalenz kann diese Kategorie
Element einer Forschung sein, die sensibel ist für die Vielfalt der sozialen
Praxis wie auch die Relevanz von Normen und Ausgrenzung sowie von
hierarchischen Relationen.2
Dabei ist keine strenge Festlegung notwendig hinsichtlich der erforschten
Gruppe. Gerade weil die Kategorie ‚Junge‘ eine bewegliche, historisch vari-
able Kategorie ist, kann und sollten sowohl ihr Zentrum als auch ihre Ränder
Gegenstand von Forschung werden. Die Sichtweisen und Praktiken von als
Jungen angesprochenen und wahrgenommenen Personen können ebenso zum
Verständnis der sozialen Realität dieser Kategorie einen Beitrag leisten wie die
Sichtweisen und Praktiken anderer. Personen, die sich zwar zeitweise oder
dauerhaft damit identifizieren, aber nicht oder nur vereinzelt als ‚Jungen‘ so-
zial anerkannt sind, sollten ebenso an Forschung zu Jungen teilnehmen.
Ebenso sind die Perspektiven jener relevant und interessant, die sich gar nicht
mit dieser Kategorie identifizieren.3 Auch Praktiken, die nicht direkt auf die
Kategorie ‚Junge‘ Bezug nehmen, aber geschlechtlich konnotiert sind (wie
bspw. Fußball-Spielen, Fürsorge-Empfangen) oder sich davon abgrenzen
(Konstruktionen von Mädchen-Sein) können zum theoretischen Verständnis
beitragen. Wenn Subjektivierung die Aushandlung von miteinander verwobe-
nen Positionen darstellt, in denen jeweils spezifische Autonomie-Heterono-
mie-Konstellationen hergestellt und verteilt werden, so kann die Kategorie
‚Junge‘ auf die Ausgestaltung dieser Positionierung untersucht werden. So
kann die Einsicht erhalten bleiben, dass die Kategorie keine Eigenschaft der
damit bezeichneten Personen ist, sondern Element einer sozialen Praxis der
Humandifferenzierung (vgl. Hirschauer und Boll 2017). Dabei gilt es, (wie im
Beispiel der ‚Ju(n)gendlichkeit‘ als Deutungsmuster mannlicher Jugendlicher)
Lebensphasenspezifiken ebenso zu berücksichtigen wie andere Personenkate-
2 Studien in diesem Sinne wurden u.a. von Martino und Pallotta-Chiarolli 2003 vorgelegt.
3 Für ein weites Verstandnis von „Jungen*“ als junge Menschen, die von ihrer Umwelt als
männlich definiert werden oder sich so verstehen vgl. Stecklina und Wienforth 2021.
71
gorien und Identitätskonstruktionen und der Intersektionalität von Differenz-
konstruktionen gerecht zu werden.
Eine Bezugnahme auf den Begriff Männlichkeit ist jenseits aller Differen-
zen zwischen Jungen alternativlos, denn ein Verzicht darauf (wie ihn etwa
Degele [2007] vorschlägt) würde sowohl wissenschaftlicher als auch politi-
scher und pädagogischer Praxis eine unnötige Begrenzung auferlegen. Es be-
stünde keine Möglichkeit mehr, die Praxis von und mit Jungen in Bezug zu
Geschlechterverhältnissen zu setzen und dahingehend zu reflektieren, wenn
nicht die Erkenntnisse über Männlichkeit genutzt (und ggf. erweitert oder kor-
rigiert) werden könnten. Der Verzicht auf eine Bezugnahme auf Männlichkeit
würde entweder dazu führen, jeweils geltende Vorstellungen von Junge-Sein
wissenschaftlich zu verdoppeln und damit die Kategorie ‚Junge‘ ihres sozialen
Charakters und damit auch ihrer Veränderbarkeit zu berauben. Alternativ
würde dies dazu führen, nur dann von „Jungen“ zu sprechen, wenn die Kate-
gorie explizit aufgerufen wird, womit jedoch eine Funktionsweise dieser Ka-
tegorie eine Existenz als ruhende Ressource im „Stand-by-Modus“
(Hirschauer und Boll 2017: 12) – verkannt würde. Die Möglichkeiten, sich auf
die real existierende Praxis rund um den Begriff „Junge“ und die damit be-
zeichnete Gruppe zu beziehen – wie unscharf auch immer diese konturiert sein
mag – wären theoretisch wie empirisch eingeschränkt. Die Rede von Jungen
ergibt alltagspraktisch wie analytisch nur Sinn vor dem Hintergrund von Be-
zügen zu Geschlechterverhältnissen und Männlichkeiten. Wie dies geschehen
kann, wird im folgenden Abschnitt ausgeführt.
4 Männlichkeit als geschlechtertheoretisches Konzept von
Jungenforschung
4.1 Männlichkeitstheorien
Die gegenwärtig in der Forschung zu männlichen Kindern und Jugendlichen
verwendeten nnlichkeitstheorien sind im Wesentlichen in der Männlich-
keitsforschung erarbeitet worden, wie sie sich seit den 1970ern in den Kultur-
und Sozialwissenschaften entwickelt hat, sowie in der Psychoanalyse seit
Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Erhart 2016; Reeser 2016). Deren Gemein-
samkeit besteht darin, Männlichkeit (und damit auch Junge-Sein bzw. Mann-
Sein) als Struktur und Ergebnis sozialer Praxis zu begreifen und sich
(zumindest vom Anspruch her) von einem essenzialistischen Verständnis von
Geschlecht als Folge unveränderlicher biologischer Tatsachen abzugrenzen.
Männlichkeit ist in diesem Sinne eine Subjektivierungsweise. Zentrale
Themen von Männlichkeitstheorien sind männliche Strukturierungen und
72
Positionierungen mit Blick auf soziale Praxis, Macht- und Herrschaftsver-
hältnisse sowie die Perspektiven von Subjekten. Mit Blick auf Jungen könnte
dies so formuliert werden: Es geht darum, welche Relevanz Männlichkeit im
Leben von Jungen zukommt und wie sie deren Selbst-, Anderen- und
Weltverhältnisse strukturiert und Positionierung im sozialen Raum reguliert.
In der Forschung zu männlichen Kindern und Jugendlichen wird sich
insbesondere auf die Theorie hegemonialer Männlichkeit (Connell 1999)
sowie die Theorie des männlichen Habitus (Bourdieu 1997) bezogen, seltener
werden das „Variablenmodell ‚Balanciertes Junge- und Mann-Sein‘“ (Winter
und Neubauer 2001), die Theorie männlicher Sozialisation im postmodernen
Kapitalismus von Böhnisch (2013) oder psychoanalytische Theorien (zum
Überblick vgl. Winter 2018) verwendet.
4.2 Jungen und Männlichkeit – Thesen der Männlichkeitsforschung
Jene Männlichkeitstheorien, wie sie in der Männlichkeitsforschung etabliert
sind und in der Jungenforschung verwendet werden, postulieren eine grund-
sätzliche Verknüpfung zwischen Männlichkeit und Privilegierung bzw. Domi-
nanz. So ging Connell von einer grundlegenden Dominanz von Männern ge-
genüber Frauen und einem „erfolgreich erhobene[n] Anspruch auf Autoritat“
(Connell 1999: 98) als zentralem Merkmal hegemonialer Männlichkeit aus.
Bourdieu sah das soziale Feld als von männlicher Herrschaft gekennzeichnet
und beschrieb einen männlichen Habitus, der von dem Wunsch gekennzeich-
net sei, „die anderen Manner zu dominieren, und sekundar, als Instrument des
symbolischen Kampfes, die Frauen“ (Bourdieu 1997: 215). Die These einer
Dominanz von Männlichkeit gegenüber Weiblichkeit ist umstritten – Connell
revidierte bspw. später angesichts der Multidimensionalität von sozialer Un-
gleichheit (vgl. Connell und Messerschmidt 2005) diese These zumindest in
ihrem allumfassenden Anspruch, und Scholz fragt angesichts der Existenz von
Frauen in der politischen Elite, ob es zu einer „Enteignung hegemonialer
Mannlichkeit“ (Scholz 2015: 257, unter Bezugnahme auf Andreas Heilmann)
kommt. Hearn (2004) hingegen plädiert dafür, anstelle einer Hegemonie von
Männlichkeit eher die Hegemonie von Männern zu untersuchen. Die Konse-
quenzen, die aus solchen Kritiken gezogen werden, sind unterschiedlich – die
grundsätzliche Annahme eines Zusammenhangs von Männlichkeit mit Domi-
nanz, Souveränität oder Privilegierung bleibt im Feld der Männlichkeitsfor-
schung auch aufgrund der anhaltenden Referenz auf die Theorien von Connell
und Bourdieu erhalten.
In Anerkennung einer Pluralität von nnlichkeiten sind des Weiteren
hierarchische Positionierungen unter Jungen, Männern und Männlichkeiten
beschrieben worden. Connell (1999: 99–101) unterscheidet dafür zwischen
zwei Hierarchietypen: Unterordnungen betreffen solche Existenzweisen bzw.
73
Praktiken, die (scheinbar) die Dominanz von Männern über Frauen gefährden
(Homosexualität oder Fürsorglichkeit stellen Praktiken dar, die als eine solche
Gefährdung wahrgenommen werden können). Marginalisierungen hingegen
ergeben sich aus einer ungleichen Verteilung von Kapital und betreffen z.B.
Praktiken männlicher Arbeiter. Sehr zugespitzt könnte man sagen:
Untergeordnet sind solche Männlichkeiten, die den Dominanzanspruch
(scheinbar) nicht übernehmen können oder wollen; marginalisiert sind solche
Männlichkeiten, die den Dominanzanspruch (scheinbar) nicht erfüllen können
oder sollen. Zweifelsohne gibt es Vermischungen und Wechselwirkungen
zwischen beiden, doch die Unterscheidung kann durchaus hilfreich sein, um
politisches Handeln zu planen oder Phänomene angemessen wissenschaftlich
begreifen zu können.4 Auf dieser Grundlage sowie unter Bezugnahme auf das
Konzept der Intersektionalität sind in zahlreichen Studien hierarchische
Relationen auch unter Jungen bzw. privilegierte, untergeordnete und
marginalisierte Positionen von Jungen beschrieben worden (vgl. etwa Budde
2005; Thielen 2014; Scheibelhofer 2018).
Zum Verständnis dieser Positionierungen sind wiederum jene Differenzie-
rungspraktiken und deren Inhalte analysiert worden, mittels derer Männlich-
keit in spezifischen Kontexten hergestellt wird. Als Charakteristika von (hege-
monialer) Männlichkeit gelten – neben dem erwähnten Dominanzstreben – Ge-
waltbereitschaft, Risikobereitschaft, Selbstbeherrschung, Kontrollstreben,
Körpereinsatz, Technische Kompetenz, Konkurrenz, Rationalismus und Refle-
xivität (vgl. Kontos und May 2008; Budde o. J.). Daran orientierte Subjekti-
vierungspraktiken bestehen zum Beispiel in Wettbewerbsaktivitäten, deren
Ziel die Herstellung von Sieg und Niederlage ist, oder in Risikohandeln, das
auf die Beherrschung bzw. Leugnung von Gefahren für das eigene Leben oder
das Leben anderer zielt (vgl. etwa Meuser 2006; May 2011). Bei der Ausübung
dieser Aktivitäten würden konkurrenzorientierte Selbst-, Anderen- und Welt-
verhältnisse eingeübt und entsprechende Kompetenzen entwickelt, die für ein
Streben nach Dominanz zentral sind – Selbstbeherrschung als Voraussetzung
für Dominanz über andere (vgl. Maihofer und Theweleit 2007: 337, im An-
schluss an Foucault 1989). Zugleich gelte die Teilnahme unabhängig von de-
ren Ergebnis als Anerkennung der männlichen Ordnung von (Il-)Legitimität
und sichere daher eine Zugehörigkeit und Anerkennung im Feld der Männlich-
keit und damit im Feld der Normalität.
Es wird zwar davon ausgegangen, dass die beschriebenen Prinzipien
zumindest in modernen Gesellschaften des globalen Nordens kontextüber-
greifend mit Männlichkeit verknüpft sind, doch ist damit nicht gleichzeitig die
Annahme einer überall gültigen, singulären Männlichkeit verbunden. Viel-
mehr wird davon ausgegangen, dass kontextspezifische „feldspezifisch
4 Meuser 2010: 126 tauscht diese beiden Bezeichnungen miteinander aus, was im deutsch-
sprachigen Diskurs möglicherweise zu Verwirrungen führt.
74
normative Mannlichkeit[en]“ (Stuve und Debus 2012: 56) existieren und auch
in neueren Entwicklungen der Theorie hegemonialer Männlichkeit wird
zwischen hegemonialen (d.h. an der Unterordnung von Frauen orientierten),
dominierenden (d.h. dominanzorientierten) und dominanten (d.h. normativen)
Männlichkeiten unterschieden, die je auf globaler, regionaler und lokaler
Ebene beschreibbar seien (vgl. Connell und Messerschmidt 2005). So ist bspw.
eine zunehmende Beteiligung von Männern an privaten Sorgetätigkeiten nicht
prinzipiell als gegenhegemonial zu deuten. Zunächst kann dies lediglich als
Beleg für eine Veränderung feldspezifisch normativer bzw. dominanter
Männlichkeiten gesehen werden. Das Potenzial dieser Veränderung für eine
Schwächung oder Stärkung männlicher Hegemonie ist gesondert zu
untersuchen anhand der Frage, ob sie in Legitimationen männlicher
Überlegenheit eingewoben wird oder nicht (siehe Beiträge in Scholz und Heil-
mann 2019).
Spezifisch für die Praxis im Kontext Bildung ist die These etabliert worden,
dass bestimmte (und vorherrschende) Männlichkeitsbilder bzw. -anforderun-
gen im Konflikt mit den Anforderungen von Bildungseinrichtungen wie
Schule stünden, da diese eine Unterordnung verlangen, die dem Souveränitäts-
anspruch hegemonialer Männlichkeit widerspricht. Dieser Konflikt zwischen
doing masculinity“ und „doing student“ und dessen Auflösung hin zu „doing
masculinity“ wird als wesentliche Ursache für die durchschnittlich geringeren
Erfolge männlicher Jugendlicher bei Schulabschlüssen gesehen (vgl. u.a.
Budde 2009; Rieske 2011). Gleichwohl wird unter Verweis auf die Pluralität
von Männlichkeiten darauf hingewiesen, dass es auch mit schulischen Anfor-
derungen vereinbare Männlichkeitsentwürfe gibt, sofern diese bspw. Selbst-
disziplinierung oder den Erwerb von Bildungskapital zum Inhalt haben (Budde
2015 sowie Budde und Dietrich in diesem Band).
Insbesondere Veröffentlichungen, die nicht direkt auf empirischen Studien
basieren, thematisieren auch psychische Dynamiken bei Jungen (Böhnisch
2013; Stuve und Debus 2012; Pohl 2005; Hunsicker 2012). Kernthema ist
hierbei erstens eine Angst von Jungen und Männern davor, als unmännlich zu
gelten und deshalb sozial marginalisiert bzw. ausgeschlossen zu werden. Diese
Angst wird vielfach als zentrales Motiv insbesondere für Jungen gesehen,
überhaupt Männlichkeitsvorstellungen zu übernehmen und einzuüben. Ander-
erseits gilt sie (bzw. die soziale Praxis, welche diese Angst hervorruft) als
Basis für Verluste und Nachteile, die mit männlichen Subjektivierungen
einhergehen. Stuve und Debus (2012) argumentieren etwa, dass der Erwerb
eines mannlichen Habitus von einem „Verlernen der Wahrnehmung von
Gefühlen (mit Ausnahme von Wut) und dem Verlust einer Sensibilität für die
eigenen Grenzen und denen anderer sowie von einem Verlust von Potenzialen
homosexuellen Begehrens gekennzeichnet“ (ebd.: 50) sei.
Zweitens sind jene Elemente Thema, die aus Männlichkeit ausgeschlossen
sind. Abhängigkeit, Verletzlichkeit und Fremdbestimmtheit werden verdrängt,
75
verleugnet oder abgewertet (und eine Annäherung daran mit Angst besetzt).
Mit einer herrschaftsanalytischen Perspektive werden außerdem Dynamiken
beleuchtet, die mit einer Verhinderung der Realisierung von Dominanzansprü-
chen verbunden sind. So werden etwa betonte Inszenierungen von Männlich-
keit bei Jungen (und Männern), denen eine gesellschaftliche Teilhabe aufgrund
von Rassismus oder Klassismus/Kapitalismus verwehrt ist, als gewissermaßen
verzweifelte Versuche des Einlösens des Dominanzversprechens gelesen und
mit dem Begriff der Protestmännlichkeit belegt (Connell 1999).
4.3 Probleme der Verwendung von Männlichkeit als Konzept in der
Jungenforschung
Ein theoretischer Entwurf, der diese verschiedenen Perspektiven miteinander
sinnvoll integriert, fehlt jedoch unseres Erachtens. Zudem bestehen in der For-
schung zu männlichen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen einige
Problematiken. Ein erstes Problem bezieht sich auf die soziale Positionierung,
die mit Männlichkeit verknüpft ist. Die dafür zentralen Konzepte des männli-
chen Habitus und der hegemonialen Männlichkeit dienen der Erklärung eines
hierarchischen Geschlechterverhältnisses, das im Wesentlichen Verhältnisse
unter Männern und Frauen, also unter Erwachsenen meint. Zweifelsohne ent-
stehen diese Verhältnisse nicht erst im Zuge des Eintritts in das Erwachsenen-
alter, nachdem in Kindheit und Jugend egalitäre Geschlechterverhältnisse be-
standen. Es kann davon ausgegangen werden, dass Männlichkeit eine alters-
übergreifende Ressource für eine relative Privilegierung innerhalb von Ge-
schlechterverhältnissen darstellt, sofern Männlichkeit mit Dominanz u.ä. ver-
knüpft ist. Dennoch können Begriffe wie Hegemonie oder Herrschaft nicht un-
mittelbar auf Kinder und Jugendliche angewendet werden. Zum einen fehlt,
sofern sie empirisch auf Studien zu Erwachsenenverhältnissen basieren, dafür
eine empirische Grundlage. Zum anderen sind Kinder und Jugendliche qua ge-
nerationaler Ordnung in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt. Die
Strategien hegemonialer Männlichkeit mögen dann zwar in Absehung von die-
sem Umstand als Überlegenheit legitimierende Ideologie verstanden werden
und durchaus auch Dominanzverhältnisse in situ herstellen. Doch sie führen
Jungen nicht in eine Position der Hegemonie im ursprünglich gemeinten Sinne,
nämlich eine Position, die die Durchsetzung der eigenen Interessen generati-
ons- und situationsübergreifend ermöglicht.
Ein zweites Problem bezieht sich auf die Definition von Männlichkeit und
daran anschließend die Frage, in welcher Weise dieses Konzept Forschungs-
arbeiten strukturieren soll. Die Herangehensweise, unter Männlichkeit bei aller
Differenz im Kern so etwas wie Souveränität oder Dominanz zu verstehen,
führt zu der Frage, ob davon abweichende Praktiken (von Jungen) nicht als
männliche bzw. durch nnlichkeit strukturierte zu verstehen sind. Würde
76
Forschung damit die oben beschriebene Marginalisierung von Unmännlichkeit
reproduzieren oder Männlichkeitsvorstellungen essenzialisieren? Andererseits
wie kann Männlichkeit, sofern sie eben eine nicht offensichtlich, aber
verdeckt wirksame Struktur darstellt, dechiffriert werden? Eine mögliche
Antwort auf dieses „Entschlüsselungsproblem“ (Scholz 2015: 53) besteht
darin, auf das Konzept gänzlich zu verzichten und stattdessen Hetero-
normativität als analytischen Begriff zu verwenden, wie z.B. Degele (2007)
vorschlägt. Folgte man diesem Vorschlag, bestünde jedoch das Risiko,
Strukturierungen von Männlichkeit in ihrer je spezifischen Gestalt nicht
erkennen zu können, sofern sie nicht in den vorgeschlagenen alternativen
Konzepten enthalten sind.5
Ein drittes Problem betrifft die Vielfalt von Männlichkeiten und deren
Relation zueinander. Gegen die Fokussierung auf das Problem männlicher
Dominanz haben Autor*innen auf Praktiken von Jungen und Männern
verwiesen, die davon abzuweichen scheinen. Anderson und McCormack
(2018) berichten aus Studien mit männlichen Jugendlichen und Erwachsenen
von Praxismustern, die nicht von einem Dominanzstreben gekennzeichnet sind
und auch in anderen Hinsichten von dem abweichen, was als Element
mannlich strukturierter Praxis gilt. Sie bezeichnen diese als ‚inklusive
Mannlichkeit‘ und gehen davon aus, dass diese in den beobachteten Kontexten
gegenüber dem von ihnen als ‚orthodox‘ bezeichneten dominanzorientierten
Muster gleichrangig oder sogar vorherrschend sind. Andere Autor*innen
gehen eher davon aus, dass es sich dabei um einen Wandel des vorherrschen-
den Männlichkeitsbildes handele, das jedoch weiterhin von der Dominanz-
orientierung gekennzeichnet sei (z.B. Bridges und Pascoe 2014). Diese
Debatte ist ungeklärt und einerseits eine Frage der theoretischen Verortung,
andererseits eine Aufgabe für empirische Forschung. Zugleich stellt sich die
Frage, ob es nicht eine gemeinsame Logik von inklusiver und orthodoxer
Männlichkeit geben müsste, sofern sie beide als Männlichkeit bezeichnet
werden. Wenn Männlichkeit nicht lediglich als Oberbegriff für alles betrachtet
wird, was Jungen bzw. Männer tun, sondern analytisch in vielfältige
Praxismuster ausdifferenziert werden kann, so wären diese als verschiedene
Erscheinungsformen von Männlichkeit zu verstehen. Das verbindende
Element jedoch wird zumeist nicht theoretisch erklärt. Es bleibt im Angesicht
des ‚Ausdifferenzierungsproblems‘ die Frage, was die Substanz von
Männlichkeit ist bzw. was diese Männlichkeiten miteinander verbindet.
5 Daran, dass „Heteronormativitat“ Geschlechterhierarchien angemessen erfassen kann,
bestehen berechtigte Zweifel. Zumeist werden damit die Normen der Zweigeschlechtlichkeit
und Heterosexualität benannt, wohingegen eine Privilegierung von Männlichkeit oder
Sexismus darin nur wenig theoretisiert werden. Während der Heteronormativitätsbegriff
zurecht für Geschlechternormen sensibilisiert, tut er dies nicht in gleichem Maße für
Geschlechterhierarchien (vgl. Soiland 2009, die jedoch die fortdauernde Existenz von
Geschlechternormen kontrafaktisch leugnet und queere Forderungen undifferenziert als
konform mit neoliberaler Gouvernementalität darstellt).
77
Viertens schließlich stellt Intersektionalität eine anhaltende Herausforde-
rung für die Verwendung des Männlichkeitsbegriffs dar. Jungen sind nicht nur
Jungen, sondern mehrfachzugehörig bzw. multidimensional positioniert. Aus
dieser Multidimensionalität können bereits per se Konflikte entstehen (siehe
doing masculinity vs. doing student oder auch Schwierigkeiten der Erfüllung
des Souveränitätsanspruchs bei körperlichen Einschränkungen). Männlichkeit
kann in dieser Perspektive auch das Gegenteil einer Privilegierung bedeuten,
wenn sie etwa Teil einer Legitimierung rassistischer Praxis ist (siehe etwa die
Analysen von Scheibelhofer 2018). Fraglich ist jedoch erneut, ob man der Pra-
xis gerecht wird, wenn man sie unter der theoretischen Perspektive ‚Mannlich-
keit‘ analysiert. Ein solcher Fokus impliziert ein Beiseite-Lassen anderer Un-
gleichheitskategorien, wodurch deren Wirksamkeit in Bezug auf die je analy-
sierten Phänomene ungeklärt bleibt. Dass Männlichkeit das verbindende Ele-
ment von Jungen ist, haben wir oben bereits dargestellt. Mit Matsuda kann
jedoch betont werden, dass immer auch nach dem jeweils anderen und zu-
nächst nicht relevant erscheinenden gefragt werden müsse, d.h.
„‘to ask the other question.‘ When I see something that looks racist, I ask, ‘Where is
the patriarchy in this?‘ When I see something that looks sexist, I ask, ‘Where is the
heterosexism in this?’ When I see something that looks homophobic, I ask, ‘Where are
the class interests in this?’” (Matsuda 1991: 1189).
4.4 Männlichkeit (und Jungen) aus subjektivierungstheoretischer
Perspektive
Das Konzept der Subjektivierung kann mit dem darin enthaltenen relationalen
Denken dazu beitragen, die genannten Probleme zu überwinden. Männlichkeit
relational Denken bedeutet zunächst, den Begriff in seinen Relationen zu mehr
oder weniger nahen, anderen vergleichbaren Konzepten zu denken wie z. B.
Weiblichkeit, Intergeschlechtlichkeit, Weiß-Sein, Blackness, Mittelschicht
usw. Derlei Relationen zu untersuchen und im Sinne der anderen Frage von
Matsuda auch nach ihnen zu fragen, vermeidet die Fiktion von Männlichkeit
als Monolith, die die Möglichkeit einer Transformation von Männlichkeit
schwer denkbar werden lässt.
Die Frage nach der sozialen Positionierung von Jungen durch Männlichkeit
kann subjektivierungstheoretisch bearbeitet werden, wenn die oben ausge-
führten Überlegungen zu Autonomie-Heteronomie-Verhältnissen berück-
sichtigt werden. Als Ergebnis ist keine Antwort im Entweder-Oder von
Dominanz/Machtlosigkeit zu erwarten und ebenso wenig eine für sämtliche
Jungen gültige Antwort. Vielmehr ermöglicht ein subjektivierungstheo-
retischer Zugang eine Beschreibung der Komplexität sozialer Verhältnisse und
damit auch der sozialen Positionierung von Jungen. Zentrales Kriterium wäre
dabei das Ausmaß und die Qualität von Autonomie und Heteronomie, die
78
Jungen – in Relation zu anderen Gruppen bzw. Subjektpositionen – innerhalb
von Ordnungen der (Il-)Legitimität zukommen.
Der Subjektivierungsansatz bietet auch eine Perspektive zum Umgang mit
dem Definitionsproblem. Aus subjektivierungstheoretischer Perspektive stellt
Männlichkeit eine spezifische Ordnung der (Il-)Legitimität und von Autono-
mie-Heteronomie-Verhältnissen dar. Diese ist nicht lediglich von Dominanz
oder Souveränität gekennzeichnet wenn diese Begriffe allein Männlichkeit
definieren könnten, so wäre der Begriff obsolet. Eher scheint es sinnvoll,
Männlichkeit als eine spezifische Konfiguration von Dominanz und Unterord-
nung, von Autonomie und Heteronomie, von Souveränität und Bedürftigkeit
zu begreifen. Wenn dann bspw. in einem bestimmten Kontext fürsorgliche Tä-
tigkeiten unter Jungen beobachtet werden, muss dies nicht bereits als Trans-
formation des Systems hegemonialer Männlichkeit im Sinne eines Verschwin-
dens der Dominanzorientierung gelesen werden, wie dies einige Autor*innen
tun (vgl. auch die Beiträge in Scholz und Heilmann 2019). Vielmehr kann hier-
bei weiter darauf geblickt werden, wie darin Autonomie und Heteronomie ver-
handelt werden (vgl. auch Rieske 2021; zur Zentralität des Verhältnisses von
Handlungsmächtigkeit und Bezogenheit für die Geschlechterforschung siehe
auch Rendtorff 2015).
Die Debatten um die Vielfalt von Männlichkeiten und deren Relation
zueinander könnten subjektivierungstheoretisch als Frage nach der männlichen
Ordnung von (Il-)Legitimität bearbeitet werden. Offenkundig strukturiert
Männlichkeit das Feld des Möglichen und des Verunmöglichten in kontext-
spezifischer Weise. Angst mag bspw. in einem Kontext undenkbar sein, um
eine männliche Position einnehmen zu können, erscheint dafür jedoch in einem
anderen Kontext als unproblematisch. Die Lebensphasenspezifik kann hier
besonders deutlich in Erscheinung treten, da bspw. Jungen sich manches
Verhalten wie Weinen noch leisten (können) (nicht zuletzt, weil sie als Kinder
angesehen werden), das ihnen (oder anderen) im Jugendalter nicht mehr
legitim erscheint. Darüber hinaus gilt, dass nicht nur der Raum des (Il-
)Legitimen in Männlichkeit je nach Kontext strukturiert ist, sondern auch das
Ausmaß, in dem unterschiedliche Räume des (Il-)Legitimen durch
Männlichkeit strukturiert sind. Wenn sich Jungen und Mädchen hinsichtlich
Praktiken des Weinens nicht unterschieden, so wäre dies dann weniger ein
Hinweis für ein neues Muster (das dann analog zur üblichen Praxis als „crying
masculinities bezeichnet werden könnte) als ein Hinweis für einen nicht
vergeschlechtlichten Bereich der Praxis.
Subjektivierungstheoretisch verstanden stellt Männlichkeit in der Summe
eine Konfiguration sozialer Praxis dar, die von einer Privilegierung von Auto-
nomie gegenüber Heteronomie gekennzeichnet ist, welche wiederum kontext-
spezifisch unterschiedliche Formen annehmen kann und auch historisch varia-
bel ist. Diese Strukturierung impliziert eine Kopplung von Männlichkeit mit
Dominanzpositionen, mit Wettbewerbspraktiken und eine Verwerfung von
79
Bedürftigkeit und Fremdbestimmung, ohne dass eine dieser Kopplungen allein
konstitutiv von Bedeutung wäre.6 Vermännlichte Ordnungen der (Il-)Legitimi-
tät und von Autonomie-Heteronomie-Verhältnissen lassen sich durch die Ana-
lyse von Relationen zwischen Männlichkeit und anderen Konzepten sozialer
Differenz und Ungleichheit rekonstruieren. In Bezug auf Jungen stellt Männ-
lichkeit das diese verbindende – man könnt auch sagen: über Differenzen hin-
weg verkettende Element dar, welches jedoch aufgrund seiner Kontextspe-
zifik nicht mit einem einzelnen Begriff definiert werden kann, sondern mit ei-
ner Relation definiert werden muss (vgl. Forster 2005: 61–64). Die Praxis von
und mit Jungen muss als männlich geltende Elemente beinhalten, damit sinn-
vollerweise von Jungen gesprochen werden kann, und so stellt die Frage nach
Autonomie-Heteronomie-Verhältnissen in Ordnungen der (Il-)Legitimität vor
dem Hintergrund eines breiten empirischen Wissens über deren konkrete Ge-
stalt die zentrale Frage für eine Forschung zu Jungen dar, die zugleich keine
Identität von Jungen und Männlichkeit annehmen kann.
5 Bildung als erziehungswissenschaftliches Konzept von
Jungenforschung
Wie kann nun eine subjektivierungstheoretisch fundierte und männlichkeits-
theoretisch sensibilisierte erziehungswissenschaftliche Forschung zu Jungen
begründet werden? Zweifelsohne bietet die Erziehungswissenschaft eine
Reihe an Begriffen, die hierbei hilfreich sein könnten. ‚Erziehung‘,
‚Sozialisation‘, ‚Lernen‘ gelten neben ‚Bildung‘ als Grundbegriffe der Diszi-
plin und bieten je eigene Zugänge zum Gegenstand an (vgl. etwa Vogel 2019).
Im Folgenden wird das Potenzial des Bildungsbegriffs für das genannte
Vorhaben erkundet, da er in besonderer Weise an die in der Subjektivierungs-
wie auch der Geschlechterforschung enthaltenen Ideen der Überschreitung
gesetzter Grenzen und der Anerkennung von Relationalität sowie der Kritik an
Ungleichheit und Herrschaft anschließt. Zugleich lässt sich mit einer
bildungstheoretischen Reflexion der bisher entfaltete Zugang weiter
ausdifferenzieren.
6 Mit Blick auf die Themen Bedürftigkeit und Fürsorge ist der Vorschlag von Forster (2020)
inspirierend, Reproduktion zum zentralen Gegenstand von Kritischer Männer- und Männ-
lichkeitsforschung zu machen. Eine Umsetzung mit Blick auf Jungen geschieht in dem
Forschungsprojekt „Fürsorgliche Jungen“ unter der Leitung von Prof. Dr. Sylka Scholz an
der Universität Jena.
80
5.1 Fremdheit, Transformation, Bezogenheit: Aspekte von Bildung
Der Begriff ‚Bildung‘ wurde vermutlich im 13./14. Jahrhundert durch den The-
ologen und Philosophen Meister Eckhart in den philosophischen Diskurs ein-
geführt, der sich wiederum u.a. auf Ideen der griechisch-römischen Antike be-
zog (Lichtenstein 2017). Zu einem pädagogischen Grundbegriff wurde er im
18. Jh. und gilt seitdem als unverzichtbare wenn auch reflexionswürdige
Grundlage für die Analyse pädagogischer Verhältnisse (vgl. Koller 2018: 10).
Dabei wird der Begriff Bildung in vielfacher Weise gebraucht – Bildungspro-
zesse sind ebenso Thema wie deren Inhalte, sozialräumlichen bzw. institutio-
nellen Kontexte sowie Resultate in Form von Dispositionen, Kenntnissen und
formalen Bildungstiteln (vgl. Zirfas 2018: 40–46). Auch die Bedeutung von
Bildung für die Entstehung oder Überwindung sozialer Ungleichheiten sowie
ihre Rolle in Ökonomie und Politik sind Gegenstand theoretischer und empiri-
scher Untersuchungen (Andresen 2009). Aus subjektivierungstheoretischer
Perspektive lässt sich zeigen, dass der Bildungsbegriff in seiner neuzeitlichen
Fassung mit denselben Problemen wie der Subjektbegriff behaftet ist – er stellt
so gesehen selbst eine Subjektivierungsmatrix dar (vgl. Ricken 2019). Doch
daraus folgt nicht, dass Bildung nicht auch subjektivierungstheoretisch gefasst
werden kann. So greift etwa Koller (2018) u.a. auf die Subjekttheorien von
Lacan und Butler zurück, um die Struktur von Selbst- und Weltverhältnissen
theoretisch zu bestimmen. Entsprechend ist es durchaus möglich, auf den Bil-
dungsbegriff im Rahmen einer subjektivierungstheoretisch verorteten Erörte-
rung zurückzugreifen.
Jenseits theoretischer Differenzen (zu verschiedenen Bildungstheorien vgl.
etwa Kuhlmann 2013) gilt Bildung als etwas, das in der Auseinandersetzung
von Ich und Welt geschieht bzw. geschehen kann. Voraussetzung dafür ist eine
Erfahrung der Fremdheit, des Neuen oder auch der Verunsicherung, durch die
bisherige Selbst- und Weltentwürfe in eine Krise geraten (vgl. etwa Koller
2018, Teil 2).7 Welche konkreten Erfahrungen dies sein können, ist im
bildungstheoretischen Diskurs unterschiedlich gefasst worden und auch ob es
tatsächlich immer zu Krisenerfahrungen kommt, ist strittig. Für Humboldt
(2017) war etwa die Begegnung mit einer anderen Sprache und damit
verbundenen Weltsicht wesentlicher Ausdruck von Bildungsprozessen; Koller
(2018) begreift eine Erfahrung eines Scheiterns bisheriger Handlungsmuster
angesichts neuer Problemlagen als Ausgangspunkt eines Bildungsprozesses;
Nohl et al. (2015) rekonstruieren das Auftauchen von etwas Neuem als
Element eines Beginns von Bildung. In jedem dieser Fälle kommt es zu einer
Erfahrung, die die eigene Weltsicht, das eigene Verhältnis zu anderen oder den
7 Genau genommen kann auch die Entwicklung des Bildungsbegriffs selbst als Antwort auf
eine Erfahrung der Verunsicherung, der Ordnungslosigkeit bzw. des Verlusts von Orien-
tierung interpretiert werden. Denn sie geschah infolge eines wachsenden Bewusstseins über
die Kontingenz und Offenheit der menschlichen Existenz (vgl. Rieger-Ladich 2019: 48–50).
81
eigenen Selbstentwurf infragestellt und denormalisiert (vgl. Thompson 2015).
In diesem Sinne geht ein Bildungsprozess, der letztlich zu einem Anders-Sein
führt, auch selbst von einer Erfahrung des Anders-Seins (dessen Möglichkeit
und/oder Notwendigkeit) aus.
Mit dem Bild des Anders-Werdens ist der Bildungsprozess selbst angespro-
chen. Rucker (2014) beschreibt in seinem Versuch, den bildungstheoretischen
Diskurs zu erfassen Bildung als eine Selbsttätigkeit von sozial verstrickten Ak-
teur*innen, sich angesichts des Scheiterns der eigenen Selbst-, Anderen- und
Weltverhältnissen neue Regeln der Orientierung zu geben und damit neue
Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse zu schaffen. Bildung beschreibt somit
eine umfassende Transformation, die sich nicht nur auf einzelne Ausschnitte
von Selbst- und Weltentwürfen bezieht, sondern auf die Struktur dieser Ent-
würfe selbst (vgl. Nohl et al. 2015). Anders gesagt: Bildung führt zu einer
neuen Subjektivierungsweise, sie transformiert die Relationen eines Individu-
ums zu sich, anderen und zur Welt, was auch mit einer anderen Positionierung
im sozialen Raum einhergeht.
Ein drittes Thema des bildungstheoretischen Diskurses (neben Bildungs-
anlass und Bildungsprozess), welches für den hiesigen Kontext relevant ist, ist
das Ziel bzw. Ergebnis von Bildung. Bildungstheoretische Erörterungen
dienen vielfach als normative Orientierung für pädagogische und/oder gesell-
schaftspolitische Reflexionen und stellen selbst Subjektivierungsmodelle dar.
Der Humboldt definierte zum Beispiel als den Zweck des Menschen die
„höchste und proportionierlichste Bildung seiner Krafte zu einem Ganzen“
(Humboldt 1792, zit. n. Koller 2018: 11). Dies stellt eine spezifische
„Subjektivierungsmatrix“ (Ricken 2019, S. 105) dar, die eine souveräne
Selbstverwirklichung jenseits von Negativität oder Bezogenheit auf Andere
zum Ideal erhebt (vgl. Ricken 2019). Koller (2016) argumentiert
demgegenüber, nur solche Transformationen von Selbst-, Anderen- und
Weltverhältnissen als Bildung zu bezeichnen, in denen Normen aufgelöst und
Ausschlüsse abgewendet werden und widerstreitende Positionen anerkannt
werden. Casale (2020) spricht in vergleichbarer Weise von Bildung als
„Komposition des Getrennten“ (ebd.: 22). Damit ist eine neuhumanistische
Idee aufgegriffen, wonach Bildung eine verhältnismäßige Aneignung der Welt
in ihrer Mannigfaltigkeit darstelle, doch nicht deren Vereinheitlichung oder
Verknüpfung mit bereits gegebenen „Kraften“ des Individuums stünde hier im
Mittelpunkt, sondern der Erhalt der Widersprüchlichkeit dieser Welt.
Was in bildungstheoretischen Diskursen häufig fehlt, ist der Anderenbe-
zug, d.h. die sozialen Angewiesenheiten, Verletzlichkeiten und Abhängigkei-
ten des Subjekts (vgl. Ricken 2019: 105–106). Bildung muss jedoch auch die
Realisierung der Bezogenheit und des Angewiesen-Sein menschlicher Exis-
tenz implizieren. Die „Aneignung einer geteilten Welt in ihrer historischen
Konkretion, d.h. in ihrer pluralen Gestaltung“ (Casale 2020: 22) impliziert
auch eine Verwicklung mit dieser Welt und damit eine Aufgabe der Idee von
82
Souveränität. Bildung ist nicht nur Erfahrung, sondern eine neue Positionie-
rung und Relationierung. Ein relational fundierter Bildungsbegriff zielt norma-
tiv nicht lediglich auf die Entwicklung von (mehr) Mündigkeit, sondern auf
die Entwicklung einer interdependenten Mündigkeit und einer Subjektivität
jenseits der Idealisierung von Autonomie. Jenseits dieser normativen Überle-
gungen zum möglichen Zweck von Bildung hat eine relationale Perspektive
zur Folge, auch Bildungsprozesse als relationales Geschehen zu begreifen.
Verschiedene Bildungskonzepte und deren Realisierung können in ihrer Rela-
tion zueinander analysiert werden, was ggf. auch gesellschaftliche Ungleich-
heit konstituierende Abgrenzungen etwa gegenüber einer vermeintlich man-
gelnden Bildung bzw. mangelhaft autonomen Bildung erkennbar werden lässt
(zur kolonialen Form dieser Abgrenzung vgl. Knobloch 2019; zur Konstitution
von Geschlechterungleichheiten durch Bildung vgl. Klika 2004).
5.2 Bildung und Jungen(forschung)
Eine an diesem Bildungsverständnis orientierte sowie subjektivierungstheore-
tisch informierte Jungenforschung kann erstens das Vorkommen von Fremd-
heitserfahrungen und den Umgang damit in konkreten Settings untersuchen.
Es könnte einerseits darauf geblickt werden, inwiefern Jungen Fremdheit und
Möglichkeiten des Anders-Seins erfahren, um welche konkreten Erfahrungen
es sich handelt und wie damit (durch sie aber auch andere Akteur*innen) um-
gegangen wird. Darin könnten Vergeschlechtlichungen etwa dahingehend auf-
gespürt werden, welche Fremdheitserfahrungen und Umgangsweisen damit als
legitim oder illegitim gelten und wie dabei Autonomie und Heteronomie ver-
handelt werden. Denn die Begegnung mit Neuem oder Fremdem kann als Er-
weiterung der Verfügung über sich, andere und die Welt gedeutet werden, aber
auch als Infragestellung solcher Bezüge und damit Dezentrierung.
Zweitens kann der entfaltete Bildungsbegriff dabei hilfreich sein,
Transformationsprozesse bezüglich der Subjektivierungspraktiken von und
mit Jungen in ihrer Prozesshaftigkeit zu untersuchen. Vielfach blickt die
Forschung zu Jungen eher auf soziale Praktiken in ihrer Gegenwärtigkeit; eine
prozessorientierte Perspektive ist am ehesten in der quantitativen Forschung
zu Veränderungen von Kompetenzen oder Schulabschlüssen zu finden. Die
Veränderung von Selbst-, Anderen- und Weltbezügen oder von sozialen
Transformationen ist hingegen kaum Thema der Forschung zu Jungen. Wie
verlaufen derartige Transformationen, welche Ambivalenzen oder Konflikte
treten darin auf und wo werden Transformationen möglicherweise auch
abgebrochen zugunsten eines Erhalts einer einmal etablierten Subjekti-
vierungsweise? Relevant wäre auch, inwieweit eine geschlechterreflektierte
Pädagogik die mit Transformationen verbundenen Ambivalenzen reflektiert
83
und bspw. die affektiven Bindungen von Jungen an Personen, die ihnen
Ordnungen (il-)legitimer Subjektivität vermittelt haben, anerkennt.8
Drittens könnte die Zieldimension der Bildungsprozesse von Jungen ge-
nauer untersucht werden, was auch eine Auseinandersetzung mit möglicher-
weise konkurrierenden Teleologien von Subjektpositionierungen beinhaltet.9
Das Modell des „balancierten Junge-Seins“ (vgl. Winter und Neubauer 2001)
erinnert bspw. an das Ideal der proportionierlichsten Entfaltung von Kräften
bei Humboldt, während antisexistische bzw. machtkritische Ansätze (z.B.
Stuve und Debus 2012) Ähnlichkeiten zur Forderung Klafkis aufweisen,
Selbstbestimmung „immer unter dem Gesichtspunkt der verantwortlichen Be-
zogenheit des einzelnen Menschen auf seine Mitmenschen, auf Kultur, Gesell-
schaft und Politik“ (Klafki 2003, zit. n. Rucker 2014: 99) zu verstehen. In zent-
raler Weise gilt hier danach zu fragen, welchen Stellenwert das Angewiesen-
Sein von Jungen auf andere, ihre Sozialität und Abhängigkeit in (verschiede-
nen Figuationen) der Bildung von Jungen einnehmen. Aber auch der Grad an
Reflexion von Selbst-, Anderen- und Weltverhältnissen bzw. Momente einer
Verhinderung von Reflexivität wären als mögliche Zielbestimmungen von auf
Jungen bezogenen Bildungskonzepten zu untersuchen (vgl. hierzu etwa
Hunsicker 2012).
Ein vierter Fragekomplex bezieht sich auf die Relationierung der Bildungs-
praktiken von und mit Jungen zueinander bzw. zu anderen bildungsbezogenen
Praktiken. Finden sich bspw. Abgrenzungen von intellektuell orientierten oder
körperbezogenen Praktiken? Gibt es wechselseitige Anregungen und Aneig-
nungen – möglicherweise auch Aneignungen von Elementen marginalisierter
Praktiken zwecks (oder mit dem Effekt der) Sicherung einer eigenen Privile-
gierung? Welche Relationen bestehen in Bezug auf die Praktiken von und mit
Personen anderer Geschlechtszugehörigkeit bzw. anderer Altersgruppen?
Diese Fragen können Erkenntnisse über Charakter und Funktionsweise der
Subjektivierungspraktiken von und mit Jungen erbringen und ermöglichen
eine größere Tiefe von Rekonstruktionen und Befunden; sie informieren auch
den Austausch über die Frage, inwiefern und in welcher Weise die Bildung
von Jungen männlich strukturiert ist.
8 Dies schließt an die Überlegungen von Butler zu den „leidenschaftlichen Verhaftungen“ des
Subjekts an jene Instanzen, die seine Existenz ermöglicht haben, an (vgl. Butler 2001: 11
14). Diese Dimension ihrer Subjektivationstheorie wird übersehen, wenn die biographische
Dimension von Adressierungen und Positionierungen nicht analysiert wird.
9 Hier besteht ein Anknüpfungspunkt an die für den Subjektivierungsbegriff grundlegenden
Arbeiten Foucaults. Dieser hatte verschiedene Subjektivierungsweisen u.a. dahingehend un-
terschieden, welche Zielbestimmung ihr innewohnt. Selbstbeherrschung, Ablösung von der
Welt und Seelenruhe beschrieben für ihn die Teleologien verschiedener Verständnisse von
moralischer Subjektivität in der griechisch-römischen Antike und im frühen Christentum
(vgl. Foucault 1989: 39).
84
6 Fazit
Für die Relationierung des Klassifikationsbegriffs ‚Jungen‘, des geschlechter-
theoretischen Konzepts ‚Mannlichkeit‘ und des erziehungswissenschaftlichen
Begriffs ‚Bildung‘ wurde in diesem Beitrag ein subjektivierungstheoretischer
Ansatz gewählt. Mit diesem kann soziale Praxis als andauernde Herstellung,
Verhandlung und Transformation von Subjektpositionen begriffen werden, die
als dynamische Gefüge von Selbst-, Anderen- und Weltverhältnissen mit einer
relationalen Handlungsfähigkeit ausgestattet sind. In ihrer gewordenen Bezo-
genheit auf sich und die soziale und materielle Welt agieren Jungen wie auch
ihre Peers und mit ihnen arbeitende Pädagog*innen im Rahmen von Ordnun-
gen (il-)legitimer Relationen und bilden Konfigurationen von Autonomie und
Heteronomie aus, welche die Form von Herrschaftsverhältnissen einnehmen
können, aber nicht müssen. Männlichkeit beschreibt vor diesem Hintergrund
eine historisch gewordene und wandelbare Konfiguration von Subjektivierung,
bei denen eine Idealisierung und Legitimierung von Autonomie und Souverä-
nität und eine Marginalisierung und Delegitimierung von Abhängigkeit und
Angewiesen-Sein zu finden ist. Junge kann als eine Personenkategorisierung
verstanden werden, die zwar durch ‚Mannlichkeit‘ konstituiert, aber von dieser
keineswegs vollkommen bestimmt ist. Die soziale Praxis von und mit Jungen
kann daher als zugleich auf Männlichkeit bezogen und darüberhinausgehend
begriffen werden und ist dahingehend zu analysieren, welche Rolle konkret
Mannlichkeit spielt (oder auch nicht). Weil sowohl ‚Junge‘ als auch ‚Mann-
lichkeit‘ als Begriffe bzw. Konzepte Bezüge zu anderen Begriffen und Kon-
zepten sozialer Differenzierung und Hierarchisierung aufweisen, ist die Ana-
lyse dieser Bezüge ein wesentlicher Bestandteil einer Forschung zu Jungen.
(Auf Männlichkeit bezogene) Subjektivierungspraktiken (von Jungen) als
Bildung zu analysieren, impliziert ein Interesse an den Anlässen, Abläufen und
impliziten Zielen dieser Praktiken und der Prozesse, die sie konstituieren.
Insbesondere die Bedeutung von Fremdheit und Anders-Werden, von
Beharrung und Transformation grundlegender Orientierungen sowie von
Relationalität und Reflexivität ist zu untersuchen, wenn eine bildungs-
theoretische Perspektive auf die soziale Praxis von und mit Jungen geworfen
wird. Ein (dauerhaft reflexionswürdiger) normativer Bezugspunkt einer
solchen Perspektive ist die Förderung von selbstreflexiven und verant-
wortungsvollen Subjektivierungsweisen, die weniger auf Selbstbestimmung
als auf Mitbestimmung ausgerichtet sind.
85
Literaturverzeichnis
Alkemeyer, Thomas/Bröckling, Ulrich (2018): Jenseits des Individuums. Zur Subjekti-
vierung kollektiver Subjekte. Ein Forschungsprogramm. In: Alkemeyer,
Thomas/Bröckling, Ulrich/Peter, Tobias (Hrsg.): Jenseits der Person. Zur Subjek-
tivierung von Kollektiven. Bielefeld: transcipt, S. 17–31.
Anderson, Eric/McCormack, Mark (2018): Inclusive Masculinity Theory. overview,
reflection and refinement. In: Journal of Gender Studies, 27 (5), S. 547–561. DOI:
10.1080/09589236.2016.1245605.
Andresen, Sabine (2009): Bildung. In: Andresen, Sabine/Casale, Rita/Gabriel,
Thomas/Horlacher, Rebekka/Larcher, Sabina/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Handwör-
terbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz, S. 76–90.
Aulenbacher, Brigitte/Riegraf, Birgit/Theobald, Hildegard (Hrsg.) (2014): Sorge: Ar-
beit, Verhältnisse, Regime: Nomos.
BAG Jungenarbeit (2016): Positionspapier. Stand Januar 2016. Hannover. Online
verfügbar unter http://bag-jungenarbeit.de/wp-content/uploads/2020/07/
positionspapier_BAGJ_2016.pdf. (Zugriff: 24.12.2021.)
Böhnisch, Lothar (2013): Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Weinheim: Ju-
venta.
Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, Irene/Krais, Beate
(Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis.
Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 153–216.
Bridges, Tristan/Pascoe, Cheri. Jo. (2014): Hybrid Masculinities. New Directions in the
Sociology of Men and Masculinities. In: Sociology Compass, 8 (3), S. 246–258.
DOI: 10.1111/soc4.12134.
Budde, Jürgen (o. J.): Männlichkeitskonzeptionen. In: Faulstich-Wieland, Hannelore
(Hrsg.). Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online (EEO), Fachgebiet Ge-
schlechterforschung. Weinheim.
Budde, Jürgen (2005): Männlichkeit und gymnasialer Alltag. Doing gender im heutigen
Bildungssystem. Bielefeld: Transcript.
Budde, Jürgen (2009): Perspektiven für Jungenforschung an Schulen. In: Budde, Jür-
gen/Mammes, Ingelore (Hrsg.): Jungenforschung empirisch. Zwischen Schule,
männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: Springer VS, S. 73–90.
Budde, Jürgen (2015): „Immer gut dabei, Vito zum Beispiel…“ Herstellung passförmi-
ger Männlichkeit in Schule. In: Bräu, Karin/Schlickum, Christine (Hrsg.): Soziale
Konstruktionen in Schule und Unterricht. Zu den Kategorien Leistung, Migration,
Geschlecht, Behinderung, soziale Herkunft und deren Interdependenzen. Opladen:
Barbara Budrich, S. 167–179.
Budde, Jürgen/Rieske, Thomas Viola (2021): Jungen. In: Amthor, Ralph-Chris-
tian/Goldberg, Brigitta/Hansbauer, Peter/Landes, Benjamin/Wintergerst, Theresia
(Hrsg.): Kreft/Mielenz – Wörterbuch Soziale Arbeit. Aufgaben, Praxisfelder, Be-
griffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Weinheim: Beltz Ju-
venta, S. 484–487
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frank-
furt/Main: Suhrkamp.
Casale, Rita (2020): Bildung nach der Krise der bürgerlichen Philosophie. In: Stederoth,
Dirk/Novkovic, Dominik/Thole, Werner (Hrsg.): Die Befähigung des Menschen
86
zum Menschen. Heinz-Joachim Heydorns kritische Bildungstheorie. Wiesbaden:
Springer, S. 9–24.
Connell, Raewyn W. (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männ-
lichkeiten. Opladen: Leske + Budrich.
Connell, Raewyn W./Messerschmidt, James W. (2005): Hegemonic Masculinity. Re-
thinking the Concept. In: Gender & Society 19 (6), S. 829–859.
Degele, Nina (2007): Männlichkeit queeren. In: Bauer, Robin/Hoenes, Josch/Wolters-
dorff, Volker (Hrsg.): Unbeschreiblich Männlich. Hamburg: Männerschwarm, S.
29–42.
Dinges, Martin (Hrsg.) (2020): Männlichkeiten und Care. Selbstsorge, Familiensorge,
Gesellschaftssorge. Weinheim: Beltz Juventa.
Erhart, Walter (2016): Deutschsprachige Männlichkeitsforschung. In: Horlacher, Ste-
fan/Jansen, Bettina/Schwanebeck, Wieland (Hrsg.): Männlichkeit. Ein interdiszip-
linäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 11–25.
Fegter, Susann/Langer, Antje/Thon, Christine (Hrsg.) (2021): Diskursanalytische Ge-
schlechterforschung in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Budrich.
Forster, Edgar (2005): Männerforschung, Gender Studies und Patriarchatskritik. In: Ca-
sale, Rita/Rendtorff, Barbara/Andresen, Sabine/Moser, Vera/Prengel, Annedore
(Hrsg.): Geschlechterforschung in der Kritik. Opladen: Budrich, S. 41–72.
Foucault, Michel (1989) Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2005a): Subjekt und Macht. In: Foucault, Michel (Hrsg.): Schriften
in vier Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 269–294.
Foucault, Michel (2005b): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende
Arbeit. In: Foucault, Michel (Hrsg.): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band
IV. 1980–1988. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 461–498.
Foucault, Michel (2005c): Was ist Aufklärung? In: Foucault, Michel (Hrsg.): Schriften
in vier Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 687–707.
Hearn, Jeff (2004): From hegemonic masculinity to the hegemony of men. In: Feminist
Theory, 5 (1), S. 49–72. DOI: 10.1177/1464700104040813.
Hirschauer, Stefan/Boll, Tobias (2017): Un/doing differences. Zur Theorie und Empirie
eines Forschungsprogramms. In: Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Un/doing differences.
Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist: Velbrück, S. 7–26.
Humboldt, Wilhelm von (2017): Schriften zur Bildung. In: Lauer, Gerhard (Hrsg.):
Stuttgart: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19456).
Hunsicker, Thorsten (2012): Männlichkeitskonstruktionen in der Jungenarbeit. Eine
gender- und adoleszenztheoretische Kritik auf empirischer Grundlage. Schwal-
bach: Wochenschau.
Ivanova-Chessex, Oxana/Steinbach, Anja/Wolter, Jan (2020): Rassismuskritik in der
Lehrerinnenbildung – Überlegungen zu und in einem Widerspruchsverhältnis. In:
Bücken, Susanne/Streicher, Noelia/Velho, Astride/Mecheril, Paul (Hrsg.): Migra-
tionsgesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse in Bildungssettings. Wiesba-
den: Springer.
Kible, Brigitte/Stolzenberg, Jürgen/Trappe, Tobias/Dreisholtkamp, Uwe (1998): Sub-
jekt. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der
Philosophie. Band 10. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 373–
383.
87
Kleiner, Bettina/Rose, Nadine (Hrsg.) (2014): (Re-)Produktion von Ungleichheiten im
Schulalltag. Judith Butlers Konzept der Subjektivierung in der erziehungswissen-
schaftlichen Forschung. Opladen: Budrich.
Klika, Dorle (2004): DerDieDas Subjekt und die Welt – Bildungstheoretische Beiträge.
In: Glaser, Edith/Klika, Dorle/Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch Gender und
Erziehungswissenschaft. Bad Heilbronn: Julius Klinkhardt, S. 33–47.
Knobloch, Phillip D. Th. (2019): Subjektivierung und moderne/koloniale Bildung. Zur
Formierung von Grenzsubjekten. In: Ricken, Norbert/Casale, Rita/Thompson,
Christiane (Hrsg.): Subjektivierung: Erziehungswissenschaftliche Theorieper-
spektiven. Weinheim: Beltz Juventa, S. 159–176.
Koller, Hans-Christoph (2016): Ist jede Transformation als Bildungsprozess zu begrei-
fen? In: Verständig, Dan/Holze, Jens/Biermann, Ralf (Hrsg.): Von der Bildung zur
Medienbildung. Wiesbaden: Springer, S. 149–161.
Koller, Hans-Christoph (2018): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie
transformatorischer Bildungsprozesse. Stuttgart: Kohlhammer.
Kontos, Silvia/May, Michael (2008): Hegemoniale Männlichkeit und männlicher Ha-
bitus. Überlegungen zu einem analytischen Bezugsrahmen zur Untersuchung von
Geschlechterverhältnissen. In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechter-
studien 26 (1), S. 3–14.
Kuhlmann, Carola (2013): Erziehung und Bildung. Wiesbaden: Springer VS.
Künstler, Phries Sophie (2021): Anrufung, Umwendung und Widerstand: Für die Be-
rücksichtigung von Herrschaftsverhältnissen in Subjektivierungsanalysen. In: Feg-
ter, Susann/Langer, Antje/Thon, Christine (Hrsg.): Diskursanalytische Geschlech-
terforschung in der Erziehungswissenschaft. Jahrbuch Frauen- und Geschlechter-
forschung in der Erziehungswissenschaft, Band 17. Opladen: Barbara Budrich,
S. 39–53.
Leigh Star, Susan (2010): This is Not a Boundary Object: Reflections on the Origin of
a Concept. In: Science, Technology, & Human Values, 35 (5), S. 601–617. DOI:
10.1177/0162243910377624.
Lichtenstein, Ernst (2017): Bildung. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel,
Gottfried/Lichtenstein, Ernst (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie.
Basel: Schwabe Verlag.
Maihofer, Andrea/Theweleit, Klaus (2007): Das moderne männliche Subjekt im
Anschluss an Adorno, Horkheimer und Foucault. In: Freiburger Geschlechter-
studien (Hrsg.): Männer und Geschlecht. Freiburg: Jos Fritz Verlag, S. 329-370
Martino, Wayne/Pallotta-Chiarolli, Maria (2003): So what’s a boy? Addressing issues
of masculinity and schooling. Maidenhead: Open University Press.
Matsuda, Mari J. (1991): Beside My Sister, Facing the Enemy. In: Stanford Law Re-
view, 43 (6), S. 1183–1192.
May, Michael (2011): Riskante Praktiken von Jungen. In: Forster, Edgar/Rendtorff,
Barbara/Mahs, Claudia (Hrsg.): Jungenpädagogik im Widerstreit. Stuttgart: Kohl-
hammer, S. 127–143.
Meuser, Michael (2006): Riskante Praktiken. Zur Aneignung von Männlichkeit in den
ernsten Spielen des Wettbewerbs. In: Bilden, Helga/Dausien, Bettina (Hrsg.): So-
zialisation und Geschlecht. Theoretische und methodologische Aspekte. Opladen:
Barbara Budrich, S. 163–178.
Meuser, Michael (2010): Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kul-
turelle Deutungsmuster. Wiesbaden: VS Verlag.
88
Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und
Allmacht des Ich. München: Kirchheim.
Nohl, Arnd-Michael/Rosenberg, Florian von/Thomsen, Sarah (2015): Bildung und Ler-
nen im biographischen Kontext. Empirische Typisierungen und pragmatisch-pra-
xeologische Reflexionen. Wiesbaden: Springer.
Pohl, Rolf (2005): Sexuelle Identitätskrise. Über Homosexualität, Homophobie und
Weiblichkeitsabwehr bei männlichen Jugendlichen. In: King, Vera/Flaake, Karin
(Hrsg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungsprozesse zwischen
Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt/Main: Campus, S. 249–266.
Reeser, Todd (2016): Englischsprachige Männlichkeitsforschung. In: Horlacher, Ste-
fan/Jansen, Bettina/Schwanebeck, Wieland (Hrsg.): Männlichkeit. Ein interdiszip-
linäres Handbuch. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 26–42.
Rendtorff, Barbara (2015): Zugewinne und Fallen aktuelle Veränderungen in Ge-
schlechtervorstellungen und ihre Probleme. In: Dausien, Bettina/Thon, Chris-
tine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.): Geschlecht - Sozialisation - Transformatio-
nen. Opladen: Barbara Budrich, S. 77–92.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Pädagogische Anmerkungen
zum Diskurs menschlicher Selbstbeschreibungen. In: Vierteljahrsschrift für wis-
senschaftliche Pädagogik, 75 (2), S. 208–237.
Ricken, Norbert (2013): Zur Logik der Subjektivierung. Überlegungen an den Rändern
eines Konzeptes. In: Gelhard, Andreas/Alkemeyer, Thomas/Ricken, Norbert
(Hrsg.): Techniken der Subjektivierung. München: Wilhelm Fink, S. 29–47.
Ricken, Norbert (2019): Bildung und Subjektivierung. Bemerkungen zum Verhältnis
zweier Theorieperspektiven. In: Ricken, Norbert/Casale, Rita/Thompson, Christi-
ane (Hrsg.): Subjektivierung: Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven.
Weinheim: Beltz Juventa, S. 95–118.
Ricken, Norbert/Casale, Rita/Thompson, Christiane (Hrsg.) (2019): Subjektivierung:
Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven. Weinheim: Juventa.
Ricken, Norbert/Rose, Nadine/Kuhlmann, Nele/Otzen, Anne (2017): Die
Sprachlichkeit der Anerkennung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik, 93 (2), S. 193–235. DOI: 10.1163/25890581-093-02-90000002.
Rieger-Ladich, Markus (2019): Bildungstheorien zur Einführung. Hamburg: Junius.
Rieske, Thomas Viola (2011): Bildung von Geschlecht. Zur Diskussion um
Jungenbenachteiligung und Feminisierung in deutschen Bildungsinstitutionen.
Frankfurt/Main: GEW.
Rieske, Thomas Viola (2021): Verhältnisse von Autonomie und Heteronomie. Poten-
ziale subjektivierungstheoretischer Perspektiven am Beispiel erziehungswissen-
schaftlicher Forschung zu Jungen. In: Fegter, Susann/Langer, Antje/Thon, Chris-
tine (Hrsg.): Diskursanalytische Geschlechterforschung in der Erziehungswissen-
schaft. Opladen: Barbara Budrich, S. 55–69.
Rucker, Thomas (2014): Komplexität der Bildung. Beobachtungen zur Grundstruktur
bildungstheoretischen Denkens in der (Spät-)Moderne. Bad Heilbrunn: Klink-
hardt.
Saar, Martin (2013): Analytik der Subjektivierung. Umrisse eines Theorieprogramms.
In: Gelhard, Andreas/Alkemeyer, Thomas/Ricken, Norbert (Hrsg.): Techniken der
Subjektivierung. München: Wilhelm Fink, S. 17–27.
Scheibelhofer, Paul (2018): Der fremd-gemachte Mann. Zur Konstruktion von Männ-
lichkeiten im Migrationskontext. Wiesbaden: VS Verlag.
89
Scholz, Sylka (2013): Was heißt es, heutzutage ein Junge zu sein? Rollen-, Fremd- und
Selbstbilder. In: BMFSFJ (Hrsg.): Jungen und ihre Lebenswelten – Vielfalt als
Chance und Herausforderung. Bericht des Beirats Jungenpolitik. Berlin: Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 114–130.
Scholz, Sylka (2015): Männlichkeitssoziologie. Studien aus den sozialen Feldern Ar-
beit, Politik und Militär im vereinten Deutschland. Münster: Westfälisches Dampf-
boot.
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (2019): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der
Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München: oekom ver-
lag (Bibliothek der Alternativen).
Soiland, Tove (2009): ‚Gender’: Kontingente theoretische Grundlagen und ihre
politischen Implikationen. In: Gender Politik Online. Online verfügbar unter
www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/Kontingente_
theoretische_Grundlagen/soiland.pdf. Zugriff: 24.12.2021
Stecklina, Gerd/Wienforth, Jan (2021): Jungen*. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Be-
nedikt/von Schwanenflügel, Larissa/Schwerthelm, Moritz (Hrsg.): Handbuch Of-
fene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer, S. 319–330.
Stuve, Olaf/Debus, Katharina (2012): Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer
Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen. In:
Dissens e.V., Debus, Katharina/nnecke, Bernard/Schwerma, Klaus/Stuve, Olaf
(Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen in der Schule: Texte zu
Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung.
Berlin: Dissens e.V., S. 43–60. Online verfügbar unter: http://www.jungenarbeit-
und-schule.de/fileadmin/JuS/Redaktion/Dokumente/Buch/Stuve%20Debus%20-
%20M%C3%A4nnlichkeitsanforderungen.pdf. Zugriff: 24.12.2021.
Thielen, Marc (2014): Männlichkeit verpflichtet. Die pädagogische Bearbeitung
randständiger Männlichkeit im Zuge der Herstellung von Ausbildungsreife in der
Berufsvorbereitung. In: Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina
(Hrsg.): Männlichkeiten. Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen
Institutionen. Opladen: Barbara Budrich, S. 171–184.
Thompson, Christiane (2015): Bildung und Befremdung. In: Buchenhorst, Ralph
(Hrsg.): Von Fremdheit lernen. Zum produktiven Umgang mit Erfahrungen des
Fremden im Kontext der Globalisierung. Bielefeld: transcript, S. 69–88.
Vogel, Peter (2019): Grundbegriffe der Erziehungs- und Bildungswissenschaft. Opla-
den: Budrich.
Winter, Reinhard/Neubauer, Gunter (2001): Dies und Das! Das Variablenmodell „ba-
lanciertes Junge- und Mannsein“ als Grundlage für die padagogische Arbeit mit
Jungen und Männern. Tübingen: Neuling.
Winter, Sebastian (2018): Verdrängen, um zu herrschen. Eine psychoanalytisch-sozial-
psychologische Betrachtung. In: Mittelweg 36, 27 (4), S. 68–86.
Wrana, Daniel (2019): Odysseus und Antigone. Zur Genealogie der Subjektivierung.
In: Ricken, Norbert/Casale, Rita/Thompson, Christiane (Hrsg.): Subjektivierung:
Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven. Weinheim: Beltz Juventa, S.
49–73.
Zima, Peter V. (2017): Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Mo-
derne und Postmoderne. Tübingen: Francke.
Zirfas, Jörg (2018): Einführung in die Erziehungswissenschaft. Paderborn: Ferdinand
Schöning
Männliche Akteure in
Bildungsinstitutionen
Die Relevanz der Kategorie ‚Geschlecht‘ im Feld der
frühen Kindheit. Un/doing gender in
Kindertageseinrichtungen
Michael Cremers und Jens Krabel
1 Einleitung
In Kindertageseinrichtungen wird der Kategorie ‚Geschlecht‘ „eine den
pädagogischen Alltag bestimmende Bedeutung bzw. zumindest ein
wesentliches Strukturierungsmoment“ (Kubandt 2016: 102) zugesprochen und
eine geschlechterbewusste pädagogische Arbeit hlt zu den sechs Quer-
schnittsaufgaben in den Vorgaben des gemeinsamen Rahmens der Länder für
die frühe Bildung (vgl. JMK und KMK 2004). Die länderspezifischen
Bildungsplane, in denen Geschlecht „vor allem vor der Folie von
Geschlechtergerechtigkeit“ (Kubandt 2016: 101 f.) und „in der Regel gemein-
sam mit anderen Differenzlinien“ (ebd.: 117) thematisiert wird, sind eine gute
Möglichkeit, „nachzuzeichnen, wie Geschlecht für das Handlungsfeld Kinder-
tageseinrichtungen in den Bundeslandern verhandelt“ (ebd.: 102 f.) und mit
welchen „normativen Vorstellungen Geschlecht dabei verknüpft wird“ (ebd.:
103). Darüber hinaus bilden Heterogenitat und Diversitat, „im Sinne des
Verstehens von Verschiedenheit“ (Böfae 2012: 4) und mit dem Ziel der
Inklusion den Ausgangspunkt für die Planung pädagogischer Prozesse wie
dem länderübergreifenden Lehrplan für Erzieher*innen zu entnehmen ist.1 In
einem Zusammenhang damit steht, dass Kindertageseinrichtungen nicht nur
Orte sind, an denen pädagogische Praxis stattfindet, sondern sie sind zugleich
„Kreuzungspunkt nicht padagogischer Erwartungen“ (Honig 2012: 102). So
sollen sie bspw. der Armutsbekämpfung dienen sowie einen Beitrag zur
1Vierzehn von sechszehn Bundesländern haben sich im Jahr 2012 auf einen gemeinsamen
Entwurf eines Lehrplans für die Ausbildung von Erzieher*innen geeinigt. Der Lehrplan
gliedert sich in einen Richtlinienteil und einen Lehrplanteil und dient den beteiligten Bundes-
ländern als Grundlage zur Anpassung bestehender Lehrplane. Das Thema „Lebenswelten und
Diversitat wahrnehmen, verstehen und Inklusion fördern“ stellt dabei eins von sechs
Lernfeldern dar.
94
sozialen Inklusion leisten, „indem sie die Startchancen von Kindern aus
unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus verbessern“ (ebd.). Darüber
hinaus sollen sie zur Gleichstellung von Frauen und Männern beitragen, indem
sie den Eltern der Kinder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen
(vgl. ebd.).
Nach dieser knappen Skizzierung der Relevanz der Kategorie Geschlecht
im Feld der frühen Bildung, folgen in Abschnitt 2 Ausführungen zum verge-
schlechtlichten Feld der frühen Kindheit. In Abschnitt 3 werden die Untersu-
chung „Jungen und Bildung in der frühen Kindheit“ sowie die beiden Einrich-
tungen vorgestellt, die an der Untersuchung teilgenommen haben. Ferner wer-
den wir in diesem Abschnitt unsere kindheitssoziologische und erziehungswis-
senschaftliche Perspektive skizzieren und mittels eines Auszugs aus einer Ana-
lytical Note unsere wissenschaftliche Praxis kurz vorstellen. Abschnitt 4 be-
schreibt erstens Praktiken der geschlechtsbezogenen Differenzierung, mit de-
nen die Kinder im Zuge der Einsozialisation in die Gesellschaft konfrontiert
werden und die bereits zeitlich im Vorfeld der pädagogischen Institution Kin-
dertageseinrichtung einzuordnen sind, jedoch zugleich in diese hineingetragen
werden. Zweitens werden Praktiken der geschlechtsbezogenen Differenzie-
rung, mit denen Fachkräfte und Kinder die Kategorie Geschlecht mit ihren In-
teraktionen in beiden Einrichtungen aktualisierten und neutralisierten, be-
schrieben. Abschließend erfolgt im 6. Abschnitt eine kurze Zusammenfassung
und Einordnung des Beitrags.
2 Frühe Kindheit als vergeschlechtlichtes Feld
Von Menschen vorgenommene Differenzierungen finden ihren Ausdruck
nicht nur in sozialen Interaktionen, sondern sie wirken zugleich strukturbil-
dend, da sie „in die Struktur dauerhafter sozialer Einheiten“ (Hirschauer 2001:
222) eingebaut sind und auch als kontingente und temporäre strukturelle Fest-
schreibungen sozialer Interaktionen und Beziehungen definiert werden kön-
nen. So lässt sich bspw. die historische Entstehung der Kinder- und Jugendhilfe
„(auch) als Reaktion auf ‚delinquente‘ Mannlichkeitsinszenierungen sowie auf
fehlende Kontrolle junger Manner[*] zwischen ‚Schulbank und Kasernentor‘
(Peukert 1986: 310) [verstehen]“ (Stecklina und Wienforth 2021: 318).
Humandifferenzierungen sind zudem kontingent und temporär, weil sie
nicht nur sozial hergestellt, sondern auch gebraucht, übergangen und abgebaut
werden können (vgl. Hirschauer 2014: 170). So stehen kulturelle Transforma-
tionen unter anderem mit einem historischen Relevanzverlust von Themen in
einem Zusammenhang, mit Moden und Konjunkturen oder durch eine Distanz
zu den konstruierten Differenzierungen selbst (vgl. Kalthoff 2017: 259). Wäh-
rend bspw. historisch früher in deutschen Bildungseinrichtungen Kinder nicht
95
nur monoedukativ nach Mädchen und Jungen eingeteilt wurden, sondern auch
unterschiedliche geschlechtsbezogene Lern- sowie Erziehungsziele galten
(vgl. u.a. Bronner und Behnisch 2007: 132f.), wird die Bedeutung der Katego-
rie Geschlecht gegenwärtig mittels formalisierter Verfahren der Gesetzge-
bungspraktik neutralisiert. Es gilt generell das abstrakte Gleichheitspostulat
und Bildungseinrichtungen sind in der Regel koedukativ organisiert.
Die Geschlechterunterscheidung im Kontext der gesellschaftlich notwen-
digen Aufgabe der Kindererziehung ist (nicht nur) in Deutschland eine maß-
gebliche Kategorie (vgl. u. a. Autorengruppe Fachkräftebarometer 2019). Pri-
vat oder öffentlich wurde und wird insbesondere die frühkindliche Kinderer-
ziehung in erster Linie von Frauen ausgeführt.2 Das gilt trotz der relativ aktu-
ellen Debatten und politischen Maßnahmen um mehr Beteiligung von Vätern
an der privaten oder mehr Männern an der öffentlichen Kindererziehung. Der
Erzieher*innenberuf wird jedoch solange ein typischer Frauenberuf3 bleiben,
wie Frauen diesen Beruf gegenüber anderen bevorzugen und ‚ihm‘ dadurch
‚ihr Geschlecht‘ geben und Manner dies nur selten tun (vgl. Hirschauer 2001:
222). Denn weiterhin neutralisieren nur wenige Männer das Geschlecht des
Berufes, als auch ihr eigenes Geschlecht, um undoing gender in zwei Richtun-
gen zu praktizieren. Daraus folgt zudem, dass viele weibliche und wenige
männliche Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen als zentrale Begleiter*in-
nen und Modell für normative Orientierungen der ersten Etappe des institutio-
nalisierten Bildungsweges im Lebensverlauf von Kindern angesehen werden
können (vgl. Dippelhofer-Stiem 2012: 129).
Die Geschlechterunterscheidung im Feld der frühen Kindheit steht in
einem engen Zusammenhang mit dem Tatbestand, dass in Deutschland
‚Frauenberufe‘ im Allgemeinen den ‚Mannerberufen‘ sowohl symbolisch als
auch faktisch untergeordnet waren und sind (vgl. u.a. Scholz und Heilmann
2019). Historisch-strukturell ist dies für das Feld der frühen Kindheit in (West-
)Deutschland bspw. maßgeblich durch die Zuordnung in den Sektor der
Kinder-, Jugend- und Familienfürsorge bzw. seit 1990 dem Bereich der
Kinder- und Jugendhilfe gekennzeichnet (vgl. u.a. Reyer und Franke-Meyer
2021).4 Darüber hinaus leidet der Berufssektor frühe Kindheit mit dem
höchsten Frauenanteil in Deutschland weiterhin unter einem verhältnismäßig
geringen Sozialprestige und schlechtem Einkommensstatus (vgl. u.a.
Pasternack 2015) sowie unter einem starken Fachkräftemangel (vgl. u.a.
Geiger 2019).
2 Zu weiteren relevanten Unterscheidungen in Bezug auf die Sozialstruktur der pädagogischen
Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen vgl. u.a. Wippermann (2018).
3 Als Frauenberufe werden diejenigen Berufe definiert, in denen 80% oder mehr Frauen die
beruflichen Positionen besitzen.
4 In der DDR wurde der Kindergarten dem allgemeinbildenden Schulsystem zugeordnet, weil
sie sich an dem Einheitsschulgedanken orientierte (vgl. u.a. Reyer/Franke-Meyer 2021: 115).
96
Letztendlich sind die generelle Unterordnung der typischen Frauenberufe,
die Zuordnung des Feldes der frühen Kindheit in den Bereich der Kinder- und
Jugendhilfe, die geschlechtsbezogene Zusammensetzung der Fachkräfte, das
geringe Sozialprestige und der schlechte Einkommensstatus u.a. ein Ergebnis
der Effekte einer massiven historischen Naturalisierung der Kategorie ‚Ge-
schlecht‘ (vgl. u.a. Laqueur 1992) und des Patriarchats bzw. der hegemonialen
Männlichkeit.
3 Die Untersuchung: „Jungen und Bildung in der frühen
Kindheit“
In der ethnografischen Untersuchung „Jungen und Bildung in der frühen Kind-
heit“ wurde der wissenschaftliche Blick insbesondere auf Jungen und die Prak-
tiken der Geschlechterunterscheidung als ein Bestandteil von Humandifferen-
zierungen in Kindertageseinrichtungen gerichtet. In diesem Sinne folgten wir
somit einer Logik, die bereits mit diesen Unterscheidungen startete, da sich
Praktiken der Geschlechterdifferenzierung nicht beobachten lassen, ohne dabei
ein Konzept von Geschlechterunterscheidung einzusetzen (vgl. u.a. Hirschauer
und Knapp 2006: 37). Die Untersuchung zielte darauf, sowohl die Relevanz
geschlechtsbezogener Differenzierungen als auch deren Zusammenhang mit
der Hervorbringung von Asymmetrien in diesem Feld zu rekonstruieren: In
welcher Weise finden Praktiken der Geschlechterunterscheidung als doing
gender ihren Ausdruck? Wann gehen geschlechtsbezogene Differenzierungs-
praktiken mit der Herstellung von Asymmetrien einher und wann nicht? Neben
der Relevanz geschlechtsbezogener Unterscheidungen galt das Interesse dem
undoing gender (vgl. u.a. Hirschauer 2001).
3.1 Un/doing differences
Kulturelle Praktiken der Differenzierung und Kategorisierung markieren
soziale Zugehörigkeiten und definieren die Zusammensetzung sozialer
Gebilde (vgl. Hirschauer und Boll 2017: 7). Sie bleiben nicht folgenlos, weil
Individuen durch multiple Zugehörigkeiten sozialisiert und individualisiert
werden (vgl. Hirschauer 2017: 29). Ferner führen vielfältige Mitgliedschaften
sowie durch kulturelle Differenzierungspraxen hervorgerufene Zugehörig-
keiten generell zu einer Pluralität von Individuen (vgl. u. a. Hirschauer 2017:
33 ff.). Denn Individuen haben immer mehrere, simultane und kombinierte
Mitgliedschaften in Humankategorien (vgl. Hirschauer und Boll 2017: 9).
Demgemäß richteten wir unseren wissenschaftlichen Blick nicht nur auf
Praktiken der Geschlechterunterscheidung, sondern auf Differenzierungs-
97
praxen im Allgemeinen. Das gilt bspw. für die Konstruktion von Kindheit in
Kindertageseinrichtungen, dem Verhältnis zwischen Erwachsenen und
Kindern (‚Generationale Ordnung‘) bzw. für die Art und Weise der Vermit-
tlung von Normen, Werten und Regeln durch die Fachkräfte an die Kinder.
Der Kategorie Alter lässt sich in altersübergreifend arbeitenden Kinderta-
geseinrichtungen ein wesentliches Strukturierungsmoment zuschreiben. Das
gilt nicht nur für die generationale Ordnung zwischen Fachkräften und Kin-
dern, sondern auch für die Relation zwischen Vorschulkindern und jüngeren
Kindern. Kinder kommen in der Regel kurz vor ihrem dritten Lebensjahr aus
der Krippe in die altersübergreifende Gruppe und verbleiben dort bis zur Ein-
schulung. Vorschulkinder, die im folgenden Jahr eingeschult werden, wurden
von den Fachkraften ‚Schulkinder‘ genannt. Mit ‚Schulkindern‘ wurden spe-
zielle Bildungsaufgaben durchgeführt, die sie auf die Schule vorbereiten soll-
ten, bspw. Sprachübungen oder Aufgaben aus den Feldern der Naturwissen-
schaften.
Die Beobachtungen der Untersuchung zeigten, dass diese Kinder in der
Hierarchie innerhalb der Kindergruppe oben positioniert waren. Dies galt ins-
besondere für diejenigen Kinder (Jungen wie Mädchen), die körperlich groß
und stark sowie selbstbewusst waren und/oder bei den anderen Kindern ‚gut‘
ankamen bzw. beliebt waren. Zudem fungierten die Schulkinder als Vorbilder
für die jüngeren Kinder. Insbesondere bei der Vermittlung von geltenden Re-
geln und Normen in der Kindergruppe oder beim sich alltäglich mehrfach wie-
derholenden Akt des gemeinsamen Aufräumens nahmen Schulkinder diese
Rolle ein. Kinder, die bereits seit einigen Jahren in den jeweiligen Kindergrup-
pen waren, kannten die einrichtungs- und gruppenbezogenen Regeln und Nor-
men und hatten bspw. bereits gelernt und verinnerlicht, an welchen Ort die
benutzten Artefakte wie Spielzeug, Bilderbücher usw. ‚hingehören‘, die nach
Benutzung auf Geheiß der Fachkräfte wieder zurückgeräumt werden mussten
oder auf welchen Stühlen die Kinder zu sitzen haben und welche Stühle den
Fachkräften vorbehalten sind. Teilweise wurden jüngere Kinder von den älte-
ren ‚Schulkindern‘ auf entsprechendes ‚Falschverhalten‘ hingewiesen.
Darüber hinaus bekamen die älteren Vorschulkinder (Mädchen wie Jun-
gen) im Gegensatz zu den jüngeren Kindern von den Fachkräften eine Reihe
von Care- und Fürsorge-Aufgaben übertragen, wie bspw. die Mithilfe beim
Zubereiten von Essen sowie das Servieren und Abraumen im ‚Kitarestaurant‘.
Sie sollten jüngere Kinder bei ihren Toilettengängen begleiten, um diese beim
Händewaschen oder Zähne putzen zu unterstützen oder sie sollten die jüngeren
Kinder beim Treppe steigen ‚an die Hand‘ nehmen, wenn bspw. ‚Freispiel‘ auf
dem Außengelände oder ein Ausflug anstand. Die Adressierung der Kinder,
Fürsorge-, Care- und Aufräumtätigkeiten zu übernehmen, lässt sich als wert-
normative Adressierung in beiden beobachteten Einrichtungen interpretieren,
die jenseits von geschlechtlichen Zuschreibungen als allgemeine Aufgabe fun-
giert.
98
Aber auch zu anderen ‚Schwergewichten‘ kultureller Differenzierungen5
neben Geschlecht und Alter, wie Nationalität, Religion, Milieu bzw. Klasse,
Ethnizität, körperliche (Un-)versehrtheit und Leistung ließen sich eigenstän-
dige Beiträge auf der Grundlage unserer Beobachtungsprotokolle verfassen.
Im Folgenden werden entsprechende Differenzierungspraxen aber lediglich
behandelt, wenn sie sich mit der Geschlechterunterscheidung explizit über-
schneiden bzw. kombiniert auftreten.
3.2 Teilnehmende Beobachtung
Im Rahmen der Untersuchung wurden u.a. teilnehmende Beobachtungen und
Ad-hoc-Gespräche mit Kindern und Fachkräften in zwei Einrichtungen in ei-
nem groß- und einem mittelstädtischen Gebiet, in nordöstlich liegenden Bun-
desländern, durchgeführt. Ziel der teilnehmenden Beobachtungen war es, die
Feldteilnehmer*innen so authentisch wie möglich in ihrer natürlichen Umwelt
zu erleben (vgl. Breidenstein et al. 2015: 33) sowie alle Abläufe und Praktiken
insbesondere in Einrichtung I zu beobachten, die für das Forschungsinteresse
des Projektverbundes relevant waren. In der Einrichtung I wurde in einem Zeit-
raum von vier Monaten und zwei Wochen je vier bis sechs Stunden an drei bis
fünf Tagen in der Woche zu zweit in jeweils verschiedenen Kindergruppen
teilnehmend und vertieft beobachtet. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtun-
gen und deren Rekonstruktionen und Interpretationen wurde die teilnehmende
Beobachtung in der Einrichtung II in fokussierender Weise auf eine Kinder-
gruppe begrenzt. Im Rahmen der Untersuchung befassten wir uns nicht nur mit
den Interaktionen des Personals und der Kinder, sondern auch mit den Räumen
und Artefakten, die wir zudem fotografisch festhielten. Aus Platzgründen fin-
den Räume und Artefakte allerdings kaum Berücksichtigung im vorliegenden
Beitrag.
Soziale Ereignisse bzw. Praktiken sind nicht singulär, sondern wiederholen
sich (vgl. ebd.: 76). Demzufolge ermöglichte insbesondere der lange Feldauf-
enthalt in Einrichtung I bspw. das wiederholte Beobachten von nahezu
identisch ablaufenden Ankommens-, Abhol-, und Essenssituationen, mittäg-
lichen Ruhephasen oder auch Toilettengängen, die Durchführung von Morgen-
kreisen und Freispielsituationen in den Innenräumen sowie auf dem
Außengelände in An- oder Abwesenheit des pädagogischen Personals. Ferner
ermöglichte der längere Feldaufenthalt die Umsetzung des anderen Teils der
teilnehmenden Beobachtung, nämlich das ausgiebige Teilnehmen an Situa-
tionen, Handlungen, Spielen oder weiteren Praktiken im Forschungsfeld.
5 Zu den ‚Schwergewichten‘ kultureller Differenzierungen (vgl. u.a. Hirschauer 2014).
99
Einrichtung I
Bei der Einrichtung I handelte es sich um eine altersübergreifende Inklusions-
Kita in einer Großstadt mit hoher Siedlungsdichte in religiöser Trägerschaft.
Die Einrichtung wurde von zwei weiblichen Fachkräften mit einem akademi-
schen Abschluss geleitet und war in einem ‚sozialen Brennpunkt‘ verortet. In
der Einrichtung arbeiteten im Forschungszeitraum neben der weiblichen Lei-
tung und der weiblichen stellvertretenden Leitung 24 weitere weibliche und
vier männliche Fachkräfte. Die Kitaleitung, die für den Träger verantwortliche
Person sowie das Team signalisierten ein großes Interesse an dem Forschungs-
vorhaben. Die beteiligten Akteur*innen verbanden dieses Interesse auch mit
dem Bedürfnis nach einer impliziten bzw. auch späteren expliziten Teamwei-
terbildung. Im Forschungszeitraum wurden auf zwei Etagen 143 Kinder in
neun Gruppen betreut. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde in geschlosse-
nen Gruppen und nicht in teiloffenen Gruppen gearbeitet, wie sonst üblich.
Insgesamt konnten in der Einrichtung I sechs Kindergruppen in unterschiedli-
chen Teamkonstellationen und 83 Kinder (40 Jungen und 43 Mädchen) beo-
bachtet werden. Im Forschungsprozess sind dabei 39 Beobachtungsprotokolle
entstanden.
Einrichtung 2
Bei der Einrichtung II handelte es sich um eine altersübergreifende Inklusions-
Kita in einem mittelstädtischen Gebiet und privater Trägerschaft, die auf drei
Etagen im Forschungszeitraum 171 Kinder in neun Gruppen betreute. Die
Einrichtung wurde von einer männlichen und einer weiblichen Fachkraft mit
einem akademischen Abschluss geleitet und arbeitete trotz der Corona-Pan-
demie teiloffen, weil die Kindergruppen als Etagengruppe in unterschiedlichen
Gruppenräumen zusammengefasst wurden. Im Forschungszeitraum arbeiteten
in dieser Einrichtung neben der weiblichen stellvertretenden Kitaleitung
weitere 22 weibliche Fachkräfte und eine weibliche Praktikantin sowie neben
der männlichen Kitaleitung weitere drei männliche Fachkräfte und ein
männlicher Praktikant. Allerdings war die Einrichtung II nicht in einem
‚sozialen Brennpunkt‘ verortet und das Milieu der Eltern nach Aussage der
Kitaleitung trotz der generellen Heterogenität materiell eher gut ausgestattet.
Ferner signalisierte die Kitaleitung ebenso wie das Team und die für den
Träger verantwortliche Person auch in dieser Einrichtung ein großes Interesse
an dem Forschungsvorhaben. Auch sie verbanden dieses Interesse mit dem
Bedürfnis nach einer impliziten bzw. auch späteren expliziten Teamweiterbil-
dung. In Einrichtung II wurden in einer Kindergruppe 22 Kinder (11 Mädchen
und 11 Jungen) beobachtet, die von einer weiblichen und einer männlichen
Fachkraft betreut wurden. Im Forschungsprozess sind dabei elf Beobachtungs-
protokolle entstanden.
100
Kindheitssoziologische und erziehungswissenschaftliche Perspektive
Generell nahmen wir in der Untersuchung eine kindheitssoziologische und er-
ziehungswissenschaftliche Perspektive ein: Denn was die soziologische Kind-
heitsforschung als kompetente kulturelle Alltagspraxis hervorhebt,
„erkennt der erziehungswissenschaftliche Blick als Lernen. Verknüpft man beide erkennt-
nistheoretischen Zugänge miteinander, so gerät der Betreuungsalltag als Lernkontext in den
Blick, der Kinder alltäglich vor Aufgaben und Herausforderungen stellt, die sie lernend be-
waltigen“ (Bollig et al. 2016: 9).
Der Betreuungs- und Erziehungsalltag in Kindertageseinrichtungen lässt sich
auch als informeller Lernkontext definieren (vgl. u. a. Bollig et al. 2016).
Kinder lernen generell in Bildungseinrichtungen und somit auch in
Kindertageseinrichtungen nicht nur das, was explizit Gegenstand von Lehr-
und Bildungsplänen ist, sondern vieles andere mehr und nebenher. Mit
informellem Lernen wird ein nichtdidaktisiertes, häufig unabsichtliches und
selbstgesteuertes Lernen bezeichnet. Kinder lernen, was in Kindertagesein-
richtungen bzw. insbesondere im kollektiven Gruppensetting ‚padagogisches
Programm‘ und zugleich praktische Erfordernis ist und bewältigen auch
vielfältige Anforderungen und Herausforderungen, die mit der Relevanz von
Humandifferenzierungen und deren Bewertungen einhergehen (vgl. ebd.). So
stehen Kinder bereits in der frühen Kindheit vor der Herausforderung, sich in
einer modernen meritokratischen Gesellschaft als Individuum hervorzubrin-
gen, in der es sowohl ‚legitim‘ ist, das Güter ungleich verteilt sind, es also
‚reiche‘ bzw. ‚reichere‘ und ‚arme‘ bzw. ‚armere‘ erwachsene Menschen und
auch Kinder, also folglich auch Familien- und Kinderreichtum sowie Familien-
und Kinderarmut gibt als auch nach besseren und schlechteren Leistungen
skaliert, nach zwei Geschlechtern, unterschiedlichen Nationalitäten, Norma-
lem und Deviantem, ‚Gut‘ und ‚Böse‘ usw. eingeteilt und klassifiziert wird.
Die Untersuchung zeigt, dass Kinder in Kindertageseinrichtungen und vor dem
Hintergrund gesellschaftlicher Humandifferenzierungen vor der alltäglichen
Herausforderung stehen, nicht nur herauszufinden und zu lernen, welche
Praktiken in welchen Kontexten, Situationen und Settings angemessen und
erfolgversprechend sind, sondern auch, welche Humandifferenzierungen
gesellschaftlich relevant oder auch weniger relevant sind. Zu dieser
kompetenten Aneignung gehört auch das Erlernen der Bedeutung gesellschaft-
licher Geschlechterkonstruktionen inklusive des ‚Einsozialisierens‘ in die
Institution ‚Heterosexualitat‘, d.h. „die gesellschaftliche Pramierung von
geschlechtsungleichen Paaren“ (Hirschauer 2017: 40), deren Vermittlung in
den Alltagspraxen zudem häufig mit einer Naturalisierung einhergeht. Im
Gegensatz zu anderen Differenzierungspraxen, zielt die Differenzierung nach
Geschlecht generell auf die Herstellung von heterosexuellen Paaren und nicht
auf die Herstellung von Kollektiven (z.B. Ethnizität, Nationalität und Religion)
oder Individuen (z.B. Leistung) (vgl. Hirschauer und Boll 2017: 7 ff.).
101
Analytical Note – „Jungen rennen nur rum und wissen nicht, was sie spielen
sollen“
Im Folgenden wollen wir mittels eines Auszugs aus einer Analytical Note kurz
unsere Praktiken des wissenschaftlichen Arbeitens veranschaulichen und einen
Einblick in unsere Denk- und Arbeitsprozesse gewähren. Beim Bearbeiten ei-
nes Beobachtungsprotokolls stolperte einer von uns Forschenden gedanklich
über die Äußerung einer pädagogischen Fachkraft, die diese im Rahmen eines
Ad-hoc-Gesprächs machte:
Sie fände es schade, dass die Jungen nur rumrennen würden und nicht wüssten, was sie spie-
len sollen. Weiterhin führte sie aus, dass sie und ihre Freundinnen als Kinder immer Spieli-
deen gehabt und sich sogar Spiele ausgedacht hätten.
Interessanterweise hatte der Forschende jedoch entgegen dieser Darstellung im
Vorfeld des Gesprächs beobachtet, wie drei Jungen über einen längeren Zeit-
raum ein Rollenspiel inszenierten und weitere zwei Jungen (aus seiner Sicht)
kreativ eine Matratze für diverse Bewegungsspiele und Körpererfahrungen
nutzten. Sie beschäftigten sich beispielsweise mit dem Ausbalancieren des
Gleichgewichts und mit der grobmotorischen Koordinierung ihrer Arme,
Beine und des Oberkörpers. Als Analytical Note wurde folgende Bemerkung
festgehalten:
Warum erzählt mir Fachkraft A. das? Ihre Aussagen finde ich bemerkenswert, da die Jungen
in der Gruppe zumindest an diesem Tag eben nicht nur „rumgerannt“ sind, sondern auch
anderen Tätigkeiten nachgingen (Rollenspiel, Memory spielen). Zwar hatten einige
Tätigkeiten durchaus Bewegungscharakter (z. B. auf der Matratze balancieren, während
diese hin und her geschoben wird), stellen aber aus meiner Sicht durchaus eine Spielaktivität
dar (rennen übrigens auch). Was versteht die Fachkraft unter „spielen“? Warum versteht sie
in dem Gespräch mit mir bestimmte Bewegungsaktivitäten (von Jungen) nicht als Spiel?
Ggf., weil sie die Lautstärke und die raumgreifenden Tätigkeiten, die mit gewissen
Bewegungsspielen (einiger der Jungen) verbunden sind, stresst? Inwieweit beeinflussen ihre
eigenen biografischen Spieleerfahrungen ihre aktuelle Definition von „spielen“? Ich nehme
mir zum einen vor, stärker darauf zu achten, was für sie spielen ist, welche Spiele sie fördert
bzw. unterbindet und ob sich die Bewegungsspiele von (einigen) Mädchen von denen
(einiger) der Jungen unterscheiden, bzw. wie sie auf bestimmte Bewegungsspiele von
(einigen) der Jungen bzw. (einigen) der Mädchen reagiert. Zum anderen interessiert mich,
was andere Fachkräfte unter Spielen verstehen? Lassen sich diesbezüglich Definitions- und
Umgangsweisen kontrastieren? (Drittes Beobachtungsprotokoll, Forscher A., Einrichtung I,
graue Gruppe: 4).
Neben dem hier skizzierten Einblick in die konkreten Praktiken des For-
schungsteams bzw. in die Arbeits- bzw. Denk- und Schreibprozesse, verweisen
die dargestellten Passagen auf übliche Verfahrensweisen, wie das Schreiben
von Analytical Notes in der Ethnografie sowie auf die komparative Analyse,
mit der in forschungspraktischer Hinsicht Bezug auf die ‚Grounded Theory‘
genommen wird, als auch auf das Konzept der „Befremdung der eigenen Kul-
tur“ (Hirschauer und Amann 1997), das die methodologische Grundlage dafür
102
bietet, ethnografische Untersuchungen auch und gerade in jenen Feldern
durchzuführen, die scheinbar sehr vertraut sind. Darüber hinaus wird in den
dargestellten Passagen auch deutlich, dass bereits „im Alltag und nicht erst von
Seiten der [Forschenden] […] Interpretationen erbracht, Typen gebildet und
Theorien konstruiert [werden]“ (Bohnsack und Marotzki 1998: 7). Damit im
Zusammenhang steht, dass zwischen der Betrachtungs- und Interpretations-
weise der Forschenden und der zu Beforschenden in der Regel eine grundle-
gende Differenz besteht, die vom Forschungsteam mit Neugier, wie anhand
der Analytical Note exemplarisch vorgeführt, systematisch in den empirischen
Forschungsprozess einbezogen wurde.
4 Empirische Befunde
4.1 Diverse Zusammensetzung des Personals, der Eltern und Kinder
Vor dem Hintergrund gängiger Kategorisierungen und Differenzierungen
waren sowohl die Zusammensetzung des pädagogischen Personals und anderer
dort tätiger Personen als auch die Zusammensetzung der Kinder und deren
Herkunftsfamilien sehr heterogen. So wurde bspw. im Vorfeld der Beobach-
tungen auf Wunsch der Kitaleitung in Einrichtung I von uns ein leicht
verständlicher Elternbrief verfasst, in dem die geplante Untersuchung vorge-
stellt wurde, und die Eltern unter anderem darum gebeten wurden, zuzustim-
men, dass ihre Kinder teilnehmend beobachtet und ggf. im Rahmen von Ad-
hoc-Gesprächen interviewt werden. Dieser Brief wurde ebenfalls auf Wunsch
der Kitaleitung in neun Sprachen übersetzt (arabisch, chinesisch, englisch,
französisch, italienisch, polnisch, russisch, spanisch und türkisch).
Auch wurden die Fachkräfte bspw. institutionell nach organisationsbezo-
gener hierarchischer Position6 resp. Berufsausbildung7 differenziert. Die beo-
bachteten Kinder wurden von der Institution und den Fachkräften bspw. in Na-
menslisten, Entwicklungsdokumentationen, Lernsprachtagebüchern, in der
Kommunikation mit den Kindern oder in Ad-hoc-Gesprächen mit uns den For-
schenden anhand unterschiedlicher Kriterien unterschieden. Herangezogen
wurde etwa Geschlecht, Alter, Milieuzugehörigkeiten, Hautfarbe, Religions-
zugehörigkeit oder keine, Inklusionsstatus oder keiner als auch die Kategorien
6 Kitaleitung, stellvertretende Kitaleitung, Gruppenleitung, Springerkraft, also Fachkräfte, die
jeweils in den Kindergruppen eingesetzt werden, in denen nicht genügend pädagogisches
Personal vorhanden ist, Zweit- und Ergänzungskraft.
7 Sozialpädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Kindheitspädagog*innen, Erzieher*innen,
Quereinsteiger*innen mit und ohne berufsbegleitende Ausbildung, Hauswirtschaft und Tech-
nischer Bereich, Praktikant*innen.
103
Krippenkind, ‚KiTakind‘, ‚Vorschulkind‘ und ‚Sorgenkind‘8, Entwicklungs-
stand oder Temperament.
Die Zusammensetzung des pädagogischen Personals und anderer dort täti-
ger Personen als auch der Kinder und deren Herkunftsfamilien in Einrichtung
II waren ebenfalls sehr heterogen. Ebenso wie in Einrichtung I wurden sowohl
die Fachkräfte institutionell als auch die Kinder institutionell und von den
Fachkräften in diversen Kontexten nach vielfältigen Kriterien unterschieden.
In dieser Einrichtung bedurfte es laut der Kitaleitung, obwohl die Kinder und
Herkunftsfamilien auch hier sehr ‚international‘ zusammengesetzt waren,
bspw. nur einen Elternbrief in deutscher Sprache.
4.2 Un/doing gender im (Vor-)Feld von Kindertageseinrichtungen
Kinder müssen sich bereits in der frühen Kindheit in je individuell unterschied-
lich-eigensinniger Weise sowohl mit gesellschaftlichen Vorstellungen von
Männlichkeit und Weiblichkeit als auch mit Wünschen und Erwartungen an
Männlichkeit und Weiblichkeit auseinandersetzen. Dieser Tatbestand gilt
unabhängig davon, ob sie dies bewusst oder unbewusst tun bzw., ob sie dies
wollen oder nicht wollen. Die gegenwärtige kulturelle Vermittlung des
zweigeschlechtlichen Ordnungssystems beginnt für Kinder im zeitlichen
Vorfeld von Kindertageseinrichtungen, insbesondere mittels der gegenderten
Praxen in der Familie, Spielwaren- und Kleidungsindustrie, der Sprache
(Kategorien, Grammatiken), den Rufnamen sowie (sozialer) Medien und
Werbung. So stehen sowohl die Personalpronomen sie und er und zweige-
schlechtliche Bezeichnungen für Familienangehörige wie Mutter/Vater,
Bruder/Schwester und Oma/Opa kulturell r eine bedeutungsvolle, gender-
isierte Differenzierung (vgl. Nübling 2017) als auch das Gendermar-keting in
der Werbung, Spielwaren- und Kleidungsindustrie oder das Vergeben von
geschlechtsbezogenen Rufnamen, die notwendig sind, sobald Menschen
individualisiert werden (vgl. ebd: 311). Grammatiken, zweigeschlechtliche
Paarbenennungen und geschlechtsbezogene Rufnamen, aber auch der Klei-
dungsstil oder die Haartracht, Haaraccessoires, Schmuck und Schminke
gehören zu den Praktiken, mit denen Menschen die Erkennbarkeit von Per-
sonen in alltäglichen Interaktionen bzw. die Erkennbarkeit des Geschlechts
dieser Personen sozial (ab-)sichern (vgl. ebd.: 307). Diese Praxen bilden für
Kinder in den ersten Lebensjahren und im Vorfeld von Kindertagesein-
8 Es gab Kinder, die die Fachkräfte zu bestimmten Zeiten immer im Blick hatten, weil sie ihnen
‚das Leben gerade schwer‘ machten oder sich die Fachkräfte um das Kindeswohl sorgten.
Zum Beispiel als ein zweijahriges Madchen immer ‚weg‘ lief. Aber auch, wenn Kinder sich
nicht in die Gruppe integrierten resp. integrieren ließen, körperliche Fehlstellungen z.B. der
Hüfte entwickelten oder Kinder zu Hause ‚zu viel‘ Netflix, eine Online-Plattform für Filme
und Serien schauten bzw. Fortnite, ein Online-Wettkampfcomputerspiel das erst ab 12 Jahren
freigegeben ist, spielten.
104
richtungen die grundlegende Basis zur Wahrnehmung, Internalisierung und
Hervorbringung eigener Geschlechterunterscheidungen.
Die Untersuchung zeigt, dass dieses ‚(Vor-)Wissen‘ der Kinder zur gesell-
schaftlichen Bedeutung, Relevanz und Repräsentanz von Zweigeschlechtlich-
keit aus dem Vorfeld des Besuchs von Kindertageseinrichtungen in beiden be-
obachteten Einrichtungen verstetigt wurde. So markiert auch in Kindertages-
einrichtungen jeder Satz, vermittelt durch die Personalpronomen der 3. Person
Singular er und sie, das Geschlecht. Ebenfalls wird der Rufname, der Klei-
dungs- und Haarstil der Kinder im Vorfeld des Besuchs von Kindertagesein-
richtungen durch die Eltern und dem gendermarketing (vor-)bestimmt, jedoch
zugleich in diese hineingetragen.
Rufnamen
Rufnamen sind „gehartete soziale Marker, die in der Regel Mehrfachzuge-
hörigkeiten indizieren, zuvörderst Geschlecht“ (Nübling 2017: 312). Denn
Rufnamen ist die Zweigeschlechtlichkeit rechtlich eingeschrieben und erst
wenn das Geschlecht des Kindes festgelegt wird, folgt die namentliche
Benennung, die die Neugeborenen in eine der beiden Geschlechtsklassen ein-
ordnet. Traditionell transportieren Rufnamen stereotype Geschlechterbilder.
Weibliche Rufnamen sind in der Tendenz symbolisch mit Verniedlichungen
bzw. Kleinheitsstereotypen und Schönheit konnotiert und männliche Ruf-
namen mit Stärke, Tapferkeit, Mut und Macht. Obwohl gendermarker sich in
Deutschland zunehmend enthärten, werden hierzulande mit Verweis auf die
Beeinträchtigung des Kindeswohls inverse Namenvergaben nach wie vor
abgelehnt und echte geschlechtsneutrale Rufnamen sind selten (vgl. ebd.).
Im Rahmen der Untersuchung wurde von uns eine Namenanalyse der Kin-
der und Fachkräfte vorgenommen. Die Analyse zeigt, dass auch aktuelle Ruf-
namen, wie beschrieben, häufig stereotype Geschlechterbilder transportieren.
So waren sowohl die Rufnamen der Mädchen als auch des weiblichen Perso-
nals in der Tendenz symbolisch mit Verniedlichungen bzw. Kleinheitsstereo-
typen und Schönheit konnotiert und die Vornamen der Jungen sowie des männ-
lichen Personals mit Stärke, Tapferkeit, Mut und Macht. Der Rufname Melek
kann bspw. von beiden Geschlechtern getragen werden, hat aber bei Mäd-
chen/Frauen die Bedeutung ‚Engel‘ und bei Jungen/Manner die Bedeutung
‚Besitzer‘ oder ‚König‘.9 Rufnamen gehören zu den Differenzierungen, die ge-
schlechtsbezogene Selbstkategorisierungen der Kinder verstärken und in der
Regel Geschlechtsidentitäten, die außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit liegen
unsichtbar machen. Zudem bindet sich die geschlechterstereotype Bedeutung
der Rufnamen in asymmetrischer Weise an die Geschlechterunterscheidung
9 Siehe hierzu https://www.vorname.com/
105
und verstärkt diese.10 Ferner enthielten die Rufnamen der Kinder in beiden Ein-
richtungen neben der Geschlechtsauskunft auch Informationen zur Klassen-
lage, Religionszugehörigkeit, Nationalität und Ethnizität der Kinder bzw. der
Eltern. Informationen zur Religionsangehörigkeit wiesen die Rufnamen insbe-
sondere in Einrichtung I auf. Rufnamen ‚laufen‘ in Kindertageseinrichtungen
eher im Hintergrund der Praxen mit und hatten keine zu beobachtenden hierar-
chisierenden Auswirkungen auf die Interaktionen von Mädchen und Jungen.
Zudem hatten in der Einrichtung II eine Reihe von Kindern und in Einrichtung
I einige Kinder entstereotypisierende bzw. Geschlecht neutralisierende Rufna-
men. Dieser Befund lässt sich in die Richtung interpretieren, dass die Neutra-
lisierung geschlechterstereotyper Rufnahmen in einem wahrscheinlichen Zu-
sammenhang mit der Klassenlage und Religionszugehörigkeit der Eltern stan-
den.
Äußere Erscheinung
Der Kleidungsstil gehört ebenfalls zu den Differenzierungen, die geschlechts-
bezogene Selbstkategorisierungen der Kinder stärken, weil sie Zweige-
schlechtlichkeit markieren und identifizierend wirken. Der Kleidungsstil von
Mädchen und Jungen sowie des weiblichen und männlichen Personals unter-
schied sich in den beobachteten Einrichtungen gravierend. Insbesondere bei
den Kindern entsprach der Kleidungsstil im Großen und Ganzen den gängigen
Geschlechterstereotypen. Das weibliche Bekleidungsstereotyp umfasst Aspek-
te wie Natur, ‚süß‘, ‚schön‘, bezaubernd sowie vielfaltig bunt. Der männliche
Stereotyp bezieht sich auf Kultur, ‚Action‘, Abenteuer, Starke und Coolness
sowie Einfarbigkeit. Jungen und männliches Personal trugen tenden-ziell
einfarbige blaue oder schwarze Kleidungsstücke. Mädchen und weibliches
Personal bevorzugen tendenziell mehrfarbige Kleidungsstücke, wobei rot,
rosa, pink, gelb und bunt dominierte.11 Die Praktiken der Geschlechterunter-
scheidung fanden ihren Ausdruck zudem in dem Tragen (oder nicht Tragen)
von Kleidern, Badeanzügen, Bikinis sowie Röcken, teilweise mit Rüschen. Die
Mädchen und/oder das weibliche Personal trugen diese Kleidungsstücke, die
Jungen und das männliche Personal dagegen nicht.
Auch die Bildmotive und Schriftzüge auf den jeweiligen Kleidungstücken
insbesondere der Kinder unterschieden sich deutlich voneinander. Jungen tru-
gen Motive wie Autos, Feuerwehr, Monster Trucks, Dinosaurier, Superhelden
(Batman, Spider-Man, Hulk mit dem Schriftzug: Strong), Roboter, Bob der
Baumeister, weißer Hai, Star Wars und Paw Patrol, Cowboy mit Lasso oder
10 Zur asymmetrischen Verstärkung der Geschlechterunterscheidung vgl. Nübling (2017).
11 Farbliche Differenzierungen sind ein gutes Beispiel für die Kontingenz und Temporalität
menschlicher Differenzierungen (vgl. Hirschauer 2017). So sind die Farben Rot, Rosa und
Pink gegenwärtig stereotyp weiblich bzw. mit Mädchen konnotiert. In der Vergangenheit galt
das genaue Gegenteil.
106
Lucky Luke. Die Schriftzüge der Kleidungstücke der Jungen waren bspw. „Po-
lizei“, „Be strong – every day“, „Don’t hurry, be happy“, „Wild West“, „WE
are the wild one“ oder etwa „I am the Boss“, wobei der Buchstabe o in dem
Wort Boss durch einen Fußball symbolisiert wurde. Die Bildmotive der Mäd-
chen umfassten dagegen Pflanzen und Tiere, Strandmotive, Einhörner, die Ei-
sprinzessin, Feen oder Minions. Bildmotive von Wonder-Woman oder Super-
Woman waren nicht beobachtbar. Ein Mädchen trug jedoch an einigen Tagen
ein T-Shirt mit einem Motiv von Pippi-Langstrumpf. Die Schriftzüge waren
bspw. “Girl”, “Sweet”, “Little friends”, “Today is a gift”, “Let the flowers
grow” sowie “I am the next big thing”.
Diese Bild- und Schriftsprache adressiert Kinder in einer geschlechtsbezo-
gen unterschiedlichen Art und Weise. Jungen werden insbesondere mit Stark-
Sein, Mutig-Sein, Groß-Sein und Wild-Sein sowie durch kulturelle Artefakte
adressiert. Mädchen werden insbesondere mit Schön-Sein, Süß-Sein und Be-
zaubernd-Sein sowie mit der Natur adressiert. Ferner zeigten sich die hier dar-
gestellten Unterschiede ebenfalls in den Farben, Motiven und Schriftzügen auf
Rucksäcken, Brotboxen und Trinkflaschen der Kinder.
Die Geschlechterunterscheidungen der Kinder wiesen zudem unterschiedl-
ich starke Mobilisierungsgrade in ihren Praktiken auf, die sich insbesondere an
den Kombinationen der Kleidungsstücke mit Farben, Bildmotiven, Haartracht
und Haaraccessoires zeigten.12 Das heißt, die Kombination eines pinken Kleids
mit Rüschen, auf dem ein glitzerndes „Sweet Girl“ steht, hat bei Madchen
einen stärkeren Mobilisierungsgrad der Geschlechterdifferenzierung (und
wirkt daher weniger neutralisierend), als die Kombination blaue Jeans und
weißes T-Shirt mit einem bunten Blumenmotiv. Der Mobilisierungsgrad kann
ebenfalls durch die Verwendung entsprechender Frisuren und Haaraccessoires
variiert werden.
Insbesondere bei den Mädchen und beim weiblichen Personal zeigten sich
in Bezug auf den Kleidungsstil aber auch eine Reihe von Praktiken des un-
doing gender. So trugen Mädchen und das weibliche Personal nicht jeden Tag
geschlechterstereotype Kleidungsstücke, sondern ebenso blau oder schwarz
sowie oftmals Hosen. Bei Jungen und dem männlichen Personal konnte dage-
gen nicht beobachtet werden, dass deren Kleidungsstücke nicht den gängigen
Stereotypen entsprachen. Beobachtet wurde zudem, wie einige der Kinder
zwar irritiert reagierten, als ein Mädchen, das zuvor lange Haare trug, stattdes-
sen mit kurzen Haaren in die Kindertageseinrichtung kam, diese sich aber un-
beirrt zeigte.13
12 Zu unterschiedlichen Mobilisierungsgraden der Geschlechterunterscheidung vgl. Hirschauer
(2001).
13 Vorausgesetzt das Beobachtungen eine solche Aussage überhaupt rechtfertigen können, da
Irritationen bzw. intrapersönliche Konflikte nicht notwendigerweise von außen beobachtbar
sind.
107
Ferner wurde in einem Ad-hoc-Gespräch mit einer der pädagogischen
Fachkräfte davon berichtet, dass einer der Jungen zu einem früheren Zeitpunkt
häufiger mit pinker Kleidung in die Kindertageseinrichtung gekommen sei,
woraufhin ein Teil der anderen älteren Kinder mit Abwertung reagierten und
der Junge seinen Kleidungsstil änderte. Dies weist auf einen Befund hin, den
bereits Melanie Kubandt (2016) herausgestellt hat. Neutralisierungen von ste-
reotypen Geschlechterunterscheidungen bzw. individuelle geschlechtsbezo-
gene Umgangsweisen der Kinder stoßen bereits in Kindertageseinrichtungen
immer dann an Grenzen, wenn das soziale Umfeld (hier in der Regel die
Gruppe der Gleichaltrigen bzw. der älteren Kinder) auf diese Umgangsweise
nicht nur irritiert, sondern kritisch-abwertend reagiert (vgl. ebd.: 284).
Die stärker geschlechtsbezogenstereotype Kleidungspraxis der Jungen und
des männlichen Personals lässt sich dahingehend interpretieren, dass der Druck
des sozialen Umfeldes einen nicht-geschlechtsadäquaten Kleidungsstil negativ
zu bewerten Jungen und Männer stärker (be-)trifft, als Mädchen und Frauen.
Dieser Druck kann teilweise auch von den Jungen als sehr dramatisch empfun-
den werden. Dies zeigte sich bspw. in einer Situation, in der sich ein dreijähri-
ger Junge ‚einpullerte‘ und keine Wechselunterhose dabeihatte. Als ihm die
Fachkraft eine blaue Unterhose anziehen wollte, wehrte er sich weinend, da
diese vorne eine ‚Elsa‘ als Bildmotiv in pink abgebildet hatte, weil das „eine
Madchenunterhose ist“, wie er meinte. Erst als eine andere Fachkraft hinzukam
und vorschlug, „du kannst doch eine Hose drüberziehen“, beruhigte sich der
Junge und zog die Unterhose an. Bei der Reaktion des Jungen handelte es sich
also offensichtlich um einen Widerstand bzw. eine Abwehr des Jungen, die mit
einer Angst vor der Bewertung und Beurteilung bzw. der Klassifizierung durch
andere Kinder einherging. In einem Ad-hoc-Gespräch mit den beiden Fach-
kräften brachten diese dem Forschenden gegenüber ihre Verwunderung zum
Ausdruck, dass diese Differenzierung bzw. die Angst davor, den Praktiken der
Geschlechterunterscheidungen nicht zu entsprechen, schon bei Kindern in die-
sem Alter vorherrsche.
Haartracht, Haaraccessoires, Schmuck und Schminke gehören ebenfalls zu
den Differenzierungen, die geschlechtsbezogene Selbstkategorisierungen der
Kinder stärken, weil sie Zweigeschlechtlichkeit markieren und identifizierend
wirken. So trugen nahezu ausnahmslos das weibliche Personal und die Mäd-
chen lange Haare, wohingegen das männliche Personal und Jungen kurze
Haare trugen. Zudem verwendeten Mädchen und das weibliche Personal eine
Reihe von Accessoires in den Haaren (Spangen, Haarreifen oder Haargummis
in verschiedenen Variationen). Das männliche Personal und Jungen verwen-
deten diese Accessoires dagegen nicht. Wenn diese etwas auf dem Kopf tru-
gen, dann Basecaps mit ähnlichen Motiven und Schriftzügen wie auf den T-
Shirts. Mit der Ausnahme von religiösen Symbolen (Kopftuch, Halsketten)
und Armbanduhren wurde Schmuck und Schminke ebenfalls nur vom weibli-
chen Personal verwendet.
108
4.3 Un/doing gender in den Praktiken der Fachkräfte
Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Kinder in beiden beobachteten Einrich-
tungen sowohl von der Institution, den Fachkräften als auch von einigen Räu-
men und Artefakten nach Geschlecht unterschieden wurden. Ferner konnten in
beiden Einrichtungen bzw. allen sieben Kindergruppen eine Reihe von Prakti-
ken des doing gender beobachtet werden. Allerdings wurde im Verhältnis zu
den vielfältigen Lern- und Bildungsvermittlungen durch die Fachkräfte die
Mitgliedschaftskategorie ‚Geschlecht‘ eher selten aktiviert und ruhte in der Re-
gel.
Aktualisierungen der Kategorie Geschlecht bzw. Differenzierungen nach
Geschlecht durch die Fachkräfte dienten in der Regel der Lösung von
Organisationsproblemen bzw. der Komplexitatsreduktion („Jetzt gehen schon
mal alle Jungen in den Vorraum und ziehen sich die Schuhe an“) oder
fungierten als Bildungsaufgabe („Bitte zahle mal alle Jungen in der Gruppe“;
„Jetzt singen mal nur die Jungen“) und gingen nicht mit Ab- oder Aufwertun-
gen einher. Jedoch markiert jeder Akt des doing gender bzw. jede Aktualisie-
rung der Geschlechterunterscheidung Zweigeschlechtlichkeit die geschlechts-
bezogene Selbstkategorisierung und Identifizierung der Kinder und macht
Geschlechtsidentitäten, die außerhalb der Zweigeschlechtlichkeit liegen,
unsichtbar.
Ferner ließen sich eine Reihe von Sequenzen beobachten, in denen die
Vermittlung von Geschlechterbildung durch die Fachkräfte in Form der Neu-
tralisierung von Geschlechterstereotypen geschah („Wer sagt denn, dass
Mädchen kurze und Jungen lange Haare haben müssen? Ist ein Mädchen mit
kurzen Haaren kein Madchen? Ist ein Junge mit langen Haaren kein Junge?“).
Insbesondere in den Situationen, in denen Geschlechterunterscheidungen
mit der positiven Anerkennung („Beschützerinstinkt“, „hübsch siehst du heute
aus junge Dame“), negativen Bewertung oder mit Ermahnungen einhergegan-
gen sind („nicht rennen!“; „Jungs spielt doch mal was Vernünftiges!“, „Keine
Waffen!“), kam es zu Unterscheidungen, die in asymmetrischer Weise an die
Geschlechterunterscheidung angebunden waren und diese dadurch verstärk-
ten. Auch die Adressierung von vier Jungen einer Fachkraft als „vier starke
Jungs“ drückt nicht nur Wertschatzung aus, sondern verstarkt zugleich die ge-
schlechtsbezogene Selbstkategorisierung und Identifizierung der Jungen sowie
das Geschlechterstereotyp, Jungen seien stark. Zudem wird den Jungen impli-
zit nahegelegt, sie müssten „stark“ sein. Das positive Beziehen einer Fachkraft
auf das Aussehen (Kleidung, Haare) von Mädchen drückt nicht nur Wertschät-
zung aus, sondern verstärkt zugleich die geschlechtsbezogene Selbstkategori-
sierung und Identifizierung der Mädchen und das Geschlechterstereotyp,
‚Frauen seien das schöne Geschlecht‘ bzw. Madchen müssten ‚schön‘ sein. In
diesen Beispielen wird zudem eine körperbezogene relationale Differenz
109
(Kraft bzw. Stärke vs. Schönheit) zwischen Jungen und Mädchen interaktiv
hervorgebracht.
Auf geschlechterdifferenzierende Adressierungen des pädagogischen Per-
sonals erfolgten häufig auch Neutralisierungspraktiken der Kinder, bspw. in-
dem diese den Aufforderungen, die mit den Adressierungen einhergingen, in
einer eigensinnigen Art und Weise nicht Folge leisteten. So rief ein Mädchen
der padagogischen Fachkraft zu, „dass auch sie stark sei“ oder zwei Madchen
liefen einem Ball hinterher, obwohl die Fachkraft sagte „Jungs, da liegt der
Ball.“.
4.4 Un/doing gender in den Praktiken der Kinder
Nicht nur in den Praktiken der Fachkräfte werden Aktualisierungen oder Aus-
setzungen von Geschlechterunterscheidungen sichtbar, sondern auch in den
Praktiken der Kinder. Im Forschungszeitraum der Untersuchung konnte zudem
kein Kind beobachtet werden, dass selbst explizit nicht als Junge oder Mäd-
chen wahrgenommen werden wollte.
Spielen mit Artefakten
Ein genereller Vergleich aller Kindergruppen in beiden Einrichtungen zeigt,
dass Mädchen und Jungen die ganze Bandbreite vorhandener Spiele und Spiel-
materialien und alle zur Verfügung stehenden Räume nutzten. Mit Ausnahme
des Spielens einiger jüngerer Jungen mit imaginierten oder selbst zusammen-
gebauten Waffen in der Einrichtung I gab es keine Spiele bzw. Spielmateria-
lien, mit denen ausschließlich Mädchen oder Jungen spielten.14 In den Be-
obachtungen zeigte sich, dass Mädchen wie Jungen neben Bastel-, Brett- und
Rollenspielen sowie der Nutzung diverser Spielgeräte in den Bewegungsräu-
men und auf dem Außengelände ebenfalls mit Autos, Pferdefiguren, Bauklöt-
zen, Barbies, Superheld*innen Figuren, Puppenwagen, Feen, Bastel- und Bau-
arbeiter-Materialien, etc. spielten.
Die Beobachtungen in beiden Einrichtungen zeigten allerdings, dass Mäd-
chen bzw. Jungen mit bestimmten Spielen und Spielmaterialien tendenziell
häufiger spielten (vgl. ebenfalls Rohrmann 2008; Vogt et al. 2015; Brandes et
al. 2016). Mädchen spielten tendenziell häufiger mit Puppen und Barbies, Pup-
penwagen, Pferdefiguren und Schminkutensilien. Jungen spielten tendenziell
häufiger mit Autos, Legobausteinen, Superhelden-Figuren oder Playmobil.
Auch hier zeigt sich, ebenso wie bei den Bildmotiven die Vergeschlechtli-
chung von Natur und Kultur. Ferner variierten die Spielpraxen mit manchen
Artefakten in beiden Einrichtungen in ihrer Intensität. So spielten Mädchen mit
14 In der Einrichtung zwei wurde das Spielen mit imaginierten Waffen bzw. mit Spielzeug-
waffen nicht beobachtet.
110
diversen Spielzeugautos, aber im Vergleich zu den Jungen, war das Spiel in
der Regel weniger zeitintensiv oder wurde eher unterbrochen und zu einem
späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen.
Beim Spielen der Kinder (ko-)existierten diverse Praxen des doing und des
undoing gender in unterschiedlichen Kindergruppen sowie zu unterschiedli-
chen Zeiten innerhalb derselben Kindergruppe. So konnte bspw. der Puppen-
wagen für die Kinder explizit weiblich konnotiert sein und somit zugleich in
diesem Kontext und in dieser Situation ein no go für die Jungen. Allerdings
konnte zu einem anderen Zeitpunkt oder in einer anderen Kindergruppe der
Puppenwagen als geschlechtsneutral‘ gelten, sodass Madchen wie Jungen
selbstverständlich mit dem Puppenwagen spielten. Gleiches galt auch für Bar-
biepuppen oder für andere Artefakte, die farblich und motivisch eindeutig ge-
schlechtlich konnotiert waren. Dies zeigte sich etwa in einer Sequenz, in der
ein dreijähriges Mädchen beim Freispiel auf dem Außengelände, mit einem
lila Roller auf einen der beiden Forschenden zufuhr, auf die bunten Blumen
zeigte, die auf der Lenkstange gemalt waren und sagte: „Der Roller ist für
Madchen.“. Kurze Zeit spater allerdings beobachtete der Forschende, wie der
Roller von einem Jungen zum Fahren genutzt wurde.
Die Beobachtungen zeigten zudem, dass Artefakte wie bspw. Barbiepup-
pen für Kinder nicht generell die gleiche geschlechtliche Konnotation haben
müssen, wie das für Erwachsene gilt. So warfen zwei dreijährige Jungen eine
Barbiepuppe in die Luft und erklärten in einem Ad-hoc-Gespräch auf eine
Nachfrage des Forschenden, dass die Puppe Spider-Man sei, der gerade Men-
schen aus einem brennenden Haus rettet. Die weibliche Konnotation der Bar-
biepuppe, die diese für erwachsene Personen und temporär auch für Kinder
hat, wird in dieser Situation in eigensinniger Weise von den Jungen neutrali-
siert bzw. vermännlicht (Spider-Man). Das Spielen der Jungen mit Superhel-
den-Figuren, so lasst sich interpretieren, steht in erster Linie für ‚Action‘ und
Coolness, wobei sich die Jungen mittels der Spider-Man-Figur als ‚coole Men-
schenretter‘ hervorbringen, indem sie Superhelden imitieren. Aus der Perspek-
tive einer Männlichkeitsforschung ist die Interpretation naheliegend, dass die
Konnotationen eines Superhelden (Autonomie, Unverletzlichkeit, Stärke, Mut,
Schläue, Witz und Körpereinsatz als mögliche Problemlösestrategie), die in
diesem Alter der Jungen wahrscheinlich noch unbewusste Attraktivität der ei-
gensinnigen Uminterpretation der Barbiepuppe für die Jungen ausmacht. Zu-
dem spenden Superhelden-Figuren den Jungen offensichtlich Spaß im spiele-
rischen Alltag. Der Akt, Menschen aus einem brennenden Haus zu retten, stellt
den normativen Rahmen, wobei ebendiese normative Rahmung eine starke Re-
levanz für die Jungen hat. In einer Sequenz etwa trug ein dreijähriger Jungen
ein Batman-Motiv auf seinem T-Shirt und ein älteres Mädchen sagte zu dem
Jungen, „Batman ist böse, er kampft gegen Menschen“. Daraufhin wandte sich
der Junge aufgebracht und mit Tränen in den Augen an einen der beiden For-
schenden und meinte „Sie hat falsch gesagt. Batman ist gut und rettet doch
111
Menschen“. In anderen Ad-hoc-Gesprächen mit Jungen zeigte sich ebenfalls
das normative Motiv, dass Superhelden Menschen vor dem ‚Bösen‘ retten. So
nutzten einige der jüngeren Jungen teilweise imaginierte oder selbst gebaute
Waffen, um in ihren gespielten Phantasiegeschichten andere Menschen zu ret-
ten oder auch ‚böse‘ Menschen zu erschießen. Mit dem in diesem Abschnitt
dargestellten unterschiedlichem Spielverhalten, so lässt sich interpretieren,
bringen sich die Kinder als Mädchen oder Jungen in Kindertageseinrichtungen
hervor.
Bewegung und Bewegungsspiele
Jungen wie Mädchen bewegten sich auf vielfältige Art und Weise. Das
spielerische Bewegen ließ sich insbesondere in den Bewegungsräumen und
den Außengeländen beider Einrichtungen beobachten, da dort den Kindern
mehr Raum und Bewegungsspielartefakte (Laufbahnen, Podeste in
unterschiedlicher Höhe, Roller, Bälle, Klettergerüst, Schaukel, etc.) zur
Verfügung standen und das pädagogische Personal die Kinder seltener in
ihrem Bewegungsinteresse einschränkte. Aber auch in den und zwischen den
Gruppenraumen ‚bewegten‘ sich die Kinder auf vielfaltige Weise. Sie durch-
querten mal mehr, mal weniger schnell die Gruppenräume, schlängelten sich
als Schlange auf dem Boden herum, sprangen vom Fensterbrett auf Matratzen,
hüpften auf ihnen herum oder nutzten diese als Rutsche, ab und zu spielten sie
auch Fangen oder rannten durch den Gruppenraum bzw. zwischen den Gruppe-
nräumen hin und her. In beiden Einrichtungen ließen sich eine tendenziell
höhere Bewegungsaktivität einiger der jüngeren Jungen beobachten, die sich
insbesondere auf ‚rennen‘ und ‚wilde‘ Bewegungsaktivitaten bezogen. Aus
diesem Grund wurden diese Jungen auch häufig explizit begrenzt. Die älteren
Jungen scheinen die ‚raumbezogenen‘ Begrenzungen bzw. Normen und
Regeln des pädagogischen Personals bereits verinnerlicht zu haben.
In beiden Einrichtungen waren grundsätzlich Jungen und Mädchen beim
Fußball spielen zu beobachten. Aber wie bereits fürs Spielverhalten der Kinder
ausgeführt, spielten Mädchen weniger intensiv als Jungen. In Einrichtung II
gab es zudem auf dem Außengelände einen expliziten kleinen Platz zum Fuß-
ballspielen. In der Feldphase konnten hier ausnahmslos einige der älteren Jun-
gen beim Fußballspielen beobachtet werden. Sie taten dies sehr ehrgeizig und
sehr ernst. Zwei männliche pädagogische Fachkräfte spielten in der Regel mit
und auch der Forschende nahm daran teil. In diesem spezifischen Kontext kam
es auch zu den insgesamt selten zu beobachtenden Konflikten mit körperlicher
Intensivität zwischen einigen der Jungen. In einem Ad-hoc-Gespräch mit ei-
nem der pädagogischen Fachkräfte, der am Fußballspiel beteiligt war, wurde
von ihm formuliert, dass das Fußballspielen explizit genutzt wird, um insbe-
sondere die älteren Jungen zu erreichen, um mit diesen Jungen im Zuge des
Spiels zu bestimmten Themen zu arbeiten. Es ginge dann meist um Themen
112
wie „gewinnen müssen“ bzw. „nicht verlieren können“, „Spiel statt Kampf,“
„Konkurrenz“, „Ausgrenzung von anderen ‚schwacheren‘ Jungen“, „Foulen“,
„Streit“ sowie „Streitschlichtung“ oder auch um „Selbsteinschatzung“. Das in-
tensive und ‚ernsthafte‘ Fußballspielen der alteren Jungen lasst sich als „Kon-
struktion von Männlichkeit im Wettbewerb“ (Meuser 2008) interpretieren.
Rollenspiele
Im Rahmen des Feldaufenthaltes ließen sich in beiden Einrichtungen
zahlreiche heteronormative Rollenspiele der Kinder beobachten. Insbesondere
die älteren Mädchen entfalteten bzw. initiierten häufig diese Rollenspiele. In
diesen übernahmen Mädchen wie Jungen in der Regel traditionelle
Geschlechterrollen bzw. ‚imitierten‘ ggf. die Arbeitsteilung aus ihren
Herkunftsfamilien. Das heißt, die Mädchen übernahmen die Rolle der Mutter
und umsorgten bspw. die Kinder oder bereiteten das Essen zu, während Jungen
die Rolle des außerhäusigen Vaters übernahmen, der mit dem Auto zur Arbeit
fuhr und dementsprechend hinter dem Steuer ihres Autos saß. Allerdings
waren auch Neutralisierungsakte beobachtbar, weil die Kinder situativ
individuelle Spiel- und Freiraume aushandelten, bspw., wenn der ‚Papa‘ die
‚Mama‘ daran hindern wollte, mit ihm zusammen einzukaufen, weil die
‚Mama‘ auf die Kinder aufpassen sollte, die ‚Mama‘ sich dann aber durch-
setzte und mit dem ‚Papa‘ zusammen die Wohnung verließ.
Mit den Rollenspielen, so lässt sich interpretieren, bringen sich die Kinder
als Mädchen oder Jungen in Kindertageseinrichtungen hervor. Insbesondere in
den heteronormativen Rollenspielen der Kinder wird zudem deutlich, dass die
Differenzierung nach Geschlecht bereits für Kinder in diesem Alter der spezi-
fischen Logik folgt, die auf die Herstellung von heterosexuellen Paaren zielt
bzw. sich diese Logik in den Rollenspielen der Kinder widerspiegelt. Die Be-
obachtung bzw. Thematisierung von stereotypen Familienrollenspielen findet
sich auch in anderen Untersuchungen (vgl. u.a. Kubandt 2016; Cremers et al.
2020). In beiden Einrichtungen konnten wir keine pädagogischen Interventio-
nen des Personals in dem Sinne beobachten, das Rollenspiel der Kinder in
neutralisierender Weise zu entstereotypisieren, wie dies bspw. die geschlech-
terreflexiven Teams in den Interviews der Untersuchung von Cremers et
al.(2020) berichteten und als ihre pädagogische Aufgabe ansahen.
Soziale Bezüge: Gruppenbildung und Fürsorge
Die Kinder haben (nahezu) ausnahmslos mit allen Kindern in der Gruppe und
auf dem Außengelände bzw. in Einrichtung II (teiloffene Gruppen) auch mit
Kindern aus anderen Gruppen gespielt. Kinder spielten alleine, zu zweit, zu
dritt und mit mehrehren Kindern zusammen. Die Kleingruppenbildungen
organisierten sich nach dem morgendlichen Ankommen und dem nachmittäg-
113
lichen Verbleib sowie nach Geschlecht, ‚Freundschaft‘, Muttersprache und
Alter. So bildeten Kinder häufig eine Kleingruppe, wenn sie zwischen zwei
und drei Jahren aus der Krippe in die altersübergreifende Gruppe kamen. Die
Bedeutung der Kategorie Geschlecht für die Kleingruppenbildung stellen auch
andere Untersuchungen heraus, jedoch wird die Differenzierung nach
‚Geschlecht‘ aus unserer Perspektive überbetont bzw., die oben beschriebenen
weiteren Differenzierungen und hier insbesondere das Alter vernachlässigt
(vgl. u.a. Herrmann und Rohrmann 2020; Rohrmann 2008, 2009). Zudem
spielten entgegen den Befunden oben genannter Untersuchungen häufig
Mädchen mit Jungen zusammen zu zweit oder in einer größeren Gruppe.
Auch jenseits der Gruppenbildungen zeigen sich zahlreiche soziale
Bezugnahmen. Die Kinder (Jungen wie Mädchen) ließen sich in vielfältigen
Situationen beobachten, in denen sie sich um andere Kinder kümmerten, wenn
diese bspw. traurig waren, sich wehgetan hatten oder ihnen die Freundschaft
eines anderen Kindes (wenn auch nur für einen kurzen Moment) entzogen
wurde. Dieser Umgang der Kinder mit Fürsorge, Care und Aufräumen lässt
sich als ein Erlernen der Normen und Werte in beiden beobachteten
Einrichtungen interpretieren, der jenseits von geschlechtlichen Zuschrei-
bungen als allgemeine Aufgabe adressiert wird (siehe hierzu auch weiter oben
die Ausführungen zu Fürsorge-, Care- und Aufräumtätigkeiten).
5 Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag zeigt, dass die heteronormative und geschlechterste-
reotype „Kultur der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984) in Kin-
dertageseinrichtungen weiterhin hervorgebracht wird. Humandifferenzierun-
gen nach Geschlecht bilden sich erstens im (Vor-)Feld der Interaktionen in
Kindertageseinrichtungen. Das gilt bspw. für das weiterhin relativ geringe So-
zialprestige des Feldes und den schlechten Einkommensstatus sowie die ge-
schlechtsbezogene Zusammensetzung der Fachkräfte in den Einrichtungen.
Das gilt ebenfalls für die geschlechtlichen Differenzierungen, die etwa in Form
der Vergabe von Namen sowie der Gestaltung von Frisuren und Kleidung in
die Einrichtungen hineingetragen werden.
Zweitens praktizieren Fachkräfte Differenzierungen nach Geschlecht, was
in der Regel zur Lösung von Organisationsproblemen diente oder als Bildungs-
aufgabe fungierte. Bemerkenswert ist daran, dass die Geschlechterdifferenzie-
rungen in diesen Fällen nicht mit Ab- bzw. Aufwertungen einhergingen, also
keine hierarchischen Geschlechterrelationen hervorbrachten oder reproduzier-
ten. In den Situationen, in denen Praktiken der Geschlechterunterscheidung
durch die Fachkräfte mit einer positiven Anerkennung, negativen Bewertung
oder mit Ermahnungen einhergegangen sind, kam es nur in seltenen Fällen zu
114
Unterscheidungen, die in asymmetrischer Weise an die Geschlechterunter-
scheidung angebunden waren und diese verstärkten.
Drittens wurden Geschlechterdifferenzierungen durch die Kinder beobach-
tet. In Spielen und Gruppenbildungen zeigten sich Differenzierungen, die
durch Geschlechterstereotype gekennzeichnet waren. Die Differenzierungen
können unterschiedliche ‚Hartegrade‘ annehmen.
Allerdings konnten wir auch feststellen, dass die Mitgliedschaftskategorie
Geschlecht durch die Fachkräfte im Verhältnis zu den vielfältigen Lern- und
Bildungsvermittlungen eher selten aktiviert wurde. Sondern sie ruhte in der
Regel. Ferner konnten wir eine Reihe von Praktiken des undoing gender in
beiden Einrichtungen aufzeigen. So wurde die Neutralisierung von
Geschlechterstereotypen ebenfalls von den Fachkräften als Bildungsaufgabe
begriffen und auf geschlechterdifferenzierende Adressierungen des pädagog-
ischen Personals erfolgten Neutralisierungspraktiken der Kinder. Bei den
Mädchen und beim weiblichen Personal zeigte sich in Bezug auf den Klei-
dungsstil eine Reihe von Praktiken des undoing gender. Die stärkere
geschlechtsbezogenstereotype Kleidungspraxis der Jungen und des
männlichen Personals lässt sich dahingehend interpretieren, dass der Druck des
sozialen Umfeldes einen nicht-geschlechtsadäquaten Kleidungsstil negativ zu
bewerten, Jungen und Männer stärker (be-)trifft, als Mädchen und Frauen.
Doch auch bei den Jungen waren etwa fürsorgliche Praktiken zu beobachten
(und sie wurden in beiden Einrichtungen auch von den Jungen erwartet bzw.
sie wurden dazu angehalten), wie sie zumindest in gängigen Beschreibungen
der Geschlechterpraxis von Jungen nur selten thematisiert werden.
Insgesamt betrachtet, fand das Projekt eine anhaltende, zugleich jedoch
brüchige Relevanz von Geschlechterdifferenzierungen in Kindertagesein-
richtungen sowie Hinweise für Transformationen dieser Differenzierungen
und darauf bezogener Neutralisierungspraktiken. Zukünftige Forschung sollte
diese Befunde in weiteren Institutionen überprüfen. Des Weiteren scheint uns
ein Diskurs darüber notwendig, wann welche Praktiken als eine Form der
Geschlechterdifferenzierung zu sehen sind und wessen Perspektive dabei be-
rücksichtigt wird. Die Sicht der beteiligten Akteur*innen sollte berücksichtigt
werden, um zu verhindern, dass Logik und Sinn der sozialen Praxis aufgrund
von Annahmen der Forschung der Praxis nicht angemessen erfasst werden
kann.
Literaturverzeichnis
Autorengruppe Fachkräftebarometer (2019): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2019.
Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. München.
115
Bollig, Sabine/Honig, Michael-Sebastian/Mohn, Bina (2016): Betreuungsalltag als
Lernkontext. Informelles Lernen beobachten und entdecken. Berlin: Dohrmann.
Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (1998): Einleitung. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki,
Winfried (Hrsg.): Biographieforschung und Kulturananlyse. Transdisziplinäre Zu-
gänge qualitativer Forschung. Opladen: Budrich, S. 7–18.
Brandes, Holger/Andrä, Markus/Röseler, Wenke/Schneider-Andrich, Petra (2016):
Macht das Geschlecht einen Unterschied. Ergebnisse aus der Tandem-Studie zu
professionellen Erziehungsverhalten von Männern und Frauen. Opladen: Budrich.
Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris (2015):
Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Konstanz: UVK.
Bronner, Kerstin/Behnisch, Michael (2007): Mädchen- und Jungenarbeit in den Erzie-
hungshilfen. Weinheim: Juventa.
Bundesarbeitsgemeinschaft öffentlicher und freier Ausbildungsstätten für
Erzieherinnen und Erzieher e.V. (Böfae) (Hrsg.) (2012): Länderübergreifender
Lehrplan Erzieherin/Erzieher. www.boefae.de/wp-content/uploads/2012/11/ laen-
deruebergr-Lehrplan-Endversion.pdf (Zugriff: 01.09.2021).
Cremers, Michale/Stützel, Kevin/Klingel, Maria (2020): Umgang mit Heterogenität.
Geschlechtsbezogene Zusammenarbeit in Kindertagesstätten. Opladen: Budrich.
Dipellhofer-Stiem, Barbara (2012): Beruf und Professionalität im frühpädagogischen
Feld. In: Fried, Lilian/Dippelhofer-Stiem, Barbara/Honig, Michael-Sebas-
tian/Siegle, Ludwig (Hrsg.): Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim: Beltz, S.
129–161.
Geiger, Kristina (2019): Da ist mehr möglich! Bundesweite Befragung von Einrichtun-
gen der Kindertagesbetreuung zur Personalentwicklung (AT). Weiterbildungsini-
tiative Frühpädagogische Fachkräfte, WIFF Studien, Band 32. München.
Hagemann-White, Carol (1984): Sozialisation: Weiblich – männlich? Opladen.
Herrmann, Teresa/Rohrmann, Tim (2020): Geschlechterbezogene Interaktionen in
kindlichen Peergruppen. Perspektiven der empirischen Kinder- und
Jugendforschung, 6 (2), S. 33–44: https://fel-verlag.de/files/u757/Perspektiven%
2012_2020_Jahrgang_6_2.pdf (Zugriff: 01.09. 2021).
Hirschauer, Stefan (2001): Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Ka-
tegorie sozialer Ordnung. In: Heintz, Bettina (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Son-
derheft 41 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 208‒
235.
Hirschauer, Stefan (2014): Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörig-
keiten. In: Zeitschrift für Soziologie, 43 (3), S. 170–191.
Hirschauer, Stefan (2017): Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung.
Weilerswist: Velbrück.
Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (1997) (Hrsg.): Die Befremdung der eigenen Kultur.
Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt: Suhr-
kamp.
Hirschauer, Stefan/Knapp, Gudrun-Axeli. (2006): Wozu Geschlechterforschung? Ein
Dialog über Politik und den Willen zum Wissen. In: Aulenbacher, Birgitte/Beres-
will, Mechthild/Löw, Martina/Meuser, Michael/Mordt, Gabriele/Schäfer, Rein-
hild/Scholz, Sylka (Hrsg.): FrauenMännerGeschlechterforschung. State of Art.
Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 22–63.
116
Hirschauer, Stefan/Boll, Tobias (2017): Un/doing Differences. Zur Theorie und Empi-
rie eines Forschungsprogramms. In: Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Un/doing Diffe-
rences. Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist: Velbrück, S. 7–26.
Honig, Michael-Sebastian (2012): Frühpädagogische Einrichtungen. In: In: Fried, Li-
lian/Dippelhofer-Stiem, Barbara/Honig, Michael-Sebastian/Liegle, Ludwig: Päda-
gogik der frühen Kindheit. Weinheim: Beltz, S. 91–128.
Jugend- und Kultusministerkonferenz (2004): Gemeinsamer Rahmen der Länder für
die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen (Beschluss der Jugendministerkon-
ferenz vom 13./14. 05. 2004/Beschluss der Kultusministerkonferenz vom
03./04.06. 2004). Gütersloh.
Kalthoff, Herbert (2017): Kontingenz und Unterwerfung. Die organisierte Humaneva-
luation der Schule. In: Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Un/doing Differences. Praktiken
der Humandifferenzierung. Weilerswist: Velbrück, S. 259 - 284.
Kubandt, Melanie (2016): Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung
– eine qualitativ-rekonstruktive Studie. Opladen: Budrich.
Laqueur, Thomas Walter (1992): Auf den Leib geschrieben. Zur Inszenierung der Ge-
schlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt: Campus.
Meuser, Michael (2008): Ernste Spiele: Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wett-
bewerb der Männer. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): Die Natur der Gesell-
schaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Sozio-
logie in Kassel 2006. Frankfurt: Campus.
Nübling, Damaris (2017): Personennamen und Geschlechter/un/ordnung. Onymisches
doing und undoing gender. In: Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Un/doing Differences.
Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist: Velbrück, S. 307–335.
Pasternack, Peer (2015) (Hrsg.): Die Teilakademisierung der Frühpädagogik. Eine
Zehnjahresbeobachtung. Halle-Wittenberge.
Peukert, Detlev J.K. (1986): Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der
deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932. Köln: Bund.
Reyer, Jürgen/Franke-Meyer, Diana (2021): Die Kindergärtnerin. Zur Geschichte der
Semi-Professionalisierung. Weinheim: Juventa.
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (Hrsg.) (2019): Caring Masculinities? Männlichkei-
ten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München:
oekom.
Stecklina, Gerd/Wienforth, Jan (2021): Jungen*. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Be-
nedikt/von Schwanenflügel, Larissa/Schwerthelm, Moritz (Hrsg.): Handbuch Of-
fene Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer.
Vogt, Franziska/Nentwich, Julia/Tennhof, Wiebke (2015): Doing und Undoing Gender
in Kinderkrippen: Eine Videostudie zu den Interaktionen von Kinderbetreuenden
mit Kindern. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 37 (2), S.
227‒247.
Wippermann, Carsten (2018): Kitas im Aufbruch Männer in Kitas. www.delta-
sozialforschung.de/news/kitas-im-aufbruch-maenner-in-kitas.html (Zugriff:
01.09.2021)
„Ich geb nem Jungen nen Check und keine
Umarmung“ – Zwischen Transformation und
Tradierung von Männlichkeiten in der Schule
Anette Dietrich und Jürgen Budde
1 Einleitung
Ein Politik-Grundkurs der Klassenstufe 11 diskutiert eine geschlechterstereo-
type Werbung und kurze Interviews zum Thema Frauenwahlrecht aus den
1950er Jahren und spricht darüber, ob in Deutschland mittlerweile Geschlech-
tergerechtigkeit erreicht ist. Danach entwickelt sich eine Debatte, in der insbe-
sondere mehrere Jungen im Kurs über erreichte Geschlechtergerechtigkeit und
verbliebene Ungleichheit wie den gender pay gap oder Geschlechterstereotype
und vergeschlechtliche Erwartungen diskutieren. Im Laufe der Diskussion
meint ein Schüler:
„Und die Gesellschaft ist noch weiter im Wandel, aber wir sind noch lange nicht an ner
wirklichen Equality oder wie sich das nennt. Also (…) also ich kenn das so, ich geb ʼnem
Jungen ʼnen Check und keine Umarmung, wenn man draußen ist und sich trifft. Das ist
so….weiß nicht. Also, wenn das nicht mehr ist, dann ware man schon mal naher dran“ (Fp4-
S2-K4-P7).
Der Schüler macht in dem Ausschnitt in kritischer Absicht die Ungleichheit
der Geschlechter daran fest, dass die Körperpraktiken von Mädchen und
Jungen nach wie vor unterschiedlich seien. Jungen umarmen sich nicht,
sondern begrüßen sich mit eher kumpelhaften, wenig körperlichen Begrü-
ßungsritualen. Diese Aussage ist anschlussfähig an vorliegende Studien im
Kontext der Jungen-, Männer- und Geschlechterforschung, die tabuisierte
Körperlichkeit und Zärtlichkeit unter Jungen und Männern (vor allem in
protestantischen Kulturen) mit Rückgriff auf Bourdieu (Bourdieu 2005) als
Teil eines vergeschlechtlichten Habitus analysieren. Der Schüler beschreibt
vergeschlechtlichte Differenzen in seinem eigenen sozialen Umfeld, seine
Aussage deutet zugleich auf seine eigene geschlechter- und männlichkeits-
kritische Positionierung hin. Zudem zeugen die Inhalte der Debatte (z.B.
118
verschiedene Rechenmodelle des gender pay gap) zugleich von einem hohen
Diskurswissen der Schüler*innen.
Lassen sich anhand solcher Szenen im Unterrichtsgeschehen Transforma-
tionen von Männlichkeit, Junge-Sein bzw. Geschlecht ausmachen? Wann und
wie wird Geschlecht in der Schule von Lehrer*innen und Schüler*innen rele-
vant gemacht? Welche Konstruktionen von Männlichkeit und Junge-Sein fin-
den sich in der Schule? Das ethnographische Forschungsprojekt „Jungen und
Bildung in der Schule“ hat das Anliegen, die Frage nach dem Beharren und der
Transformation von Geschlecht zu diskutieren. Bevor das Forschungsprojekt
und die Ergebnisse vorgestellt werden, erfolgt zunächst ein kurzer Einblick in
den Forschungsstand.
2 Forschung zu Geschlecht und Schule
Mitte der 1970er Jahre begann die feministische Schulforschung, die Un-
gleichbehandlung von Mädchen und Jungen in der Schule zu untersuchen und
machte auf eine Benachteiligung von Mädchen in der Schule aufmerksam. Seit
den 1990er Jahren fragen diverse ethnographische Studien im deutschsprachi-
gen Raum nach unterschiedlichen Aspekten der Bedeutung von Geschlecht
bzw. der Geschlechterunterscheidung in der Schule (Krappmann und Oswald
1995; Breidenstein und Kelle 1998; Faulstich-Wieland et al. 2004; Budde et
al. 2008). Die unterschiedlichen Studien zeichnen nach, wie Lehrkräfte, Schü-
ler*innen sowie die Schule als Institution und Organisation Geschlecht und
damit verbundene Differenzierungen und Hierarchisierungen herstellen und
prozessieren (vgl. Budde und Dietrich 2021).
Die Schule als ‚zweite Sozialisationsinstanz‘ wurde als einer der
wichtigsten Orte der Herstellung und Einübung von Geschlecht und Begehren
herausgearbeitet (Tervooren 2006), an dem sich diesbezügliche Normen
vermitteln. Danach erweisen sich nur bestimmte Inszenierungen von
Geschlecht im „diskursive[n] Ringen um Bedeutung“ (Kleiner 2015: 45) als
legitim. Goffman weist in seiner Auseinandersetzung mit dem Arrangement
between the Sexes auf „institutionalisierte Genderismen“ (Goffman 1999: 114)
hin, die geschlechterstereotypisches Verhalten nahelegen. Darüber hinaus
kann Schule
„als Ort der machtvollen Wiederholung und Herstellung von Normalitatskonstruktion
beschrieben werden. Schule und Unterricht […] sind maßgeblich an der Herstellung
soziale[r] Normen (zum Beispiel) bezogen auf Geschlecht, Sexualität, soziale Klasse, natio-
ethno-kulturelle Zugehörigkeit sowie Gesundheit und Leistungsfahigkeit beteiligt“
(Mecheril und Shure 2015: 109 ).
119
Jungen gerieten insbesondere im Zuge der Ergebnisse der ersten PISA-Studie
(u.a. Baumert 2001) in den Fokus medialer Aufmerksamkeit und erziehungs-
wissenschaftlicher Debatten. Durchschnittlich schlechtere Leistungen der Jun-
gen wurden mit ihrem Geschlecht erklärt, dabei wurden insbesondere in den
Medien, aber auch in wissenschaftlichen Studien stereotype und pauschalisie-
rende Annahmen über Jungen und Mädchen reproduziert. Die verallgemei-
nernde These über ‚Jungen als Bildungsverlierer‘ wurde jedoch in der erzie-
hungswissenschaftlichen Geschlechterforschung problematisiert (Budde
2009; Rieske 2011; Fegter 2012) und Studien zeigten, dass die schlechteren
Leistungen nicht primär von der Geschlechtszugehörigkeit abhängen, sondern
insbesondere von Faktoren wie sozialer Hintergrund und Migrationsgeschichte
beeinflusst werden (Hormel 2012). Darüber hinaus wurde mittlerweile weiter
ausdifferenziert, dass Jungen vor allem in sprachlichen Domänen schlechter
abschneiden (Michalek et al. 2014). Dennoch werden die im Diskurs um Jun-
gen als Bildungsverlierer popularisierten Bilder von Jungen immer wieder auf-
gerufen und reaktiviert, sie erweisen sich so als langlebig und wirkmächtig.
Einige Texte rückten in der Auseinandersetzung um Jungen in der Schule
Männlichkeitsanforderungen in den Blick, die schulischen Anforderungen ent-
gegenstehen, so z.B. ein Souveränitätsgebot für Jungen oder der Druck, cool
und witzig vor den Peers zu sein (vgl. Debus und Stuve 2012). Insofern wurde
in der Debatte um Jungen in der Schule immer wieder das Passungsverhältnis
von schulischen Anforderungen und Männlichkeitsanforderungen befragt (De-
bus und Stuve 2012, Budde 2015).1
Bisherige Forschungsarbeiten haben eine Bandbreite an Perspektiven auf
Jungen in der Schule eröffnet. Beispielhaft seien hier etwa Themen wie Jungen
und Gewalt, Konkurrenz, Wettbewerb und Solidarität unter Jungen (Meuser
2002), die Herstellung von hegemonialer nnlichkeit und die damit
einhergehende Abwertung und Ausgrenzung von Mädchen und bestimmten
Jungen, das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen, d.h. die interaktive
Herstellung aber auch Überschreitung der Geschlechtergrenze (Thorne 1994),
die Herstellung von Geschlechterterritorien (Kelle 1999) oder die Bedeutung
von Sport und körperlicher Dominanz für die Herstellung hegemonialer
Männlichkeit (Michalek et al. 2012; Gramespacher 2008) genannt. Es wurde
zu Jungen in privilegierter Lage im Gymnasium (Budde 2005), zu margina-
lisierten migrantischen Jungen und ihren Ausgrenzungs- und Rassismus-
erfahrungen (Spindler 2006, Weber 2009, Thielen 2010; Scheibelhofer 2018b)
sowie Jungen in der Hauptschule (Wellgraf 2014, 2021) geforscht. Junge-Sein
in der Schule wurde auch im Zusammenhang mit Heteronormativität und
Homophobie (Kleiner 2015; Scheibelhofer 2018a), sowie der Überschreitung
von Geschlechtergrenzen (Tervooren 2006) und der Differenzerfahrung von
1 Zur Konstruktion vermeintlicher schulischer Passungsfähigkeit von Mädchen vgl. Aktan et
al. 2015.
120
LGBTIQ-Jugendlichen (Kleiner 2015) analysiert. Mittlerweile ist zunehmend
die Heterogenität von Jungen in den Blick geraten.
Darüber hinaus wurde auf (in der bisherigen Forschung unsichtbare) Care-
Praktiken von Jungen verwiesen (Luttrell 2012). Diese Sichtbarmachung ‚un-
typischer‘ Praktiken von Jungen und Mannern tragt zu einer Diskussion über
die Transformation von young masculinities (vgl. Frosh et al. 2002) als verge-
schlechtlichter Subjektposition bei. Inspiriert von Studien aus dem englisch-
sprachigen Kontext, nach denen Männlichkeit sich nicht mehr notwendiger-
weise über die Abwertung von Frauen und Homosexualität herstelle, wird u.a.
von inclusive oder caring masculinities gesprochen (Anderson 2011; Scholz
und Heilmann 2019; Rieske und Budde 2019) und danach gefragt, ob sich ne-
ben hegemonialer, komplizenhafter, marginalisierter und untergeordneter
Männlichkeit ein neues Orientierungsmuster in Form einer caring masculinity
herausbildet. Entsprechend wird diskutiert, inwiefern sich Hinweise für Trans-
formationen oder Tradierungen von Geschlechter- bzw. Männlichkeitskon-
struktionen zeigen bzw. inwiefern die Bedeutung der Kategorie Geschlecht an-
gesichts gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen allgemein eher ab-
nimmt (Budde et al. 2014).
3 Design der Studie Jungen und Bildung in der Schule
3.1 Methodologische Perspektiven
Vor dem Hintergrund dieser Debatten analysiert die ethnographische Studie
„Jungen und Bildung in der Schule“ Praktiken des doing gender in der Schule.
Gefragt wird, inwiefern in Schule Geschlecht von Lehrer*innen und Schü-
ler*innen relevant gemacht wird und welche Konstruktionsprozesse von
Männlichkeit sich in Praktiken von und mit Jungen zeigen. Weiter wird analy-
siert, welche Konstruktionen von Junge-Sein (und Mädchen-Sein) sich doku-
mentieren und inwiefern sich im empirischen Material Hinweise für Transfor-
mationen oder Beharrungen von Geschlechterkonstruktionen zeigen.
Ausgewählt für die ethnographischen Beobachtungen wurden zwei
Grundschulen und zwei weiterführende Schulen. Durch die Beobachtung ver-
schiedener Klassenstufen wurde ein Längsschnitt simuliert, der Jungen (und
Mädchen) in verschiedenen Altersgruppen in den Blick nimmt. Drei der
beforschten Schulen befinden sich in einer Großstadt, eine Schule liegt im
ländlichen Raum. Ethnographisch beobachtet (Breidenstein et al. 2013)
wurden insgesamt sechs Klassen. Bei den Grundschulen handelte es sich
erstens um eine jahrgangsübergreifende 1./2. Klasse und eine 4. Klasse einer
121
Schule in marginalisierter Lage.2 Zweitens wurde in einer eher bildungs-
bürgerlich geprägten Schule eine 2. Klasse teilnehmend beobachtet. In den
beiden Gymnasien wurden jeweils eine 8. Klasse, in einem Gymnasium
zusätzlich eine 11. Klasse teilnehmend beobachtet. Die Beobachtungen fanden
überwiegend im Unterricht, aber auch auf dem Schulhof statt. Darüber hinaus
wurden dort, wo möglich, auch kurze Gespräche mit Lehrkräften und
Schüler*innen geführt, um Nachfragen zu bestimmten Situationen oder
Themen stellen zu können. Die im Sinne einer fokussierten Ethnographie
(Knoblauch 2001) durchgeführten Feldaufenthalte dauerten jeweils etwa zwei
Wochen. Neben den verschiedenen Klassenstufen stellen marginalisierte
Schule und bildungsbürgerliche Grundschule bzw. Gymnasium sowie Stadt
und Land weitere Kontras-tierungen dar. Die Auswertung der Protokolle und
Gespräche erfolgte kodierend in Anlehnung an die Grounded Theory Method
(Glaser und Strauss 2008).
Zwar liegt der Fokus des Forschungsprojekts auf Jungen, aber da Ge-
schlecht als eine relationale Kategorie in einem als dichotom konstruierten Ge-
schlechterverhältnis begriffen wird, wurden Interaktionen zwischen allen
schulischen Akteur*innen beobachtet. Dabei liegt der Fokus auf der Herstel-
lung von (nicht nur) geschlechtsbezogenen Differenzen. Das Projekt nimmt
eine intersektionale Perspektive ein, nach der Geschlecht im Kontext weiterer
sozialer Kategorien analysiert wird und somit als interdependente Kategorie
(Walgenbach 2007) begriffen wird. Intersektionalitat kann als ‚sensitizing con-
cept‘ verstanden werden (Knapp 2005), das dazu beiträgt, den Blick für die
Heterogenität von Jungen zu schärfen (Budde 2021). Differenzen und Un-
gleichheiten werden nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern als im schuli-
schen Kontext von den Akteur*innen und der Institution hergestellt verstan-
den.
3.2 Theoretische Rahmung
Das Projekt geht im Anschluss an die Arbeiten von Raewyn Connell vom
machttheoretischen Konzept der hegemonialen Männlichkeit (Connell 1999)
aus, dass sich in der Jungen- und Männlichkeitsforschung weitgehend durch-
gesetzt hat. Danach wird hegemoniale Männlichkeit definiert als doppelte
Relation: Zum einen durch eine Überlegenheit gegenüber Frauen, zum anderen
über eine hierarchische Binnenrelation unter Männern (ebd.). Das Konzept
trägt dazu bei, Handlungsmuster von und Dynamiken zwischen Jungen zu
verstehen. Hegemoniale Männlichkeit wirkt als generatives Prinzip für Jungen
(vgl. Stuve 2016). Die Subjektposition Junge, so der Ausgangspunkt, wird in
sozialen Praktiken situiert hergestellt (Michalek et al. 2014).
2 Ausführlich zu einer Debatte über sog. ‚Brennpunktschulen‘, der Herstellung sozialer Un-
gleichheit und der Problematik der Begriffe siehe Fölker et al. 2015
122
Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit ist neben dem theoreti-
schen Entwurf des männlichen Habitus von Pierre Bourdieu trotz aller Kritik
zentral für die Männlichkeitsforschung. Kritisiert wird an dem Konzept u.a.
die Unschärfe des Begriffs der hegemonialen Männlichkeit und das unklare
Verhältnis der unterschiedlichen Männlichkeiten zueinander (vgl. Scholz
2019: 423ff) sowie eine einseitige Akzentuierung der Tradierung bestehender
Geschlechterverhältnisse (vgl. Rieske und Budde in diesem Band). Auch die
Übertragung des Konzepts auf Jungen in der Jungenforschung wird problema-
tisiert – zum einen, weil Jungen damit zu ‚kleinen Männern‘ gemacht werden
und die generationale Ordnung damit keine Berücksichtigung findet (s. Rieske
und Budde in diesem Band); zum anderen, weil nicht alle Praktiken von Jungen
Männlichkeit herstellen (vgl. Budde und Rieske 2019). Daher wurden Be-
griffe, wie z.B. „young masculinities“ in die Forschung über Jungen und mann-
liche Jugendliche eingebracht (Frosh et al. 2002).
Eingenommen wird eine subjektivierungstheoretisch informierte Perspek-
tive, um bestehende Dichotomien wie Macht und Freiheit, Struktur und Hand-
lung, Autonomie und Heteronomie sowie Individuum und Gesellschaft zu ver-
flüssigen (vgl. Ricken 2019). Ausgangspunkt vieler Forschungen zu Jungen
waren bisher Connell wie auch Bourdieu beide richten ihren Blick auf die
Reproduktion tradierter Männlichkeit, neue Möglichkeiten der Artikulation,
Ausweitung und Transformation von Männlichkeit geraten daher schwerlich
in den Blick. Hier bietet sich eine subjektivierungstheoretische Perspektive an
(Fritzsche 2012; Rose 2012; Rieske 2021), mit der ethnografisch beobachtete
Praxis daraufhin befragt werden kann, in welcher Weise sich die Gleichzeitig-
keit der Unterwerfung und Hervorbringung des Subjekts „als einem fortdau-
ernden und performativen Konstitutionsgeschehen“ (Jergus 2012: 29) wie
auch die Handlungsfähigkeit und Eigensinnigkeit des Subjekts vollzieht (vgl.
ausführlicher siehe Rieske und Budde in diesem Band). Interaktionen und
Praktiken kann verstanden werden als Adressierungsgeschehen, innerhalb des-
sen Subjekte ‚als Jemand‘ adressiert und in diesem Sinne subjektiviert werden
(Rose und Ricken 2018).
Im Folgenden werden die Ergebnisse des Forschungsprojekts dargestellt.
Zunächst werden anhand von unterschiedlichen, empirisch geronnenen
zentralen Phänomen pädagogische und institutionelle Praktiken mit Jungen in
den Blick genommen (Kap. 4), im Anschluss daran werden Peer Praktiken von
Jungen fokussiert (Kap.5). Den Abschluss bildet eine Beobachtung, in der
Peer- und pädagogische Praktiken miteinander verschränkt sind (Kap. 6).
123
4 Geschlecht in pädagogischen Praktiken mit Jungen
Schulen sind in ihren institutionalisierten Arrangements von einer Logik der
Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität geprägt. Sie sind jedoch zu-
nehmend herausgefordert, so zeigte es sich in drei der vier untersuchten Schu-
len, sich mit Transformationen von Geschlecht und mit Themen wie Trans-,
Intergeschlechtlichkeit und Queerness auseinanderzusetzen.3 Weiter doku-
mentiert sich, dass Geschlecht von Lehrer*innen in Interaktionen im Unter-
richtsgeschehen eher selten explizit relevant gemacht wird. Dennoch erweist
sich Geschlecht als wirkmächtige Kategorie in den pädagogischen Praktiken
mit Jungen.
4.1 „Das Mannlich-Sein ist ja schon ne Bürde“ – Junge-Sein
zwischen Benachteiligung und Problematisierung durch
Lehrer*innen
Bei den meisten Lehrer*innen wird deutlich, dass sie bereits mit Geschlechter-
diskursen über Jungen und Mädchen in der Schule in Berührung gekommen
sind und Wissen um Geschlechterdifferenzen verbreitet ist. Dabei treten unter-
schiedliche Wissensbestände zu Tage.
Während sich einige Lehrkräfte für die Stärkung von Mädchen in der
Schule engagieren (z.B. sie zur Mitarbeit im Unterricht ermutigen, ihr Selbst-
vertrauen stärken wollen), bemühen sich andere, Jungen durch spezifische
Angebote für Schule zu interessieren (z.B. Handy-Filme drehen im Kunstun-
terricht, Romane mit männlichem Protagonisten lesen etc.). Die Ansicht, dass
„Schule nicht für Jungen gemacht ist“, wie eine Lehrerin in einem Gesprach
meint, spiegelt sich in solchen in Bemühungen um ‚jungengerechte‘
Adressierung wieder.4 Mit Blick auf die ‚Probleme‘ von Jungen in der Schule
werden verschiedene Aspekte genannt, etwa der fehlende ‚Jungenbezug‘ bzw.
die fehlende Differenzierung des Unterrichtsstoffes sowie eine vermeintliche
implizite Privilegierung von Mädchen (z.B. über weibliche Heldinnen oder
durch vermeintlich weibliche Eigenschaften wie Fleiß, Konzentration etc.).
Dabei werden immer wieder auch stereotype Bilder von Jungen und Mädchen
aufgerufen. Diese zeigen sich auch in der Kommentierung von Äußerlich-
3 So wurden z.B. mindestens drei der vier beobachteten Schulen von geouteten trans Kindern
und Jugendlichen besucht. Eines der beobachteten Gymnasien verfügte über eine Queer-AG
und zwei LGBTIQ-Beauftragte.
4 Auch von vielen Jungen in allen Klassenstufen wird eine Benachteiligung von Jungen
thematisiert. Die einzige Ausnahme bildet die untersuchte marginalisierte Grundschule. Be-
gründungen dafür sind insbesondere unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe im Sport-
unterricht, wahrgenommene Unterschiede in der Bewertung der schulischen Leistung oder
in der Disziplinierungspraxis.
124
keiten (z.B. das Lob der Frisur oder des Kleides eines Mädchens in der
Grundschule) oder der Wertschätzung oder nicht-Wertschätzung bestimmter
Tätigkeiten, so z.B. die negative Kommentierung eines Schülers aus
benachteiligter sozioökonomischer Lage, der von seiner Freizeitbeschäftigung
„Computerspiele spielen“ berichtet, demgegenüber ein unterstützendes Lob
für die Schülerin bürgerlicher Herkunft, die von einem Ausflug erzählt.
Manche Lehrer*innen bemühen sich jedoch auch um entstereotypisierende
Gegenbeispiele, so klagt eine Lehrerin über die Herausforderung, Jungen zum
Lesen zu motivieren, wehrt sich aber zugleich gegen vereindeutigende
Zuschreibungen und berichtet von der besonders schönen Handschrift
einzelner Jungen. Die Orientierung auf Probleme von Jungen in der Schule
changiert zwischen dem Konstatieren einer Benachteiligung von Jungen, dem
Beklagen einer Nichtbeachtung ihrer besonderer Bedarfe bis hin zur These
fehlender Vorbilder in der Schule aufgrund einer vermeintlichen
Feminisierung. In der Summe dokumentiert sich durchaus eine Relevant-
Setzung der vermeintlichen Bedarfe von Jungen bis hin zu einer ‚jungen-
parteilichen Haltung‘.
Gleichzeitig findet sich auf der Basis von Geschlechterdifferenzen eine
Problematisierung von negativen typischen ‚Jungeneigenschaften‘, wie etwa
Desinteresse am Lesen oder ungünstige Arbeitshaltung. Zwei Grundschulleh-
rer*innen etwa unterhalten sich über die Jungen in der marginalisierten Schule.
Eine Lehrerin beschreibt im folgenden Auszug aus einem Beobachtungsproto-
koll deren Auftreten:
„Wir sind die Kings aber im Endeffekt brechen die ganz oft zusammen“. Es fehle den
Jungen an Selbstbewusstsein, sie müssten lernen, sich wertzuschatzen. „Das Mannlich-Sein
ist ja schon ne Bürde, sag ich jetzt Mal.“ (Fb1-S1-K1-P0)
In dem Gespräch entwirft die Lehrkraft auf Basis ihrer Beobachtungen eine
Theorie über Jungen, in der sie diesen eine übertriebene Selbstdarstellung als
machtig („Kings“) unterstellt, die im Widerspruch zu innerer Schwache („bre-
chen die ganz oft zusammen“) stehe. Ähnliche Theorien lassen sich in der Li-
teratur über die Sozialisation von Jungen finden (Böhnisch 2004), bei der Er-
klärung des Verhaltens von Jungen, implizit formulieren sie damit eine Kritik
an bestimmten Ausprägungen von Männlichkeit.
Wie andere Studien bereits aufgezeigt haben, beinhaltet die Kritik an
bestimmten Formen des Junge-Seins als vergeschlechtlichte Subjektposition
in den beobachteten Schulen oftmals problematische Ethnisierungen, Abwert-
ungen und Pathologisierungen. Studien, etwa von Stefan Wellgraf (2010) oder
Martina Weber (2003) haben aufgezeigt, dass neben strukturellen
Benachteiligungen und Ausschlüssen deprivilegierte bzw. migrantische
Schüler*innen von Demütigungen und rassifizierten Zuschreibungen im
schulischen Kontext betroffen sind. Sie haben Deutungsmuster heraus-
gearbeitet, die sich auch in den hier untersuchten Schulen nachweisen lassen.
So findet sich insbesondere in beiden Grundschulen immer wieder das Bild des
125
migrantischen „Paschas“. Das problematisierende Sprechen über Jungen
beinhaltet vergeschlechtlichte Zuschreibungen und eine kulturalisierende
Männlichkeitskritik.
4.2 Geschlecht als Ordnungskategorie
Insbesondere in der Grundschule erweist sich Geschlecht als zentrale
Ordnungskategorie, die sich beispielsweise in der Sitzordnung, bei
Meldeketten, bei der Mannschaftswahl im Sportunterricht oder in der
Ämtervergabe z.B. als Klassensprecher*innen zeigt. Mädchen und Jungen
sollen sich „immer abwechselnd“ aufrufen oder Ämter werden quotiert
zwischen Mädchen und Jungen aufgeteilt. Diese Geschlechterdifferenzen her-
stellende Maßnahmen wurzeln in dem Versuch, handlungspraktische Proble-
me, die sich insbesondere aus der Eigentümlichkeit der Sozialform des
schulischen Unterrichts ergeben, möglichst reibungsarm zu organisieren.
Mannschaften oder Klassensprecher*innen ssen gewählt oder das Rede-
recht verteilt werden, wobei die Idee der Gleichbehandlung und pädagogische
Erwägungen gleichermaßen zum Tragen kommen. Die Einteilung in Mädchen
und Jungen erscheint den Lehrkräften aufgrund des binären Charakters von
Geschlecht und seiner vermeintlichen Natürlichkeit als eine organisational
besonders geeignete Kategorie, die vermeintlich nicht mit Hierarchie und
Dominanz zusammenhängt. Würde nicht auf Geschlecht zurückgriffen,
müssten andere Verteilungskriterien herangezogen werden, die andere Proble-
me mit sich bringen: den Zufall, die Häufigkeitsungerechtigkeit, die kriterien-
lose Verantwortungsabgabe an die Schüler*innen, die Beliebtheitskonkurrenz,
die Lehrer*innensteuerung usw. Diese Praxis richtet sich an einer Logik der
Zweigeschlechtlichkeit aus und reproduziert sie auf diese Weise. Sie ist aber
zugleich Ausdruck einer Quotierung im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit,
die versucht, Redeanteile in der Klasse zumindest in Bezug auf Geschlecht
‚gerecht‘ (im Sinne von gleich) zu verteilen. Diese vergeschlechtlichen
Adressierungen homogenisieren zwar Jungen und Mädchen und schreiben
Zweigeschlechtlichkeit fest, sie stellen aber nicht automatisch eine Hierarchie
zwischen den Geschlechtern her und sind von einem Anspruch auf
Geschlechtergerechtigkeit mitgeprägt (vgl. Cremers und Krabel in diesem
Band). Diese Adressierungen schließen jedoch Kinder aus, die sich binärer
Zweigeschlechtlichkeit nicht zuordnen wollen oder können. Darüber hinaus
können zugleich andere Hierarchisierungen wirkmächtig werden, z.B. indem
bei Anrufungsketten nur bestimmte Jungen und bestimmte Mädchen nach dem
Prinzip der Beliebtheit aufgerufen werden und andere, bspw. stillere oder
‚uncoolere‘ Kinder nicht.
Die Bedeutung von Geschlecht als Ordnungskategorie nimmt im Unter-
richtsgeschehen in den höheren Klassenstufen sukzessive ab, wie sich im Ma-
126
terial abzeichnet. Erziehungspraktiken werden durch Bildungspraktiken er-
setzt. In der 11. Klasse spielt Geschlecht als organisationale Rahmung des Un-
terrichts kaum noch eine Rolle. Hier zeigt sich vielmehr eine diskursive Aus-
einandersetzung mit Geschlecht z.B. bei der Interpretation eines Theaterstücks
oder bei der Debatte um Geschlechtergerechtigkeit im Politikunterricht. Ge-
schlecht ist hier ein Thema des Unterrichts und Gegenstand von Bildungspro-
zessen und nicht mehr der Regulation institutioneller Abläufe oder erzieheri-
scher Maßnahmen.
4.3 Vergeschlechtlichende Kommunikationsformen
Öffentliche Kommunikation ist ein besonderes Kennzeichen schulischen Un-
terrichts. Während sich Unterrichtskommunikation allgemein auf die fachli-
chen Gegenstände und deren Vermittlung sowie der Herstellung pädagogi-
scher Beziehungen bezieht, zeigen sich implizit geschlechterdifferente Kom-
munikationsmuster. So werden in allen Klassenstufen haufiger ‚öffentliche‘
und damit ‚distanziertere‘ Gesprache vor der gesamten Klasse mit Jungen ge-
führt, die mehr öffentliche Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit schaffen. Mit
Mädchen werden von den Lehrer*innen überwiegend leise Zweiergespräche
geführt, die eine intensivere Form der emotionalen Zuwendung herstellen. Ge-
rade in der Grundschule finden sich in den Adressierungen unterschiedliche
‚Grade‘ der Emotionalisierung. In einer 2. Klasse werden viele Kinder häufig
mit Kosenamen (z.B. „Schnubbi“, „mein/e Liebe/r“) angesprochen, aus-
schließlich Mädchen allerdings mit Verniedlichungsformen ihrer Namen. Bei
der Adressierung von Jungen wird häufiger ein neckenden und/oder herausfor-
dernden Ton verwendet. Diese differenten Kommunikationsmuster vollziehen
sich vor dem Hintergrund einer grundschultypischen emotional-zugewandten
Kommunikation mit den Schüler*innen zum Aufbau einer pädagogischen Be-
ziehung.
In der Sekundarstufe I werden diese Kommunikationsmuster dann durch
einerseits sachbezogenere und andererseits humorvoll-ironische Adressier-
ungen ersetzt und emotionalisierende Muster fallen tendenziell weg.5 Vor
allem in der Oberstufe gewinnt Ironie als ein Element von Humor als Kom-
munikationsstil an Bedeutung. In dieser Altersstufe stellen Ironie und Humor
eine häufig gewählte Möglichkeit dar, mit den Schüler*innen in Kontakt zu
treten und eine pädagogische Beziehung aufzubauen. Humor und Ironie
können insofern auch als Beziehungsangebote und ein Versuch der
5 In der großstädtischen Schule geht diese Transformation schneller vonstatten, während die
Schüler*innen der 8. Klasse einer landlichen Schule noch ‚kindlicher‘ angesprochen werden.
Letztere werden auch weniger zu selbstständigem Arbeiten animiert
127
Nivellierung der generationalen Differenz betrachtet werden.6 Humor kann
Anschlüsse an die Jugendlichen herstellen, Gespräche ermöglichen, Span-
nungen entscharfen und „Mitspielfahigkeit“ (Schulz 2021: 1217) erzeugen
Ironie trägt zu einem positiven Unterrichtsklima bei.
Ironie kann jedoch auch Hierarchie und Distanz schaffen. Lehrer*innen
können mit Ironie eine übergeordnete Position ausdrücken oder wahren, ohne
sich offensichtlich autoritärer Kommunikationsstrukturen zu bedienen. Ironie
erweist sich zudem als vergeschlechtlicht. In den Beobachtungprotokollen
zeigt sich, dass nicht nur Jungen häufiger Ironie als Kommunikationsmittel
wählen, sondern dass auch Lehrer*innen (insbesondere Lehrer) überwiegend
mit Jungen ironisch kommunizieren. Ironische Kommunikationsformen kön-
nen in Komplizenhaftigkeit, Wettkampf oder Beschämung münden. Bei Mäd-
chen besteht die Sorge, so ein Lehrer, dass diese Ironie „krumm nehmen“. Jün-
geren Schüler*innen wiederum wird noch nicht zugetraut, Ironie zu verstehen.
Insofern gelten das Verstehen und Anwenden von Ironie als Zeichen für Reife
und Souveränität. Die Schüler versuchen mit unterschiedlichem Erfolg, Ironie
zu kontern oder zu initiieren. Sie müssen zugleich zurückhaltend (wegen des
Machtgefälles zum Lehrer) und provokant (wegen der Anerkennung durch die
Peers) sein. Ironische Kommunikation ist insofern prekär und nicht jeder Schü-
ler ist in der (sozialen) Position, sie sich gegenüber dem Lehrer leisten zu kön-
nen oder Souveränität ausdrücken zu können. Gelingt der ironische Dialog,
kann dies als Ausdruck einer gesicherten Position „jugendlich-hegemonialer
Mannlichkeit“ (Stuve und Debus 2012: 52) betrachtet werden. Dass Schüler
wesentlich häufiger Ironie als Ausdruck souveräner Männlichkeit einsetzen als
ihre Mitschülerinnen „verwundert nicht, denn die Ironie transportiert auch Un-
terordnung, Distanz und Distinktion und somit Elemente des männlichen Ha-
bitus“ (Budde 2005).
4.4 Resouveränisierung in Disziplinierungspraktiken
In den beobachteten Grundschulklassen finden sich zahlreiche Disziplinierun-
gen, insbesondere von Jungen. Dies bestätigt Forschungsbefunde anderer Stu-
dien zu Jungen in der Schule, dass Jungen insgesamt häufiger diszipliniert wer-
den als Mädchen. Dabei werden jedoch nur bestimmte Jungen öfter diszipli-
niert, insbesondere jene, die sich Anordnungen von Lehrer*innen und den
schulischen Regeln widersetzen, im Unterricht ‚stören‘ und die sich als ‚cool
und lustig‘ inszenieren (Budde 2010). Ebenso gibt es allerdings in allen beo-
bachteten Grundschulklassen Jungen, die nie diszipliniert werden, sondern als
Vorbild für positives Verhalten vorgeführt werden. Disziplinierungspraktiken
beinhalten z.T. explizite sowie auch implizite vergeschlechtlichte Adressierun-
6 Bei manchen Lehrer*innen zeigen sich diese Beziehungsangebote auch im Verwenden von
Jugendsprache.
128
gen. Dies zeigt sich in einer Selbstbewertungssituation einer 1./2. Klasse. Hier
sollen Belohnungssysteme für gute Mitarbeit (z.B. durch Smilieys) zur Einhal-
tung der Regeln sowie zur Selbstregulierung animieren.
Nach der Stillarbeit sollen sich die Kinder selbst einschätzen, ob sie ein Smiley bekommen.
Alle Kinder werden einzeln aufgerufen, sie sollen sich selbst einschätzen, sie sollen die Dau-
men zur Bewertung nehmen, und die Lehrerin kommentiert. Sie werden in der Smiley-Liste
weitergesetzt oder nicht. (…) Yassin versteckt sich halb unter dem Tisch, als er dran ist, zeigt
mit dem Daumen nach unten. Die Lehrerin: „Yassin, oh, er versteckt sich sogar. Steh dazu!
Setz dich mal hin und steh dazu. (Fp1-S1-K1-P4)
In der Selbstbeurteilungsrunde schätzt Yassin seine eigene Leistung derart ge-
ring ein, dass er nicht nur den Daumen ganz nach unten zeigt, er kriecht auch
noch unter den Tisch, als würde er sich ‚in Grund und Boden‘ schamen.7 Die
Lehrerin nimmt dies als Anlass für eine öffentliche Disziplinierung. Sie fordert
ihn auf, sich mit seiner negativen Selbsteinschätzung vor der Klasse zu zeigen,
diese sichtbar zu machen, „dazu zu stehen“ und Verantwortung für sein Ver-
halten zu übernehmen. Männlichkeitstheoretisch kann dies auch als Aufforde-
rung zu einer Resouveränisierung verstanden werden, da er dazu angehalten
wird, die unangenehme Situation öffentlich und souveran ‚auszuhalten‘ und
seine negativen Emotionen nicht zu zeigen.
In einer 4. Klasse einer marginalisierten Grundschule prägen zahlreiche
Konflikte die Atmosphäre in der Klasse. Die Klassenlehrerin und eine
Erzieherin bemühen sich in einer Stunde soziales Lernen, die Schüler*innen
zur Selbstreflexion, -regulation und -kontrolle anzuregen. Vorher aufgeflam-
mte Konflikte in der Klasse sollen dadurch bearbeitet werden, dass jedes Kind
anonym aufschreibt, was in der Klasse schiefläuft und was es dafür tun kann,
damit sich alle wieder wohl fühlen. Auch wird direkt an die Verantwortung der
Kinder appelliert, in diesem Fall für das Klassenklima und die eigene
Handlungsmöglichkeit. Die Pädagoginnen fragen nach Vorschlägen, was die
Schüler*innen selbst dafür tun können, um das Klassenklima zu verbessern.
Die Lehrerin und die Erzieherin wollen darauf hinaus, dass „jeder auf sich
selber schaut“. Viele Kinder überbieten sich stattdessen mit Vorschlagen für
Strafmaßnahmen: Für Beleidigungen zehn Minuten vor der Tür stehen, für
Quatschen im Unterricht auf einem Bein stehen, ein dickes Buch lesen müssen
oder der Hausmeisterin helfen, den Schulhof sauber zu machen usw.
Besonders drastische Strafen werden von einigen der Jungen in der Klasse
vorgeschlagen. Daraufhin interveniert die Erzieherin:
7 Die Situation könnte auch als ein Versuch Yassins gelesen werden, durch ‚jungentypisches‘
Underachievement und Leistungsverweigerung eine besondere Coolness auszudrücken und
Anerkennung durch die männlichen Peers zu bekommen. In der ersten und zweiten Klasse
sind jedoch alle Jungen (und Mädchen) noch sehr bestrebt, den Anforderungen der Lehrerin
zu entsprechen und ihre Anerkennung zu bekommen. Zudem hat Yassin eine sehr prekäre
Position in der Klasse, er scheitert mit seinen Versuchen, Freunde und Anerkennung zu
finden.
129
„Wir findens ehrlich gesagt komisch, dass ihr euch immer nur Strafen ausdenkt und nicht
überlegt, was man besser machen kann“ sagt die Erzieherin. „Nein, Strafen!“ ruft Milo. „O-
der was du selber tun kannst […] du bist derjenige, der hier mit am meisten quatscht und der
sich die meisten Strafen ausdenkt. Wie willst du es schaffen, dass du gar nicht bestraft
wirst?“ „Gar nicht. Kann ich nicht schaffen“ sagt Milo. „Nur über Strafen?“ fragt die Erzie-
herin. „Ja!“ „Das ist traurig“ sagt die Erzieherin.
Dann fragt die Lehrerin noch einmal „Was könnt ihr tun, jeder von Euch, damit es leiser ist.
Es gibt z.B. eine ganz einfache Sache“. „Schlagen!“ ruft Milo. Kichern in der Klasse. „Äh,
ich habe dich weder aufgerufen noch war das ein konstruktiver Beitrag“ sagt die Lehrerin.
Weitere Strafen werden reingerufen, Gino ruft „Handy in die Kiste“. „Nein!“ ruft sie. „Was
kannst DU tun?“ „Nix“ sagt Bassam. (Fp2-S1-K2-P8)
Den Schüler*innen, insbesondere den Jungen, fallen keine Möglichkeiten ein,
wie sie selber zu einem besseren Klassenklima beitragen können. Milo meint,
er könne „nichts tun“ und skizziert damit ein quasi naturalisierendes Verständ-
nis von regelunkonformen Verhalten. Dem begegnet die Erzieherin durch
Emotionalisierungen („traurig“), um Folgen der permanenten Regelbrüche
kenntlich zu machen. Auch Bassam sagt, er kann „nichts tun“, um die Situation
zu verbessern. Mit ihrem Spiel, bei dem sich insbesondere die Jungen in ihren
Strafforderungen zu überbieten suchen, provozieren die Schüler die Päda-
gog*innen und üben Widerstand und Grenzüberschreitung ein, womit sie zu-
gleich für einen kurzen Moment Handlungsmacht gegenüber den Bemühungen
der Pädagog*innen erlangen. Milo und Bassam inszenieren zugleich Wider-
ständigkeit, Souveränität und Autonomie gegenüber der Lehrerin und Erziehe-
rin. Die Schüler wehren sich gegen eine Verantwortungsübernahme für das
eigene Verhalten und fordern konkrete Bestrafungsmaßnahmen anstatt einer
Selbstregulierung und -disziplinierung. Sie verweigern Selbstoptimierung,
Selbstkontrolle und Selbstdisziplinierung zugunsten einer autoritären Fremd-
regierung. Damit zeichnen sie zugleich ein Selbstbild, welches von Distanz zur
schulischen Verhaltensordnung gekennzeichnet ist und mit Blick auf Diszipli-
nierungen größte Härte einfordert.
Im Vergleich dazu ist eine stärkere Verinnerlichung von Machtpraktiken in
der bildungsbürgerlichen Schule und stärkere Widerstände gegen gouverne-
mentale Selbsttechnologien in der marginalisierten Grundschule zu beobach-
ten. Jedoch finden sich in jeder Grundschulklasse auch vereinzelte Mädchen,
die ‚stören‘, Konflikte austragen und die diszipliniert werden. Es bestätigt sich
im Material, dass regelunkonforme Mädchen zugleich soziale Erwartung an
‚madchenhaftes Verhalten‘ durchkreuzen (Budde et al. 2008): 111) und härter
sanktioniert werden. In der 8. Klasse zeigen sich deutlich weniger Diszipli-
nierungen und im städtischen Gymnasium weniger als im ländlichen. In der
gymnasialen Oberstufe wird so gut wie nicht mehr diszipliniert, hier ist die
soziale Segregation weitestgehend durchgesetzt, zudem sind die Leistungs-
und Verhaltensanforderungen von den Schüler*innen internalisiert. Die Diszi-
plinierungspraktiken unterscheiden sich insofern nicht nur in Bezug auf
Geschlecht, Alter der Schüler*innen und ihrer der sozialen Positionierung in
130
der Klasse und Schule, sondern auch in Bezug auf die Schulform (marginali-
sierte Schule, Gymnasium) sowie dem Sozialraum der Schule.
4.5 Infantilisierung
Eine spezifische Variante der Disziplinierungen stellt die Infantilisierung dar,
die sowohl in der Grundschule als auch der 8. Klasse ausschließlich bei Jungen
zu finden ist. Das Verhalten dieser infantilisierend angesprochenen Jungen
wird als nicht altersangemessen bewertet. In der Grundschule ist die Infantili-
sierung verknüpft mit dem Motiv des Clowns, das in der Ansprache von Leh-
rer*innen ausschließlich für Jungen verwendet wird. Das Motiv des Clowns
wird zum einen negativ im Zuge von Disziplinierungen als Infantilisierung
verwendet, in der die Lehrerin mit einer Gruppe Jungen schimpft.
„Aber ich finde das ein UNDING! Dass ihr versucht, bei anderen Erwachsenen hier versucht
die Klassenclownies zu spielen oder laut rumzuschreien“ (Fp6-S4-K6-P3)
Das Verhalten der Schüler wird über den Begriff des „Clowns“ als altersunan-
gemessen markiert. Der Clown will „spielen“ wie ein Kind und sich nicht ra-
tional an Erwachsenenregeln halten. Auch die Disziplinierung in der „Sonnen-
kinderstunde“ (vgl. Kap. 6) markiert eine Kritik an der Positionierung als
Clown. Während der Clown für die Kindheit noch als legitime Subjektposition
erscheint, so wird dieser im Laufe der Adoleszenz zunehmend fragwürdiger.
Ab einem gewissen Alter verhält sich der Clown nicht mehr kindlich, sondern
kindisch und damit altersunangemessen. In der 8. Klasse wird das Verhalten
eines Jungen im Gespräch zwischen zwei Lehrer*innen immer wieder mit der
Formulierung „das ist Kindergarten“ adressiert. Dies verdeutlicht auch eine
Schülerin der 8. Klasse in einem Einzelgespräch.
„Also in unserer Klasse gibt es halt so ein paar Klassenclowns, und so sollte so ein Junge
natürlich nicht sein“ sagt Marla (Fp5-S3-K5-P11).
Das Junge-Sein geht mit zunehmendem Alter mit heren Erwartungen an
Vernunft und Selbststeuerung einher, denen der Clown gerade nicht entspricht.
Männlichkeitskonstruktionen richten sich in diesem Sinne im Laufe der
Sozialisation auf die Herausbildung eines rationalen und ernstzunehmenden
Subjektes. Das Motiv des Clowns stellt aufgrund des generationalen Bezuges
eine implizite Vergeschlechtlichung dar – Geschlecht wird zwar nicht benannt,
aber indirekt adressiert und mit vergeschlechtlichten Verhaltenserwartungen
verbunden.
Bei Mädchen hingegen findet sich die gegenteilige Adressierung: Die
jüngste Schülerin einer 8. Klasse wird im Gespräch von zwei Lehrer*innen als
„frühreif“ bezeichnet. Es zeigt sich, dass hier ein normatives Verstandnis von
‚altersangemessener‘ Entwicklung transportiert wird, dass zugleich verge-
schlechtlicht (und im Falle des Madchens auch sexualisiert) ist: Das ‚zu weit-
131
entwickelte‘ Madchen und der ‚noch-nicht-weit-genug-entwickelte‘ Junge.
Mädchen dürfen kindlich sein, bei ihnen gilt eine ist eine zu frühe Entwicklung
als problematisch. Bei Jungen hingegen wird ‚zu kindliches‘ Verhalten kriti-
siert.
4.6 Inszenierung sportlicher Männlichkeit
Insbesondere der Sportunterricht erweist sich als anfällig für die Reproduktion
stereotyper Geschlechter- bzw. Männlichkeitskonstruktionen. Angesichts des
wettkampfs-, leistungs- und körperorientierten Sportunterrichts in allen beo-
bachteten Schulen werden dementsprechende Männlichkeitsbilder aufgerufen
und verstärkt (Frohn 2020). So bezeichnet ein Sportlehrer einen Jungen als
„Helden“, als dieser ein Tor geschossen hat. Im Sportunterricht kommt es mit
zunehmendem Leistungsanspruch im Gymnasium zu Beschämungen von we-
niger sportlichen Jungen. So kristallisiert sich ein Männlichkeitsideal des
‚sportlichen und beliebten Jungen‘ heraus (vgl. Stuve 2016). Im Sportunter-
richt einer 8. Klasse etwa geht es um einen Jungen, der den sportlichen Anfor-
derungen und Körpernormen nicht entspricht.
„Carl kann schon nicht mehr!“ ruft der Lehrer durch die Halle. „Carl hat schon allen Sauer-
stoff weg?!“ ruft er. Carl grinst, er ist ganz rot im Gesicht. Der Lehrer ruft Aufforderungen
und Kommentare durch den Raum. Jetzt sollen sie nochmal 5 Liegestütz machen. Er lobt
jetzt Carl „ja, Hintern hoch lassen, die sind gut! Genau so! Du bist ganz weit unten!“ Alle
anderen sind schon fertig und schauen jetzt auf Carl. Er geht in die nächste Liegestütze.
„Genau darum geht es!“ ruft der Lehrer zwei Mal. Carl bricht zusammen. Er murmelt etwas
von Armen und grinst. Er ist rot im Gesicht. Lachen in der Klasse (Fp5-S3-K5-P3).
Der Lehrer kommentiert vor der gesamten Klasse Carls fehlende Ausdauer und
schlechte Leistung. Durch die Verwendung der dritten Person adressiert der
Lehrer nicht direkt Carl, sondern macht die Klasse auf die unsportliche
Performance aufmerksam und stellt ihn vor der Klasse bloß. Später lobt er Carl
für seinen Liegestütz, aber auch das Lob wird zu einer öffentlichen Beschäm-
ung, als die ganze Klasse dabei zuschaut, wie Carl zusammenbricht. Carls
Grinsen kann als Zustimmung zur Unterordnung interpretiert werden, mit dem
er keine weitere Ausgrenzung durch den Lehrer riskiert, sondern damit seiner
Unterordnung zustimmt. Widerspruch hingegen könnte zu einer erneuten
Bloßstellung und Unterordnung führen.
Bisweilen werden Männlichkeitsvorstellungen im Sportunterricht auch un-
mittelbar aufgerufen. Ein weiterer Sportlehrer bezeichnet Merkball als ein
Spiel, „das eher für Jungen interessant ist. Das kann man natürlich auch hin-
terfragen, jeder gegen jeden, jeder wirft jeden ab, das hat etwas Kriegerisches“
(Fp3-S2-K3-P5). In anderen, weniger offensichtlich auf Körperlichkeit und
Wettbewerb orientierten Unterrichtsfächern konnten diese offensichtlichen
Muster der Herstellung von Differenz und Dominanz nicht in gleicher Weise
132
beobachtet werden. In der Summe zeigt sich, dass insbesondere im Sportun-
terricht traditionelle Körpernormen und Männlichkeitskonstruktionen sowie
Bilder des Kriegerischen, Kämpferischen und des sportlichen Helden aufgeru-
fen werden.
4.7 Pädagogische Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit und
Entstereotypisierung
Neben diesen Männlichkeitskonstruktionen finden sich auch vielfaltsorien-
tierte pädagogische Praktiken. Auffällig ist, dass Geschlecht in den pädagogi-
schen Interaktionen – jenseits der bereits beschriebenen Verwendung von Ge-
schlecht als Ordnungskategorie nur selten bewusst aufgerufen wird. Viele
Lehrer*innen verwenden keine (dezidiert) vergeschlechtlichten Stereotype,
wobei unklar bleibt, ob hier eine bewusste Nicht-Thematisierung vorliegt oder
Geschlecht eine „ruhende Kategorie“ darstellt (in dieser pädagogischen Inter-
aktion also einfach keine Rolle spielt). Weiter zeigen viele insbesondere in
der Grundschule, aber auch noch in der Oberstufe sorgende Praktiken und
viele Lehrer*innen unterstützen Schüler*innen in ihren Empfindsamkeiten
und Eigenheiten, auch wenn sie sich damit nicht geschlechterkonform verhal-
ten. Es sind auch keine Abwertungen von Jungen (oder Mädchen) zu beobach-
ten, die Geschlechtergrenzen überschreiten. Eine Lehrerin begleitet und unter-
stützt beispielsweise einen trans Jungen bei seinem coming-out in der Schule.
In einigen Unterrichtsstunden finden sich dezidiert Bemühungen seitens
der Lehrer*innen, Geschlecht nicht zu stereotypisieren, Geschlechterun-
gleichheit auszugleichen und didaktisch zu bearbeiten oder als Unterrichts-
thema kritisch zu behandeln. So spricht eine Lehrerin der 8. Klasse geschlech-
tergerecht mit gender-gap und verwendet im Geschichtsunterricht historische
Quellen aus verschiedenen Perspektiven, z.B. aus verschiedenen Ständen, von
Frauen etc. Ein Politiklehrer diskutiert mit seinem Kurs der 11. Klasse über
Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechterstereotype. Dennoch können, so
zeigt sich im Material, auch in geschlechterkritischen Perspektiven Stereotyp-
isierungen reproduziert werden. Eine Lehrerin versucht beispielsweise,
Mädchen zu ermutigen, sich für einen Kurs zu abstrakter Mathematik anzu-
melden, in dem bislang nur Jungen sind. Dabei wird – so zeigt sich im Material
an anderer Stelle das Bild des zu stärkenden, nach Sicherheit suchenden
Mädchens reproduziert, das in der pädagogischen (geschlechterkritischen)
Interaktion zugleich abgewertet wird. Aufgerufen wird dabei ebenso das
komplementäre Bild des selbstbewussten, autonomen Jungen.
133
5 Geschlechtsbezogene Praktiken von Peers
Die Herstellung von Geschlechtsunterschieden und -ungleichheiten unter
Schüler*innen zeigt sich ebenfalls anhand unterschiedlicher Phänomene. Wie
bei den Lehrkräften existieren auch bei den Schüler*innen dominanz- und viel-
faltsorientierte Praktiken nebeneinander. Auch wenn sich im Material insge-
samt nur wenige explizite vergeschlechtlichte Hierarchisierungen und Abwer-
tungen zeigen, finden sich einzelne Beispiele, die verdeutlichen, dass sich
Junge-Sein als vergeschlechtlichte Subjektposition in Abgrenzungspraktiken
sowohl gegenüber anderen Jungen als auch gegenüber Mädchen bzw. Weib-
lichkeit konstituiert. Jedoch zeigen sich auch vielfaltsorientierte und ge-
schlechterkritische Praktiken.
5.1 Abwertung, Hierarchisierungen und Dominanz von Jungen
In einem der wenigen Beispiele expliziter hierarchisierender Abgrenzung von
Mädchen wird ein Schüler der 1./2. Klasse von seinem Sitznachbarn damit ge-
argert, dass er in seiner Federtasche einen rosa Buntstift (als „Madchenfarbe“)
hat. In der 2. Klasse einer eher bildungsbürgerlichen Schule werden bestimmte
Formen des Mädchen-Seins abgewertet, z.B. wird ein Mädchen mit langen,
blonden Haaren von zwei Jungen und einem Mädchen mit dem Schimpfwort
„Tussi“ beleidigt. ‚Tussi‘ steht z.B. für lange, blonde Haare oder rosafarbene
Kleidung, was zugleich auf klassierende Momente verweist.
Insbesondere in der marginalisierten Grundschule kommt es unter den
Jungen zu sichtbaren Hierarchisierungskämpfen, die von Konkurrenz und
Beleidigungen bis hin zu gewalttätigen körperlichen Konflikten reichen, in
denen Dominanz ausgehandelt wird. Vor allem in Pausen entstehen Konflikte
auch mit Jungen aus anderen Klassen. Bisherige Studien ordnen solche
Mannlichkeitsinszenierungen bspw. als protestierende Mannlichkeit“ (Con-
nell 1999) ein sowie als „situative Ressource“ (Spindler 2003) bzw. als „Oppo-
sitionsstrategie“ (Stuve und Debus 2012). Vor dem Hintergrund der Vorent-
haltung hegemonialer Männlichkeitsversprechen lassen sich diese Männlich-
keitskonstruktionen auch als Ringen um Anerkennung und als Widerstand
gegen gesellschaftliche Marginalisierung und Exklusion verstehen (vgl. Well-
graf 2012). Allerdings führen solche Handlungsformen zu Passungsproblemen
bezüglich der mittelschichtsgeprägten Schulkultur (vgl. Thielen 2010). In der
eher bildungsbürgerlich geprägten Grundschule handeln die Jungen und
Mädchen Hierarchisierungen meist versteckter aus.
Hierarchisierungen unter Jungen sowie zwischen Jungen und Mädchen
deuten sich in allen Klassen über Gruppenzugehörigkeiten und Beliebtheit an,
zum Beispiel, wer im Sportunterricht in die eigene Mannschaft gewählt wird
(„ihr nehmt Samra, ich habe schon Ida genommen“), wer in Anrufungsketten
134
drangenommen wird, wer beim klasseninternen Briefe-Schreiben wie viele
Briefe bekommt oder wer in Arbeitsgruppen nicht integriert wird. Diese Zuge-
hörigkeiten und Beliebtheiten beinhalten zum Teil ethnisierende und klassi-
sierende Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen und/oder rufen verge-
schlechtlichte Anforderungen auf, lassen sich jedoch (insbesondere im Kon-
text Unterrichtsbeobachtungen) nicht ohne Weiteres vereindeutigend interpre-
tieren. Insbesondere auch in den höheren Klassen auf dem Gymnasium (8. und
11. Klasse) zeigen sich Hierarchisierungen und Ausgrenzungsmechanismen
zunehmend subtiler, hier sind soziale Verhaltensanforderungen der Schule be-
reits verinnerlicht.
In den Unterrichtsbeobachtungen finden sich darüber hinaus rassifizie-
rende Ausgrenzungspraktiken, die mit Konstruktionen von Männlichkeit ver-
woben sind. In der bildungsbürgerlichen Grundschule werden von mehreren
Schülerinnen drei Schüler als die ‚rumanischen Kinder‘ stigmatisiert und aus-
gegrenzt („Die rumanischen Kinder mögen wir nicht“). Die Herkunft der Jun-
gen wird zum Aufhänger eines ausgrenzenden und homogenisierenden Spre-
chens gemacht. Insbesondere in der 4. Klasse der marginalisierten Grund-
schule kommt es zu Ausgrenzungen, Abwertungen und rassifizierenden Belei-
digungen der Kinder untereinander. Die Praktiken der Jungen bzw. Kinder er-
weisen sich jedoch als vielfältig (wie Kapitel 5.3 und 5.4 zeigen). Zugleich
finden sich Aushandlungsprozesse um die soziale Positionierung. Ausschließ-
lich bei marginalisierten Jungen in der Grundschule zeigt sich ein Begehren
oder Demonstrieren von Konsumgütern bzw. Fantasien des Millionär-Seins.
Dies kann als Aushandlungsprozess mit gesellschaftlichen Abwertungs- und
Rassifizierungsmechanismen und dem Generieren und Stabilisieren eigener
gesellschaftlicher Positionierung betrachtet werden (vgl. Thielen 2010, Well-
graf 2010).
5.2 Vergeschlechtlichte Alltagspraktiken
Bereits in der Grundschule spiegelt sich die Bedeutsamkeit von Geschlecht in
den unterschiedlichen Interessen und Hobbies von vielen Jungen und
Mädchen. In einer zweiten Klasse begeistern sich die meisten Mädchen
allgemein für Tiere, während sich die meisten Jungen für Fußball, Skateboard-
Fahren und Dinosaurier (bzw. Raubtiere) interessieren. Bei einigen Jungen der
zweiten Klasse lassen sich Orientierungen an traditionellen Männlichkeits-
konstruktionen von Stärke und Dominanz auch daran erkennen, dass sie im
Sportunterricht in Freispielphasen Muskeltraining mit Hantel sowie an Reck-
stangen machen. Insbesondere digitale Spiele sind im Lebensalltag von Jungen
bedeutsam. So berichten im Morgenkreis in der Grundschule ausschließlich
Jungen von Computerspielen. Die Spiele haben eine wichtige Funktion für die
Selbstdarstellung und die Anerkennung unter den Peers. Das Spiel „Fortnite
135
etwa hat für die Grundschüler eine große Attraktivität, es ist erst ab 12 Jahren
empfohlen und übt insofern den Reiz des Verbotenen aus. Durch das Spielen
und das Sprechen über die Spiele wird Zugehörigkeit, Gemeinschaft und
‚Coolness‘ verhandelt. Ähnliches außert sich auch in Schilderungen von
Horrorfilmen, die manche Jungen der Grundschule behaupten, gesehen zu
haben. Die Gewalterzählungen dienen auch der Darstellung der eigenen
Furchtlosigkeit und Souveränität. Die Inszenierung des Junge-Seins, der sich
mit der Aura des Gefährlichen umgibt, ist insbesondere in der marginalisierten
Grundschule und bei einzelnen Jungen aus der anderen Grundschule relevant
und verweist auf die soziale Positionierung der Jungen.8 Die Bedeutsamkeit
digitaler Spiele zeigt sich ebenso bei den Schülern der beobachteten
gymnasialen achten Klassen, die sich in den Pausen vor allem mit ihren
Handys beschäftigen.
Diese geschlechtlich aufgeladenen Interessen werden nur von wenigen
Kindern durchkreuzt. Es scheint noch immer schwieriger für Jungen zu sein,
Geschlechtergrenzen zu überschreiten. Manche Mädchen und nur ein Junge
nennen explizit geschlechtsuntypische Hobbies und Interessen. Samuel aus der
zweiten Klasse bedauert beispielsweise mehrfach, dass sich andere Kinder
nicht wie er für Ballett und Opern interessieren würden, sondern nur für Fuß-
ball.
„Ich würde gern Balletttanzer sein. Ich liebe Ballett. Es gibt so schöne Lieder. Und ich bin
auch ein großer Fan von Tschaikowski“. (…) „Ich weiß nicht, ob ich das wirklich machen
will. Aber…die Jungen machen fast gar nicht Ballett. Es gibt nur wenige, der Nussknacker
und der Prinz aus Schwanensee, das sind beides Jungen.“ (Fp6-S4-K6-P15)
Samuel äußert Begeisterung für Ballett, benennt sachkundig Komponisten und
formuliert Interesse an einer entsprechenden Berufsperspektive, er verweist
damit zugleich auf seine soziale Positionierung. Gleichzeitig ist ihm bewusst,
dass dieses Interesse nicht den Geschlechternormen entspricht, weil „Jungen
fast kein Ballett machen“ und weil es wenig mannliche Rollen gibt. Ablehnung
erfährt er wegen seines Hobbys (während der Unterrichtsbeobachtungen)
scheinbar nicht, auch in den weiteren Unterrichtsbeobachtungen zeigt sich da-
hingehend zwar keine Abwertung von Kindern und Jugendlichen, die ge-
schlechternormendurchkreuzende Interessen äußern. Dennoch so zeigt sich
anhand des Materials an anderer Stelle scheinen Ängste, bzw. Druck unter
Peers zu bestehen, sodass ‚untypische‘ Interessen erschwert werden.
8 Von Seiten der Lehrer*innen bekommen sie dafür keine Anerkennung, sondern Ablehnung.
So dürfen die Kinder in der zweiten Klasse nur in der Pause und nicht im Morgenkreis oder
beim Bastelprojekt untereinander über Computerspiele sprechen. In der 1./2. Klasse wird das
Fortnite-Spielen zum Anlass und Aufhänger der Problematisierung des Sozialverhaltens
eines Schülers herangezogen und Elterngespräche geführt.
136
5.3 Nicht-dominante und sorgende Praktiken
In allen beobachteten Klassenstufen gibt es vielfältige Körperkontakte unter
Jungen, mehr als unter Mädchen.9 Frühere Studien beschreiben den Körper-
kontakt unter Jungen (vor allem in protestantischen Kulturen) überwiegend
kumpelhaft, spielerisch-kämpferisch und verweisen auf ein gleichgeschlecht-
liches Berührungstabu unter Jungen, welches das System hegemonialer Männ-
lichkeit auszeichne.10 Jedoch werden auch selbstverständliche Berührungen
und Zärtlichkeiten unter Jungen fast aller Klassenstufen ausgetauscht, ohne
sichtbare Irritationen bei anderen Schüler*innen oder Lehrer*innen auszulö-
sen. Im Matheunterricht der ersten und zweiten Klasse einer großstädtischen
Grundschule etwa beziehen sich Carlo und Paul intensiv aufeinander.
Carlo und Paul unterhalten sich die ganze Zeit. Carlo zupft an Paul, will seine Aufmerksam-
keit. Nimmt seinen Arm und küsst ihn dreimal. (Fp1-S1-K1-P5)
Carlo und Paul interagieren auf einer körperlich intensiven Ebene miteinander.
Der eine küsst den anderen, dies führt nicht zu Abwehr, sondern im Gegenteil
dazu, dass die beiden bei einer anschließenden Aufgabe zusammenarbeiten
möchten. Auch bei älteren Schülern zeigt sich eine recht selbstverständliche
Körperlichkeit. So wurde etwa folgende Interaktion zwischen zwei Schüler im
Leistungskurs Informatik der 11. Klasse beobachtet, die nebeneinander an
ihren Computern sitzen und eine Aufgabe bearbeiten.
Daniel packt Hoa neben sich: „Was ist los?“ Er zieht ihn an sich ran. „Brauchst du ein biss-
chen…brauchst du ein bisschen…?“ Er drückt ihn an sich, streichelt ihn fest, klopft ihn auf
den Rücken und Schulter. Hoa lehnt kurz seinen Kopf an seine Schulter. Dann arbeiten sie
weiter.( Fp4-S2-K4-P1)
Daniel nimmt Hoa in den Arm, scheinbar hat er den Eindruck, dass Hoa Trost
und Zuwendung benötigt. Hoa signalisiert Zustimmung zur körperlichen Zu-
wendung von Daniel, indem er seinen Kopf an dessen Schulter lehnt. Auch
wenn ihr Körperkontakt etwas ‚kumpelhaftes‘ hat, drückt diese Szene doch
Zärtlichkeit, Nähe und Fürsorglichkeit aus. Ähnliche Praktiken lassen sich in
allen untersuchten Schulen und Jahrgangsstufen dokumentieren. Entgegen den
Befunden früherer Jungenforschung (z.B. Budde 2005, Jösting 2005) ist dies
nicht mit Abwertungen verbunden. Luttrell (2012) macht allerdings darauf auf-
9 Einzige Ausnahme ist hier die 4. Klasse einer marginalisierten Grundschule, in der eine At-
mosphäre des gegenseitigen Beschimpfens, ethnisierender Beleidigungen, Abwertungen und
Mobbings herrscht. Hier waren kaum Körperkontakte unter Jungen bzw. generell in der
Klasse zu beobachten.
10 Berührungen unter Jungen und Männern stehen danach unter Homosexualitätsverdacht,
wenn sie nicht im ritualisierten Rahmen von Rangeleien etc. erfolgen (Breidenstein Kelle
1998; Budde 2005; Menze-Sonneck 2015: 186f). Im Material finden viele spielerischen
Kämpfe und Rangeleien primär zwischen Jungen statt. Zudem sind Jungen häufiger
Ausübende und Betroffene von körperlichen Grenzverletzungen als Mädchen.
137
merksam, dass Sorge-Praktiken bei Jungen lange Zeit dem Blick der For-
schung entgangen sind. Insofern ist unklar, ob sich der Blick auf Jungen ver-
ändert hat, oder ob sich tatsächlich Artikulationen und Ausprägungen des
Junge-Seins bzw. Männlichkeit transformiert haben.
5.4 Aushandlungen von geschlechterkritischen Positionen
Einige Jungen (insbesondere, aber nicht nur in der marginalisierten Grund-
schule) artikulieren traditionelle Geschlechterbilder. Die Praktiken der Jungen
jedoch erweisen sich als vielfältig und widersprechen teils diesen Bildern. So
reden viele Jungen offen über Ängste z.B. vor der Schule, vor Gespenstern
oder vor einem Arztbesuch. Explizit geschlechterkritische Positionen aller-
dings werden nicht öffentlich formuliert. In der eher bildungsbürgerlich ge-
prägten Grundschule äußern einige Mädchen einer zweiten Klasse bereits ge-
schlechterkritisches Wissen, z.B., dass es „keine Madchen- oder Jungenfar-
ben“ gabe. Mehrere Madchen berichten von Freunden, die gerne Röcke oder
rosafarbige Kleider tragen und Nagellack benutzen. Eine Schülerin einer länd-
lichen 8. Klasse kritisiert in einem Einzelgespräch die körperlichen Erwartun-
gen und Druck im Sinne von Schönheitsnormen, denen sie sich als Mädchen
seitens der Jungen in der Schule ausgesetzt fühlt.
In der folgenden Passage aus einer Sportstunde in einer achten Klasse im
Gymnasium werden Geschlechtergrenzen- und -erwartungen unterlaufen.
Während der Beobachtung ist die Klasse geteilt, einige absolvieren draußen
mit dem Lehrer eine Leichtathletikprüfung, die anderen spielen frei in der
Sporthalle. Zunächst spielen zwei sehr kleine geschlechtergemischte
Mannschaften Basketball. Die Mannschaften wechseln ständig, da immer neue
Schüler*innen von draußen reinkommen, die ihre Prüfung absolviert haben
und andere hinausgehen. Die Aufteilung der Mannschaften scheint problemlos
und einvernehmlich. Zwei eher unsportliche Jungen Bengt und Dennis
wollen unbedingt zusammen in einer Mannschaft bleiben. In ihrer Mannschaft
werden sie von der besten Spielerin der Klasse gleichberechtigt einbezogen
und sie bekommen den Ball, auch wenn sie nicht gut spielen. Als die
Mannschaften immer größer werden, schlägt diese schließlich vor, Jungen
gegen Mädchen zu spielen.
Bengt steht nun am Rand des Feldes, Dennis stellt sich zu ihm. „Ich finde Jungen gegen
Madchen schlecht. Dann spielen wir gar nicht mehr.“ Er sagt noch etwas über Rico, dass er
der einzige ist, der abgibt. „Wir stehen hier rum“ sagt Bengt zu Dennis, als sie übers Feld
gehen. Sie gehen in Richtung Umkleidekabine. Als sie wiederkommen, setzen sie sich auf
die Bank. (Fp5-S3-K5-P8)
Bengt reagiert kritisch auf den Vorschlag, geschlechtshomogene Mannschaf-
ten zu bilden und moniert, dass sie in einer reinen Jungenmannschaft nicht
mehr zum Zuge kommen würden, da sie keinen Ball mehr erhalten würden. Er
138
kritisiert damit die Hierarchisierung unter den Jungen und die wenig integra-
tive Spielweise der Jungenmannschaft. Tatsächlich stehen Bengt und Dennis
nur noch am Feldrand und verlassen das Spielfeld, ohne dass es weiter auffällt
oder kommentiert wird. Als sie zurück ins Feld gehen und wieder mitspielen,
bekommt Bengt im Spielverlauf den Ball.
Bengt hat den Ball. Er halt ihn fest. Einige Jungen rufen „Bengt!“, damit er ihnen den Ball
abgibt, Bengt überlegt eine Weile mit dem Ball im Arm, gibt ihm schließlich einem Mäd-
chen. „Ha?“ sagt Carl laut. „Bengt ist bei den Madchen“ sagt einer. Bengt grinst. Dennis
grinst ihn an. (Fp5-S3-K5-P8)
Bengt verweigert sich der Jungenmannschaft und unterläuft die Einteilung in
die homogene Jungengruppe, in der sich nur noch die besseren Spieler den Ball
untereinander zuwerfen und die schlechteren untätig herumstehen. Er gibt ei-
nem Mädchen aus der gegnerischen Mannschaft den Ball, um seine Zwangs-
einteilung nach Geschlecht zu unterlaufen und wieder in einer gemischten
Mannschaft zu spielen. Zwar drückt Carl Verwunderung aus, aber ein anderer
erklart ohne Zögern, dass Bengt „bei den Madchen ist“. Zwischen Bengt und
Dennis entsteht eine Solidarisierung, sie grinsen sich über die widerständige
Ballübergabe an. Bengts Protest wird nicht weiter kommentiert und seine Zu-
gehörigkeit zur Mädchenmannschaft ohne Wertung hingenommen, obwohl er
den Ball der gegnerischen Mannschaft zugespielt hat.
Paul (11. Jahrgangsstufe) kritisiert ebenso die Männlichkeit Erwartungen,
die männliche Mitschüler im Sportunterricht an ihn richten:
Aber auch, dass erwartet wird von den anderen Leuten im Kurs, dass man irgendwie, keine
Ahnung, ganz viele Tore schießen kann, wenn Fußball dran ist, oder dass man irgendwie gut
dribbeln kann in Basketball, dass man irgendwie alles gut kann. Und wenn nicht, dass man
das wenigstens besser kann als die ganzen anderen Mädchen im Kurs. Und das war in Bad-
minton so, letztes Semester hatte ich Badminton, und ich war sehr Mittelmaß. Und da gab es
einige Mädchen, die voll gut waren in Badminton. Und das war mir erst mal egal. Aber da
gab es halt andere Leute im Kurs, die Enttäuschung gezeigt haben das Semester über, Leute,
die halt krass in Badminton waren, die aber erwartet haben, dass alle anderen Jungs auch
genauso gut sind oder besser sind als die Mädchen. Und das war sehr anstrengend. (Fp4-S2-
K4-P9)
In einer bereits zitierten Politikstunde einer 11. Klasse zum Thema Geschlech-
tergerechtigkeit äußern einige der Jungen geschlechterkritische Positionen und
verfügen über ein hohes Maß an gender-Wissen. So wirft Bela vehement ein:
„Biologisch ist das Zwei-Geschlechter-Modell überholt bzw. verwerflich“. Er
kritisiert die Konstruktion biologischer Zweigeschlechtlichkeit. Mehrere
Schüler schildern, dass trotz aller erreichten Geschlechtergerechtigkeit nach
wie vor keine gänzliche Gleichberechtigung herrsche.
Bela meldet sich „Als ich als ich in der 7. Klasse war oder so dachte ich schon, dass die
Gleichberechtigung so halbwegs erreicht ware, dann habe ich meine Meinung geandert.“
Berufsorientierung habe seine Einstellung geändert. Da kam raus, für Frauen sei es sehr
schwer, Frauen müssten sich entscheiden zwischen Karriere und Familie. „Das ist maximal
139
falsch, das muss geändert werden, weil der Mann muss ja auch nicht entscheiden zwischen
Familie und Karriere“ Er redet vom Gender Pay Gap. Der sei zwar nicht so hoch wie z.B. in
den USA, aber „das soll weiterhin bekampft werden.““ Fp4-S2-K4-P7.
Bela schildert, wie er seine Meinung über Gleichberechtigung durch die schu-
lische Berufsorientierung geändert habe. Mittlerweile sehe er, dass es keine
Gleichheit zwischen den Geschlechtern gebe, denn Frauen müssten sich im
Gegensatz zu Männern zwischen Karriere und Familie entscheiden. Dieses
‚maximal Falsche‘ müsse geandert werden, wobei konkrete Schritte offenblei-
ben. Lars hingegen vertritt in der Diskussion die Position des Unternehmens.
Lars sagt „in der Berufswelt ist es, wenn eine Person für ein Jahr ausfällt, oder länger, z.B.
wegen einer Schwangerschaft, dann ist das nicht gut für ein Unternehmen. Protest regt sich
im Kurs „Oh man ey!“ stöhnt Bela, wahrend Lars redet. Bela widerspricht laut „Eine Frau
fällt nicht automatisch ein Jahr aus! Das ist das, was von der Gesellschaft erwartet wird, aber
das ist falsch!“ Gleichzeitig sagt Lars „ja, oder selbst halt nur für 2 Monate“. Ein (z.T. un-
verstandlicher) lauter Disput zwischen Lars, Bela und Markus folgt. Lars sagt „Das ist halt
unvorteilhaft fürs Unternehmen. Dann fehlt eine Arbeitskraft.“ Eymen dreht sich um zu Lars
„So zu denken ist aber voll Asi eigentlich“ sagt er zu ihm. „Ja, das ist nicht gerecht“ sagt
Lars, der Disput geht laut weiter, Markus ruft „Wir wissen ja, Kapitalismus und Gerechtig-
keit ist so ne Sache!“ Lachen und laute Diskussion. (Fp4-S2-K4-P7)
Lars geht davon aus, dass die Mutter im Falle einer Schwangerschaft länger
als Arbeitskraft ausfällt, weil sie sich um das Kind kümmern muss. Das sei
„nicht gut für das Unternehmen“. Bela kritisiert ihn für diese geschlechter-
stereotype Aussage. Aber auch bei nur zwei Monaten Ausfall sei das negativ
für das Unternehmen, kontert Lars. Auch Eymen kritisiert diese Einstellung als
„asi“. In der – hauptsächlich unter Jungen geführten Diskussion steht das
gleiche Recht auf Berufstätigkeit von Müttern kaum in Frage. Gleichstellungs-
orientierte Positionen bilden den normativen Horizont, der lediglich von Lars
in Frage gestellt wird, der Rest des Kurses scheint einig in der Ablehnung
tradierter vergeschlechtlicher Lösungen der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie. Insofern dokumentiert sich hier eine Transformation, da feministische
Positionen von Jungen nicht nur keinen Anlass für Entwertungen bieten,
sondern mehrheitlich explizit vertreten werden. Hingegen taucht das Thema
Männlichkeit und Care nicht auf: Weder, dass auch Väter in Elternzeit gehen
können und dass sie z.B. dadurch auch als Arbeitskraft ausfallen oder unter
welchen Bedingungen Frauen (oder Männer) mit Kindern Karriere machen
können. Care-Arbeit taucht hier nur als Negativeffekt für Unternehmen und für
Frauen auf, nicht als gesellschaftlich wichtige Arbeit, die eine Aufwertung und
mehr Anerkennung und gerechtere Verteilung bräuchte. Markus hebt die
Debatte auf eine abstraktere Ebene und eröffnet eine kapitalismuskritische
Perspektive, die die Möglichkeit von Gerechtigkeit in einer kapitalistischen
Gesellschaft prinzipiell in Frage stellt.
Es zeigt sich, dass die Schüler in dieser Debatte einfordern, dass Prinzipien
wie Souveränität und Freiheit auch für Frauen gelten sollen, und sich damit an
140
einem männlich tradierten Horizont orientieren. Denn Bela etwa reproduziert
trotz seiner Kritik an Lars‘ Position klassische Geschlechterbilder und eine tra-
ditionelle Vorstellung von männlichem Lebenslauf, der sich an Beruf und Kar-
riere orientiert. Auch wird der normative Horizont von Vollerwerbstätigkeit
nicht kritisiert, sondern als erstrebenswertes Ziel für alle Geschlechter angese-
hen. Die Übernahme von Care-Arbeit wird abgewertet, weil sie der Karriere
im Weg steht – entsprechend der gesellschaftlichen Auslagerung der Care-Ar-
beit in einen klassifizierten und rassifizierten Arbeitsmarkt. Darüber hinaus ist
der Modus der Auseinandersetzung unter den Schülern selbst dominanzerzeu-
gend. Lars, der eine abweichende Meinung vertritt, wird von Eymen dafür
scharf als „asi“ kritisiert, Schülerinnen aus dem Politikkurs kommen kaum zu
Wort. Auf der impliziten Ebene reproduziert der geschlechterkritische Diskurs
damit dominanzorientierte Männlichkeit.
6 Relationale Konstruktionen: Sonnenschein und Clown
Bis hierher wurden Praktiken mit Jungen sowie Praktiken von Jungen analy-
siert. Da Geschlechterkonstruktionen ein interaktives Geschehen sind, überla-
gern sich peer- und pädagogische Praktiken und Schüler*innen und Lehrkräfte
stellen Vorstellungen von Geschlecht gemeinsam her. Dies zeigt sich exemp-
larisch anhand der „Sonnenkinder-Stunde“ in einer zweiten Klasse. Hier wer-
den jeweils ein Junge und ein Mädchen nacheinander nach vorne vor die
Klasse auf einen Stuhl gesetzt. Die Klasse sagt nun dem Kind positive Eigen-
schaften und was es an ihm/ihr mag. Die Lehrerin bezeichnet diese Stunde als
„warme Dusche“ und rahmt die padagogische Einheit damit positiv.
Die Lehrerin hat zwei Sonnen an die kleine Metalltafel vorne gehangt. „Ich hab ja ganz
vergessen, von wem die sind. Du lächelst so allerliebst, Gerda, ist da etwa eine Sonne von
dir?“ Sie nickt. „Oh! Na dann komm doch mal nach vorne, meine Gute.“ Sie geht nach vorne
und setzt sich selig lächelnd auf den Stuhl, den die Lehrerin vor die Klasse gestellt hat. Die
ersten Kinder melden sich. „Du bist eine gute Freundin“ sagt ein Madchen. (Fp6-S4-K6-P7)
Die „allerliebst lachelnde“ Gerda erhalt positives Feedback von ihrer Lehrerin
und ihren Mitschüler*innen. Sie ist eine „gute Freundin“. Im Folgenden wird
Gerda von den Kindern dann weiter als „nett“, „hilfsbereit“, „freundlich und
lustig“ beschrieben, wobei Anton hervorhebt, dass sie „in der Pause viel lacht,
und nicht andere Kinder damit im Unterricht stört“. Ein Madchen lobt sie als
„schlaues Madchen“. Auch Samuel mag Gerda, weil sie intelligent sei. Gerda
spiele immer mit unterschiedlichen Kindern und lasse alle mitspielen, das sei
toll, und sie habe lustige Spielideen. Ein Madchen findet Gerda „cool“. An-
sonsten wird Gerda als „hübsch“, „schön“, als eine hübsche Freundin“ be-
zeichnet, ihre Augen, ihr Lächeln, ihr Blinzeln, ihr Schal, ihre Kleider usw.
141
werden gelobt, bis die Lehrerin interveniert, dass sich alles wiederhole und es
ja um positive Charaktereigenschaften und nicht Kleidungsstücke ginge. Die
Lehrerin fügt noch ihre eigenen Worte hinzu, sagt, dass Gerda eine „Grinse-
katze“ sei, dass man immer sehen würde, ob es ihr gut oder nicht so gut gehe.
Aber ich finde, du bist nicht lange traurig oder eingeschnappt, du bist dann gleich wieder ein
Sonnenschein und versuchst immer das Schönste draus zu machen, und das bereitet mir per-
sönlich auch ganz viel Freude, weil du so viel strahlst! Und wenn es mir mal nicht so gut
geht dann schaue ich zu Gerda und sehe ihr kleines Lachen und dann freue ich mich auch
wieder, dann hab ich auch wieder gute Laune, das finde ich sehr sehr schön an dir. (Fp6-S4-
K6-P7)
Neben dem Lob ihrer Charaktereigenschaften beziehen sich mehr als die
Hälfte der Äußerungen auf ihr Aussehen. Die Aussagen der Kinder (Mädchen
wie Jungen), ergeben das Bild des hübschen, lächelnden, freundlichen, hilfs-
bereiten und in den richtigen Momenten lustigen Mädchens. Gerda zeigt ein
„kleines Lachen“, diese Verniedlichung verdeutlich, dass sie nicht zu laut und
störend lacht. Gerda kann mit ihrem Lächeln sogar die Gefühle der Lehrerin
positiv beeinflussen und ihr wieder gute Laune machen, sie leistet sozusagen
emotionale Care-Arbeit. Gerda wird von der Lehrerin zugleich dafür gelobt,
dass sie ihre Gefühle zeigt und ihre schlechte Laune oder Traurigkeit schnell
regulieren kann. Sie fällt der Klasse oder der Lehrerin nicht lange mit
negativen Gefühlen zur Last, sondern ist schnell wieder positiv und strahlend.
Den Text für Gerda, der in der nächsten Woche von der Lehrerin in der Klasse
aufgehängt wird, hat die Lehrerin aus dem Gesagten zusammengestellt. Er
lautet: „Du bist unser Sonnenschein. Wir finden Dein Lacheln schön. Du bist
ein lustiges Mädchen und eine gute Spielkameradin, die immer gute Spielideen
hat. Du bist hilfsbereit und freundlich“. Gerda wird zum „Sonnenschein“ der
Klasse.
Als Anton nach vorne geht, melden sich für seine „warme Dusche“ weniger
Kinder als bei Gerda und es melden sich mehr Jungen als Mädchen.
Elias sagt „ich finde dich cool!“ Cecilie sagt „ich find dich sehr lustig und auch sehr nett und
ich finde es toll, dass du seit der ersten Klasse schon gelernt hast, nicht im Unterricht Quatsch
zu machen, sondern in der Hofpause“. Milan sagt „Ich find dich cool, ich find dich lustig,
ich find, du siehst gut aus und du bist in den richtigen Momenten witzig“. Elias sagt „ich
find dich schlau“. Samuel sagt „Ich finde, dass deine Stimme sehr lustig ist und du bist sehr,
sehr, sehr sehr sehr lustig und du bringst immer alle zum Lachen und…du bist eigentlich ein
sehr netter Junge.“ (Fp6-S4-K6-P7)
Auch Anton ist nach Aussagen der Kinder im „richtigen Moment“ lustig, von
Cecilie wird hervorgehoben, dass er „gelernt hat nur in der Hofpause Quatsch
zu machen und nicht im Unterricht“. Bei ihm ist das ‚angemessene‘ Quatsch-
machen also (im Gegensatz zu Gerda) Ergebnis eines durch äußere Diszipli-
nierungen angeregten Lernprozesses. Anton wird haufiger als Gerda als „cool“
gelobt, sein Äußeres wird als gutaussehend (und nicht hübsch) bezeichnet.
Ganz besonders häufig wird Anton als „lustig“ und als „einer, der alle zum
142
Lachen bringt“ dargestellt. Ein Madchen lobt ihn als „großen Fußballer“. Die
Lehrerin beendet die Runde für Anton mit ihrem eigenen Kommentar.
„Hach, Anton! Du bist ja auch so ne kleine Grinsekatze, ne?“ lachen im Raum. „Also ich
glaube, ich habe hier am meisten gehört, du bist sehr lustig und bringst die Kinder zum La-
chen, ja? Bist schon son kleiner Clownie, oder?“ Es folgt Lachen bei einigen Kindern. (Fp6-
S4-K6-P9)
Auch Anton ist eine „Grinsekatze“, er wird aber nicht zum Sonnenschein der
Klasse, sondern zum „Clownie“. Der „Clownie“ erscheint zunachst als liebe-
volle Adressierung, der Clown kommt bei den Peers gut an, weil er sie zum
Lachen bringt. Allerdings wird in dem Clownie das Motiv des ‚noch-nicht-
reifen‘ Jungen aufgerufen. Die mitschwingende Infantilisierung wird durch das
Adjektiv „kleiner“ verstarkt (vgl. Abschnitt 4.5). Darüber hinaus allerdings
nutzt sie die Situation der ‚warmen Dusche‘ für eine disziplinierende Adres-
sierung, indem sie das vorherige Lob durch Cecilie aufgreift und wie in einer
Art Entwicklungsgespräch einschränkt.
„Dir gelingt es durchaus schon auch ein bisschen besser, dieses Reden im Unterricht einzu-
stellen. Ich mag dich total gerne, ich mag euch alle gerne, ihr wisst, ihr seid meine Schüler
und ich sehe durchaus eine positive Entwicklung, mein lieber Anton“. (Fp6-S4-K6-P9)
Anton wird dafür gelobt, dass es ihm ein „bißchen besser“ gelingt, sich in die
schulische Verhaltensordnung einzupassen. Anschließend weitet die Lehrerin
die mitschwingende Disziplinierung aus, in dem auch die anderen Schüler*in-
nen in die Adressierung einbezogen werden und eine positive Entwicklung
attestiert wird. Auf dem Sonnenkinder-Text, den die Lehrerin in der nächsten
Woche für Anton in die Klasse hängt, zeigt sich eine negative Konnotation.
Zuerst reflektiert die Lehrerin die Rückmeldungen im Gespräch mit ihrer
Kollegin:
Bei Anton sei ja nur gekommen „du bist cool, toll, ein guter Freund, weil du lustig bist.“ Da
würde sie als Elternteil schlucken. Bei Gerda stünde hilfsbereit. Bei manchen Kindern käme
da nix, da müsse sie sich ganz schön was aus den Fingern saugen. Bei dem Text von Anton
hatte sie noch dazu geschrieben „wir freuen uns, dass du ein Mathe-Profi bist“. Bei einigen
Jungs sei das so, bei Milan, Elias, immer dasselbe… Mir geht es um positive Charakterei-
genschaften. (Fp6-S4-K6-P9)
Die Lehrerin beklagt, wie wenig positive Eigenschaften den Kindern zu eini-
gen Jungen einfallen. Die Tatsache, dass sie als lustig beschrieben wurden und
die Kinder zum Lachen bringen, wird weniger positiv bewertet als der auf
die schulische Leistungsordnung verweisende „Mathe-Profi“, den die Leh-
rerin für die Eltern hinzufügt, damit diese „nicht traurig“ sind, dass Anton von
den Kindern primär lustig gefunden wird. Die schulische Leistungsordnung
und die antizipierte schulische Erwartungshaltung der Eltern werden in die
„warme Dusche“ der Kinder implementiert, als sei es eine Art Zeugnis oder
Zertifikat. Die ‚warme Dusche‘, als wohltuende Feedback-Übung angekün-
digt, wird dem schulischen Leistungs- und Bewertungsprinzip untergeordnet.
143
Gleichzeitig wird die in die Adressierung eingelassene Disziplinierung über
Anton hinweg ausgeweitet, indem „alle“ angesprochen werden. Am Fall An-
ton können „alle“ etwas über Verhaltensverbesserung lernen.
Die Sonnenkinder-Stunde macht deutlich, dass Geschlecht im Unterricht
interaktiv von den Schüler*innen und der Lehrerin hergestellt wird (wie auch
unterlaufen werden kann). Der „Clownie“ als vergeschlechtlichte Adressie-
rung für den lustigen, quatsch-machenden, kindlichen Jungen steht dem „Son-
nenschein“ als vergeschlechtlichte Bezeichnung für das freundliche, hübsche
und gute Laune machende Mädchen gegenüber, sodass Geschlecht relational
hergestellt wird.
7 Fazit
In den Beobachtungen dokumentiert sich ein ambivalentes Bild von Ge-
schlecht in der Schule: Geschlechter- und Männlichkeitskonstruktionen unter-
liegen wahrnehmbaren wenngleich heterogenen Veränderungen, die sich
in ihrer Gesamtheit in einem Spektrum von Transformation und Tradierung
bewegen. So zeigt sich eine Parallelität und Verwobenheit von stereotypisie-
renden, dominanzorientierten und entstereotypisierenden, vielfaltsorientierten
Praktiken. Konstruktionen von Geschlecht bzw. Männlichkeit unterscheiden
sich je nach Kontext, d.h. nach Schulform, Sozialraum, Klassenstufe oder
Schulfach.
In allen Klassenstufen dokumentieren sich Hierarchisierungen unter
Jungen (wie auch unter Mädchen) im Sinne stereotyper Männlichkeitskon-
struktionen. In der Grundschule realisieren sich diese Konstruktionen bei
einigen Jungen in Abgrenzung und Abwertung von Mädchen und unterge-
ordneten Jungen. In den beobachteten Schulen zeigt sich dies bei marginali-
sierten Kindern und Jugendlichen überwiegend in direkter Form und bei
privilegierten Schüler*innen überwiegend in subtilerer Form. Konstruktionen
‚gefahrlicher‘ young masculinities lassen sich insbesondere in der marginali-
sierten Grundschule und bei marginalisierten Jungen an der bildungsbürger-
lichen Schule finden. Diese Konstruktionen stehen im Konflikt mit den
schulischen Normvorstellungen (Scheibelhofer 2018a: 202 f.), wie sie sich
etwa in den Konstruktionen der ‚Sonnenkinder‘ zeigen, in denen junge
Weiblichkeit („hilfsbereit und freundlich“) in Relation zu junger Mannlichkeit
(„positive Entwicklung und Matheprofi“) stereotyp ausgedeutet und von der
Lehrerin unterschiedlich bewertet wird zu Ungunsten von Jungen. Ent-
sprechend zeigen nicht nur, aber insbesondere marginalisierte Jungen Ver-
haltensweisen, die von den Lehrer*innen und auch zum Teil von Mit-
schüler*innen kritisiert werden.
144
Die Beispiele verweisen auf die anhaltende Bedeutung der von bürgerli-
chen Normen geprägten pädagogischen Praktiken der Lehrkräfte bei der Tra-
dierung stereotyper Männlichkeitskonstruktionen. Dabei spielen Ironisierung,
Disziplinierung und Infantilisierung eine wichtige Rolle. Alle drei Muster re-
kurrieren auf homogenisierenden Vorstellungen von geschlechts- und alters-
angemessener Normalität, die ein Teil der Jungen in den Augen der Lehrkräfte
nicht erfüllt. Insbesondere der Sportunterricht erweist sich als anfällig für die
Reproduktion von Dominanz, Wettkampf und Stärke. Im hier vorgestellten
Datenmaterial sind es vor allem erzieherische Situationen, in denen Männlich-
keit virulent wird und selten fachliche.
Geschlecht wird zumindest in den beobachteten Schulen nur selten
offensichtlich relevant gemacht, sondern spielt in vielen Unterrichtsstunden
kaum eine Rolle und kann vielmehr als „ruhende Ressource“ (Budde 2003)
denn als offensichtliche, pädagogisch eingesetzte Differenzkategorie beschrie-
ben werden. Entsprechend wird Männlichkeit weniger explizit, sondern viel-
mehr auf verschiedenen Ebenen implizit hergestellt und prozessiert, etwa in
unterschiedlichen (vergeschlechtlichten) Kommunikationsformen, Bezieh-
ungsangeboten, unterschiedlichen Adressierungen und Anerkennungs-
praktiken sowie vergeschlechtlichten Erwartungshaltungen. So dokumentieren
die Beobachtungen, dass in der Mehrzahl der Interaktionen Männlichkeitskon-
struktionen nicht unmittelbar erkennbar sind: Viele Lehrer*innen verwenden
keine explizit vergeschlechtlichten Adressierungen. Im Vergleich zu früheren
Studien finden sich weniger Dramatisierungen von Geschlecht (Faulstich-
Wieland et al. 2004) in den pädagogischen Praktiken. Geschlecht wird weniger
offensichtlich, sondern in subtiler Form relevant gemacht.
Die meisten Lehrer*innen sind den Kindern und Jugendlichen zugewandt
und zeigen anlassbezogen fürsorgende Praktiken. Seitens der Lehrer*innen
sind keine expliziten Abwertungen von denjenigen Jungen (bzw. Mädchen) zu
beobachten, die Geschlechtergrenzen überschreiten, sondern Lehrer*innen
unterstützen diese Schüler*innen unter Absehung von deren geschlechtsun-
konformen Verhaltensweisen. Geschlecht wird in verschiedenen Situationen
relevant gesetzt, um Geschlechterungleichheiten zu bearbeiten. Parallel zu
diesen, an Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt orientierten Praktiken finden
sich Praktiken, die Differenz und Dominanz herstellen. Orientierung und Prak-
tiken können auseinanderfallen: So beziehen Jungen im Unterrichtsgespräch
inhaltlich geschlechterkritische Positionen, in der diskursiven Prozessierung
zeigen sie jedoch praktisch z.T. eine an Dominanz orientierte Männlichkeit, so
dass stereotype Konstruktionen von Geschlecht reproduziert werden.
Die heterogenen Aspekte deuten darauf hin, dass geschlechtsbezogenes
Wissen in die professionellen Praktiken in Schule Einzug gehalten hat und die
Annahme einer ‚institutionellen Geschlechterblindheit‘ entsprechend einge-
klammert werden muss. Die meisten Lehrer*innen sind mit Diskursen um die
Relevanz von Geschlecht in der Schule in Berührung gekommen oder setzen
145
sich aktiv damit auseinander. Der Diskurs um Jungen als Bildungsverlierer fin-
det sich in den Äußerungen der Lehrer*innen ebenso wieder wie das Motiv des
schüchternen, zu stärkenden Mädchens. Einige Lehrkräfte thematisieren eine
Benachteiligung von Jungen in der Schule. Es scheint, als habe der Diskurs um
(Geschlechter-)Differenz und Heterogenität in der Schule das Gleichheitspos-
tulat tendenziell abgelöst.
Der Umgang mit Geschlecht und Junge-Sein nimmt vor dem Hintergrund
der dreifachen Verpflichtung von Lehrkräften – erstens auf die Reflexion von
(Geschlechter-)Differenz, zweitens auf die Adressierung je individueller Schü-
ler*innen und drittens auf universalistische Gleichheit (Budde et al. 2016)
unterschiedliche Ausdrucksformen an. Während der Anspruch auf Geschlech-
tergerechtigkeit in der Grundschule über erzieherisch-organisatorische Prakti-
ken (z.B. Aufrufkette) umgesetzt wird, wird dieser Anspruch in den weiterfüh-
renden Schulen in den Unterrichtsinhalten thematisch – während die tradierte
Interaktionsordnung (Goffman 1999) unangetastet bleibt.
Wie gezeigt, finden sich auch bei vielen Schüler*innen eine weitreichende
praktische wie diskursive Akzeptanz von Gleichstellung und geschlechtlicher
und sexueller Vielfalt. Im Unterricht an den weiterführenden Schulen äußern
sich viele Jungen differenziert zu Geschlechtergerechtigkeit und zeigen
weitreichendes Wissen über verschiedene gesellschaftliche Bereiche, in denen
Ungleichheit sichtbar wird. Im städtischen Gymnasium zeigt sich insbesondere
bei den Jungen der Oberstufe ein hohes Diskurswissen und Reflexionsver-
mögen bis hin zu pro-feministischen Positionen und Kritik an Homophobie,
Sexismus und Zweigeschlechtlichkeit. Allerdings stellt sich die Frage, wie sich
das jenseits des Diskurswissens im Kontext des Unterrichtsgeschehens
darstellt, hierzu würde ein anderes Forschungsdesign benötigt. So berichten
die LGBTIQ-Beauftragten sehr wohl von „Vorfallen“ im stadtischen Gymna-
sium. Unterrichtsbeobachtungen zeigen demnach nur einen bestimmten Aus-
schnitt. Auch eine eigene Betroffenheit von der Persistenz von Geschlechter-
stereotypen, Männlichkeits- bzw. Weiblichkeitsanforderungen, Sexismus und
Homophobie wird eher in den geführten Einzelgesprächen geäußert und
eröffnet eine weiterführende Perspektive auf Geschlecht(erstereotype) in der
Schule.
In allen Schulformen und Jahrgangsstufen finden sich selbstverständlich
erscheinende, fürsorgliche körperliche Praktiken unter Jungen. In diesem Zu-
sammenhang lässt sich zumindest im eher bildungsbürgerlichen Kontext
eine Enttabuisierung sowie eine Entlastung vom Homosexualitätsverdacht ver-
zeichnen. Es lassen sich bei den Jungen dominanz- und vielfaltsorientierte Pra-
xismuster nebeneinander ausmachen. Auch lassen sich in den Unterrichtsbe-
obachtungen keinerlei homo- sowie transfeindlichen Orientierungen oder Ab-
wertungen, Sanktionierungen oder Konflikte aufgrund der Überschreitung von
Geschlechternormen feststellen. Die Bandbreite der Handlungsoptionen von
Jungen in Schule weitet sich aus: Die Orientierung an hegemonialer Männlich-
146
keit zeigt sich abgeschwächt, allerdings ohne dass sich ein Typus inklusiver
oder fürsorglicher Männlichkeit durchgesetzt hätte. Fürsorgliche Praktiken
weisen nicht automatisch auf einen neuen Typus inklusiver Männlichkeit hin,
sondern können durchaus in Einklang mit tradierter Männlichkeit gebracht
werden.
Literaturverzeichnis
Aktan, Oktay/Hippmann, Cornelia/Meuser, Michael (2015): „Brave Madchen“? - Her-
stellung von Passfähigkeit weiblicher Peerkulturen durch Schülerinnen und Lehr-
kräfte. In: Budde, Jürgen/Kansteiner, Katja/Bossen, Andrea (Hrsg.): Geschlechter-
konstruktionen in schulischen Handlungsfeldern. Gender, 7 (1). Opladen: Budrich,
S. 11–28.
Anderson, Eric (2011): Inclusive masculinity. The changing nature of masculinities.
New York: Routledge.
Baumert, Jürgen (u.a.) (Hrsg.) (2001): Pisa 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen
und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske +Budrich.
Böhnisch, Lothar (2004): Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Weinheim:
Juventa.
Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Herbert (2013): Ethnografie.
Konstanz: UTB.
Breidenstein, Georg/Kelle, Helga (1998): Geschlechteralltag in der Schulklasse. Wein-
heim: Juventa.
Budde, Jürgen (2003): Männlichkeitskonstruktionen in der Institution Schule. In: Zeit-
schrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien, 21 (1), S. 91–101.
Budde, Jürgen (2005): Männlichkeit und gymnasialer Alltag. Doing gender im heutigen
Bildungssystem. Bielefeld: Transcript.
Budde, Jürgen (2009): Perspektiven für Jungenforschung an Schulen. In: Budde, Jür-
gen/Mammes, Ingelore (Hrsg.): Jungenforschung empirisch. Wiesbaden: VS Ver-
lag, S. 73–90.
Budde, Jürgen (2010): „Der Valentin ist ein Sorgenkind…“. Bildungsungleichheiten
als kulturelle Passungsprobleme zwischen Habitus und Schulkultur? In: Erziehung
und Bildung, (5+6), S. 505–512.
Budde, Jürgen (2011): Dabei sein ist alles? Erkenntnispotential ethnographischer Be-
obachtungen anhand von Interaktionspraktiken zur Verteilung des Rederechts im
Unterricht. In: Zeitschrift für qualitative Forschung, 12 (1), S. 125–148.
Budde, Jürgen (2015): „Immer gut dabei, Vito zum Beispiel…“ Herstellung passförmi-
ger Männlichkeit in Schule. In: Bräu, Karin/Schlickum, Christine (Hrsg.): Soziale
Konstruktionen in Schule und Unterricht. Opladen: Budrich, S. 167–180.
Budde, Jürgen (2021): Die Schule in intersektionaler Perspektive. In: Hascher,
Tina/Helsper, Werner/Idel, Till Sebastian (Hrsg.): Handbuch Schulforschung.
Wiesbaden: Springer.
147
Budde, Jürgen/Dietrich, Anette (2021): Relevanz von Geschlecht in Interaktionen in
der Grundschule. In: Dall‘Armi, Julia/Schurt, Verena (Hrsg.): Von der Vielheit der
Geschlechter. Wiesbaden: Springer, S. 147–161.
Budde, Jürgen/Kansteiner, Katja/Bossen, Andrea (2016): Zwischen Differenz und Dif-
ferenzierung. Erziehungswissenschaftliche Forschung zu Mono- und Koeduka-
tion. Wiesbaden: Springer VS Verlag.
Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore (2008): Geschlechter-
gerechtigkeit in der Schule. Weinheim: Juventa.
Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.) (2014): Männlichkei-
ten: Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen. Opladen: Bud-
rich.
Connell, Raewyn W. (1999): Der gemachte Mann. Opladen: Budrich.
Debus, Katharina/Stuve, Olaf (2012): Männlichkeitsanforderungen. In: Debus, Katha-
rina/Könnecke, Bernard/Schwerma, Klaus/Stuve, Olaf (Hrsg.): Geschlechterre-
flektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Download www.jungenarbeit-und-
schule.de/.
Eckermann, Torsten (2015): Praktiken der Differenzbearbeitung im Fachunterricht ei-
ner integrativen Schule der Sekundarstufe. In: Budde, Jürgen/Kansteiner,
Katja/Bossen, Andrea (Hrsg.): Geschlechterkonstruktionen in schulischen Hand-
lungsfeldern. Gender 7 (1). Opladen: Budrich, S. 49–63.
Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/Willems, Katharina (2004): Doing Gen-
der im heutigen Schulalltag. Weinheim: Juventa.
Fegter, Susann (2012): Die Krise der Jungen in Bildung und Erziehung. Diskursive
Konstruktion von Geschlecht und Männlichkeit. Wiesbaden: Springer VS.
Fritzsche, Bettina/Tervooren, Anja (2012): Doing differences while doing
ethnography? Zur Methodologie ethnographischer Untersuchungen von
Differenzkategorien. In: Friebertshäuser, Barbara/Kelle, Helga/Boller,
Heike/Bollig, Sabine/Huf, Christina/Langer, Antje et al. (Hrsg.): Feld und Theorie.
Opladen: Budrich, S. 25–40.
Frosh, Stephen/Phoenix, Ann/Pattman, Rob (2002): Young masculinities. Understand-
ing boys in contemporary society. Hampshire: Palgrave.
Fölker, Laura/Hertel, Thorsten/Pfaff, Nicolle (2015) (Hrsg.): Brennpunkt(-)Schule.
Zum Verhältnis von Schule, Bildung und urbaner Segregation. Opladen: Budrich
Frohn, Judith (2020): Zur Rekonstruktion von Heterogenität aus Schüler*innensicht.
In: Neumann, Peter (Hrsg.): Grundschulsport. Aachen: Meyer & Meyer, S. 105
117.
Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (2008): Grounded theory. Strategien qualitativer
Forschung. Bern: Huber.
Goffman, Erving (1999): Interaktionsrituale. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gramespacher, Elke (2008): Die Tradierung geschlechtsstereotyper Wertvorstellungen
im Schulsport. In: Sportwissenschaft 38 (1), S. 51–64.
Hormel, Ulrike (2012): Intersektionalität als forschungsleitende Beobachtungsperspek-
tive. In: Bauer, Ullrich/Bittlingmayer, Uwe H./Scherr, Albert (Hrsg.): Handbuch
Bildungs- und Erziehungssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag, S. 491–506.
Jösting, Sabine (2005): Jungenfreundschaften. Zur Konstruktion von Männlichkeit in
der Adoleszenz. Wiesbaden: VS Verlag.
148
Kelle, Helga (1999): Geschlechterterritorien. Eine ethnographische Studie über Spiele
neun- bis zwölfjähriger Schulkinder. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2
(2), S. 211–228.
Kleiner, Bettina (2015): subjekt.bildung.heteronormativität. Opladen: Budrich.
Knapp, G.-A. (2005): „Intersectionality" - ein neues Paradigma feministischer Theorie?
Zur transatlantischen Reise von "Race, Class, gender". In: Feministische Studien
(1), S. 68–81.
Knoblauch, Hubert (2001): Fokussierte Ethnographie. Soziologie, Ethnologie und die
neue Welle der Ethnographie. In: sozialersinn, (1), S. 123–141.
Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (1995): Alltag der Schulkinder. Weinheim und
München: Juventa.
Luttrell, Wendy (2012): Making Boys’ Care Worlds Visible. In: Boyhood Studies 6 (2),
S. 186–202
Mecheril, Paul/Shure, Saphira (2015): Natio-ethnokulturelle Zugehörigkeitsordnungen.
Über die Unterscheidungspraxis „Seiteneinsteiger“. In: Brau, Karin/Schlickum,
Christine (Hrsg.): Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht. Opladen: Bud-
rich, S. 109–121.
Meuser, Michael (2002): „Doing Masculinity“ - Zur Geschlechtslogik männlichen Ge-
walthandelns. In: Dackweiler, Regina-Maria/Schäfer, Reinhiod (Hrsg.): Gewalt-
Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt. Frankfurt
am Main: Campus, S. 53–78.
Michalek, Ruth/Fuhr, Thomas/Schönknecht, Gudrun (2014): Der Zusammenhang von
Männlichkeitskonstruktionen mit der Lern- und Leistungsmotivation bei Jungen.
In: Budde, Jürgen/Ton, Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.): Männlichkeiten
Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen, Bd. 10. Opladen:
Budrich, S. 139–170.
Michalek, Ruth/Schönknecht, Gudrun/Laros, Anna (2012): Männlichkeit, Leistungs-
orientierung und Arbeitsmotivation. In: Sophia Baader, Meike/Bilstein, Johan-
nes/Tholen, Toni (Hrsg.): Erziehung, Bildung und Geschlecht. Wiesbaden: Sprin-
ger, S. 255–269.
Ricken, Norbert (2019): Bildung und Subjektivierung. Bemerkungen zum Verhältnis
zweier Theorieperspektiven, in: Casale, Rita/Thompson, Christiane (Hrsg.): Sub-
jektivierung. Erziehungswissenschaftliche Theorieperspektiven. Weinheim: Ju-
venta, S. 95–118.
Rieske, Thomas Viola (2011): Bildung von Geschlecht. Zur Diskussion um Jungenbe-
nachteiligung und Feminisierung in deutschen Bildungsinstitutionen. (Hrsg.): v.
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Berlin.
Rieske, Thomas Viola/Budde, Jürgen (2019): Auseinandersetzungen mit (Neuen) The-
orien für die erziehungswissenschaftliche Forschung zu Männlichkeiten. In: Ku-
bandt, Melanie/Schütz, Julia (Hrsg.): Methoden und Methodologien in der erzie-
hungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Opladen: Budrich, S. 234–256.
Rose, Nadine/Ricken, Norbert (2018): Interaktionsanalyse als Adressierungsanalyse –
eine Perspektive der Subjektivationsforschung. In: Heinrich, Martin/Wernet, An-
dreas (Hrsg.): Rekonstruktive Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer, S. 159–
175.
Scheibelhofer, Paul (2018a): Der fremd-gemachte Mann. Wiesbaden: Springer.
149
Scheiblhofer, Paul (2018b): ‘Du bist so schwul!‘ Homophobie und Mannlichkeit in
Schulkontexten, in: Arzt, Silvia/Brunnauer, Cornelia/Schartner, Bianca (Hrsg.):
Sexualität, Macht und Gewalt. Wiesbaden: Springer, S. 35–50.
Scholz, Sylka (2019): Mannlichkeitsforschung: die Hegemonie des Konzeptes „hege-
moniale Mannlichkeit“. In: Kortendiek, Beate/Riegraf, Birgit/Sabisch, Katja
(Hrsg.): Handbuch Interdisziplinare Geschlechterforschung. Wiesbaden: Sprin-
ger. S. 419–428.
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (2019): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der
Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München: oekom.
Schulz, Marc (2021): Humor und Ironie. In: Deinet, Ulrich/Sturzenhecker, Bene-
dikt/von Schwanenflügel, Larissa/Schwerthelm, Moritz (Hrsg.): Handbuch Offene
Kinder- und Jugendarbeit. Wiesbaden: Springer, S. 1173–1178.
Spindler, Susanne (2003): Boxer und underdogs: Männlichkeit als situative Ressource.
In: Bukow, Wolf-Dietrich/Jünschke, Klaus/Spindler, Susanne/Tekin, Uğur
(Hrsg.): Ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben. Wiesbaden: VS Verlag, S.
259–276.
Spindler, Susanne (2006): Corpus delicti - Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisie-
rung im Alltag jugendlicher Migranten. Münster: Unrast.
Stuve, Olaf (2016): Pädagogik. In: Horlacher, Stefan/Jansen, Bettina/Schwanebeck,
Wieland (Hrsg.): Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J.B.
Metzler. S. 136–153
Tervooren, Anja (2006): Im Spielraum von Geschlecht und Begehren. Weinheim:
Juventa.
Thielen, Marc (2010): Jenseits von Tradition. In: Zeitschrift für Pädagogik.
Thorne, Barrie (1994): Gender play. New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press.
Walgenbach, Katharina (2007): Gender als interdependente Kategorie. In: Walgenbach,
Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje (Hrsg.): Gender als
interdependente Kategorie. Opladen: Budrich, S. 23–64.
Weber, Martina (2009): Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und ge-
schlechtlicher Unterschiede. Wiesbaden: Springer VS Verlag
Wellgraf, Stefan (2012): Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verach-
tung. Bielefeld: Transcript.
Wellgraf, Stefan (2021): Ausgrenzungsapparat Schule. Wie unser Bildungssystem so-
ziale Spaltungen verschärft. Bielefeld: Transcript.
Wenn Man(n) dazugehört – Zum Verhältnis von
Männlichkeit und Zugehörigkeit in
gemischtgeschlechtlichen pädagogischen Kontexten
non-formaler Bildung
Philippe Greif und Hartwig Schuck
1 Einleitung
In der ethnografisch angelegten Studie „Jungen und non-formale Bildung“
wurde die Umsetzung einer geschlechterreflektierten Pädagogik mit Jungen in
verschiedenen gemischtgeschlechtlichen Settings non-formaler Bildung er-
forscht.1 Darüber hinaus wurde untersucht, wie Jungen diese Angebote wahr-
nehmen und welche Relevanz Geschlechterkonstruktionen bzw. Männlichkeit
für das Erleben und Handeln der Jungen in diesen Settings non-formaler Bil-
dung beizumessen ist. Die Studie basiert auf themenzentrierten semi-narrati-
ven Leitfaden-Interviews, die in Anlehnung an die Methode der objektiven
Hermeneutik nach Oevermann (2001a, 2001b, 2002) ausgewertet wurden. Um
zusätzlich die Ebene der Handlungspraxis methodologisch erfassen zu können,
wurden die auf der Deutungsebene gewonnenen Erkenntnisse mit teilnehmen-
den Beobachtungen konfrontiert.
Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die ethnografische Be-
forschung einer gemischtgeschlechtlichen Tanzgruppe. In deren Rahmen
wurde festgestellt, dass Männlichkeit als Geschlechterkonstruktion bei teil-
nehmenden Jungen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren in Bezug auf ihre
Teilnahme an der Tanzgruppe weder auf der Deutungs- noch auf der Hand-
lungsebene als maßgeblich strukturierender Distinktionsmechanismus hervor-
tritt. Dabei fällt auf, dass sich sowohl die teilnehmenden Jungen als auch die
teilnehmenden Mädchen positiv auf ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der
Tanzgruppe beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Feststellung diskutieren
wir in dem vorliegenden Artikel das Verhältnis von Zugehörigkeit, Distinktion
und Männlichkeit in gemischtgeschlechtlichen Settings non-formaler Bildung.
Wir stellen die These auf, dass eine positiv empfundene Zugehörigkeit bei
Jungen zur Folge haben kann, dass Männlichkeitskonstruktionen als
1Zur Konzeption non-formaler Bildung und zur diesbezüglichen Forschung vgl. Rauschen-
bach et al. 2004, Cloos et al. 2009, Schulz 2010, Schwanenflügel et al. 2011, BMFSFJ 2017.
152
Distinktionsmechanismen in gemischtgeschlechtlichen Gruppenkontexten in
ihren Deutungen und Handlungspraxen in den Hintergrund treten.
2 Bezugnahmen von Jungen auf ihre Zugehörigkeit zu der
Tanzgruppe „Breakers“
Die Tanzgruppe der „Breakers“2 ist an eine Sporteinrichtung mit dem Schwer-
punkt Mädchenarbeit angebunden. Die Tanzgruppe besteht etwa je zur Hälfte
aus Jungen und Mädchen. Die Altersspanne der Teilnehmer*innen liegt zwi-
schen 14 und 21 Jahren. Das Training findet einmal pro Woche abends statt.
In unregelmäßigen Abständen tritt die Gruppe vor Publikum auf.
Auf Basis themenzentrierter Leitfadeninterviews mit teilnehmenden Jun-
gen werden im Folgenden drei exemplarische Fallrekonstruktionen vorgestellt.
Dabei wird jeweils die Relevanz der Zugehörigkeit zu der gemischtgeschlecht-
lichen Tanzgruppe in den Bezugnahmen der interviewten Jungen und das da-
mit zusammenhängende Deutungsmuster herausgearbeitet. Die Betrachtung
der drei Muster zeigt, dass sie alle durch eine positive Hervorhebung der Grup-
penzugehörigkeit zu den Breakers gekennzeichnet sind, die unterschiedlich
stark und in unterschiedlicher Weise betont wird. Darüber hinaus fällt auf, dass
Männlichkeitskonstruktionen in Bezug auf die Gruppe in allen drei Zugehö-
rigkeitserzählungen nicht als relevant hervortreten.
2.1 Muster „Abhangigkeit“ – Fallrekonstruktion Mateo
Mateo misst der Tanzgruppe der Breakers in seiner Erzählung eine absolute
Bedeutung bei. Sein Verhältnis zu der Gemeinschaft der Tanzgruppe tritt als
Abhängigkeitsverhältnis hervor.
Absolute Relevanz der Gruppenzugehörigkeit
Die folgende Sequenz entstammt Mateos Antwort auf die Frage des Intervie-
wers, was ihm die Breakers bedeuten.
Alles. Familie, Zusammenhalt, Unterstützen. Also, es bedeutet mir eigentlich alles, weil, das
ist so, wir sind wirklich wie eine Familie. Das hat freundschaftlich angefangen und man hat
sich immer besser verstanden, jetzt sind halt zwei Beziehungen in unserer Gruppe. Und wir
sind unter uns auch sehr gute Freunde, wir machen viel zusammen, auch privat und so. Also,
die Breakers bedeuten mir alles.
2 Sämtliche Eigennamen wurden geändert.
153
Es fällt auf, dass Mateo die Frage des Interviewers, was ihm die Breakers be-
deuten, mit „alles“ auf eine absolute Weise beantwortet. Die Einsilbigkeit der
Antwort, die aus nur einem Wort besteht, kontrastiert dabei mit ihrer maxima-
len inhaltlichen Aufladung. In der Folge illustriert Mateo seine Antwort durch
eine Aufzählung. Durch diese Aufzählung tritt die jeweilige Bedeutung der
drei angeführten Begriffe „Familie, Zusammenhalt, Unterstützen“ auf beson-
dere Weise hervor. Mit der Illustration „Familie“ misst Mateo den Breakers in
sozialer Hinsicht eine absolut gesteigerte soziale Bedeutung bei. Die beiden
Begriffe „Zusammenhalt, Unterstützen“ wirken ihrerseits wie positive Zu-
schreibungen an das, was „Familie“ für Mateo bedeutet. Durch die Anschluss-
formulierung „Also, es bedeutet mir eigentlich alles, weil, das ist so, wir sind
wirklich wie eine Familie“ relativiert Mateo seine positive Bezugnahme etwas
und erzählt sich als Teil einer starken Wir-Gemeinschaft der Breakers, die er
mit einer Familie vergleicht. Mateo bindet diese familiengleiche Gemeinschaft
an einen Prozess, der auf einer freundschaftlichen Ebene seinen Ausgang
nimmt und in dessen Rahmen sich die positiven sozialen Bezüge bis hin zu
zwei „Beziehungen“ steigern. Durch die Bekraftigung „Und wir sind unter uns
auch sehr gute Freunde, wir machen viel zusammen, auch privat und so.“ wird
die Bedeutung der Wir-Gemeinschaft der Breakers für Mateo nochmals beson-
ders hervorgehoben. Im Rahmen der die Antwort abschließenden positiven Be-
zugnahme „Also die Breakers bedeuten mir alles.“ tritt Mateo aus dem Wir der
Breakers heraus und betont dabei die absolute Bedeutung, die er den Breakers
für sich persönlich beimisst.
In Mateos Zugehörigkeitserzählung wird erkennbar, dass er den Breakers
zunächst ein absolutes und maximal positives Maß an Bedeutsamkeit zu-
schreibt. Im Anschluss an eine leichte Relativierung seiner maximal gestei-
gerten positiven Bezugnahme bekräftigt Mateo wieder die absolute Bedeutung,
die er den Breakers für sich zuschreibt. In dieser absoluten und übersteigerten
positiven Bezugnahme wird eine Bedürftigkeit nach der Gruppenzuge-
hörigkeit erkennbar, in der keine Differenzierungen enthalten sind.
Exklusivierung der Gruppe
An der folgenden Sequenz lasst sich zeigen, dass Mateo ‚seine‘ Gruppenge-
meinschaft der Breakers nach außen hin abgrenzt. Die Sequenz entstammt Ma-
teos Antwort auf die Frage, was für ihn das Besondere an den Breakers sei.
Wir sind sehr eigen. Wir sind nicht wie die anderen. Wir haben unseren eigenen Stil, wir
haben unseren eigenen Charakter, und wir sind einfach offen. Wir sind so, wie wir sind. Wir
verstellen uns nicht. Wir sind die Gleichen. Egal, ob wir jetzt einen Auftritt haben oder ob
wir irgendwo sind, wir sind trotzdem so, wie wir auch normal sind. Also, wir verstellen uns
jetzt nicht für irgendwelche Auftritte oder so was. Wir sind einfach die Gleichen.
In seiner Antwort tritt Mateo nicht als Individuum hervor, sondern spricht als
Teil der Wir-Gemeinschaft der Breakers. Durch die Formulierung „Wir sind
154
sehr eigen.“ wird die Gemeinschaft auf betonte Weise geschlossen und von
anderen abgegrenzt. Durch die Anschlussformulierung „Wir sind nicht wie die
anderen“ wird diese Distinktion noch einmal besonders betont. Durch die Be-
zugnahmen auf einen „eigenen Stil“ und einen „eigenen Charakter“ wird die
Gruppe als homogen präsentiert und dabei abermals implizit von anderen ab-
gegrenzt. Diese Charakterisierung der Gruppe kontrastiert mit der Feststellung,
„einfach offen“ zu sein. Über die tautologische Aussage „Wir sind so, wie wir
sind“ wird auf implizite Weise gegenwartsbezogen jegliche Veränderung aus-
geschlossen. Durch die Formulierung „Wir verstellen uns nicht“ wird der Ge-
meinschaft Authentizität zugeschrieben. Die darin implizit enthaltene Distink-
tion verweist darauf, dass andere, die nicht zur Gruppe gehören, bzw. andere
Gruppen, die auch auftreten, sich verstellen. In der Formulierung „Wir sind die
Gleichen“ bezieht sich Mateo als Mitglied der Wir-Gemeinschaft auf deren
Mitglieder als „die Gleichen“. Neben der Authentizitatszuschreibung lasst sich
dies auch im Sinne der Annahme einer internen Homogenität der Gruppe in-
terpretieren. In der Formulierung „Egal, ob wir jetzt einen Auftritt haben oder
ob wir irgendwo sind, wir sind trotzdem so, wie wir auch normal sind.“ wird
abermals die Authentizität der Gruppe herausgestellt. Daran knüpft auch die
die Sequenz abschließende Formulierung „Also wir verstellen uns jetzt nicht
für irgendwelche Auftritte oder so was. Wir sind einfach die Gleichen.“ an.
Neben der absoluten Relevanz, die Mateo seiner Zugehörigkeit zu der
Gruppe zuschreibt, wird erkennbar, dass Mateo „seine“ Gruppe gegenüber
anderen betont abgrenzt. An der in diesem Zuge herausgestellten ausnahms-
losen Authentizität der Gruppe sowie der sich selbst mit einschließenden
Bezeichnung der Gruppenmitglieder als die „Gleichen“ tritt auf anschauliche
Weise hervor, dass Mateos Selbstkonstruktion nicht von seiner Gruppen-
zugehörigkeit zu trennen ist.
Keine Alternative zur Gruppenzugehörigkeit
Das Primat der Tanzgruppe in Mateos Selbstkonstruktion tritt besonders deut-
lich in dem folgenden Sequenzausschnitt hervor. Dieser ist Mateos Antwort
auf die Frage entnommen, was er machen würde, wenn es die Tanzgruppe nicht
gäbe.
Deswegen, also wenn [die Sporteinrichtung] nicht wäre beziehungsweise meine Gruppe,
dann wüsste ich jetzt echt nicht, wo ich sein würde. Wahrscheinlich irgendwie auf der Straße,
also mit Freunden draußen hängen, weiß der Geier was.
In Mateos Antwort zeigt sich eine Orientierungslosigkeit angesichts der Vor-
stellung eines Lebens ohne Tanzgruppe. Indem Mateo sagt, dass er nicht wisse,
wo er wäre, wenn es die Tanzgruppe bzw. die Sporteinrichtung nicht gäbe,
wird impliziert, dass Mateo sich keine positive Alternative zur Tanzgruppe
vorstellen kann. Als einzige Alternative zur Tanzgruppe nennt Mateo mit „der
Straße“ einen Raum, der im Kontext adoleszenter Lebensentwürfe mit einem
155
Scheitern assoziiert wird. Die Tanzgruppe erscheint dadurch als alternativlos,
wodurch Mateos Abhängigkeit von seiner Gruppenzugehörigkeit unterstrichen
wird.
Muster: Abhängigkeit
In Mateos Erzählung wird ein Muster erkennbar, in dessen Rahmen seine Zu-
gehörigkeit zu den Breakers als Abhängigkeitsverhältnis hervortritt. In seinen
positiven Bezugnahmen auf die Gruppe sind keine Differenzierungen in der
Binnenperspektive enthalten. Wenn Mateo auf soziale Beziehungen außerhalb
der Breakers verweist, dann nur um auf seine Zugehörigkeit zu den Breakers
hinzuführen bzw. diese zu betonen. Darüber hinaus grenzt Mateo die Gemein-
schaft der Tanzgruppe auf betonte Weise allgemein von einem Außen ab. Die
Vorstellung eines Lebens ohne die Breakers mündet in Mateos Erzählung in
ein ‚Abhangen auf der Straße‘. Diese Bezugnahme bedient eine Konstruktion
der Straße als eines bedrohlichen Raums und evoziert in diesem Zusammen-
hang das Bild einer gescheiterten adoleszenten Normalbiografie. Das rekon-
struierte Deutungsmuster „Abhangigkeit“ ist von Exklusivierung, Authentizi-
tätszuschreibungen und Entdifferenzierung im Hinblick auf die Gruppe ge-
kennzeichnet.
2.2 Muster „gemeinsamer Spaß“ – Fallrekonstruktion Niklas
In Niklas‘ Erzahlung nehmen positive Bezugnahmen auf seine Zugehörigkeit
zur Gemeinschaft der Breakers ebenfalls eine wichtige Rolle ein. Neben dem
gemeinsamen Spaß in der Gruppe erscheinen jedoch auch weitere Lebensbe-
reiche für Niklas‘ Selbstkonstruktion als relevant.
Betonte Relevanz der Gruppenzugehörigkeit
Anhand der folgenden Sequenz lässt sich zeigen, dass die Zugehörigkeit zur
Tanzgruppe der Breakers als Gemeinschaft in Niklas‘ Erzahlung betont her-
vortritt. Die Sequenz entstammt Niklas‘ Antwort auf die Frage des Intervie-
wers, was ihm die Breakers bedeuten.
Ganz viel. Also, ich finde es auch, und wir sagen es gegenseitig von uns auch, dass es wie
so eine kleine Familie ist. Wir kennen uns natürlich auch schon eine ganze Weile, haben
Fahrten zusammen gemacht, haben Übernachtungspartys zusammen gemacht. Da kommt
man natürlich schon zusammen und lernt sich immer besser kennen. Ich würde sagen, ich
kenne auch die meisten sehr, sehr gut. Und deswegen, die Breakers sind schon auf jeden Fall
ein Freundeskreis, wie eine Familie, und das ist eigentlich immer mit Spaß verbunden, die
Breakers. Das ist ganz witzig.
156
Mit der Formulierung „Ganz viel.“ bezieht sich Niklas in seiner Antwort zu-
nächst betont positiv auf die Bedeutung der Breakers für ihn. In dem Anschluss
„Also, ich finde es auch und wir sagen es gegenseitig von uns auch, dass es
wie so eine kleine Familie ist.“ vergleicht Niklas die Tanzgruppe mit einer
‚kleinen Familie‘, wodurch die positive Bedeutsamkeit der Gemeinschaft als
sozialer Zusammenhang betont wird. Dabei tritt Niklas zunächst als Indivi-
duum in Erscheinung, das zugleich als Mitglied der Wir-Gemeinschaft der
Tanzgruppe prasentiert wird. Durch die Bezeichnung „klein“ in der typisieren-
den Formulierung „wie so eine kleine Familie“ ist eine Relativierung enthal-
ten. Zudem macht der vergleichende Charakter der Formulierung deutlich,
dass es sich bei den Breakers nicht wirklich um eine „kleine Familie“ handelt.
In dem Anschluss „Wir kennen uns natürlich auch schon eine ganze Weile,
haben Fahrten zusammen gemacht, haben Übernachtungspartys zusammen ge-
macht.“ plausibilisiert Niklas seinen positiven Vergleich durch den Verweis
auf einen gemeinsamen Prozess und Erfahrungen, die über das Tanzen hinaus-
gehen. Anschaulich tritt im Rahmen dieser illustrierenden Plausibilisierung
hervor, dass die Breakers als soziale Gemeinschaft den Rahmen einer Tanz-
gruppe übersteigen. In der Formulierung „Da kommt man natürlich schon zu-
sammen und lernt sich immer besser kennen.“ betont Niklas die Prozesshaftig-
keit der gemeinsamen Erfahrungen. In dem Anschluss „Ich würde sagen, ich
kenne auch die meisten sehr, sehr gut.“ tritt Niklas wieder als Individuum her-
vor. Die im Konjunktiv verwendete Formulierung „Ich würde sagen“ verweist
dabei auf eine gewisse Zurückhaltung. Ebenso impliziert die Formulierung
„die meisten“, das Niklas nicht alle Mitglieder der Gemeinschaft „sehr, sehr
gut“ kennt. Mit der Formulierung „Und deswegen, die Breakers sind schon auf
jeden Fall ein Freundeskreis, wie eine Familie und das ist eigentlich immer mit
Spaß verbunden, die Breakers“ schließt Niklas resümierend an seine Plausibi-
lisierung an. Dabei bezeichnet Niklas die Breakers als „Freundeskreis“ den er
mit ‚einer Familie‘ vergleicht und dadurch besonders positiv betont. Als kenn-
zeichnend für diesen Freundeskreis bezieht sich Niklas auf „Spaß“. In der For-
mulierung „eigentlich immer“ ist implizit eine Relativierung enthalten. Ab-
schließend bezieht sich Niklas auf seine Erzählung mit der Formulierung „Das
ist ganz witzig.“. Diese knüpft inhaltlich an den zuvor genannten Spaß-Aspekt
an und sst sich zugleich als Relativierung des Vergleichs der Breakers mit
einer ‚kleinen Familie‘ deuten.
Aus Niklas‘ Erzahlung geht hervor, dass die Breakers für ihn den Rahmen
einer Tanzgruppe übersteigen. Er präsentiert die Gemeinschaft der Breakers
als Freundeskreis, der sich durch gemeinsamen Spaß auszeichnet.
Gemeinsamer Spaß als Merkmal der Gruppe
Vor dem Hintergrund der betonten Zugehörigkeit zu den Breakers als Freun-
deskreis wird in der folgenden Sequenz das Motiv des Spaßes als wesentlicher
157
Aspekt der Gruppenzugehörigkeit wieder aufgenommen und mit dem gemein-
samen Tanzen verknüpft. Die Sequenz entstammt der Frage des Interviewers,
was für Niklas das Besondere am Tanzen mit den Breakers sei.
Ich glaube, da haben sich viele gefunden, die ähnlich denken und einfach gar nicht so unbe-
dingt die Leistung wollen, sondern einfach so austanzen und Power geben und dabei zusam-
men Spaß haben. Ich glaube, das sind so die Breakers, und [unverständlich] das in der Kom-
bination ist eine ganz schön lustige Truppe [lachen].
Niklas nimmt den in der Frage des Interviewers enthaltenen Bezug zum
Tanzen mit den Breakers auf. Dabei nimmt Niklas mit der Formulierung „Ich
glaube“ eine individuelle Rahmung seiner Antwort vor, in der eine gewisse
Zurückhaltung zu erkennen ist. In dem Anschluss „da haben sich viele gefun-
den, die ähnlich denken und einfach gar nicht so unbedingt die Leistung wol-
len,“ ist zu erkennen, dass Niklas eine externe Erzahlposition einnimmt, von
der aus er über die Breakers spricht. Indem Niklas sagt: „Da haben sich viele
gefunden“, betont er auf positive Weise die Verbundenheit der Mitglieder der
Gemeinschaft untereinander. Die Formulierung „die ahnlich denken“ konkre-
tisiert auf anschauliche Weise die Verbundenheit der Mitglieder, die zwar als
ähnlich, jedoch nicht als identisch präsentiert werden. Durch die Formu-
lierung „und einfach gar nicht so unbedingt die Leistung wollen“ wird das die
Gemeinschaft verbindende Moment des ‚ahnlich Denkens‘ einer unbedingten
Leistungsbereitschaft gegenübergestellt und von dieser abgegrenzt. Im An-
schluss illustriert Niklas die Verbundenheit zwischen den Mitgliedern der Ge-
meinschaft: „Sondern einfach so austanzen und Power geben und dabei
zusammen Spaß haben“. Im Rahmen dieser Illustration stellt Niklas den
gemeinsamen Spaß des Tanzens als körperlicher Praxis in den Mittelpunkt.
Schließlich stellt Niklas resümierend fest: „Ich glaube, das sind so die
Breakers, und [unverständlich] das in der Kombination ist eine ganz schön
lustige Truppe [lachen].“. Dabei nimmt Niklas wieder eine individuelle Pers-
pektive ein und bindet „die Breakers“ an das zuvor Gesagte zurück. Durch die
Formulierung: „Das in der Kombination ist eine ganz schön lustige Truppe“
wird betont, dass die Besonderheit des Tanzens mit den Breakers darin liegt,
dass alle Spaß daran haben, sich gemeinsam körperlich zu verausgaben, ohne
die Leistung ins Zentrum zu stellen. Dem gemeinsamen Tanzen wird dabei
eine vergemeinschaftende Funktion bzw. Wirkung zugeschrieben.
Es wurde deutlich, dass Niklas den gemeinsamen Spaß in den Mittelpunkt
der positiven Bezugnahmen auf seine Zugehörigkeit zur Tanzgruppe stellt. Da-
bei grenzt er seine Deutung explizit von einem sportlichen Leistungsgedanken
ab.
Alternativen zu den Breakers
Anhand der nachfolgenden Sequenz zeigt sich, dass Niklas neben dem Tanzen
auch andere Hobbys verfolgt und dass die Breakers für Niklas nicht alternativ-
158
los sind. Bei der Sequenz handelt es sich um Niklas‘ Antwort auf die Frage des
Interviewers, was er machen würde, wenn es das Sportzentrum und die Brea-
kers nicht gäbe.
Ich denke, also meine Schwester hat vorher schon woanders getanzt. Vielleicht wäre ich
dadurch zum Tanzen gekommen. Sonst würde ich wahrscheinlich mehr segeln, weil das
mein zweites Hobby ist. Das wäre dann da mein Hauptpunkt, was ich machen würde. Schwer
zu sagen. Also entweder ein anderes Tanzzentrum oder Segeln, denke ich.
In seiner Antwort bezieht sich Niklas zunächst auf seine Schwester als eine
Bezugsperson hinsichtlich des Tanzens. Dies ermöglicht ihm eine Imagination
des Tanzens, die von den Breakers entkoppelt ist. So wird deutlich, dass für
Niklas das Tanzen und die Breakers nicht notwendigerweise zusammenhän-
gen. Im Anschluss erwahnt Niklas das Segeln als „zweites Hobby“. Dabei zeigt
sich, dass Niklas neben dem Tanzen ein weiteres Hobby verfolgt, also auch auf
das Tanzen nicht zwingend angewiesen ist. Insgesamt lasst sich in Niklas‘ Be-
zugnahmen eine Flexibilität beobachten, die verdeutlicht, dass Niklas auf seine
Gruppenzugehörigkeit zu den Breakers nicht angewiesen ist.
Muster: „Gemeinsamer Spaß“
Vor dem Hintergrund positiver Bezugnahmen auf seine Zugehörigkeit zur
Tanzgruppe tritt Niklas‘ Verhaltnis zu dieser als differenziert hervor. Als
weiteres zentrales Merkmal seiner Zugehörigkeitserzählung tritt der Spaß beim
gemeinsamen Tanzen hervor. Diesen grenzt Niklas von einer Leistungsorien-
tierung ab. Darüber hinaus bezieht sich Niklas in seiner Erzählung auf andere
Hobbys. Auch ein Leben ohne die Breakers erscheint für ihn vorstellbar.
2.3 Muster „Gemeinschaft und Selbstverwirklichung“ –
Fallrekonstruktion Tim
Auch Tims Erzählung zeichnet sich durchgängig durch positive Bezugnahmen
auf seine Zugehörigkeit zu den Breakers als Gemeinschaft aus. Darüber hinaus
bezieht sich Tim auf das Tanzen als ein Mittel zur Selbstverwirklichung. Dabei
wird deutlich, dass sein Verhältnis zum Tanzen nicht notwendigerweise an die
Breakers gekoppelt ist. Tim bezieht sich auf die Breakers in erster Linie als
Gemeinschaft, deren vielfältige soziale Aktivitäten den Rahmen des Tanzens
übersteigen.
Betonte Relevanz der Gruppenzugehörigkeit
Die folgende Sequenz enthält Tims Antwort auf die Frage, was ihm die Brea-
kers bedeuten:
159
Also, mittlerweile sind sie nicht nur Freunde, sondern auch schon fast Familie geworden,
weil wir sehen uns auch eigentlich schon fast immer in der gesamten Gruppe teilweise sehr
oft, auch außerhalb [der Sporteinrichtung], außerhalb von Auftritten, wie zum Beispiel zu
Weihnachtsfeiern oder wenn Nadine mal sagt: Kommt vorbei und lasst einfach was essen.
Und deswegen sehe auch ich die Breakers quasi schon als Familie an. Oder als sehr, sehr
feste Freunde, wie man es nehmen möchte.
Zentral in dieser Sequenz ist die soziale Dimension, die Gesamtheit der Eigen-
schaften und Aktivitäten der Breakers jenseits der Tanztrainings und -auftritte:
Freundschaft, Familie, Weihnachtsfeiern und Essenseinladungen bei Nadine,
der Trainerin der Breakers. Die Bedeutung der Breakers für Tim wird hier auf
diese gemeinschaftliche Dimension der Gruppenaktivitäten zurückgeführt.
Vor allem im ersten Satz der Sequenz wird die besagte Bedeutung als etwas
dargestellt, was nicht statisch gegeben, sondern mit der Zeit gewachsen ist:
„Mittlerweile“ sind die Breakers für Tim nicht mehr „nur Freunde“ sondern
„schon fast Familie“ – mit der zeitlichen Entwicklung wird eine Steigerung der
Bedeutung verknüpft. Beide Motive, ‚Freunde‘ und ‚Familie‘, vermitteln eine
starke und mit der Zeit noch gewachsene Zugehörigkeit Tims zu den Breakers.
In diesem Zusammenhang wird betont, dass sich die ganze Gruppe nicht zum
Tanzen, sondern oft („teilweise sehr oft“) auch aus anderen Anlassen trifft,
wobei Weihnachtsfeiern und Essenseinladungen ausdrücklich nur Beispiele
darstellen – es gibt, so die Implikation, darüber hinaus noch mehr Gelegenhei-
ten, bei denen sich die Breakers außerhalb des Tanzens begegnen.
Angedeutet wird dabei, dass Nadine, die Trainerin der Breakers, eine wich-
tige Rolle spielt: Sie ist die einzige konkrete Person außer Tim selbst, die in
dieser Sequenz erwähnt wird, und zwar indem sie die Mitglieder der Gruppe
zu sich nach Hause zum Essen einlädt.3 Hierbei fällt die Vermischung oder
Überlappung von beruflicher und privater Sphäre auf Seiten der Trainerin ins
Auge, was die Betonung der sozialen, nicht-tänzerischen Dimension in der
Sequenz noch verstarkt. „Deswegen“, also aufgrund solcher Aktivitaten, sieht
Tim die Breakers „quasi schon als Familie“ oder alternativ „als sehr, sehr feste
Freunde“ an – womit die Motive des ersten Satzes der Sequenz wieder aufge-
nommen und (durch die Formulierung „sehr, sehr“) gesteigert werden. Tims
starke Zugehörigkeit zu den Breakers wird in der Sequenz vornehmlich auf
diesen Charakter der Breakers als soziale Gemeinschaft zurückgeführt. Das
wird auch daran deutlich, dass dies die einzige Sequenz in Tims Interview ist,
in der er sich (im ersten Satz) ausdrücklich als Teil eines „Wir“ prasentiert, das
die Breakers bilden. Zu beachten ist auch, dass unter dem Stichwort „Freund-
schaft“ hier (wie auch im ganzen Interview) nicht einzelne Beziehungen zu
konkreten Einzelpersonen außer der Tanztrainerin wird keine weiteren
Personen benannt –, sondern Tims Zugehörigkeit zur Gruppe als kollektivem
3 In anderen Sequenzen des Interviews zeigt sich, dass die Trainerin für Tims Verhältnis zu
den Breakers nicht nur sozial, sondern auch vermittels ihrer choreografischen und pädagog-
ischen Kompetenzen eine Schlüsselrolle spielt.
160
Zusammenhang verhandelt wird. Verstärkt wird der Effekt dadurch, dass beide
Bezüge auf „Freunde“ mit Bezügen auf „Familie“ parallelisiert werden, einem
Kollektivzusammenhang, in dem der allgemeine Zusammenhalt traditionell
über konkreten Beziehungen zwischen Einzelnen steht. Dennoch bleibt Tim in
seinem Interview stets als Individuum erkennbar, das zu keinem Zeitpunkt
vollständig im Kollektiv aufgeht. Dies zeigt sich am Ende der zitierten Fre-
quenz, wenn er sagt: „Und deswegen sehe auch ich die Breakers quasi schon
als Familie an. Oder als sehr, sehr feste Freunde, wie man es nehmen möchte.“.
Beide Bezüge – „Familie“ und „sehr, sehr feste Freunde“ – drücken eine große
Bedeutung und eine starke Zugehörigkeit aus. Zugleich tritt Tim erkennbar als
individueller Betrachter in Erscheinung, der sich reflexiv zu den Breakers in
ein Verhältnis setzt und dabei auch eine gewisse Distanz einnimmt. Die Art,
wie die Familien-Analogie gerahmt wird, begrenzt zugleich ihre Bedeutung:
Die Ausdrücke ansehen als“ und „quasi“ stellen Relativierungen dar. Die
Breakers sind für Tim zwar sehr wichtig, aber eben doch nicht ganz so wichtig
wie eine echte Familie. Zudem bietet die Erzählung mit der Formulierung
„Oder als sehr, sehr feste Freunde, wie man es nehmen möchte“ eine alterna-
tive Interpretationsmöglichkeit an: Tim ordnet die Bedeutung der Breakers
differenzierend zwischen Familie und „sehr, sehr“ festen Freunden ein.
Tanzen als Selbstverwirklichung
Auch in seinen Bezugnahmen auf das Tanzen tritt Tim als Individuum hervor
insbesondere auf die Frage des Interviewers hin, was ihm das Tanzen be-
deute:
Also, es hat mehrere Aspekte, zum Beispiel einfach mal als Hobby, als Freizeit. Und dann
auch zum anderen Aspekt, sich selbst irgendwie darzustellen. Also, ich tanze auch sehr oder
öfters Freestyle beim Battle und da hat man nicht wirklich eine Choreo, die man macht,
sondern man tanzt das, was man glaubt, das zur Musik passt. Und versucht sich selbst zu
sagen, die Tanzschritte aus der Musik zu holen, und dadurch zeigt man sich quasi durch diese
Schritte. Und das ist halt so was Selbstverwirklichendes. Und ich glaube, das ist so das Tan-
zen für mich, einerseits so dieser Spaßaspekt mit mal loslassen können von Schule oder Ar-
beit oder was auch immer, und dann einmal dieses: Ich zeige das, was ich bin.
Dem Tanzen werden hier zwei verschiedene Bedeutungen gegeben: Erstens
als „Hobby“ oder „Freizeit“, wobei der „Spaßaspekt“ im Vordergrund steht.
Letzterer wird mit „mal loslassen können von Schule oder Arbeit oder was
auch immer“ in Verbindung gebracht, also wiederum mit der Funktion von
Freizeit oder Hobbys: Sich vom Stress und den Anspannungen des Alltags zu
erholen. Die zweite Bedeutung ist die der Selbstdarstellung und ‚Selbstver-
wirklichung‘. Hier wird in der Erzahlung durch die Verwendung des „man“
zunächst impliziert, dass es – nicht nur für Tim, sondern allgemein – im „Free-
style beim Battle“ darum gehe, sich durch den Versuch, „die Tanzschritte aus
der Musik zu holen“, selbst zu zeigen, sich selbst zu verwirklichen. Darin ist
161
ein Moment der Entdeckung oder der Selbsterkenntnis enthalten: Indem die
Tanzschritte nicht vorher geplant, sondern ‚aus der Musik geholt‘ werden, of-
fenbart sich dem Tänzer dieser Erzählung zufolge erst im Improvisieren der
Tanzschritte, was es ist, das da von ihm im Tanzen hervortritt – die Selbstver-
wirklichung erfolgt durch die Selbstdarstellung. Am Ende der Sequenz wird
dieser Mechanismus dann explizit auf Tim selbst bezogen, der nun als „Ich“ in
Erscheinung tritt: „Ich zeige das, was ich bin.“. In dieser Erzahlweise zu-
nächst wird ein allgemeines Phänomen beschrieben und anschließend erläutert,
wie dieses Phänomen bei Tim in Erscheinung tritt – wird erneut der Modus der
reflektierenden Betrachtung durch den Erzähler erkennbar, der bereits für die
erste zitierte Sequenz gezeigt wurde.
Ein bedeutender Unterschied zwischen beiden Sequenzen besteht darin,
dass Tim in der zuletzt zitierten noch deutlich stärker als in der ersten und
auch in anderer Weise als Individuum hervortritt: Außer Tim kommen hier
nur das anonyme Publikum und die Konkurrent*innen beim „Battle“ vor, wo-
bei diese nicht ausdrücklich erwähnt, sondern durch den Begriff ‚Battle‘ im-
pliziert werden. Im Mittelpunkt stehen Tim und sein Verhältnis zum Tanzen.
Dieses Verhältnis erscheint hier als ein individuelles: Das Tanzen hat die (bei-
den) Bedeutungen, die es für Tim hat, unabhängig von den Breakers, seiner
Tanzgruppe. Seine tänzerischen Aktivitäten sind nicht auf das Tanzen mit den
Breakers und ganz allgemein nicht auf Gruppenaktivitäten beschränkt. Die Be-
schreibung beider Bedeutungen des Tanzens für Tim – Hobby und Selbstver-
wirklichung werden an einer individualistischen Tanzform exemplifiziert.
Der Bezug auf Schule oder Arbeit oder was auch immer“ verweist darauf,
dass Tim ein Leben außerhalb der Breakers und außerhalb des Tanzens hat.
Zugleich ist die Rede vom ‚Battle‘ mannlich besetzt: ‚Battle‘ heißt ‚Schlacht‘
oder ‚Kampf‘, beim ‚Battle‘ treten Tanzer*innen gegeneinander an. Es liegt
nah, dabei an die ‚ernsten Spiele des Wettbewerbs‘ unter Mannern zu denken,
die Bourdieu (1997: 203) zufolge den männlichen Habitus konstituieren4 – wo-
bei Tims Erzählung allerdings nicht zu entnehmen ist, ob ein homosozialer o-
der ein gemischtgeschlechtlicher ‚Battle‘ gemeint ist. Wesentlicher ist jedoch,
dass solche oder andere Referenzen auf Männlichkeit in Tims Bezügen auf die
Breakers nicht auftauchen.
Tanzen auch ohne die Breakers
Die folgende Sequenz stammt aus Tims Antwort auf die Frage, was er machen
würde, wenn es die Sporteinrichtung und die Breakers nicht gäbe:
Wenn [die Sporteinrichtung] von Anfang an nicht da ware, wüsste ich, glaube ich nicht. […]
Und wenn [die] jetzt verschwinden würde, wäre schwierig, weil ich glaube schon, dass ich
das jetzt weitermachen will, das, was [die Sporteinrichtung] mir gegeben hat mit dem Tanzen
4 Vgl. auch Bourdieu 2005 und Meuser 2007.
162
und Freunde treffen, die man halt nur im Tanzen sieht. Ich weiß nicht, ich würde, glaube ich,
einen anderen Platz zum Tanzen suchen, wenn [die Sporteinrichtung] jetzt plötzlich aufhören
würde zu existieren, und dann irgendwo anders hin tendieren. Wahrscheinlich auch irgend-
wie versuchen, die Freunde mitzunehmen, dass die dann auch da anfangen.
Hier wird die Bedeutung, die die Breakers für Tim haben, relativiert, indem
eine Frage, die sich explizit auf die Sporteinrichtung und die Breakers bezieht,
ausschließlich bezogen auf die Einrichtung beantwortet wird. Letzterer wird
eine große Bedeutung für Tim zugeschrieben. Sie zeigt sich in dem geäußerten
Wunsch, „weitermachen“ zu wollen, was die Einrichtung Tim „gegeben hat“:
Zum einen das Tanzen, zum anderen Freunde beim Tanzen zu treffen, die er
sonst nicht treffen würde. Dazu passt, dass Tim an anderer Stelle des Inter-
views angibt, erstmals in einer anderen Gruppe der Sporteinrichtung das
Tanzen für sich entdeckt zu haben, bevor er zu den Breakers gekommen sei.
Auch habe er außer den Breakers noch weitere Freunde in anderen Gruppen.
Die Bedeutung, die der Einrichtung in diesem Zusammenhang zugeschrieben
wird, ist zugleich jedoch begrenzt: Sie ist der Ort, der Tim das Tanzen und die
Tanzfreunde „gegeben hat“, aber sie ist nicht die einzige Möglichkeit,
weiterhin zu tanzen und Tanzfreunde zu treffen. Aus der Sequenz geht hervor,
dass Tim, wenn es die Einrichtung plötzlich nicht mehr gäbe, versuchen würde,
einen anderen Ort zu finden, an dem er diese Möglichkeiten weiterhin hat. Die
Verwendung des „man“ anstelle des „ich“ (in „Freunde treffen, die man halt
nur im Tanzen sieht“) unterstreicht, dass es weniger um konkrete Freunde von
Tim geht als um eine bestimmte Kategorie von Freunden, die er Dank der Ein-
richtung entdeckt habe: Freunde, die man „nur im Tanzen sieht“. Die Aussage,
er würde „wahrscheinlich“ versuchen, die jetzigen Tanzfreunde mitzunehmen,
unterstreicht die Wichtigkeit der Tanzfreunde. Zugleich geht daraus hervor,
dass Tim auch ohne die Breakers und andere Tanzfreunde das Tanzen weiter-
verfolgen würde. Diese Art von Freundschaft wird als endlich dargestellt: Es
ist wichtig, überhaupt Tanzfreunde zu haben, aber es müssen nicht notwendig
dieselben sein, die Tim jetzt hat. Wiederum tritt er als handlungsfähiges Indivi-
duum hervor, das nicht nur von den Breakers, sondern auch von seinen anderen
derzeitigen Tanzfreunden sowie von der Sporteinrichtung unabhängig ist,
indem es sich bei Bedarf andere Tanzmöglichkeiten und andere Tanzfreunde
suchen würde.
Muster: Gemeinschaft und Selbstverwirklichung
In Tims Erzählung nehmen positive Bezugnahmen auf seine Zugehörigkeit zu
den Breakers ebenfalls eine wichtige Rolle ein. Darüber hinaus wird jedoch
ein individueller Zugang zum Tanzen erkennbar. Tanzen wird als Mittel zur
Selbstverwirklichung und Ausgleich präsentiert. Die Gemeinschaft der Brea-
kers erscheint in Tims positiven Bezugnahmen primär als sozialer Zusammen-
hang.
163
2.4 Zusammenfassung und Vergleich
Positive Betonungen der Zugehörigkeit zu den Breakers nehmen in allen drei
beschriebenen Mustern eine zentrale Rolle ein. Wenngleich in unterschiedli-
chem Maße, werden in allen drei Mustern in den Beschreibungen der Tanz-
gruppe Familienbezüge erkennbar. Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsam-
keit unterscheiden sich die Muster darin, welche Relevanz der Zugehörigkeit
zukommt bzw. wie diese gerahmt und erklärt wird. Im ersten Muster tritt die
Zugehörigkeit zur Gruppe als Abhängigkeit hervor, die Gruppe wird ohne Dif-
ferenzierung als exklusiv, authentisch und homogen dargestellt. Beim zweiten
Muster ist das zentrale Thema der gemeinsame Spaß, der mit den Gruppenak-
tivitäten verknüpft wird. Dabei tritt das Verhältnis zur Gruppe als differenziert
hervor. Spaß wird nicht exklusiv an die Gruppenzugehörigkeit gebunden, eine
Abhängigkeit von der Gruppe ist nicht erkennbar. Beim dritten Muster wird
die positive Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit ebenfalls auf den Charakter
der Gruppe als sozialer Gemeinschaft zurückgeführt, hier jedoch primär an
Aktivitäten jenseits des Tanzens geknüpft. Tanzen wird hier als individuelles
Mittel des Ausgleichs und der Selbstverwirklichung beschrieben, welches
auch jenseits der Breakers bedeutungsvoll erscheint. Wie im zweiten, so ist
auch im dritten Muster keine Abhängigkeit von den Breakers erkennbar.
Im Hinblick auf Geschlecht fällt auf, dass Männlichkeit im Zusammenhang
mit der Gruppenzugehörigkeit in keinem der drei Muster relevant gemacht
wird. Stattdessen tritt als Gemeinsamkeit eine positive Betonung der Gruppen-
zugehörigkeit hervor.
3 Die Tanzgruppe der Breakers als
gemischtgeschlechtliches gruppenpädagogisches Setting
3.1 Trainingsstruktur und Auftritte
Die Mitglieder der Tanzgruppe treffen sich einmal pro Woche zum gemeinsa-
men Training. Davon ausgenommen sind Ferienzeiten, die sich am Rhythmus
der Schulferien orientieren. Zum Teil kommen Mitglieder der Gruppe gemein-
sam zum Training. Die Teilnehmer*innen treffen sich in der Regel vor dem
Tanzraum, in dem das Training stattfindet, und warten dort gemeinsam auf die
Trainerin, die den Raum aufschließt. Während des Wartens auf die Trainerin
unterhalten sich die Jugendlichen lebhaft miteinander, wobei sich private The-
men mit Erfahrungen aus der Schule und Aspekten, die das Tanzen betreffen
abwechseln. Zum Teil kommen die Jugendlichen einzeln zum Training oder in
164
kleinen Gruppen. Nachfolgend Eintreffende werden von den Anwesenden
herzlich mit Umarmungen und Abklatschen begrüßt.
Bevor das Training beginnt, versammeln sich alle Anwesenden in einem
Sitzkreis und werden von der Trainerin begrüßt, die in der Folge eine Ein-
gangsrunde moderiert, in der alle erzählen können was sie seit dem letzten
Training beschäftigt hat. Dabei ist auch die Möglichkeit gegeben, von persön-
lichen Erfahrungen und Problemen zu erzählen bzw. darauf einzugehen. Nach
Beendigung dieser persönlichen Eingangsrunde werden je nach Bedarf noch
inhaltliche oder organisatorische Belange geklärt, die sich auf neue Choreo-
grafien oder bevorstehende gemeinsame Auftritte beziehen.
Im Anschluss an den Sitzkreis schaltet die Trainerin die Musik ein,
während die Jugendlichen sich vor einer Spiegelwand aufstellen und beginnen,
sich zu lockern und zu dehnen. Dabei unterhalten sich die Jugendlichen
untereinander und mit der Trainerin. Es folgt eine kurze wiederholende oder
einführende Instruktion durch die Trainerin, die sich zugleich erklärend und
demonstrierend auf Bewegungs- und Koordinationsabläufe der aktuell einstu-
dierten Choreografie bezieht. Dabei können Fragen gestellt werden und zum
Teil werden Einzelne mit Haltegriffen durch Bewegungsabläufe geführt, was
von den anderen Jugendlichen beobachtet wird.
Im Anschluss beginnt die Trainerin, die vor und mit dem Rücken zu den
Jugendlichen ebenfalls vor der Spiegelwand positioniert ist, zum Rhythmus
der Musik die Choreografie vorzutanzen. Auf diese Weise haben die Jugend-
lichen die Möglichkeit zugleich die Trainerin, die anderen Tanzenden und sich
selbst im Blick zu behalten. Ziel ist es, in der gemeinsamen Bewegung im
Rhythmus der Musik gemeinsam einen hohen Grad an Synchronizität zu errei-
chen. Dabei ist es erforderlich, den eigenen Bewegungsrhythmus sowohl mit
der Musik als auch mit den Bewegungen der anderen Tanzenden in Einklang
zu bringen.
Während der Einübung der Choreografie kommentieren sich die Jugendli-
chen untereinander auf motivierende, unterstützende und häufig humorvolle
Weise. Auch wenn etwas nicht gut funktioniert, wird miteinander gelacht.
Nach dem Ende einer gemeinsamen Bewegungsausführung wird gegenseitig
abgeklatscht, umarmt, und es werden einzelne Aspekte der kollektiven Perfor-
mance der Choreografie besprochen.
Die einstudierten Choreografien werden von der Tanzgruppe zu unter-
schiedlichen Anlässen vor einem Publikum vorgeführt. Dem Publikum kommt
bei diesen Auftritten als Bestandteil eines Unterhaltungsprogramms die Funk-
tion eines konstituierenden Außen zu. Von solchen Auftritten zu unterscheiden
ist die gelegentliche Teilnahme der Tanzgruppe an Tanzwettbewerben. In de-
ren Rahmen tritt die Tanzgruppe als Gemeinschaft gegen andere Tanzgruppen
an. Der kompetitive Rahmen im Kontakt zu gleichgesinnten Tanzgruppen
stellt für die Gruppenmitglieder eine besondere vergemeinschaftende Erfah-
rung dar.
165
3.2 (Ver)Tanzen als kollektivierende Praxis
Bei dem Tanzen der Gruppe handelt es sich um choreografisch angelegte
Bewegungen, mittels derer die Gruppe zusammen zu ausgewählter Musik eine
in der Regel festgelegte und gemeinsam einstudierte Performance darbietet.
Die Choreografien zeichnen sich dadurch aus, dass ein wesentlicher Anteil der
getanzten Figuren und Elemente von den Tänzer*innen auf synchrone Weise
gemeinsam getanzt wird. Darüber hinaus bieten die Choreografien auch
Ausdrucksmöglichkeiten für die tänzerische Individualität einzelner oder
mehrerer Tänzer*innen. Diese individuell angelegten Tanzpositionen chan-
gieren in der Regel von Choreografie zu Choreografie.
Das Prinzip „Alle machen alles“ geht auf die Deutung der Tanztrainerin
zurück und bezieht sich zum einen auf den Aspekt der in der Choreografie
angelegten Synchronizität, in deren Rahmen alle Tänzer*innen dieselben Be-
wegungen einstudieren und körperlich verinnerlichen. Darüber hinaus umfasst
das Prinzip auch Einheiten verschiedener Kraft-Ausdauer-Übungen sowie
Dehneinheiten, die von den Mitgliedern gemeinsam während der Trainings-
einheiten absolviert werden.
Durch das wiederkehrende Einstudieren der Choreografie in den regelmä-
ßigen Trainings verschmilzt die Tanzperformance schließlich zu einem syn-
chronen kollektiven Bewegungsablauf. Die Herausforderung besteht in dem
Erreichen dieser kollektiven Synchronizität der einzelnen Körperbewegungen,
vor deren Hintergrund der einzelne Tanzkörper in den Hintergrund tritt und die
Tanzchoreografie in ihrer rhythmischen Bewegung als Ganzes wahrgenom-
men wird.
Ein wesentliches Merkmal der Tanzgruppe der Breakers als gemischtge-
schlechtliches pädagogisches Setting ist die inhaltliche Auseinandersetzung
mit Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterverhältnissen. Die bearbei-
teten Themen und Fragestellungen werden von der Tanztrainerin nicht vorge-
geben. In diese kritische, praxisbezogene Auseinandersetzung bringen sich die
teilnehmenden Jugendlichen mit ein, anhand von für sie lebensweltlich rele-
vanten und aktuellen Themen und Fragestellungen. Die gemeinsame Er- und
Bearbeitung geschlechterkritischer Themen und Fragestellungen ist eine we-
sentliche Grundlage für die getanzten Choreografien und ihre tänzerische In-
terpretation von Geschlecht. Dabei übersteigt die für das Tanzen zentrale
Ebene der Leiblichkeit die kognitive Ebene und ist in diesem Sinne immer
auch zugleich eine geschlechterkritische körperbezogene Praxis.
Durch das bewusste Experimentieren mit vergeschlechtlichten Körperhal-
tungen und -bewegungen wird die scheinbare Selbstverständlichkeit von Ge-
schlechterkonstruktionen in ihrer interaktiven Inszenierung herausgefordert.
Im Rahmen dieser Entnormalisierung entsteht für die teilnehmenden Jugend-
lichen ein Raum für neue Entdeckungen ihrer Körperlichkeit in Bezug auf das
Tanzen. Durch die spielerische, experimentelle Neuanordnung und Belegung
166
von vergeschlechtlichten Bewegungen, Haltungen und Positionen im Rahmen
der Choreografie birgt das Tanzen als kollektive Praxis in diesem gemischtge-
schlechtlichen Rahmen ein dekonstruktives Potenzial.
3.3 Zugehörigkeit als Ressource in der pädagogischen Praxis
Zugehörigkeit bei den Breakers
Die Zugehörigkeit zur Tanzgruppe wird bei den Breakers zur Ressource einer
geschlechterreflektierenden pädagogischen Praxis. Zwar äußert sich die be-
sagte Zugehörigkeit, wie anhand der oben diskutierten Interviews gezeigt, in
unterschiedlicher Weise. Sie tritt aber in allen Interviews deutlich zutage. Das
gilt auch für die drei von uns durchgeführten Interviews mit Mädchen. Der
hohe Stellenwert der Gruppenzugehörigkeit zeigt sich in den Interviews unter
anderem daran, dass alle befragten Jungen und Mädchen in ihren Beschreibun-
gen der Bedeutung der Tanzgruppe auf unterschiedliche Weise positive Fami-
lienbezüge herstellen.
Eine wichtige Rolle bei der Hervorbringung und Verstärkung einer starken
Gruppenzugehörigkeit unter den Breakers spielt Nadine, die Trainerin. Sie und
ihr Status befördern den exklusiven Charakter der Gruppe. Das beginnt bereits
mit dem Zugang: Alle sechs von uns interviewten Mitglieder der Breakers be-
richten, auf die eine oder andere Weise über Nadine zu den Breakers gekom-
men zu sein. Mateo erzählt im Interview, dass er zunächst in einer anderen
Gruppe derselben Einrichtung getanzt habe und dann von Nadine für die Brea-
kers „entdeckt“ worden sei. Auch Tim und Niklas geben an, von Nadine ge-
wissermaßen zu den Breakers eingeladen worden zu sein. Tim antwortet auf
die Frage, wie er die Trainer*innen hier finde, ausschließlich mit Bezügen auf
Nadine:
Sehr, sehr, sehr, sehr cool. Also schon, als ich noch nicht bei den Breakers getanzt habe, hat
man eigentlich quasi zu ihr hochgeguckt, weil sie war eine der Trainer*innen, wo man in die
Gruppe reinkommen möchte, weil sie so gut ist und so gute Choreos macht. Und gleichzeitig,
also sie ist sehr professionell und auch sehr streng, wenn es sein muss. Aber ist auch gleich-
zeitig sehr freundschaftlich und sehr freundlich und sehr familiär, was es sehr leicht macht,
halt diese Gruppe auch mit der Trainerin als Familie zu sehen.
Die Tanztrainerin wird hier zum Idol: „Man“ schaut zu ihr auf, will Teil ihrer
Gruppe werden. Mitglied der Breakers zu sein, erscheint als etwas Besonderes,
weil es sich um eine exklusive Gruppe mit einer herausragenden Trainerin
handelt. Für den hohen Status der Trainerin werden in der zitierten Sequenz
mehrere Gründe angegeben: Sie wird als professionell und versiert hinsichtlich
des Tanzens und der Choreografien sowie als eine ausgezeichnete Lehrerin
dargestellt, die bei Bedarf auch sehr streng sein könne. Die Betrachtung der
Gruppe als Familie wird auf das freundschaftliche und familiäre Wesen der
167
Trainerin zurückgeführt. In Tims Erzählung ist die Trainerin mitverantwortlich
für den Familiencharakter der Breakers; zugleich erscheint sie selbst als
Mitglied dieser Familie. Ganz ähnlich wie Tim äußert sich auch Niklas über
Nadine, darüber hinaus betont er ihre ‚prägende‘ Wirkung sowohl hinsichtlich
des Tanzens als auch in Bezug auf „den Umgang miteinander“. Nadine selbst
sagt im Interview auf die Frage, wie sie ihre Arbeit einschätzt, unter anderem
Folgendes:
Also, man ist mit Privatem und Arbeit, das ist sehr ineinander. […] Ich sage immer so, man
sagt immer, es ist irgendwie auch ein Teil von der Familie. Aber wenn man die eben so auch
aufwachsen sieht hier, wie die ihre Wege gehen, das ist halt schön. Also das gehört irgend-
wie, also es ist nicht so eine Arbeit, wo man halt einfach kommt und irgendeinen Bericht
macht oder, weiß ich nicht, Kundenbetreuung und dann wieder geht, sondern man ist irgend-
wie, das nimmt irgendwie auch einen Platz ein und ist auch eben eine Art Familie.
In diesem Ausschnitt wird die Arbeit der Trainerin in der Sporteinrichtung als
Teil ihres Familienlebens bzw. selbst als „eine Art Familie“ dargestellt. Kon-
kretisiert wird dies durch die Ausdrücke „aufwachsen“ und „ihre Wege ge-
hen“, die typisch sind für einen familiaren Zusammenhang mit Kindern. Nadi-
nes Arbeit in der Sporteinrichtung wird somit ein hoher Stellenwert und ein
persönlicher Charakter zugeschrieben. Familien- und Arbeitsleben werden als
miteinander verschränkt dargestellt. Diese Verschränkung wirkt sich auch auf
die Mitglieder der Breakers aus bzw. wird auch von diesen wahrgenommen.
So erwähnt zum Beispiel Tim auf die Frage, ob er hier Freund*innen kennen-
gelernt habe, dass nicht nur die ganze Gruppe der Breakers, sondern auch Mit-
glieder anderer Gruppen sowie die Trainerin, deren Ehemann und Kinder zu
seinen ‚Freunden‘ zahlen. Die starke Bindung der Mitglieder an die Gruppe ist
in dieser Deutung Teil einer Gesamtkonstellation, die wesentlich von der Trai-
nerin mit ihrer als professionell und zugleich als familiär und freundschaftlich
wahrgenommenen Art mit hervorgebracht wird.
Eine ‚Entdeckung‘ oder ‚Einladung‘ durch die Trainerin erscheint als Zu-
gangsvoraussetzung zur Gruppe. Damit wird der Gruppe ein exklusiver, an die
Trainerin gebundener Status zugeschrieben. Der Einstiegsprozess eines neuen
Mitglieds erschöpft sich nicht in der mehrfachen Teilnahme am Training. Viel-
mehr ist ein längerer Integrationsprozess erforderlich. Für diesen Integrations-
prozess ist nicht allein Nadine, sondern sind auch andere Mitglieder der Brea-
kers verantwortlich. Niklas formuliert das im Interview so: „Wir haben jetzt
auch viele Neue dazubekommen, aber die schließen wir schnell ein, sag ich
mal.“ (Lacht.). Neben dem tanzerischen Können ist es für eine Mitgliedschaft
bei den Breakers notwendig, genügend Zeit und Motivation für das regelmä-
ßige Training aufbringen zu können. Das stellt sich gewöhnlich nicht gleich
am Anfang, sondern im Laufe der Zeit heraus. Manche Gruppenmitglieder,
sagt Clara, „sind gegangen, weil es einfach schulisch nicht mehr hingehauen
hat, weil man das einfach nicht schafft“. Dies sind wichtige Aspekte der Ex-
168
klusivität der Breakers: Teilnehmen kann nur, wer gut tanzen und regelmäßig
trainieren kann und will.
Szenen eines Einstiegs- und Integrationsprozesses bei den Breakers
konnten wir im Rahmen unserer Forschung teilnehmend beobachten. Imre, ein
Freund von Mateo, befindet sich in seiner ‚Probezeit‘ bei den Breakers.
Während eines der ersten Trainings, an denen er teilnimmt, ist die Trainerin
zeitweise abwesend. Die Breakers üben ohne sie weiter, wobei zunächst
Niklas, später Rike die Leitungsrolle übernehmen. Imre wirkt zunehmend
frustriert, Mateo versucht ihn aufzumuntern. Niklas fragt Imre, ob er möchte,
dass sie die vorige Übung wiederholen, Imre bejaht. Als sich Imres Laune im
weiteren Verlauf nicht verbessert, sagt Mateo schließlich zu ihm: „Ey, wenn
Du keinen Bock aufs Training hast, dann meld‘ Dich ab, Digger.“. Vor dem
Hintergrund, dass Mateo und Imre befreundet sind, verdeutlicht die Szene die
Exklusivität der Breakers als Gruppe: Freundschaft allein reicht zur Mitglied-
schaft nicht aus, Motivation und tänzerisches Können sind für eine Teilnahme
unverzichtbar. Darüber hinaus zeigt sich hier, dass Mateos Freundschaft zu
Imre, deren homosozialer Charakter durch das Wort ‚Digger‘ unterstrichen
wird, gegenüber Mateos Zugehörigkeit zu den Breakers in den Hintergrund
tritt. Im weiteren Verlauf der beschriebenen Trainingsstunde kehrt die Trainer-
in schließlich zurück und übernimmt die Anleitung für die verbliebenen Übun-
gen. Schließlich beendet sie das Training und ruft einen Sitzkreis zusammen.
Mateo und Imre sprechen aber noch miteinander, Anna unterbricht sie und
weist darauf hin, dass die Abschlussrunde losgeht. Nadine wendet sich an
Alina und Imre und sagt, sie möchte gern, dass die beiden sich miteinander
vernetzen und zu zweit tanzen üben. Sie erklärt, dass das gerade Einige aus der
Gruppe machen und dass sie denkt, dass das gut wäre. Sie lobt Imre, dass er
von den Bewegungen her alles sehr gut könne, aber die Tanzschritte seien eben
sehr schnell und daher schwierig. Alina und Imre reagieren beide zustimmend
auf Nadines Anweisung. Die beschriebenen Szenen zeigen exemplarisch, dass
das von Nadine im Interview angesprochene Prinzip „wir machen alle alles“
nicht nur für das Tanzen, sondern zumindest der Tendenz nach auch für
Leitungsfunktionen und Zurechtweisungen sowie für die Integration neuer
Mitglieder in die Gruppe gilt. Wechselseitig übernehmen die Gruppenmit-
glieder solche Aufgaben und reproduzieren damit die soziale Ordnung inner-
halb der Gruppe. Mit vereinzelten Ausnahmen von Seiten des ‚Neuen‘, Imre,
äußert keine der anwesenden Personen angesichts einer Zurecht- oder Anwei-
sung Irritation oder Widerstreben, was auf eine hohe Akzeptanz der jeweils
bekräftigten Norm bei den Mitgliedern hindeutet. Obwohl die Atmosphäre der
Tanztrainings bei den Breakers, die wir beobachten konnten, überwiegend von
Lockerheit und Fröhlichkeit geprägt war, zeigte sich zugleich eine gewisse
Disziplin als selbstverständlicher Bestandteil der Gruppendynamik. Diese
Selbstverständlichkeit verdankt sich einem geteilten Ziel, das zugleich eine
regelmäßig geteilte Praxis darstellt dem gemeinsamen Tanzen sowie den
169
geteilten sozialen Normen, die unter anderem die Erreichung dieses Ziels
ermöglichen. Zu solchen in der Regel unausgesprochenen, sich in der sozialen
Praxis zeigenden Normen gehört zum Beispiel, dass das Tanzen und der
Sitzkreis nicht gestört werden sollen, und dass bei Verstößen gegen diese
Norm Zurechtweisungen durch andere Gruppenmitglieder erfolgen können.
Dieses System erfordert nicht die Anwesenheit der Trainerin – Verantwortung
wird bei Bedarf von den Gruppenmitgliedern übernommen. Die Breakers bil-
den gemeinsam einen ‚Normkreis‘: Eine Gruppe von Menschen, die ein Bün-
del sozialer Normen teilen und stützen (Elder-Vass 2017). Das bedeutet
allerdings nicht, dass Nadine einfach ein normales Gruppenmitglied wäre.5 Sie
genießt unübersehbar eine besondere Autorität in der Gruppe – was sich in der
beschriebenen Szene am deutlichsten daran zeigt, mit welcher Selbstver-
ständlichkeit sie Alina und Imre auffordert, sich zusätzlich zum gemeinsamen
Training der Breakers zu zweit zum Üben zu treffen und mit welcher
Selbstverständlichkeit beide auch Imre, der Neuling sofort zustimmen.
Wenngleich die Integration des ‚Neuen‘ als gemeinsame Aufgabe der Gruppe
behandelt wird, nimmt die Tanztrainerin dabei eine leitende Rolle ein.
Zugehörigkeit als pädagogische Ressource
Die Gruppenzugehörigkeit der Breakers dient als pädagogische Ressource,
welche von der Tanztrainerin genutzt wird. Dies bildet sich auch sprachlich im
Interview in einer Sequenz ab, die Nadines Antwort auf die Frage, worin ihre
Arbeit genau bestehe, entnommen ist:
Ich mache jetzt keine Stunde, wo sie einfach nur Choreografien lernen, sondern wir machen
es immer meistens nach den Schulferien, nach den großen Sommerferien, so, dass wir gu-
cken: Was passiert in der Gruppe? Was ist gerade aktueller Stand? Schule, Uni, Arbeit, ver-
ändert sich da irgendwas? Und dann überlegen wir uns immer gemeinsam: Was gerade steht
an? Zu was haben wir Lust zu tanzen? Es gibt manchmal so Ideen von mir, wo ich dann
reingehe und gucke: Ich hätte total Lust, mal zu dem Thema was zu machen. Aber manchmal
kommt es von den Jugendlichen auch selber […]. Aber ich finde es gerade interessant, da
vielleicht auch mal Sachen anzusprechen und die eben zu vertanzen und nicht jetzt so eine
coole Show zu basteln, wo nur Akrobatik und nur Effekte drin sind, sondern eben mehr wo
es darum geht, eben die Problematiken von den Jugendlichen oder auch Themen, es sind ja
nicht immer nur Probleme, sondern was die beschäftigt halt auch, das in ein Tanzstück zu
packen.
Aufschlussreich sind hier die Wechsel zwischen ‚ich‘ und ‚sie‘ einerseits und
dem gemeinsamen ‚wir‘ andererseits. In dem Szenario, das Nadine ausdrück-
lich verneint einer Tanzstunde, in der Nadine als Lehrerin Choreografien
vorgäbe, die von den Jugendlichen nachgetanzt würden –, gibt es kein ‚wir‘,
sondern nur klar voneinander getrennt ein ‚ich‘ und ein ‚sie‘. In dem
Szenario hingegen, das als wirkliches beschrieben wird, tritt die Erzählerin
5 Vgl. dazu die ‚Mitmach-Regel‘ bei Cloos et al. 2009: 20f., 165–67.
170
zunächst als Teil des ‚wir‘ der Tanzgruppe in Erscheinung, als ware sie ein
einfaches Mitglied unter Gleichen.6 Dabei scheint ein vertrauter und vertrau-
licher Raum auf, in dem unter anderem mögliche Themen für das Tanzen frei
besprechbar sein sollen. Im Anschluss wechselt die Erzählerin wieder zum
‚ich‘, das die Initiative ergreift, ‚reingeht‘ und ein Thema vorschlagt – oder auf
Initiativen eingeht, die ‚von den Jugendlichen kommen‘. Hier wird deutlich,
dass die Zugehörigkeit Nadines zur Tanzgruppe, die der Gebrauch des ‚wir
anzeigt, Differenzierungen zulasst: Bei Bedarf kann Nadine aus dem ‚wir‘
heraustreten, sich als ‚ich‘ erkennbar und damit auch ihre Vorschlage als ihre
kenntlich machen, in Folge dessen werden die teilnehmenden Jugendlichen als
solche benennbar und benannt. In diesem Moment tritt Nadine nicht mehr als
Gruppenmitglied, sondern als Trainerin hervor, deren Rolle und Interessen sich
erkennbar von denen der Jugendlichen unterscheiden. Die geteilte Zuge-
hörigkeit zum ‚wir‘ der Tanzgruppe, in welches Nadine bei Bedarf ein- und
wieder heraustreten kann, ist jedoch eine Bedingung dafür, dass Nadine als
‚ich‘ Impulse einbringen kann, die eine Chance haben, Gehör zu finden, und
dafür, dass auch Impulse der teilnehmenden Jugendlichen diese Chance haben.
Im weiteren Verlauf von Nadines Erzählung wird ausgeführt, dass nicht
nur bereits artikulierte Problematiken der Mitglieder gemeinsam ‚vertanzt‘
werden, sondern dass bestehende Probleme oder persönliche Betroffenheiten
von Problemen mitunter erst im Anschluss an ihr ‚Vertanzen‘ verbalisiert wer-
den:
Also zum Beispiel in einem Stück, da haben wir so ein bisschen was gemacht zum Thema
Mobbing auch. Und dann merkt man ja innerhalb, wenn man diese Stücke entwickelt, dann
treten halt einfach Fälle auf, die selber betroffen sind. Und dass meistens dann durch Über-
nachtungen oder Reisen oder wenn man direkt an dem Thema arbeitet, merkt man auf ein-
mal: Huch, das ist ja auch wirklich Thema in der Gruppe. Und dann geht man halt eben in
Gespräche. Und ganz oft ist es hier eben auch, dass man halt auch wirklich weiterguckt, zum
Beispiel wenn Jugendliche auch die Probleme zu Hause haben, dass man da die begleitet und
guckt: Was gibt es für Möglichkeiten? Wo kann man sich helfen lassen?
Hier wird nahegelegt, dass die soziale Struktur der Tanzgruppe als Gemein-
schaft über das Tanzen hinausgeht: Gemeinsame Reisen und Übernachtungen
bilden eine Manifestation des bereits erwähnten vertrauten und vertraulichen
Raumes, an dem auch die Erzählerin teilhat und in dem beispielsweise die per-
sönliche Betroffenheit durch Mobbing auf Seiten einzelner Gruppenmitglieder
erstmals artikuliert werden nne. So könne die Pädagogin hier als ‚man‘
artikuliert die Betroffenen in der Auseinandersetzung mit ihren Problemen
‚begleiten‘ und bei Bedarf zum Beispiel bei der Suche nach professioneller
Hilfe unterstützen. Wiederum wird erkennbar, dass Nadines Teilnahme am
‚wir‘ der Tanzgruppe – in diesem Fall im Rahmen gemeinsamer Übernachtun-
gen und Reisen – eine Basis ihrer pädagogischen Arbeit darstellt.
6 Vgl. die ‚Mitmach-Regel‘ von Cloos et al. 2009: 20f., 165-167.
171
Die gemeinschaftlichen Struktur der Tanzgruppe und das an sie geknüpfte
Zugehörigkeitsempfinden der Mitglieder spielen für die Bereitschaft und das
Engagement, das die Breakers im Hinblick auf die tänzerische und daran
gekoppelt auch soziale und persönliche Bearbeitung geschlechtsbezogener
Themen und insbesondere die Auseinandersetzung mit Sexismus zeigen, eine
zentrale Rolle. Nur eine Minderheit der befragten Mitglieder positioniert sich
im Interview eindeutig (pro-)feministisch. Clara hingegen äußert im Interview,
ihr werde die Beschäftigung mit Sexismus in der Sporteinrichtung manchmal
etwas zu viel; Niklas meint, dass sich das Problem der Geschlechterungleich-
heit in ein oder zwei Generationen mehr oder weniger von selbst erledigen
werde. Doch zeigen die teilnehmenden Beobachtungen, dass alle jeweils an-
wesenden Mitglieder der Breakers – einschließlich der beiden vorgenannten –
auch beim Üben und Diskutieren dezidiert geschlechterreflektierender Tanz-
stücke nicht nur dabei sind, sondern sich engagiert beteiligen. Grundlage ist
die besondere Verbindung von geteiltem tänzerischem Anspruch, gemeinsam
gelebter tanzerischer Praxis und freundschaftlicher, ‚familienahnlicher‘ Ge-
meinschaft, die einen Teil der pädagogischen Praxis in der Tanzgruppe erst
ermöglicht.
Zur Rolle der Trainerin bei den Breakers gehört auch, dass sie von Jungen
in der Gruppe unübersehbar als Orientierungsfigur dargestellt wird: Als tänze-
risch, sozial und individuell ‚pragend‘, als eine, zu der ‚man hochguckt‘. Das
erinnert an die Rolle, die in großen Teilen der Jungenarbeitsliteratur männli-
chen Pädagogen als Vorbildern für Jungen zugesprochen wird.7 Nadine selbst
außert im Interview die Auffassung, dass Jungen ‚diese mannlichen Vorbilder
brauchen‘. Unsere Forschung legt jedoch nahe, dass die Mitglieder der Brea-
kers – gerade auch die Jungen mit Nadine als Frau ein pädagogisches Ge-
genüber in der Gruppe haben, an dem sie sich orientieren und zu dem sie auf-
schauen.
Die Trainerin als Produkt des Feldes
Im Interview spricht Nadine wiederholt davon, dass Kinder oder Jugendliche
‚hier‘ in der Einrichtung ‚groß werden‘ oder ‚aufwachsen‘ und das Gleiche
sagt sie in der Vergangenheitsform über sich selbst, als die auf die Frage ant-
wortet, wie es dazu gekommen sei, dass sie in der Sporteinrichtung arbeite:
Also, ich bin mit 15 selber Schülerin hier gewesen. Ich habe hier angefangen zu tanzen, habe
früher Ballett getanzt. Und dann irgendwann habe ich gemerkt: Ballett ist gar nicht meins.
Habe dann mal einen Streetdance-Kurs gemacht und dann irgendwie durch einen Flyer bin
ich hier zum Hip-Hop-Tanzen gekommen. Und die, die hier selber die Leitung ist, war
damals meine Tanzlehrerin. Das, was ich jetzt an die Jugendlichen weitergebe, habe ich
früher hier gemacht. Und mit 18 ging es los, dass wir/Der Hip-Hop war ja noch nicht so
7 Vgl. kritisch Behnisch 2010, ferner die Debatte über Jungen und Lehrer*innen in der Schule;
dazu kritisch Rieske 2012, Faulstich-Wieland 2009.
172
irgendwie populär, sage ich mal. Und dann haben wir eben sozusagen
Anfänger*innengruppen gehabt und dann mit 18 habe ich die erste Gruppe übernommen
hier. Und daraus wurden dann irgendwie zwei, drei, vier Tanzgruppen, also immer mehr.
Und deswegen habe ich mich dann auch entschieden, die Ausbildung in die Richtung zu
machen, weil ich immer hier Dozentin war. Und dann hat die Leitung irgendwann gesagt:
Jetzt reicht es, jetzt mach mal eine Ausbildung, dann kann ich dich hier auch einfach
anstellen. Also ich bin zur Jugendlichen selber hier groß geworden, irgendwann Trainerin
und jetzt Mitarbeiterin.
Das sich hier andeutende Empfinden des Teilens vieler Erfahrungen, die auch
Nadines Tanzschüler*innen in der Einrichtung sowie im Zuge gemeinsamer
Reisen, Übernachtungen und Auftritte machen, äußert sich auch, wenn Nadine
darüber spricht, was für sie das Tollste an ihrer Arbeit sei:
Wenn wir mal ehrlich sind, die Jobs könnten besser bezahlt sein in dem Sinne, aber darum
geht es gar nicht. Sondern es ist einfach, man kriegt hier was zurück. Man kommt hierher,
alleine das Tanzen. Also ich selber bin auch so großgeworden und man kann selber mit ihnen
tanzen und abschalten. Oder wenn wir Auftritte haben oder Reisen haben, dann kann ich
einfach mal abschalten auch. Und ich sage immer, man hat Hobby und Beruf eben in einem.
In den beiden Sequenzen wird eine Entwicklungsgeschichte der Trainerin kon-
struiert, der zufolge diese auf ahnliche Weise ‚hier‘ in der Einrichtung ‚groß-
geworden‘ ist wie heute ihre Tanzschüler*innen und sich wie diese als Teil der
Hip-Hop-Subkultur betrachtet. In besagter Geschichte wird die Trainerin als
Teil und Produkt des sozialen Feldes der Einrichtung situativ wieder zur Ju-
gendlichen, die sie einmal war, und für die das Tanzen ein leidenschaftliches
Hobby und nicht (nur) ein Beruf ist. Mit diesen Deutungen der Trainerin kor-
respondiert eine Fremddeutung Claras in deren Antwort auf die Frage, wie sie
die Trainer*innen in der Sporteinrichtung finde:
Supernett. Ich finde das so schön, weil [in der Sporteinrichtung] sind superviele Trainer*in-
nen Schüler gewesen. Und dadurch kennt man die halt auch. Und wir haben ja nicht super-
viele Trainer, aber das ist halt auch ganz angenehm, weil du kennst die Leute einfach. Und
ich habe mit manchen Trainern schon zusammen in Stücken getanzt. Und gerade auch Na-
dine […]. Die sind so herzlich und offen und du weiß halt, dass du dich auf die Leute ver-
lassen, also auf die Trainer verlassen kannst. Und du kannst mit deinen Trainern genauso gut
reden, wie die dir das Tanzen beibringen. Das ist halt super angenehm. Und ich kenne auch
andere Tanzschulen, wo die Trainer das echt nicht können.
Daraus, dass viele Trainerinnen der Einrichtung nicht nur Nadine früher
selbst Schülerinnen dort gewesen seien, leitet Clara eine besondere Vertraut-
heit zu diesen Trainerinnen ab. Nadine und die Breakers als Gruppe werden in
den Deutungen Nadines und Claras als Teil der umfassenderen, generational
angelegten sozialen Struktur der Einrichtung erkennbar, die geteilte Erfahrun-
gen und Vertrautheit ermöglicht.
173
4 Zum Verhältnis von Zugehörigkeit und Geschlecht in
gemischtgeschlechtlichen Gruppen
Auf Basis der rekonstruierten Muster wurde herausgearbeitet, dass eine
positive Gruppenzugehörigkeit ein zentrales Merkmal für die teilnehmenden
Jungen der Tanzgruppe „Breakers“ darstellt. Diese Erkenntnis wurde in eine
Analyse der Tanzgruppe als gemischtgeschlechtlichem gruppenpädagogischen
Setting eingeordnet. Dabei wurde deutlich, dass eine positive Gruppenzuge-
hörigkeit für alle Mitglieder der Tanzgruppe eine hohe Relevanz hat und auf
der pädagogischen Ebene von der Trainerin auch als Ressource eingesetzt
wird. Vor dem Hintergrund dieser Befunde lässt sich feststellen, dass es sich
bei dem Thema Zugehörigkeit um ein wesentliches Merkmal des untersuchten
Feldes der Tanzgruppe handelt.
Im Hinblick auf die im Rahmen der drei Muster verdichteten Zugehörig-
keitserzählungen teilnehmender Jungen fällt auf, dass Männlichkeit auf der
Deutungsebene nicht als maßgeblich strukturierender Distinktionsmechanis-
mus hervortritt. Zwar wird Geschlecht von den Jungen auf unterschiedliche
Weise thematisiert, dabei jedoch nicht auf die Zugehörigkeit zur Gruppe bezo-
gen. In Bezug auf die Tanzgruppe wird Geschlecht weder auf der Deutungs-
noch auf der Handlungsebene relevant gemacht, wie auch aus den teilnehmen-
den Beobachtungen hervorgeht.
Bezugnahmen der Mädchen auf Geschlecht
Um vor dem Hintergrund der Relationalität von Männlichkeits- und Weiblich-
keitskonstruktionen Aussagen über eine Relevanz von Männlichkeitskonstruk-
tionen für das gemischtgeschlechtliche Setting der Tanzgruppe treffen zu kön-
nen, wurden auch mit weiblichen Mitgliedern der Tanzgruppe themen-
zentrierte semi-narrative Interviews geführt. Am Beispiel des nachfolgenden
Sequenzausschnitts aus dem Interview mit Clara lässt sich beispielhaft illust-
rieren, dass der Strukturkategorie Geschlecht von teilnehmenden Mädchen für
die Dynamik der Tanzgruppe nur eine indirekte oder negative Relevanz beige-
messen wird:
Mit den Breakers ist es halt, keine Ahnung, da ist es auch normal, wenn ich mich mal einfach
so auf die raufschmeiße oder wir vor den Jungs über irgendwelche Mädelsprobleme reden
oder so und die dann da auch noch ihren Mist zugeben. Das ist halt einfach noch ein Stück
offener, weil ich meine, wir haben ein Stück zu [anonymisiert] gemacht.8 Da muss man halt
einfach lernen, noch so irgendwie/Also man fasst sich halt auch an. Und das ist auch durch
dieses, also das klingt so komisch, finde ich, aber dass man halt so einen engen Körperkon-
takt auch hat, ist ja auch irgendwie noch mal, dadurch ist man sich irgendwie noch mal näher.
Und das ist, glaube ich, ein bisschen anders einfach, dass man durch das Tanzen einmal das
8 Aus Gründen der Anonymisierung wird das konkrete Thema nicht benannt.
174
Körperliche irgendwie weiß, wie dass man weiß: Okay, das ist jetzt nicht komisch, ihn auch
mal ein bisschen länger zu umarmen. Oder man wird, nur weil ich mich bei ihm ausheule
oder weiß ich nicht was, heißt das nicht gleich, dass ich in ihn verliebt bin oder Sonstiges.
Also es ist einfach, man kann sich hier fallen lassen und das ist so okay. Also in der Schule
ist es halt, wenn man sich gut mit jemandem versteht, also mittlerweile ist das nicht mehr so,
aber wenn man ein bisschen jünger ist, dann ist es oft so in den Klassen, dass es heißt: Die
wollen was voneinander, die sind ein Pärchen. Also ich verstehe mich gut mit Jungs und das
ist auch superschön, aber ich will mir den Quark nicht anhören müssen, nur weil ich irgend-
wie einen männlichen besten Freund habe oder so. Also das hat man hier halt nicht.
Aus den Bezugnahmen der Sequenz geht hervor, dass die Kategorie Ge-
schlecht für Clara generell eine relevante Kategorie darstellt. Dabei fällt auf,
dass die Tanzgruppe anhand der von Clara angeführten Beispiele von dem
Kontext Schule abgegrenzt wird, dem heteronormativ geprägte Vergeschlecht-
lichungen in Bezug auf den Umgang von Mädchen und Jungen miteinander
zugeschrieben werden. Für den Umgang der Gruppenmitglieder werden diese
Vergeschlechtlichungen als nicht relevant präsentiert. Genauer gesagt, ist es
gerade das Fehlen bestimmter heteronormativer Zuschreibungen und damit
einhergehender Zumutungen, das in Claras Erzählung die Beziehungen zwi-
schen den Mitgliedern der Breakers in positiver Weise auszeichnet. Über die
Auswertung der Deutungen der teilnehmenden Jungen hinaus scheinen die Be-
zugnahmen der teilnehmenden Mädchen die Annahme zu stützen, dass Ge-
schlecht für die Dynamik unter den Teilnehmer*innen der gemischtgeschlecht-
lichen der Tanzgruppe keinen maßgebliche Distinktionsmechanismus dar-
stellt.
Männlichkeit, Zugehörigkeit und Distinktion
Ausgehend von der Annahme, dass nicht alles, was Jungen bzw. Männer tun,
Männlichkeit konstruiert, lässt sich die Frage stellen, wann bzw. unter welchen
Umständen Männlichkeitskonstruktionen r Jungen bzw. Männern relevant
werden, genauer gesagt: welche Funktion Männlichkeit für Jungen und Män-
ner erfüllt. Um dieser Frage nachzugehen, folgen wir der These einer ‚doppel-
ten Distinktionslogik‘ von Mannlichkeit, wie sie im Anschluss an Bourdieu
(1997, 2005) von Meuser (2007) artikuliert wird:
Der Konstruktion von Männlichkeit liegt mithin eine doppelte Distinktionslogik zugrunde,
eine Logik der Unterscheidung, die Dominanzverhältnisse sowohl gegenüber Frauen als
auch gegenüber anderen Männern impliziert (15).
Demnach sind Abgrenzung und Abwertung gegenüber Frauen und Weiblich-
keitsattributen für Männlichkeitskonstruktionen auf zentrale Weise konstitu-
ierend. Beziehungen zwischen Mannern sind von einer ‚kompetitiven Logik‘
(Meuser und Scholz 2005: 221) geprägt. Ohne diese sozial distinguierende
Funktion ist Männlichkeit als vergeschlechtlichter Modus von Herrschaft nicht
zu denken. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Verortung begreifen wir
175
Männlichkeit als vergeschlechtlichten bzw. vergeschlechtlichenden Distink-
tionsmechanismus. Als solcher basiert sie auf einem heteronormativen
Verständnis von Zweigeschlechtlichkeit und trägt zugleich zu dessen Auf-
rechterhaltung bei. Dabei impliziert Männlichkeit immer auch die Herstellung
von Zugehörigkeit: Die Funktion der Konstruktion von Männlichkeit besteht
darin, Zugehörigkeit zur Gruppe der Männer durch den Ausschluss von Frauen
und Weiblichkeit herzustellen. Dominanz und Distinktion sind zwar sowohl in
der heterosozialen als auch in der homosozialen Dimension zentral, sie
funktionieren aber jeweils unterschiedlich: Frauen und Weiblichkeit gelten
grundsätzlich als unterlegen (vgl. Bourdieu 1997, 2005), Männer unterein-
ander hingegen können sich, sofern sie nicht als ‚Nicht-Mann‘ markiert
werden, in einem gewissen Sinne als ‚Gleiche‘ begegnen, selbst wenn sie sich
dabei als Gegner gegenüberstehen (Whitehead 2005).
Aus einer intersektionalen Perspektive9 liegt es darüber hinaus nahe, die
Beziehungen zwischen der durch Männlichkeit hergestellten Zugehörigkeit
und anderen Zugehörigkeiten in den Blick zu nehmen. In diesem Zusam-
menhang werden häufig in erster Linie Zugehörigkeiten zu gesellschaftlichen
Makro-Gruppen bzw. imaginären Kollektiven etwa im Kontext von Ethnizität,
Herkunft oder Klasse thematisiert.10 In der Jungenarbeit hingegen wird tra-
ditionell dafür plädiert, homosoziale Jungengruppen mit einem oder mehreren
männlichen Pädagogen zu bilden,11 also die Zugehörigkeit zu einer konkreten
Mikro-Interaktionsgruppe an Männlichkeit zu knüpfen. In den Interviews mit
Jungen, die der von uns beforschten Tanzgruppe angehören, zeigt sich jedoch
ein Phänomen, das sich sowohl von der intersektionalen Verknüpfung von
Mannlichkeit mit anderen ‚Makro-Zugehörigkeiten‘ als auch vom jungen-
arbeiterischen Konzept der homosozialen Jungengruppe grundlegend
unterscheidet: Die starke positive Betonung der Zugehörigkeit zu einer kon-
kreten gemischtgeschlechtlichen Gruppe. Zentral für die Zugehörigkeit der
teilnehmenden Jungen und Mädchen zu dieser Gruppe ist das Tanzen bzw. das
‚Ver-Tanzen‘ von Geschlecht und anderen Themen als gemeinsame und verge-
meinschaftende Handlungspraxis. Über diese Praxis des Tanzens hinaus
besteht ein weiteres Merkmal der Zugehörigkeit zur Gruppe in deren Exklusi-
vität. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Breakers stellt auch ein Distinktions-
merkmal dar: Wer zu den Breakers gehört, kann sich als etwas Besonderes
fühlen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe ist mit einem (empfundenen) Statusge-
winn verknüpft, ohne dass dabei andere, nicht Zugehörige abgewertet werden.
In diesem Sinne ist die Zugehörigkeit als Distinktionsmechanismus hier nicht
an Dominanz geknüpft, wie es bei Männlichkeit als Distinktionsmechanismus
9 Zur Konzeption von Intersektionalität vgl. z.B. Collins und Bilge 2016, McCall 2005 oder
die Beiträge in Kallenberg et al. 2013.
10 So z.B. bei Meuser und Scholz 2005: 213, 219.
11 Zu solchen und anderen Prinzipien der Jungenarbeit vgl. z.B. die Beiträge in Stecklina und
Wienforth 2016, Jantz und Grote 2003 sowie die Diskussion bei Rieske 2015.
176
der Fall ist. Auch in den Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander
findet sich kein erkennbares Dominanzverhältnis.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Männlichkeit als dominanz-
fördernder Distinktionsmechanismus innerhalb der gemischtgeschlechtlichen
Gruppe der Breakers nicht relevant gemacht wird, weil die Zugehörigkeit zur
gemischtgeschlechtlichen Tanzgruppe der Breakers für die Jungen einen Dis-
tinktionsmechanismus darstellt. Der Distinktionsmechanismus Zugehörigkeit
ist in diesem Fall im Gegensatz zu Männlichkeit jedoch nicht an Dominanz
geknüpft.
5 Fazit: Zum Potenzial gruppenorientierter
gemischtgeschlechtlicher Settings non-formaler Bildung
für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen
Am Beispiel der in dieser Studie beforschten Tanzgruppe wurde dargelegt,
welche Vorteile und Möglichkeiten ein positives Zugehörigkeitsempfinden
von Jugendlichen zu einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe für eine ge-
schlechterreflektierte Pädagogik eröffnen kann. Darüber hinaus wurde festge-
stellt, dass Männlichkeitskonstruktionen als Distinktionsmechanismus in den
Deutungen und Handlungen von teilnehmenden Jungen im Gruppenkontext
nicht auf relevante Weise hervortreten. Zusammenfassend lässt sich festhalten,
dass gemischtgeschlechtliche gruppenorientierte pädagogische Settings vor
dem Hintergrund der nachgewiesenen Relevanz von Gruppenzugehörigkeit
besondere Möglichkeiten für die Umsetzung einer geschlechterreflektierten
Pädagogik bieten können. Zentral für diese ist das transformative Potenzial der
gemeinsamen gruppenkonstituierenden Aktivität insbesondere dann, wenn
die Aktivität in besonderer Weise die kognitive Ebene der Auseinandersetzung
mit Geschlechterkonstruktionen und -verhältnissen überschreitet und die erar-
beiteten Reflexionen auf eine vergemeinschaftende Weise im Rahmen der
Gruppenaktivität experimentierend umgesetzt werden können.
Weiterer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich der Frage, inwiefern das
Potenzial zur Relativierung von Geschlechterkonstruktionen, das hier anhand
einer gemischtgeschlechtlichen Tanzgruppe aufgezeigt wurde, auch in anderen
gemischtgeschlechtlichen Settings non-formaler Pädagogik realisiert werden
kann. Vor dem Hintergrund des in dieser Studie als zentral erscheinenden
Aspekts der Leiblichkeit des choreografischen Tanzens könnten diesbezüg-
liche Potenziale z.B. von Angeboten der Jugendkulturarbeit sowie gemischt-
geschlechtlichen Angeboten der Sportverbandsarbeit untersucht werden.
177
Literaturverzeichnis
Behnisch, Michael (2010): Pädagogische Beziehungen in der Jungenarbeit. Über das
Gelingen und Misslingen. In: LVR-Landesjugendamt Rheinland/LAG Jungenar-
beit NRW (Hrsg.): Geschichten aus der Jungenarbeit. Kleine Jungs – ganze Kerle!
Jungenarbeit(er) und Jungen zwischen Konzept, Praxis und Prosa. Köln/Dort-
mund: LVR-Landesjugendamt Rheinland/LAG Jungenarbeit NRW, S. 167–175.
Bourdieu, Pierre (1997): Die männliche Herrschaft. In: Dölling, Irene/Krais, Betate
(Hrsg.): Ein alltagliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 153–217.
Bourdieu, Pierre (Hrsg.) (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main: Suhr-
kamp.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.)
(2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger
Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
https://www.bmfsfj.de/blob/jump/115438/15-kinder-und-jugendbericht-
bundestagsdrucksache-data.pdf (Zugriff: 03.08.2021).
Cloos, Peter/Köngeter, Stefan/Müller, Burkhard/Thole, Werner (Hrsg.) (2009): Die Pä-
dagogik der Kinder- und Jugendarbeit. 2., durchgesehene Auflage. Wiesbaden:
VS.
Collins, Patricia Hill/Bilge, Sirma (Hrsg.) (2016): Intersectionality. Cambridge,
Malden: Polity.
Elder-Vass, Dave (2017): Wie wirken Normen? In: Lindner, Urs/Mader, Dimitri
(Hrsg.): Critical Realism meets kritische Sozialtheorie. Ontologie, Erklärung und
Kritik in den Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript, S. 7794.
Faulstich-Wieland, Hannelore (2009): „Jungenverhalten“ als interaktive Herstellungs-
praxis. In: Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hrsg.): Jungenforschung empirisch.
Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: VS, S. 91–
101.
Graff, Ulrike (2011): Genderperspektiven in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. In:
Schmidt, Holger (Hrsg.): Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Wiesba-
den: VS, S. 179–188.
Jantz, Olaf/Grote, Christoph (Hrsg.) (2003): Perspektiven der Jungenarbeit. Konzepte
und Impulse aus der Praxis. Opladen: Leske + Budrich.
Kallenberg, Vera/Meyer, Jennifer/Müller, Johanna M. (Hrsg.) (2013): Intersectionality
und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Wiesbaden: VS.
McCall, Leslie (2005): The Complexity of Intersectionality. In: Signs. Journal of
Women in Culture and Society 30, H. 3, S. 1771–1800.
Meuser, Michael (2007): Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wett-
bewerb der Männer. In: Meuser, Michael (Hrsg.): Herausforderungen. Männlich-
keit im Wandel der Geschlechterverhältnisse. Mit einer Laudatio von Andrea
Maihofer. Köln: Rüdiger Köppe, S. 11–25.
Meuser, Michael/Scholz, Sylka (2005): Hegemoniale Männlichkeit. Versuch einer
Begriffsklärung aus soziologischer Perspektive. In: Dinges, Martin (Hrsg.):
Männer Macht Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis
heute. Frankfurt am Main: Campus, S. 211–228.
178
Oevermann, Ulrich (2001a): Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern.
In: Kutzner, Stefan/Loer, Thomas/Maiwald, Kai-Olaf/Sutter, Hans-Jörg/Wernet,
Andreas (Hrsg.): Sozialer Sinn 2 (1): Berlin: Walter de Gruyter GmbH, S. 3–34.
Oevermann, Ulrich (2001b): Die Struktur sozialer Deutungsmuster. Versuch einer Ak-
tualisierung. In: Kutzner, Stefan/Loer, Thomas/Maiwald, Kai-Olaf/Sutter, Hans-
Jörg/Wernet, Andreas (Hrsg.): Sozialer Sinn 2 (1). Berlin: Walter de Gruyter
GmbH, S. 35–82.
Oevermann, Ulrich (Hrsg.) (2002): Klinische Soziologie auf der Basis der
Methodologie der objektiven Hermeneutik. Manifest der objektiv
hermeneutischen Sozialforschung. www.ihsk.de/publikationen/Ulrich_Oever-
mann-Manifest_der_objektiv_hermeneutischen_Sozialforschung.pdf (Zugriff:
12.08.2021).
Rauschenbach, Thomas/Leu, Hans Rudolf/Lingenauber, Sabine/Mack,
Wolfgang/Schilling, Matthias/Schneider, Kornelia/Züchner, Ivo (Hrsg.) (2004):
Konzeptionelle Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht. Non-formale
und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter. (Hrsg.): v.
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). https://d-
nb.info/971374708/34 (Zugriff: 28.01.2021).
Rieske, Thomas Viola (2012): Feminisierung der Pädagogik? Kritik einer Problemdi-
agnose. In: LAG Mädchenarbeit in NRW e.V. (Hrsg.): Betrifft Mädchen 25, H. 1.
Weinheim: Beltz Juventa, S. 16–20.
Rieske, Thomas Viola (Hrsg.) (2015): Pädagogische Handlungsmuster in der Jungen-
arbeit. Eine Untersuchung zur Praxis von Jungenarbeit in kurzzeitpädagogischen
Settings. Opladen: Barbara Budrich.
Scherr, Albert (2013): Subjektorientierte Offene Kinder- und Jugendarbeit. In: Deinet,
Ulrich/Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.): Handbuch Offene Kinder- und Jugendar-
beit. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS, S. 297–310.
Schmidt, Holger (2011): Zum Forschungsstand der Offenen Kinder- und Jugendarbeit.
In: Schmidt, Holger (Hrsg.): Empirie der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Wies-
baden: VS, S. 13–127.
Schulz, Marc (2009): Performances. Jugendliche Bildungsbewegungen im pädagogi-
schen Kontext. Eine ethnografische Studie. Wiesbaden: VS.
Schwanenflügel, Larissa von/Löffler, Marlen/Bub, Eva-Maria/Zeumer, Ann-Chris-
tine/Stein, Gebhard (2011): Bildung in der Jugendarbeit. Eine Untersuchung zu
non-formalen Lern- und Bildungsprozessen in den Jugendverbänden des Rems-
Murr-Kreises. (Hrsg.): v. Kreisjugendring Rems-Murr e.V.
Stecklina, Gerd/Wienforth, Jan (Hrsg.) (2016): Impulse für die Jungenarbeit.
Denkanstöße und Praxisbeispiele. Weinheim: Beltz Juventa.
Whitehead, Antony (2005): Man to Man Violence. How Masculinity May Work as a
Dynamic Risk Factor. In: The Howard Journal of Criminal Justice 44 (4), S. 411–
422.
Männliche Jugendliche und
junge Männer in der
Ausbildung
Berufliche und geschlechtsbezogene Orientierungen
von männlichen Auszubildenden in geschlechtsun-
typischen Berufen. Ein exemplarischer Vergleich von
Assistenzberufen im Erziehungs- und Gesundheits-
sektor
Barbara Scholand und Marc Thielen
1 Einleitung
Aktuell werden Assistenzberufe im Erziehungs- und Gesundheitsbereich im-
mer noch überwiegend von jungen Frauen angesteuert, die anschließend auch
dort zu einem höheren Anteil verbleiben als ihre männlichen Kollegen, von
denen viele in Leitungspositionen streben (vgl. in Bezug auf männliche Erzie-
her Cremers et al. 2015: 40). Ungeachtet der Lockerung geschlechtlicher Nor-
men neigen Männer insgesamt noch (zu) selten dazu, in Frauendomänen vor-
zudringen (vgl. Meuser 2005: 1; Scambor 2015: 3–5), auch wenn sich ihr An-
teil an den Ausbildungsanfänger*innen in Erziehungs-, Gesundheits- und So-
zialberufen in den letzten Jahren geringfügig erhöht hat (vgl. BMBF 2021: 59
f.). Dass dennoch etwas Bewegung in die Geschlechterverhältnisse gekommen
ist, belegen Ergebnisse der jüngsten Berufswahlforschung: Danach wird die
Relevanz der Geschlechtstypik eines Berufs, die z.B. Gottfredson (1981) in
ihrer Berufswahltheorie akzentuiert, gegenüber der Prestige-Dimension relati-
viert (vgl. Rottermann 2017: 33 f.). Für Jugendliche ist demnach vor allem die
soziale Anerkennung eines Berufs bedeutsam (vgl. Oeynhausen und Ulrich
2020; Granato und Ulrich 2020), welche nicht zwangsläufig von seiner Ge-
schlechtstypik abhängen muss.
Die wenigen Studien zu männlichen Auszubildenden in geschlechts-
untypischen Berufen liefern Erkenntnisse zur Bedeutung von Wissen, Praktika,
Eltern und Peers im Berufsfindungsprozess: Je klarer der Berufswunsch und je
größer das Wissen um den Beruf und die Geschlechterverteilung darin, desto
eher wurde dieser auch gegen elterliche und peerseitige Widerstände
durchgesetzt, während umgekehrt gilt: Je weniger Wissen vorhanden und je
unklarer die Orientierung bei Eintritt in die Ausbildung ist, desto eher sehen
182
die jungen Männer das Erlernen des jeweiligen Berufs lediglich als
Zwischenschritt an (vgl. Faulstich-Wieland 2016). Einige wenige Untersuch-
ungen zeigen, dass Jungen, die Praktika in sozialen Bereichen absolviert
haben, sich auch für entsprechende Berufe interessieren (Cremers und Diaz
2012; Budde et al. 2009) und dass bei Schülern (und Schülerinnen), deren
Eltern in Gesundheits- oder Pflegeberufen tätig sind, ein gegenüber ihren
Mitschülern mit Eltern in anderen Berufen erhöhtes Interesse an solchen
Berufen besteht (Brüggemann et al. 2016). Nach einer US-amerikanischen
Studie begünstigen bspw. Freundschaften mit jungen Frauen, dass junge Män-
ner auch ‚Frauenberufe‘ in ihr Spektrum infrage kommender Berufe einbe-
ziehen (Hardie 2015).
Im Fokus der dem Beitrag zugrundeliegenden, in Hamburg an berufsbil-
denden Schulen durchgeführten Studie stehen junge Männer, die eine Ausbil-
dung in einem sog. SAGE-Beruf aufgenommen haben. Die Bezeichnung
„SAGE-Berufe“ (Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung und Bildung)
wird als Pendant zum mannlich codierten Feld der „MINT-Berufe“ (Mathema-
tik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) verwendet (vgl. Höppner
2018). Diese Klassifizierungen von Berufen rekurrieren auf Gemeinsamkeiten
und lassen ähnliche Bedingungen und Herausforderungen für junge Frauen
bzw. Männer in der Bewältigung des beruflichen Übergangs erwarten. Aus
Perspektiv der Berufsorientierung(sforschung) ist diese Sammelbezeichnung
jedoch wenig hilfreich und zementiert darüber hinaus die Entgegensetzung von
SAGE MINT als geschlechtlich different codierten Berufsfeldern. Daher
richten wir unseren Blick auf die Pluralität von Ausbildungsberufen im Be-
reich SAGE und fragen nach den daraus resultierenden Unterschieden in den
beruflichen und geschlechtsbezogenen Orientierungen von männlichen Aus-
zubildenden (vgl. Scholand und Thielen 2021).
In unserem Beitrag nehmen wir einen Vergleich von zwei Ausbildungsbe-
rufen vor, die in den letzten Jahren aufgrund gestiegener beruflicher Anfor-
derungen reformiert wurden und sich ungeachtet der Zugehörigkeit zu den
sogenannten SAGE-Berufen in wesentlichen Aspekten als kontrastierende
Felder verstehen lassen (Kap. 2). Im Erziehungssektor betrachten wir den
Beruf der*des Sozialpädagogischen Assistent*in, der in einer schulischen
Ausbildung erlernt wird. Der Beruf der bzw. des Medizinischen Fachange-
stellten, der den Gesundheitssektor repräsentiert, ist demgegenüber an eine
betriebliche Ausbildung geknüpft. Das Datenmaterial – Interviews mit Auszu-
bildenden – wurde im Rahmen einer ethnografisch angelegten Studie erhoben
(Kap. 3). In unserem Beitrag rekonstruieren und vergleichen wir die Motive
von jungen Männern für die Wahl der beiden Ausbildungsberufe (Kap. 4)
sowie deren geschlechtsbezogene Deutungen zum Ausbildungskontext und
zum beruflichen Handlungsfeld (Kap. 5). Im Fazit diskutieren wir die empi-
rischen Befunde im Hinblick auf ihre Relevanz für die Berufsbildungs- wie
auch Männlichkeitsforschung (Kap. 6).
183
2 Kontrastierung der Berufe „Sozialpädagogische/r
Assistent/in“ und „Medizinische/r Fachangestellte/r“
Sowohl der Beruf „Sozialpadagogische/r Assistent/in“ (SPA) als auch der Be-
ruf „Medizinische/r Fachangestellte/r“ (MFA) ist im Zuge der Herausbildung
weiblicher Erwerbsmöglichkeiten entstanden, beide gelten bis heute als ‚Frau-
enberufe‘.
Für die Arbeit mit Kleinkindern wurden ab etwa der Mitte des 19. Jahrhun-
derts unterschiedliche Qualifizierungswege geschaffen (vgl. Pasternak und
Keil 2013: 15). Die heutigen frühpädagogischen Ausbildungsangebote zu Kin-
derpflege bzw. Sozialpädagogischer Assistenz werden nach den Schulgesetzen
der Länder geregelt. Ab 2004 setzte eine Akademisierung über die Einführung
von Studiengängen für Früh- bzw. Kindheitspädagogik ein (vgl. Pasternak
2015). Der Beruf der Arzthelferin bildete sich hingegen erst nach 1945 auf-
grund ärztlicher Bedarfe im Praxisbetrieb heraus1. Im Zuge der Reformen des
Berufsbildungsgesetzes (BBiG) 1969 erhielt der Beruf die staatliche Anerken-
nung und Zuordnung zum dualen Berufsbildungssystem. 2006 erfolgten die
Ausweitung der Qualifizierung und die Umbenennung des Berufs in „Medizi-
nische/r Fachangestellte/r“. Eine Akademisierung ist nicht in Sicht. Eine Ge-
meinsamkeit beider Berufe besteht darin, dass sie als ‚soziale‘ Berufe gelten,
in denen der Umgang mit Menschen im Mittelpunkt steht.2 Aufstiegsoptionen
innerhalb des Berufs sind in beiden Fällen kaum gegeben: Sie beschränken
sich bei den MFA auf den Ausbau fachlicher Kenntnisse durch Weiterbildun-
gen, bspw. zu Praxismanagement, Hygiene und Dokumentation; für die SPA
bleibt als einzige Möglichkeit die (verkürzte) Ausbildung zum Erzieher.
Die landesrechtlich geregelte berufsfachschulische Ausbildung zum Sozi-
alpädagogischen Assistenten/zur Sozialpädagogischen Assistentin dauert in
Hamburg regelhaft zwei Jahre. Sie wurde 2017 für Personen mit „erweitertem
erstem Schulabschluss“ geöffnet, die jedoch ein vorgeschaltetes Probehalbjahr
absolvieren müssen. Eine Ausbildungsvergütung wird nicht gezahlt. Die duale
Ausbildung zum/zur Medizinischen Fachangestellten dauert demgegenüber re-
gelhaft drei Jahre und hat keine Zulassungsbeschränkung, empfohlen wird ein
Mittlerer Schulabschluss. Auszubildende mit Abitur können die Dauer der
Ausbildung um ein halbes oder ein Jahr verkürzen. Die Auszubildenden erhal-
ten eine Vergütung nach Gehaltstarifvertrag, die anfänglich bei ca. 900 Euro
liegt. Die unterschiedlichen Regularien der beiden Ausbildungen spiegeln sich
in divergierenden Handlungslogiken wider. Zwar sind Hierarchien in beide
1 Vgl. https://www.vmf-online.de/mfa/mfa-geschichte (Zugriff: 14.10.2021).
2 Jugendliche im Prozess der Berufsorientierung finden Informationen zu den beruflichen
Tätigkeiten unter https://planet-beruf.de/schuelerinnen/berufe-finden/a-z/ausbildungsberufe-
s/sozialpaedagogische-r-assistent-in-kinderpfleger-in; https://planet-beruf.de/schuelerinnen/
berufe-finden/mint-und-sozial/sozial-ausbildungsberuf-medizinischer-fachangestellter-1
(Zugriff: 22.11.2021).
184
Berufe eingelassen, in der ärztlichen Praxis ist die Distanz zwischen MFA und
Arzt*Ärztin jedoch ungleich größer als die zwischen SPA und Erzieher*in in
der Kita. Die Interaktion zwischen Anleitenden und Auszubildenden in der
ärztlichen Praxis folgt eher dem in MINT-Berufen üblichen Muster von An-
weisung und Ausführung, während sie in pädagogischen Kontexten tendenzi-
ell auf Konsens und Kooperation ausgelegt ist (vgl. Barthold 2020).
Der Männeranteil in den beiden Berufen zu Ausbildungsbeginn differiert
deutlich: Im Untersuchungszeitraum 2019 lag dieser in erziehenden Berufen
bei 24,5 Prozent3. Demgegenüber betrug er bei den MFA-Auszubildenden nur
2,9 Prozent.4 Während in der Frühpädagogik seit einigen Jahren Anstrengun-
gen unternommen werden, um den Männeranteil zu erhöhen, sind vergleich-
bare Bemühungen um MFA-Auszubildende nicht zu verzeichnen.5
Den unterschiedlichen Männeranteilen entsprechend hat auch die
Forschung zu Männern in den beiden Berufen einen unterschiedlichen
Umfang: Während zu Männern im Erzieherberuf eine Vielzahl an Studien vor-
liegt, konnte zu Medizinischen Fachangestellten lediglich eine ältere Publi-
kation ausfindig gemacht werden. Puhlmann (2012) stellt Ergebnisse aus 53
Interviews mit männlichen MFA-Auszubildenden vor: Etwa die Hälfte sind
Berufswechsler oder Studienabbrecher; knapp 50 Prozent sind auf das
Berufsfeld orientiert, nur etwa zehn Prozent direkt auf den Beruf MFA; weitere
10 Prozent erproben sich in der Ausbildung und 30 Prozent haben die
Ausbildung ohne konkrete Berufsvorstellungen begonnen (ebd.: 49 f.).
Entsprechend hat die Ausbildung unterschiedliche Funktionen: Teils werde an
im sozialen Umfeld vorhandene Berufe angeknüpft und somit eine Tradition
fortgeführt (ebd.: 52), teils „dem Drang nach Individuierung“ gefolgt (ebd.),
teils dienen sie als notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zum
Medizinstudium. Interessant ist, dass die Geschlechtstypik des MFA-Berufs
nach dieser Studie für die Auszubildenden selbst keine Relevanz besitzt, aber
in deren Familien auf Vorbehalte stößt (ebd.: 53).
Anhand von 60 Interviews mit männlichen und weiblichen Auszubilden-
den und (vormaligen) Beschäftigten im Erzieherberuf zeichnen Cremers et al.
(2015) differente Wege in den Beruf nach: „Unüberlegte“ ohne konkrete be-
rufliche Vorstellungen, auf den Beruf orientierte „Überzeugte“, „berufsnahe
Quereinsteiger“ sowie Berufswechsler, die sich in der Ausbildung erproben
3 Eigene Berechnung, bezogen auf die Anfänger*innenzahlen in den Berufen Erzieher*in, So-
zialpädagogische/r Assistent/in, Berufe in der Kinderbetreuung und -erziehung lt. Tabelle 14
im Berufsbildungsbericht (BMBF 2020: 50).
4 Eigene Berechnung, bezogen auf die Anzahl der Neuabschlüsse von MFA-Ausbildungsver-
trägen 2019 gemäß BIBB-Datenblatt 8110 für Deutschland, www.bibb.de/dienst/dazubi/
de/1871.php. (Zugriff: 12. April 2021)
5 Beide Berufe werden zwar nicht als Engpassberufe geführt, allerdings werden für das
pädagogische Personal „Rekrutierungsprobleme“ (Warning 2020) konstatiert und bei
medizinischen Fachangestellten wird ein Mangel erwartet (z.B. Deutsche Presse-Agentur
2021).
185
(ebd.: 38). Auch hier zeigen sich unterschiedliche Funktionen der Ausbildung:
Viele haben im Berufsfeld tätige Angehörige, die Mehrheit möchte im Berufs-
feld aufsteigen oder ein Studium aufnehmen (vgl. ebd.: 39 f.). Die Geschlechts-
typik des Berufs wirkt sich bei den Erziehern dahingehend aus, dass sie die
Anforderungen in der Arbeit mit kleinen Kindern unterschätzen und angeben,
lieber mit Jugendlichen arbeiten zu wollen (vgl. ebd.: 42). Männlichkeit ist in-
sofern relevant, als Erzieher zum Teil andere Tätigkeitsbereiche als Erziehe-
rinnen übernehmen oder zugewiesen bekommen (ebd.: 44). Weitere Studien
attestieren männlichen Erziehern ein teilweise mangelndes Professionsver-
ständnis (Breitenbach und Bürmann 2014), thematisieren deren Nachteile und
Privilegien im Beruf (Rohrmann 2014), weisen hegemoniale Männlichkeit
nach (Pangritz 2020) und rekonstruieren komplizenhafte, aber auch alternative
Männlichkeitskonzepte (vgl. Buschmeyer 2013: 204). Frühpädagogische As-
sistenzkräfte sind gegenüber den Erziehern noch kaum untersucht. In einer der
wenigen Studien, in denen sie berücksichtigt werden, wird auf einen steigen-
den Anteil an Personal aus „dem Milieu der ‚Benachteiligten‘“ (Wippermann
2018: 128) verwiesen. Der Einstieg in den pädagogischen Bereich sei für jene
eine Qualifizierungsmöglichkeit, berge jedoch zugleich „Risiken geringerer
Bereitschaft zur Professionalisierung und Innovation“ (vgl. ebd.).
Den Resultaten nach sind caring masculinities(Heilmann und Scholz
2017) noch kaum in Sicht – und/oder werden immer noch (zu) wenig wahrge-
nommen (vgl. Budde et al. 2011).
3 Das Forschungsprojekt „Junge Männer in
geschlechtsuntypischen Berufen“
Anknüpfend an den Forschungsstand vergleicht unsere Studie Auszubildende
in zwei weiblich codierten Ausbildungsberufen, die sich, wie im vorigen
Kapitel ausgeführt, als Kontrastfelder verstehen lassen. Im Fokus stehen zum
einen die Fragen nach den Kontexten, welche die Ausbildungsentscheidungen
befördern und nach der Bedeutung, welche die Auszubildenden selbst ihrer
Berufswahl zuweisen. Zum anderen beleuchten wir im Licht berufswahl- und
geschlechtertheoretischer Ansätze, inwiefern Geschlecht in Bezug auf die
Ausbildungswahl zum Thema gemacht wird. In Bezug auf die Selbstpositi-
onierungen in den beruflichen Handlungsfeldern interessieren uns verge-
schlechtlichte Bezugnahmen, die von den jungen Männern6 vorgenommen
werden. Zur Klärung unserer Forschungsfragen realisierten wir eine
6 Alle Interviewpartner wurden von den Forschenden im Kontext von Unterrichtsbeobachtun-
gen für die Teilnahme gewonnen, indem explizit nach männlichen Auszubildenden gefragt
wurde.
186
ethnografische Strategie, die Interviews mit Auszubildenden und Lehrkräften
mit Beobachtungen des schulischen Teils der Ausbildung kombinierte. Mittels
eines offenen und erzählgenerierenden Leitfadens wurden sieben Auszubil-
dende zum Medizinischen Fachangestellten und neun Schüler einer Berufs-
fachschule für Sozialpädagogische Assistenz interviewt.7 Der Erzählimpuls,
der auf den Prozess der Berufswahlentscheidung rekurriert, lautete: „Wie ist es
dazu gekommen, dass Sie jetzt hier diese Ausbildung machen?“ An die
Erzählungen anschließende Nachfragen bezogen sich auf mögliche Vorbilder
und/oder Unterstützung bei der Ausbildungswahl, Vorerfahrungen, andere
berufliche Optionen, weitere (Karriere-)Pläne sowie Erfahrungen in Schule
und Ausbildungsbetrieb. Die Positionierung zu Geschlecht wurde in zwei
Schritten erhoben: Zunächst wurde danach gefragt, mit wem die Interviewten
in Schule und Betrieb am meisten zu tun haben. Diese Frage spricht den
Geschlechteraspekt nur indirekt an und lässt es offen, mit einer geschlecht-
lichen Markierung zu antworten. Im nächsten Schritt wurden die Interviewten
gefragt, inwiefern es für sie eine Rolle spielt, dass sie in der Ausbildung
überwiegend mit Kolleginnen zu tun haben. Die Interviewten befanden sich
zum Untersuchungszeitpunkt im ersten Ausbildungsjahr. Mit je zwei Auszu-
bildenden pro Beruf konnten telefonische Folgeinterviews im zweiten
Ausbildungsjahr durchgeführt werden, bei denen Aspekte aus dem Erstinter-
view vertieft wurden. Die Interviewauswertung orientierte sich an der Metho-
dologie der Grounded Theory. Die Daten wurden zunächst thematisch codiert,
anschließen wurden einschlägige Interviewsequenzen ausgewählt und in
einem kommunikativ-reflexiven Verfahren interpretiert (vgl. Breuer 2010). In
der Analyse erfolgte ein Vergleich der beiden Berufsfelder, der Gemeinsam-
keiten und Kontraste zu Tage förderte. In Bezug auf die Forschungsfragen
erwiesen sich die individuell und berufsfeldspezifisch differenten Bedeut-
ungen der Ausbildung (Kap. 4) und die damit zusammenhängenden Befunde
zu den Bezugnahmen auf Geschlecht (Kap. 5) als markant.
4 Heterogene biografische Kontexte und Bedeutungen
einer Ausbildung im Erziehungs- und Gesundheitssektor
Die Aufnahme einer Berufsausbildung kann für junge Menschen sehr unter-
schiedliche biografische Bedeutungen haben (vgl. Handelmann 2020), wobei
die Ausbildungsentscheidung nur einen Schritt im prinzipiell lebenslangen
Prozess der beruflichen Orientierung darstellt (vgl. Brüggemann und Rahn
7 Eine Übersicht zu den MFA- und SPA-Auszubildenden folgt in Kap. 4. Es wurden außerdem
acht Schüler in der Ausbildung zum Altenpfleger befragt (siehe den Beitrag von Scholand
und Stützel in diesem Band).
187
2020: 13). Um die biografische Relevanz der Ausbildung zu beleuchten und
miteinander zu vergleichen, betrachten wir zunächst die Kontextualisierungen
im Lebenslauf und rekonstruieren die Ausbildungsmotive. Unsere Analysen
zeigen (vgl. Tabelle 1), dass die Ausbildung in mehr oder weniger komplexe
Übergangsszenarien eingebettet ist (vgl. Stauber et al. 2007).
Tabelle 1: Übergangsverläufe der Interviewten8
I.
Übergangsmuster der SPA-Auszubildenden
Interviewte (Alter)
I.1
Direkter Einstieg in Ausbildung nach der Schule
BARAN (16), NIKLAS (17)
I.2
Verzögerter Einstieg nach Berufsvorbereitung bzw.
Freiwilligem Sozialem Jahr
MAX (20), CEM (18)
I.3
Einstieg in Ausbildung nach vorzeitig beendeter
Erstausbildung
FINN (17), RAY (20), LEON (22)
I.4
Einstieg in Ausbildung nach längerem Orientier ungs-
prozess
MURAT (22)
I.5
Später Einstieg in Ausbildung nach diskontinuierli-
chem Verlauf
NILS (24)
II.
Übergangsmuster der MFA-Auszubildenden
Interviewte (Alter)
II.1
Direkter Einstieg in Ausbildung nach der Schule
MOUSSA (16), PATRICK (20), BEN (16),
NADIK (20)
II.2
Verzögerter Einstieg nach Berufsvorbereitung bzw.
Freiwilligem Sozialem Jahr
ARVI (18), TILL (20)
II.3
Fortsetzung eines migrationsbedingt unterbrochenen
Bildungsweges
KADIR (25)
Dabei offenbaren sich berufsfeldspezifische Unterschiede, die in einem
Zusammenhang mit den differenten Zugangsvoraussetzungen und
Bildungsabschlüssen der Interviewten zu betrachten sind. Während die SPA-
Auszubildenden allesamt nur über einen (erweiterten) ersten Schulabschluss
verfügen und somit eingeschränkte Chancen im selektiven und segmentierten
Ausbildungssystem haben (vgl. Holtmann et al. 2019), bringen die MFA-Aus-
zubildenden höhere Schulabschlüsse mit9, die ein breiteres berufliches
Spektrum eröffnen: Ein MFA-Auszubildender hat einen ersten Schulab-
schluss, drei haben einen mittleren Schulabschluss, zwei das Abitur bzw.
Fachabitur, einer hatte im Herkunftsland ein Medizinstudium begonnen.
Die Übergänge der SPA-Auszubildenden erscheinen im Vergleich zu de-
nen der MFA-Auszubildenden heterogener, komplexer und tendenziell prekä-
rer. Während die Mehrheit der MFA-Auszubildenden einen direkten Einstieg
8 Die Namen der Interviewten wurden durch Pseudonyme ersetzt.
9 Die bundesweite Statistik zu den männlichen Ausbildungsanfängern im MFA-Beruf zeigt,
dass etwa ein Viertel einen Hochschul-, knapp die Hälfte einen Realschul- und ein weiteres
Viertel einen Hauptschulabschluss hat (vgl. BIBB-Datenblatt 8110, abrufbar unter
https://www.bibb.de/dienst/dazubi/de/1871.php (Zugriff: 12 April 2021).
188
in die Ausbildung realisiert hat, sind es bei den SPA-Auszubildenden nur zwei
von neun. Demgegenüber finden sich brüchige, langwierige und diskontinu-
ierliche Übergänge ausschließlich bei den SPA-Auszubildenden. Auffällig
sind auch die vorzeitig beendeten Erstausbildungen bei insgesamt vier SPA-
Auszubildenden. Jene Abbrüche verweisen auf berufliche Um- und Neuorien-
tierungen, nachdem sich die jungen Männer zunächst für eine Ausbildung in
einem männlich codierten Beruf Elektriker (LEON), Fachlagerist (RAY),
Maler und Lackierer (NILS), Zerspanungsmechaniker (FINN) entschieden
hatten. Die genannten Berufe sind Ausbildungssegmenten zuzuordnen, welche
für junge Menschen mit maximal Hauptschulabschluss gut zugänglich sind
(vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Vor dem Hintergrund
der unterschiedlichen Übergangsszenarien betrachten wir die biografische Re-
levanz der Ausbildung für beide Ausbildungsberufe separat.
4.1 Biografische Bedeutungen der SPA-Ausbildung: Erweiterung der
beruflichen Optionen bei nur partiellem Interesse an einer
frühpädagogischen Tätigkeit
Die rekonstruierten Übergänge zeigen, dass die SPA-Ausbildung – ähnlich wie
die Erzieher*innenausbildung (Cremers et al. 2015: 37f.) – biografisch sehr
unterschiedlich kontextualisiert ist. In den Interviews zeigen sich entsprechend
vielfältige Ausbildungsmotive, wobei das Interesse an einer frühpädagogi-
schen Tätigkeit nur bei jedem Zweiten im Vordergrund steht.
a) Tätigkeitsbezogene Motive für die SPA-Ausbildung
Fünf SPA-Auszubildende beschreiben die berufliche Qualifizierung primär
tätigkeitsbezogen und interessengeleitet. In drei Fällen (NIKLAS, RAY,
LEON) wird ein Verbleib in der Frühpädagogik, in einem Fall (FINN) in der
Jugendarbeit angestrebt. Der Wunsch der meisten nach einer späteren Weiter-
qualifizierung zum Erzieher lässt eine hohe Identifikation mit dem Beruf und
dem Handlungsfeld Kita erkennen (vgl. Handelmann 2020: 193). Die
Interviewten stellen eine Passung zwischen einem biografisch früh einset-
zenden Interesse an der Interaktion mit Kindern und dem Beruf her: „Es hat
mir immer Spaß gemacht, mit Kindern zu spielen“ (NIKLAS). Es wird von
positiven Erfahrungen in der Betreuung von Kindern berichtet und daraus eine
bereits vor Ausbildungsbeginn vorhandene pädagogische Expertise abgeleitet
– „kenne mich mit kleinen Kindern schon gut aus“ (NIKLAS) –, die bisweilen
auch vom sozialen Umfeld gespiegelt wird: „Mach was mit Kindern.
(NIKLAS). Die Praxis in den Kitas wird von den Interviewpartnern positiv
bewertet. Bei einem Interviewten, dem 18-jährigen CEM, erweist sich die
interessengeleitet gewählte Ausbildung als erste Etappe eines angedachten
189
Bildungsaufstiegs, der an den nachträglichen Erwerb von Schulabschlüssen
geknüpft wird. Als Ziel gibt der Interviewte den Lehrerberuf und damit die
Tätigkeit in einem anderen Bildungssektor an. Hier wird die Ausbildung
„instrumentalisiert und in ihrer Funktion der Weiterqualifizierung und
Professionalisierung gesehen“ (Handelmann 2020: 195).
b) Tätigkeitsferne Motive für die SPA-Ausbildung
Bei vier Interviewten ist die frühpädagogische Tätigkeit weder das entschei-
dende Ausbildungsmotiv noch das berufliche Ziel. Für zwei ältere Interviewte
(MURAT und NILS) mit deutlich verlängerten Übergängen stellt die Ausbil-
dung eine solide berufliche Grundlage dar, die ganz explizit mit der Nachfrage
nach männlichen Fachkraften argumentiert wird: „Wenn du die Ausbildung
hast, dann hast du quasi unendlich viele Chancen, weil man sagt mir nach, dass
vor allem SPA-Erzieher, männliche, in Hamburg gesucht werden“ (MURAT).
Der 22-jährige Interviewte, der eine zeitlich ausgedehnte berufliche Orientie-
rungsphase hinter sich hat, begründet die Ausbildung mit Empfehlungen des
sozialen Umfelds und der Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz. Ein Ver-
bleib im Beruf ist zwar durchaus auch eine Option, aber keineswegs sicher:
„Ab und zu gibt’s mal so Momente, jetzt aktuell, wo ich so sage, vielleicht
mach ich irgendwann auch noch zum Lageristen.“ MURAT kann sich dem-
nach auch eine Tätigkeit in der Logistik vorstellen, in der er bereits längere
Zeit gearbeitet hat und ebenfalls einen hohen Fachkräftebedarf sieht. Die Funk-
tion der Ausbildung wird entsprechend in der Gewährleistung einer ökono-
misch sicheren berufliche Position gesehen.
Bei zwei jüngeren Interviewten (BARAN und MAX) erscheint die Ausbil-
dung als Verlängerung eines Bildungsmoratoriums (Reinders 2003: 52), des-
sen biografische Funktion sich am Interview mit BARAN illustrieren lässt, der
die Ausbildungswahl als elterlich motiviert beschreibt: „Meine Eltern wollten
das, weil es ohne körperliche Anstrengungen ist. […] Die wollten unbedingt,
dass ich weiter Schule mache.“ Die Ausbildung ist Teil eines familialen Bil-
dungsauftrags und wird als Fortsetzung einer schulischen Bildungskarriere in-
terpretiert, die vor körperlich belastender Arbeit schützt. Der Jugendliche, der
sich vergeblich um einen mittleren Schulabschluss und Ausbildungsplätze in
technischen Berufen bemüht hatte, grenzt die Ausbildung zwar dezidiert von
einer berufsvorbereitenden Maßnahme ab, schreibt ihr aber eine ganz ähnliche
Funktion in Gestalt einer biografischen Orientierung zu: „Mein Ziel ist es in
der laufenden Ausbildung einen Plan zu finden.“ Die Ausbildung erscheint als
Versuch, einen Umgang mit den deutlich begrenzten beruflichen Möglichkei-
ten zu finden.
190
4.2 Biografische Bedeutungen der MFA-Ausbildung:
Basisqualifikation für eine alternative berufliche Tätigkeit im
Gesundheitssektor
In den Interviews der MFA-Auszubildenden wird die Ausbildung mit einem
biografisch früh einsetzenden Interesse an einem medizinischen Beruf begrün-
det und ein Verbleib im Gesundheitssektor angestrebt – allerdings ausnahms-
los in anderen Berufen. Damit erscheint die Ausbildung als ‚Eintrittskarte‘ in
eine längerfristige berufliche Karriere im Gesundheitssektor.
a) Tätigkeitsbezogene Motive für die MFA-Ausbildung
Während MOUSSA, der später gerne im OP arbeiten möchte, angibt, sein
Interesse sei dadurch geweckt worden, dass er „viele Serien geguckt [hat], wo
man so sieht, wie Patienten operiert werden“, wird in den Interviews mit TILL
und BEN die Tätigkeit im Gesundheitssektor als familiäre Tradition gerahmt
(vgl. Puhlmann 2012: 52): Sie verweisen auf nahe Verwandte, die medizini-
sche Berufe ausüben und bereits in der Kindheit Einblicke in den Gesundheits-
sektor eröffnet und ein entsprechendes berufliches Interesse angeregt oder
verstärkt haben. Illustrieren lässt sich dies am Interview mit BEN, der eine früh
einsetzende Passung zu Gesundheitsberufen herstellt: „Also, ich habe mich
schon immer so für den medizinischen Bereich interessiert. Und mein Vater ist
auch im medizinischen Bereich aktiv, deswegen bin ich so eher in die Richtung
gegangen.“ (BEN). Auf Nachfrage konkretisiert der junge Mann, dass der
Vater „medizinischer Bademeister, also Masseur“ ist. In BENs Schilderungen
wird besonders deutlich, dass die MFA-Ausbildung als Grundlage für eine
alternative berufliche Tatigkeit fungiert: „Und deswegen mache ich jetzt erst-
mal Arzthelfer, um schon einmal so ein kleines Vorwissen zu haben. Was ich
denn entweder zum Physiotherapeuten übergehen kann oder zu Rettungs-
sanitater.“ (BEN). Die Formulierung „kleines Vorwissen“ und die ältere
Berufsbezeichnung „Arzthelfer“ relativieren den Wert der MFA-Ausbildung,
die für den jungen Mann lediglich eine Basisqualifikation darstellt. Die
beruflichen Anschlussoptionen sind zum Interviewzeitpunkt (noch) nicht
erreichbar: Während die schulische Ausbildung zum Physiotherapeuten als zu
kostspielig betrachtet wird, setzt der Beruf des Rettungssanitäters den Führer-
schein voraus, den der 16-Jährige erst noch erwerben muss.
In drei Interviews (PATRICK, NADIK, KADIR) hat die MFA-Ausbildung
die Funktion, die noch fehlenden Voraussetzungen für ein Medizinstudium zu
schaffen. Wahrend NADIK den Wunsch, Medizin zu studieren, als „von Kind-
heit an“ bestehend beschreibt und nicht weiter begründet, wird von KADIR
das Studium als Fortsetzung einer familiären Tradition beschrieben. Bei einem
anderen Interviewten, dem 20-jährigen PATRICK, der zunächst Polizist wer-
den wollte, haben eine im Interview als Zäsur evaluierte lebensbedrohliche
191
Erkrankung und damit einhergehende Klinikaufenthalte intensive Einblicke in
die Medizin eröffnet und das berufliche Interesse geweckt, das der Interviewte
im Anschluss an die Schilderung seiner Krankengeschichte hervorhebt: „Im
Zuge dessen […] sind meine Interessen weitergewachsen. Da habe ich mir ge-
sagt, okay, ich würde eigentlich gerne etwas zurückgeben.“ Da der Interviewte
nur einen mittleren Schulabschluss hat, möchte er die Ausbildung zum Erwerb
des Fachabiturs nutzen.
b) Pragmatische Motive für die MFA-Ausbildung
Unter den MFA-Auszubildenden findet sich nur einer, bei dem die Ausbildung
nicht primär interessenbezogen begründet wird. Der 18-jähige ARVI hat
leistungsbedingt zunächst an einer berufsvorbereitenden Maßnahme
teilgenommen, obwohl er lieber in die gymnasiale Oberstufe gewechselt wäre.
Trotz eines mit familiärer Tradition argumentierten Interesses an der Medizin
erscheint die Ausbildungswahl als eine Notlösung, da sich die durch ein
Praktikum in einer Apotheke entstandene Idee, Pharmazeutisch-technischer
Assistent (PTA) zu werden, aufgrund des dafür fehlenden Schulabschlusses
nicht realisieren ließ. Eine alternativ in Erwägung gezogene Ausbildung als
Krankenpfleger schließt der junge Mann aufgrund der unattraktiven Arbeits-
zeiten aus. Die Entscheidung für die MFA-Ausbildung, die während der
berufsvorbereitenden Maßnahme erfolgte, war mit sehr viel Druck verbunden,
den ARVI für sich in ein Ziel übersetzt: „Ich musste ja eine Ausbildung finden.
[…] Ich habe mir ein Ziel vorgenommen. Ein halbes Jahr in der AV, dann bin
ich weg und dann ist das passiert. Weil ich mich/Das hat mir einfach nicht
gefallen. Dann habe ich mein Ziel verfolgt und ja, erledigt.“ Der Interviewte
beschreibt sich als getrieben und begründet die Bewerbungen bei unterschied-
lichen Arztpraxen mit dem Ziel, die als sehr negativ evaluierte Berufsvorbe-
reitung so schnell wie möglich zu verlassen. Daneben äußert er ein allge-
meines Interesse an Medizin. Insofern wurde die Ausbildungsentscheidung in
einem Spannungsfeld von „Norm und Selbstverwirklichung“ (Handelmann
2021: 201f.) getroffen: Der im Interview eher unspezifisch begründete Wunsch
nach einer Ausbildung im Gesundheitssektor ist verknüpft mit der
gesellschaftlichen Erwartung, einen institutionalisierten Normallebenslauf
(Kohli 1985) zu realisieren.
c) Unterschiedliche Ausgangslagen – differente berufliche Pläne
Der Vergleich der Ausbildungsmotive zeigt, dass die Berufsausbildung in bei-
den beruflichen Feldern unterschiedliche biografische Bedeutungen hat und
häufig als Zwischenetappe auf dem Weg in andere Berufe betrachtet wird.
Während bei den SPA-Auszubildenden nur ein Teil tatsächlich im pädagogi-
schen Feld zu bleiben beabsichtigt und die anderen ihre qua Schulabschluss
192
eingeschränkten beruflichen Chancen eher prinzipiell zu erweitern suchen, se-
hen die weniger zu beruflichen Kompromissen gezwungen MFA-Auszubil-
denden ihre berufliche Perspektive eher unmittelbar im Gesundheitssektor. In-
wieweit hierbei die wahrgenommene geschlechtliche Codierung der berufli-
chen Tätigkeiten ausschlaggebend ist, bleibt offen. Der von einem Interview-
ten geäußerte Berufswunsch des Rettungssanitäters könnte als Hinweis dafür
gelesen werden, dass der Gesundheitssektor im Vergleich zur Frühpädagogik
möglicherweise als ein in geschlechtlicher Hinsicht heterogeneres Berufsfeld
betrachtet wird.
5 Heterogene Bezugnahmen auf Geschlecht und
Männlichkeit in divergierenden beruflichen Kontexten
Die in den Interviews sichtbar gewordenen geschlechtsbezogenen Orientierun-
gen lassen sich in unterschiedlichen Ausbildungskontexten verorten. Am Lern-
ort der beruflichen Schule wird Geschlecht in erster Linie im Zusammenhang
mit den Peer-Kontakten in den weiblich dominierten Lerngruppen zum Thema,
am Lernort Betrieb treten hingegen vergeschlechtlichte Deutungen zu den be-
ruflichen Tätigkeiten in den Vordergrund.
5.1 Thematisierung, Nicht-Thematisierung und De-Thematisierung
von Geschlecht im Kontext der Peer-Beziehungen
Vor dem Hintergrund einer verlängerten Jugendzeit und der Herausbildung
einer eigenständigen Lebenslage junger Erwachsener betrachten wir die Insti-
tution der beruflichen Schule auch als Kontext jugendlicher Vergemeinschaf-
tung und Selbstsozialisation. Während jugendliche Peergroups bisweilen auch
homosoziale Kontexte sind (vgl. Meuser 2018), finden sich die Interviewten in
Lerngruppen wieder, in denen junge Frauen deutlich in der Überzahl sind. Zur
Analyse der Peerkontakte nutzen wir in Anlehnung an Wetterer (2002: 149)
und Klinger (2015: 123) als heuristisches Konzept die Begriffe Thematisierung
(ex- oder implizite Bezugnahme auf Geschlecht), Nicht-Thematisierung (keine
Bezugnahme auf Geschlecht) und De-Thematisierung von Geschlecht (aktive
Nicht-Bezugnahme auf Geschlecht).
a) SPA-Auszubildende
In den Schilderungen der SPA-Auszubildenden zu engeren Peerkontakten wer-
den entweder ausschließlich oder an erster Stelle die Namen von männlichen
Mitauszubildenden genannt, Geschlecht wird hierbei implizit thematisiert. Der
193
Befund verweist darauf, dass Kontakte zu anderen jungen Männern offenbar
eine relevante Ressource in der Ausbildung darstellen (vgl. Meuser 2018).
Primäre Benennungen von Mitschülerinnen stellen demgegenüber eine Aus-
nahme dar. Einige Interviewte nehmen keine Thematisierung von Geschlecht
vor. So verweist MURAT auf eine geschlechtsunabhängige Strategie in der
Anbahnung sozialer Kontakte und schildert, dass er versucht habe, „überall
irgendwie Kontakt zu knüpfen“. Thematisierungen von Geschlecht finden sich
in unterschiedlicher Weise bei NILS und FINN. NILS argumentiert eine
geschlechtsbezogene Ausgewogenheit in der Kontaktaufnahme: „Also,
gemischt. Mannlein, Weiblein auf jeden Fall“. FINN berichtet hingegen, dass
er erst dann Kontakte zu Mitschülerinnen geknüpft hat, nachdem einige junge
Männer, mit denen er zunächst mehr zu tun hatte, die Ausbildung verlassen
mussten und der Jungenanteil entsprechend auf „nur noch vier“ schrumpfte.
An seinem Fall wird deutlich, dass die geschlechtliche Zusammensetzung der
Lerngruppen in weiblich dominierten Ausbildungsberufen dazu führen kann,
dass junge Männer die Organisation ihre Peer-Beziehungen verändern
(müssen) und auch alternative, gemischtgeschlechtliche Kontakte eingehen.
Die Frage, ob es eine Rolle spielt, dass sie in Schule und Kita überwiegend mit
Kolleginnen zu tun haben, wird von einigen SPA-Auszubildenden verneint
und somit de-thematisierend beantwortet: „Ist kein Problem“, meint z.B.
BARAN. Vor dem Hintergrund seiner Eingebundenheit in eine männliche
Peergroup erscheint diese De-Thematisierung widersprüchlich, denn die
Kontakte zu weiblichen Mitauszubildenden ergeben sich offensichtlich nicht
mit der gleichen zwanglosen Selbstverständlichkeit wie zu den männlichen.
b) MFA-Auszubildende
Von den MFA-Auszubildenden, die in eine im Vergleich noch kleinere
Minderheit in den Lerngruppen darstellen, wird zum Teil bereits die Frage
nach dem ‚Wie‘ des Ankommens in der beruflichen Schule unter Thematis-
ierung des geringen Männeranteils beantwortet. So führt MOUSSA aus: „Ganz
normal. Also, ich wusste schon von Anfang an, dass es fast nur Mädchen sind.
Deshalb habe ich jetzt auch nicht erwartet, dass ich hier viele Jungs treffe.“
Auch TILL gibt an: „Also, klar, dass jetzt nur noch ein anderer Junge dabei ist,
damit habe ich jetzt gerechnet.“ Die Interviewten hatten sich auf die
Geschlechterverteilung eingestellt und schreiben ihr keine besondere Relevanz
zu. Insofern erscheint die De-Thematisierung von Geschlecht seitens der
Auszubildenden folgerichtig. So sagt MOUSSA auf die Frage danach, ob der
hohe Frauenanteil für ihn eine Rolle spielt: „Eigentlich nicht. Ich bin nicht so
darauf fokussiert.“ ARVI antwortet mit einem Verweis auf professionelle
Anforderungen im Beruf: „Also, es spielt keine Rolle, weil man muss schon
mit allen Menschen irgendwie […] klarkommen.“ Gleichwohl finden wir
deutliche Hinweise auf die Bedeutsamkeit homosozialer Kontakte. So reagiert
194
ARVI auf die Frage, mit wem er in der Klasse er am meisten zu tun hat,
lachend: „Mit dem anderen Jungen @natürlich@!“ In der normalisierenden
Formulierung kommt die Selbstverständlichkeit homosozialer Peerkontakte
zum Ausdruck, an denen der Interviewte ungeachtet des geringen Anteils an
männlichen Auszubildenden festhält. Für einen Interviewten, NADIK, war die
Situation, zunächst der einzige männliche Auszubildende in der Klasse zu sein,
so dramatisch, dass er in Erwagung zog die Ausbildung abzubrechen: „Ich war
alleine und also kein Junge neben mir. Halt ich glaube, ich kann das nicht
durchziehen.“ Die Schilderung verweist auf die hohe Bedeutsamkeit
homosozialer Kontakte als unverzichtbare Ressource zur Bewältigung der
Ausbildung. Das Fehlen männlicher Gleichaltriger erscheint entsprechend als
krisenhaft und bedrohlich. Umso größer war NADIKs Erleichterung, als mit
dem Mitauszubildenden ARVI ein weiterer junger Mann in der Klasse
erschien: „Also, ich habe mich gefreut, natürlich.“ Die Relevanz gleich-
geschlechtlicher Kontakte verweist auf Aspekte männlicher Selbstsozia-
lisation, die bisweilen auch in expliziter Distinktion zu Frauen erfolgt.
Allerdings grenzen sich nur einzelne Auszubildende dezidiert von weiblichen
Mitauszubildenden ab und schreiben ihnen negative Eigenschaften zu. TILL
merkt an, dass er angesichts der Überrepräsentanz von jungen Frauen „Zicken-
krieg erwartet“ habe und stellt damit mannliche Distinktion im Rekurs auf ein
pejoratives Geschlechterstereotyp von Frauengruppen her.
c) De-Thematisierung von Geschlecht und Homosozialität – ein Widerspruch?
Die De-Thematisierung von Geschlecht erscheint angesichts der Bedeutsam-
keit homosozialer Peerkontakte in beiden Ausbildungsberufen auf den ersten
Blick paradox: Einerseits wird die Frage nach der Bedeutsamkeit überwiegend
weiblicher Peers de-thematisierend beantwortet, andererseits steht der behaup-
teten Irrelevanz von Geschlecht eine Praxis homosozialer Vergemeinschaftung
gegenüber (vgl. Meuser 2018). Der Widerspruch kann vor der Folie, dass die
Normalität der zweigeschlechtlichen Ordnung nicht in Frage gestellt wird, ver-
standen werden. Zur zweigeschlechtlichen Ordnung gehört, dass sie binär-hie-
rarchisch und androzentrisch verfasst ist, und zu ihrer Normalität gehört das
Primat der zwischenmännlichen Verbindung. Die Anerkennung, ob eine Praxis
mannhaft genug ist, um als männlich zu gelten, erfolgt unter Männern. Damit
sind für die männlichen Auszubildenden in beiden Berufen die weiblichen
Kolleginnen nicht oder nur wenig bedeutsam. Wenn es um die Legitimität
männlicher Zugehörigkeit zum weiblich codierten Ausbildungsberuf geht,
muss diese in erster Linie durch männliche Mitauszubildende bestätigt werden.
Damit haben letztere eine zentrale Funktion im Hinblick auf die Vergewisse-
rung über Männlichkeit im weiblichen Ausbildungskontext – zumindest für
viele der von uns Befragten, wenn vielleicht auch nicht für alle: MOUSSA de-
195
thematisiert Geschlecht konsequent und erwähnt auch keine gleichgeschlecht-
lichen Peerkontakte.
5.2 Doing gender und doing dominant masculinity in Bezugnahmen
auf berufliche Tätigkeiten und Beziehungen
Aus der Klassifizierung der Ausbildungsberufe als ‚weiblich‘ resultiert die
Frage, ob und inwiefern die Interviewten vergeschlechtlichte Deutungen zum
beruflichen Aufgabenspektrum vornehmen. Wir greifen in den Analysen auf
den sozialkonstruktivistischen Ansatz des doing gender (West und Zim-
merman 1987) zurück und fassen hierunter Praktiken der Geschlechterunter-
scheidung in Form der Explikation von Differenzen zwischen Frauen und
Männern. Doing masculinity bezeichnet in diesem Zusammenhang diskursive
Praktiken der Auszubildenden, bei denen Bezüge auf Männlichkeit erkennbar
werden.
a) SPA-Auszubildende
Mehrere SPA-Auszubildende rekurrieren implizit auf Diskurse um Jungen als
Bildungsverlierer (vgl. Fegter 2012). So führt MURAT aus:
„Das ist ja ein frauendominanter Beruf […], da merkt man halt, dass die Frauen diese Beru-
fung halt können. Die sind einfach da, mehr da als Männer. Aber Männer sind halt auch beim
SPA in der Kita wichtig, weil, wenn so ein Kind immer nur Frau, Mutter, so Mutter-Rolle
kennenlernt, dann verfällt die Vater-Rolle auch irgendwo.“
Über den Weg der Identifikation mit der Vaterrolle, die MURAT in Differenz
zur Mutterrolle konzipiert, kann er eine Passung zum „frauendominanten Be-
ruf“ herstellen. Weitere Interviewte nehmen Bezug auf die Figur der abwesen-
den Väter bei alleinerziehenden Müttern abwesende Mütter bei alleinerzie-
henden Vatern werden nicht thematisiert. So bemerkt CEM: „Wir sollen nicht
so viele Vater haben in der Kita.“ MAX hingegen argumentiert die Relevanz
männlicher Fachkräfte über die Bedürfnisse von Kindern, insbesondere Jun-
gen: „Ich glaube, viele Kinder sehnen sich auch quasi nach einem Mann, der
jetzt quasi sie begleitet. […] Ich glaube, es fehlt gerade den Jungs eine andere
Person, die sie richtig ausreizen kann, auch mit denen Sport machen kann.“
Sowohl bei MURAT als auch bei MAX sind Distanzierungen gegenüber be-
stimmten beruflichen Tatigkeiten zu finden. So außert MURAT: „[…] ab und
zu merke ich so bei den Kindern, dass sie jetzt nicht einen Mann, so bei den
kniffligen Phasen, wo die weinen, sondern wirklich eine Frau das besser hand-
habt.“ Das Trösten erfordert als professionelle Handlungskompetenz eine zu-
gewandt-empathische Haltung, die MURAT Frauen zuordnet und überlässt
er selbst traut sich offenbar nicht zu, sich ihn möglicherweise verunsichernden
weinenden Kindern zuzuwenden. MAX grenzt sich ebenfalls von der zur pro-
196
fessionellen Haltung gehörenden Empathie ab: „Also, zunachst einmal, würde
ich sagen, sind Männer von Natur aus nicht ganz so empathisch und sie sind ja
ein bisschen rationaler veranlagt […] als Frauen.“ Bei beiden Auszubildenden
ist eine defizitäre Haltung in Bezug auf pädagogische Professionalität zu er-
kennen, sie sehen sich aufgrund gesellschaftlich verbreiteter Geschlechterste-
reotype nur für einem Teil des beruflichen Aufgabenspektrums zuständig.
MAX beansprucht zudem eine „vergeschlechtlichte Professionalitat“ (Sabla
und Rohde 2014: 190), denn er glaubt, für die Arbeit mit Jungen als männliche
Bezugsperson besonders gut geeignet zu sein:
„[E]s [ist] natürlich ein bisschen leichter, mit den Jungs zu reden und mit denen zu kommu-
nizieren, gerade wenn man auch ganz andere Druckmittel hat. Man kann z.B. sagen: Wenn
du dich jetzt nicht gut benimmst, kann ich mit dir nicht Fußballspielen. […] Es ist natürlich
etwas anderes zu einem Jungen zu sagen: Ich kann mit dir keinen Fußball spielen, anstatt zu
sagen: Dann kann ich mit dir nicht basteln.“
Deutlich wird, dass die Tätigkeit des Bastelns feminisiert und ihr Entzug als
‚strafuntauglich‘ markiert wird, wahrend das Fußballspiel als maskulin und
seine Vorenthaltung als ‚straftaugliches‘ „Druckmittel“ präsentiert und somit
männliche Hegemonie über die Möglichkeit des Strafens (vgl. Pangritz 2020:
51) behauptet wird.
SPA-Auszubildende, die männliche Anleiter im Kita-Praxisbetrieb haben,
gehen im Vergleich zu denjenigen, die weibliche Anleiterinnen haben, mit die-
sen eine enge Verbindung ein. So stellt NILS fest, „dass ich echt, bisher echt
viel noch an meinem Anleiter hange“. NILS berichtet, dass seine Kita ein „of-
fenes Konzept“ habe, bei dem die Erzieher*innen nicht Gruppen- sondern
Raumzustandigkeiten unter sich aufteilen. NILS‘ Anleiter ist für einen „All-
zweckraum“ zustandig, „wo die Kinder echt mit Puppenhausern spielen kön-
nen“, wie NILS berichtet. In dem Zusammenhang erzahlt er: „Mein Anleiter
und ich sind quasi, das haben wir für uns umgenannt, im Ritterraum.“ Wahrend
die „Puppenhauser“ weiblich codiert sind, evoziert die Bezeichnung „Ritter-
raum“ Bilder starker und edler Mannlichkeiten und stellt ein kontrapunktisches
doing gender dar. Darüber hinaus offenbart sich in der gemeinschaftlich be-
schlossenen Umbenennung des Raums, die eine abgegrenzte, männlich-hege-
monial konnotierte Domäne schafft, eine komplizenhafte Männlichkeit (vgl.
Connell 2015: 133) zwischen NILS und seinem Anleiter.
b) MFA-Auszubildende
Einige MFA-Auszubildende stellen eine Passung zum geschlechtsuntypischen
Beruf darüber her, dass sie männlich konnotierte Tätigkeiten betonen und mit
ihrer Selbstbeschreibung verknüpfen. So hebt zum Beispiel BEN hervor, dass
er „schon immer sehr computerbegabt“ gewesen sei, aber nicht den ganzen Tag
im Büro sitzen wolle, daher sei MFA „der perfekte Beruf“ für ihn. Durch die
Akzentuierung von computergestützten Verwaltungstätigkeiten, die ja keines-
197
wegs ein exklusives Merkmal von Gesundheitsberufen darstellen und zudem
nur einen Teil des Aufgabenspektrums in der Arztpraxis repräsentieren, sowie
durch die Abgrenzung gegenüber mit Monotonie und Passivität assoziierter
Büroarbeit erfolgt eine Aufwertung des Tätigkeitsfeldes, mit der sich der In-
terviewte positiv identifiziert. Eine andere Möglichkeit, den weiblich codierten
Ausbildungsberuf in Kongruenz zu Männlichkeit zu argumentierten, lässt sich
am Interview mit PATRICK illustrieren. Der junge Mann führt aus, dass seine
Wahl eines „frauendominant[en] [Berufs] eigentlich in meinem Umfeld gar
nicht auf Widerspruch getroffen [ist]“. Dies begründet er so:
„Jeder hat gesagt: ‚Ja, das ist doch völlig okay.‘ Jeder wusste auch, dass es nicht meine end-
gültige Berufswahl ist und dass ich mich auch noch weiterbilden möchte. Und die nächsten
Berufe sind ja wiederum gar nicht so/auch Notfallsanitäter oder Arzt ist jetzt nicht so frau-
endominant, sodass ich ja im Endeffekt […] aber auf jeden Fall in einem gut durchgemisch-
ten Beruf landen werde.“
PATRICK plausibilisiert die Ausbildungswahl als Etappe einer beruflichen
Karriere, die in Gesundheitsberufe mündet, welche im sozialen Umfeld auf
hohe Akzeptanz stoßen und die Herstellung einer Passung zum frauendo-
minanten Beruf“ obsolet machen. Während Notfallsanitäter*innen
mehrheitlich nnlich sind, ist der Arztberuf ungeachtet des in den letzten
Jahren gestiegenen Frauenanteils noch immer einer der prestigeträchtigsten
Berufe, der problemlos mit dem Ideal hegemonialer Männlichkeit vereinbar
ist.
Der MFA-Auszubildende BEN akzentuiert die Relevanz seines männli-
chen Ausbilders im feminisierten Ausbildungskontext. Dies lässt sich am im-
pliziten Gehalt einer Äußerung illustrieren, mit der er auf die Frage nach dem
weiblichen Arbeitsumfeld antwortet: „Ja, nur Kolleginnen und mein Chef.“
Die Aussage ist insofern interessant, als dass der in einer von einer Ärztin und
einem Arzt geführten Gemeinschaftspraxis unter der Kategorie „Kolleginnen“,
offenbar auch die Ärztin subsumiert, während der Arzt über die Positionierung
als „Chef“ als Führungsperson hervorgehoben wird. Auch diese Form von
doing gender kann als eine komplizenhafte Männlichkeitspraktik gelesen wer-
den, da über die Ausklammerung der Ärztin aus dem hierarchischen Personal-
gefüge die hegemoniale Position des Arztes bestätigt wird.
5.3 Undoing gender und doing caring masculinity in Bezugnahmen
auf berufliche Tätigkeiten und Beziehungen
Undoing gender verstehen wir im Anschluss an Hirschauer (2001) als eine in
den Interviews sichtbar werdende Praxis, die herkömmliche (Zu-)Ordnungen
zu Geschlecht ruhen lässt oder unterläuft. Als doing caring masculinity fassen
wir weiblich codierte, fürsorgliche Praktiken von Männern, welche durch die
Aktivierung von bspw. „Werthaltungen wie Empathie und Zugewandtheit“
198
(Heilmann/Scholz 2017: 349) eine Abwendung vom Ideal hegemonialer
Männlichkeit zeigen. Diese Praxisformen sind geeignet, zu einem sozialen
Wandel und zur Transformation von Mannlichkeit in Richtung „eines inklusiv-
solidarischen Weltbezugs“ (ebd.) beizutragen.
a) SPA-Auszubildende
In der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit wird die in den Kitas
regelmäßig praktizierte Aktivität des Bastelns als weiblich codierte Tätigkeit
häufig abgewertet, wie oben anhand der Deutung von MAX aufgezeigt.
Allerdings wird Basteln keineswegs in allen Interviews in dieser Weise
markiert, was als Verzicht auf distinktive Praktiken und damit als undoing
gender gedeutet werden kann. So beschreibt LEON sich ausdrücklich als
begeisterter Adept der Basteltechnik Origami und BARAN erzählt, dass ihm
„mit den Kindern zu basteln“ am meisten Spaß macht. CEM berichtet, dass er
mit den Kindern gerne Papierflugzeuge bastelt und verweist dabei auf eigene
Kindheitserfahrungen: „Die Kinder lieben Papierflugzeuge und ich habe die
als Kind auch immer geliebt.“
CEM ist auch derjenige, der sich nicht auf stereotyp männliche Qualitäten
beruft, als er im zweiten Interview über Erfahrungen im ersten Ausbildungs-
jahr berichtet:
„Die Zeit bis jetzt war sehr schön, weil ich oft immer gutes Feedback von den Eltern auch
höre, dass es mal schön ist, einen Mann in der Kita zu haben und der so für die Kinder da ist,
weil ich in meiner Kita, ich habe auch viele Kinder, die jetzt keinen Vater haben. Die haben
dann zwei Mütter und ich merke dann richtig, wie die also oft zu mir kommen, mal kuscheln
wollen, mit mir was spielen wollen, einfach meine Nahe wollen.“
Bei der Wiedergabe der elterlichen Rückmeldung klingen fürsorgliche
Aspekte an: „Da sein für“ bedeutet, sich einer anderen Person vollständig
zuzuwenden. Nachfolgend thematisiert CEM die kindlichen emotionalen
Bedürfnisse, die er mit dem Zulassen von Zärtlichkeit und körperlicher Nähe
beantwortet.10 Die Frage, ob er die von seiner Anleiterin angesprochenen
Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen auch selbst wahrnimmt, verneint
CEM: „Eigentlich nicht, also bei mir in der Praxis nicht. Ich finde, dass es alles
so gleichlauft halt, ob Mann oder Frau, es ist egal.“ Auf Nachfrage berichtet er
davon, dass er auch fürsorgliche und körpernahe Aufgaben übernimmt, z.B.
das Wickeln von Krippenkindern. CEM war sich hierbei des sog. „General-
verdachts“ (Cremers und Krabel 2012) gegenüber Männern in der Kita
bewusst – dieser verunsichert ihn zu Beginn der Ausbildung: „Wenn ich mit
den Kindern auf Toilette muss, oder Wickeln bei den Mädchen, da war mir
noch am Anfang dann ein bisschen unwohl, weil ich nicht wollte, dass irgend-
was Falsches gedacht wird.“ Er thematisiert seine Sorge im Anleitergesprach
10 Buschmeyer fasst diese Praktiken als „alternative Mannlichkeit“ (Buschmeyer 2013: 13).
199
und erhalt daraufhin eine positive Rückmeldung: „Und dann wurde mir das
auch erklart, dass das alles gut ist, so wie ich das mache und […] dass ich so
weitermachen soll.“ Die bei CEM erkennbare Selbstoffenbarung von
Unsicherheit im körpernahen Umgang mit kleinen Kindern kann im
deutlichen Kontrast zu den oben als doing dominant masculinity interpretierten
Ausführungen von MAX als undoing dominant masculinity (vgl. Peukert
2017: 108) verstanden werden.
b) MFA-Auszubildende
Fürsorgliche Aspekte sind in der MFA-Ausbildung angelegt und von fast allen
Auszubildenden wird „Helfen“ als Motiv genannt, so auch von TILL: „[D]iese
Hilfe, die ich geben kann, das ist das, was mich im Beruf erfüllt.“ Bei der Er-
wahnung seines Betriebs, einem Labor, führt er aus: „Das ist auch das Einzige,
was mich an dem Arbeitgeber stört. Wie gesagt, dieses Helfen ist eben da nicht
erfüllt.“ ARVI, der im Interview auf Krankenhausbeschaftigte in der Familie
verweist, sieht keinen Unterschied zwischen pflegerischen Tätigkeiten und
dem MFA-Beruf: „Es ist genau das gleiche wie dort.“ Er positioniert sich als
„Typ der gerne Menschen hilft“ und nennt konkrete Sorgetatigkeiten, die sei-
ner Neigung entgegenkommen: „Und im Krankenhaus passiert das ja oft, dass
du Menschen zum Beispiel auf die Toilette begleitest oder Menschen allge-
mein unterstützt, was sie nicht machen können […] und sie zum Beispiel Hun-
ger haben, natürlich bringen wir das Essen. Und ja, das hat mich dann/also,
wie gesagt, das Interesse mehr geweckt.Wenngleich sich der junge Mann
aufgrund der Arbeitszeiten gegen eine Ausbildung in der Pflege entschieden
hat, zeigt er sich hier an konkreter Care-Arbeit interessiert, durch die er Men-
schen unmittelbar unterstützen kann. Ein Karriereinteresse, das ihn „fern der
Basis“ (Klein und Wulf-Schnabel 2007: 138) führen würde, ist bei ihm nicht
gegeben.
Auch in den Antworten auf die Frage, welche Eigenschaften sie für den
Beruf mitbringen, beziehen sich einige MFA-Auszubildende auf nicht-stereo-
typ mannliche Aspekte: MOUSSA sagt: „Man muss auch klar kommen mit
den Patienten, das ist das Wichtigste.“ Damit bezieht er sich auf für den MFA-
Beruf zentrale kommunikativ-soziale Kompetenzen. Auf Nachfrage, was er
dafür mitbringt, meint er: „Man muss auf jeden Fall Geduld haben, Respekt.
Man darf auch nicht aufdringlich sein.“ Der Interviewte erachtet soziale Kom-
petenzen für den Beruf als besonders wichtig, seine Äußerungen lassen erken-
nen, dass er darum weiß, dass die Arbeit an und mit den Patient*innen die
Ausbalancierung von Nahe und Distanz erfordert. Um „nicht aufdringlich
sein“, werden bspw. weiblich codierte Fähigkeiten wie Achtsamkeit und Fein-
gefühl benötigt. Auf den Umgang mit Patient*innen und die Notwendigkeit
200
von Geduld – welche traditionell als ‚weibliche Tugend‘ gilt11 – verweist auch
ARVI: „Patienten haben keine Geduld und dafür müssen wir dann Geduld ha-
ben. Man muss natürlich freundlich sein.“ Beide Auszubildende verzichten da-
rauf, sich auf hegemoniale Weise von Anforderungen des Berufs abzugrenzen
oder auf vermeintlich männliche Eigenschaften Bezug zu nehmen.
6 Diskussion und Fazit: Transformationspotenziale in
Bezug auf Männlichkeit und Beruf
Ausgangspunkt unserer Studie war die Frage nach den beruflichen und
geschlechtsbezogenen Orientierungen von männlichen Auszubildenden in
geschlechtsuntypischen Berufen vor dem Hintergrund ihrer Ausgangslagen
und der unterschiedlichen Ausbildungsbedingungen. Im Beitrag haben wir die
Pluralität der weiblich codierten SAGE-Berufe akzentuiert, welche in
Diskursen über Berufe häufig den männlich codierten MINT-Berufen
gegenübergestellt werden. Hierzu haben wir die Berufe SPA und MFA als
Kontraste gewählt, da sie sich in den strukturellen Rahmenbedingungen, dem
Männeranteil, aber auch den Handlungslogiken in der Ausbildung deutlich
voneinander unterscheiden. Ein sichtbar gewordenes Merkmal beider
Ausbildungsgänge besteht in der Heterogenität der Auszubildenden hinsicht-
lich ihrer Ausgangslagen, welche bisher vorrangig unter der Perspektive ihrer
Bedeutung für die Betriebe bzw. Ausbildungsstätten (vgl. z.B. Albrecht et al.
2014), jedoch kaum im Hinblick auf die Situation der jungen Männer im
Prozess der Berufsausbildung diskutiert wurde.
6.1 SPA-Auszubildende
Die im Kontext der erzieherischen Ausbildungsberufe bislang wenig wahrge-
nommene Gruppe der SPA-Auszubildenden kann unseren Befunden nach als
bildungsarme Personengruppe (vgl. Holtmann et al. 2019) und i. d. S. als ‚be-
nachteiligt‘ verstanden werden. Vor diesem Hintergrund erklart sich die Aus-
bildungswahl als attraktive Möglichkeit, kulturelles Kapital in Form des mitt-
leren Schulabschlusses zu erwerben, welches zur Erweiterung der beruflichen
Möglichkeiten gebraucht wird, um „Anschlüsse zu finden“ (vgl. Wippermann
2018: 128), sowohl innerhalb des pädagogischen Feldes als auch im Hinblick
auf männlich codierte Wunschberufe. Die bildungspolitische Intention, durch
11 So formulierte bspw. Kant (1798: 257) „Geduld ist demnach nicht Muth. Sie ist eine
weibliche Tugend: weil sie nicht Kraft zum Widerstande aufbietet, sondern das Leiden
(Dulden) durch Gewohnheit unmerklich zu machen hofft.“ https://korpora.zim.uni-duisburg-
essen.de/Kant/aa07/257.html (Zugriff: 22.11. 2021).
201
die Absenkung der Zugangsvoraussetzungen zusätzliche Fachkräfte und ins-
besondere Männer zu gewinnen, wird somit nur bedingt erreicht.
Ein direkter und gezielter Einstieg in die Ausbildung ließ sich nur bei zwei
jungen Männern (BARAN, NIKLAS) rekonstruieren, während sieben nach Er-
kundungen des Berufs, Erprobung anderer Ausbildungswege und/oder einer
längeren Phase in angelernten Tätigkeiten in die Ausbildung eintreten. Bei al-
len SPA-Auszubildenden, die an der beruflichen Schule nach Auskunft der
Schulleitung eine qua Schulabschluss – und nicht qua Geschlecht – institutio-
nell ungewohnte Zielgruppe repräsentieren, sind biografische Erfahrungen des
Scheiterns zu rekonstruieren, die auf eingeschränkte berufliche Partizipations-
möglichkeiten verweisen. Die jungen Männer nutzen die SPA-Ausbildung als
biografische Chance, die ihnen eine Basisqualifikation verschafft und darüber
weitere Bildungs-, Aufstiegs- und somit Teilhabeoptionen eröffnet. Entspre-
chend ist bei ihnen im Vergleich zu den MFA-Auszubildenden seltener ein
konkretes Interesse an den genuin beruflichen Tätigkeiten erkennbar.
Von den fünf SPA-Auszubildenden, die tätigkeitsnahe Motive angeben,
planen alle den Verbleib im pädagogischen Berufsfeld; drei von ihnen streben
(mindestens) die Weiterqualifizierung zum Erzieher an (vgl. Tab. 2). Bei zwei
der aufstiegsorientierten SPA-Auszubildenden – CEM und LEON – lässt sich
ein auf Männlichkeit und Beruf bezogenes Transformationspotenzial insofern
erkennen, als sich bei ihnen Geschlechtsnormen überschreitende sowie beruf-
lichen Anforderungen entsprechende Praktiken zeigen. Bei NIKLAS ist auf-
grund der Nicht-Thematisierung von Geschlecht und seinen nicht nur homo-
sozialen Kontakten ein solches Potenzial teilweise rekonstruierbar. Bei RAY
und FINN verbindet sich die Nicht-Thematisierung von Geschlecht mit einer
Orientierung an männlichen Mitauszubildenden, so dass hier lediglich ein ent-
wickelbares Transformationspotenzial zu erkennen ist.
Von den vier SPA-Auszubildenden, die mit tätigkeitsfernen Motiven in die
SPA-Ausbildung eingetreten sind, gibt lediglich NILS an, im Beruf arbeiten
und sich zum Erzieher weiterqualifizieren zu wollen. Die anderen MAX,
MURAT und wohl auch BARAN, der zuvor mit seinen Bewerbungen um eine
Ausbildung im KFZ-Bereich nicht erfolgreich war – halten sich die Option auf
eine weitere Ausbildung in einem geschlechtstypischen Beruf offen. Anzei-
chen für eine Transformation von Männlichkeit sind bei den tätigkeitsfern mo-
tivierten Auszubildenden kaum zu finden, sondern vor allem gekoppelt an
die Thematisierung von Geschlecht seitens der Interviewten – Geschlechtsnor-
men konforme und berufliche Anforderungen unterschreitende Praktiken, wel-
che tendenziell zur Ausbildung von ‚Geschlechterrevieren‘ im Kita-Alltag füh-
ren.
202
Tabelle 2: Übergangsmuster, berufs- und geschlechtsbezogener Orientierung
sowie Transformationspotenzial in Bezug auf Männlichkeit und Beruf bei
SPA-Auszubildenden.
I. Name (Al-
ter): mit tig-
keitsnahen
Motiven
Übergangsmuster
Berufsbezogene
Orientierung
Geschlechtsbezo-
gene Orientierung
Transformations-
potenzial in Be-
zug auf Männ-
lichkeit und Be-
ruf
NIKLAS (17)
(I.1) Einstieg in
Ausbildung nach
der Schule
Arbeiten als SPA
De-Thematisierung,
männliche wie weib-
liche Peers
teilweise erkenn-
bar
CEM (18)
(I.2) Verzögerter
Einstieg nach Frei-
willigem Sozialem
Jahr
Arbeiten als SPA,
Erzieherausbil-
dung, Lehramts-
studium
De-Thematisierung,
männliche wie weib-
liche Peers, undoing
gender, doing caring
masculinity
Erkennbar
RAY (20)
(I.3) Ausbildung
nach vorzeitig be-
endeter Erstausbil-
dung
Arbeiten als SPA
Nicht-Thematisie-
rung, Männliche
Peers
als entwickelbar
zu erkennen
FINN (17)
Arbeiten als SPA,
Erzieherausbil-
dung
Nicht-Thematisie-
rung, Männliche
Peers
als entwickelbar
zu erkennen
LEON (22)
Arbeiten als SPA,
Erzieherausbil-
dung
Weibliche Peers,
undoing gender
Erkennbar
II. Name (Al-
ter): mit tätig-
keitsfernen
Motiven
Übergangsmuster
Berufsbezogene
Orientierung
Geschlechtsbezo-
gene Orientierung
Transformations-
potenzial in Be-
zug auf Männ-
lichkeit und Be-
ruf
BARAN (16)
(I.1) Direkter Ein-
stieg in Ausbildung
nach der Schule
Bildungsab-
schluss MSA,
Plan finden
De-Thematisierung,
männliche Peers
als entwickelbar
zu erkennen
MAX (20)
(I.2) Verzögerter
Einstieg nach Be-
rufsvorbereitung
Bildungsab-
schluss MSA,
Ausbildung in
technischem Be-
ruf
Thematisierung,
männliche Peers,
doing gender, doing
dominant Masculin-
ity
nicht erkennbar
MURAT (22)
(I.4) Einstieg in
Ausbildung nach
längerem Orientie-
rungsprozess
Sicherer Arbeits-
platz, evtl. Aus-
bildung als Fach-
lagerist
Thematisierung,
männliche wie weib-
liche Peers, doing
gender
nicht erkennbar
NILS (24)
(I.5) Später Ein-
stieg in Ausbildung
nach diskontinuier-
lichem Verlauf
Sicherer Arbeits-
platz, Erzieher-
ausbildung
Thematisierung,
Männliche wie weib-
liche Peers, doing
gender, komplizen-
hafte Männlichkeit
nicht erkennbar
203
6.2 MFA-Auszubildende
Die männlichen MFA-Auszubildenden sind eine in Berufspraxis und Bil-
dungsforschung bislang kaum wahrgenommene Personengruppe, die von einer
Berufsschullehrkraft im Feld explizit qua Geschlecht als „Exoten“ bezeichnet
und damit außerhalb des institutionellen Normalitätskorridors verortet wird.
Gleichwohl stellen alle von uns interviewten MFA-Auszubildenden eine be-
rufsfeldbezogene Passung zum Gesundheitssektor her, in dem sie zudem blei-
ben möchten. Das Spektrum an Ausgangslagen ist hier zwar ebenfalls divers,
jedoch in geringerer Ausprägung und weniger eingeschränkt durch einen Man-
gel an Bildungsressourcen. Die von allen Interviewten angestrebten, weiteren
Qualifizierungen im medizinischen Feld lassen sich als Aus- und Aufstiegsbe-
strebungen kennzeichnen, die aus dem weiblich codierten MFA-Beruf heraus-
und in eher neutral oder männlich codierte Berufe hineinführen ohne dass
dies jedoch benannt wird.
Bei den MFA-Auszubildenden, die sich das Medizinstudium und damit den
Arztberuf oder den ‚arztnahen‘ Beruf des Notfallsanitaters zum Ziel setzen,
sind in den Interviews keine Transformationspotenziale erkennbar: Ihre Auf-
stiegsorientierung verbindet sich mit einer vorwiegend binär-hierarchischen
Orientierung in Bezug auf Geschlecht. Im Fall von NADIK bei dem der
Wunsch, Medizin zu studieren, vage bleibt – und TILL, der einen weiteren
Assistenzberuf erlernen möchte, lässt sich zwar über die Betonung des Motivs,
‚Menschen helfen‘ zu wollen, eine fürsorgliche Grundhaltung, aber kein
undoing gender erkennen. Am Fall TILL wird außerdem deutlich, dass die
Bezugnahme auf Geschlecht nicht konsistent gestaltet wird: Neben einem
doing caring masculinity zeigt sich eine dominanzorientierte Distinktions-
praktik (Stichwort „Zickenkrieg“). Dieser Befund deckt sich mit der Erken-
ntnis von Heilmann und Scholz, „dass die Ausübung einer Care-Tatigkeit […]
nicht zwangslaufig zur Abwendung von Dominanz […] führt“ (vgl. Heilmann
und Scholz 2017: 350). Lediglich von MOUSSA und auch von ARVI (bei
letzterem ungeachtet des zunächst tätigkeitsfernen Motivs und des Bezugs auf
einen männlichen Peer), werden konkrete fürsorgliche Praktiken und die
Aneignung weiblich codierter Fähigkeiten benannt, wodurch beide eine
Überschreitung geschlechtlicher Stereotype und somit Transformations-
potenziale erkennen lassen
204
Tabelle 3: Übergangsmuster, berufs- und geschlechtsbezogener Orientierung
sowie Transformationspotenzial in Bezug auf Männlichkeit und Beruf bei
MFA-Auszubildenden
II. Name (Al-
ter): mit tätig-
keitsnahen
Motiven
Übergangsmuster
Berufsbezogene
Orientierung
Geschlechtsbezo-
gene Orientierung
Transformations-
potenzial in Bezug
auf Männlichkeit
und Beruf
MOUSSA (16)
(II.1) Direkter Ein-
stieg in Ausbildung
nach der Schule
Weitere Ausbil-
dung zum Opera-
tionstechnischen
Assistenten
De-Thematisie-
rung, undoing
gender, undoing
dominant masculi-
nity
Erkennbar
PATRICK (20)
Medizinstudium,
alternativ Ausbil-
dung zum Not-
fallsanitäter
Thematisierung,
männlicher Peer,
doing dominant
masculinity
nicht erkennbar
BEN (16)
Weitere Ausbil-
dung zum Physio-
therapeuten oder
Notfallsanitäter
Männlicher Peer,
doing gender,
komplizenhafte
Männlichkeit
nicht erkennbar
NADIK (20)
Medizinstudium
Thematisierung,
männlicher Peer,
doing caring mas-
culinity
teilweise erkenn-
bar
TILL (20)
(II.2) Verzögerter
Einstieg nach Frei-
willigem Sozialem
Jahr
Weitere Ausbil-
dung zum Medizi-
nisch-technischen
Assistenten
Thematisierung,
männlicher Peer,
doing dominant
masculinity, doing
caring masculinity
als entwickelbar
zu erkennen
KADIR (25)
(II.3) Fortsetzung
eines migrations-
bedingt unterbro-
chenen Bildungs-
weges
Medizinstudium
De-Thematisie-
rung, komplizen-
hafte Männlich-
keit
nicht erkennbar
II. Name (Al-
ter): mit tätig-
keitsfernen
Motiven
Übergangsmuster
Berufsbezogene
Orientierung
Geschlechtsbezo-
gene Orientierung
Transformations-
potenzial in Bezug
auf Männlichkeit
und Beruf
ARVI (18)
(II.2) Verzögerter
Einstieg nach Be-
rufsvorbereitung
Arbeiten als MFA
De-Thematisie-
rung, männlicher
Peer,
undoing gender,
doing caring mas-
culinity
erkennbar
205
6.3 Fazit
In Bezug auf die geschlechtsbezogenen Orientierungen hat unsere Studie die
Aufmerksamkeit auf einen Bereich gerichtet, der in der Forschung zu jungen
Männern in geschlechtsuntypischen Berufen bislang weniger berücksichtigt
wird: Homosoziale Beziehungen zu Mitauszubildenden und Vorgesetzten, die
infolge des geschlechtlichen Minoritätsstatus in den Ausbildungsinstitutionen
unseren Befunden nach von relativ hoher Bedeutung für die „Aneignung und
Bewaltigung“ (Böhnisch und Schroer 2010) der Herausforderungen in der
Ausbildungseingangsphase zu sein scheinen. Die Bezugnahmen auf gleichge-
schlechtliche Peers und/oder Anleiter bzw. Ausbilder in beiden Berufsfeldern
deuten auf deren Relevanz für die Vergewisserung über Männlichkeit und das
Erreichen einer selbstsicheren Position an den weiblich dominierten Lernorten
(vgl. Meuser 2005: 4 f.). Möglicherweise spielt das Wissen um die Geschlech-
terverteilung im Beruf und der antizipierte Verzicht auf homosoziale Peerkon-
takte während der Ausbildung eine bislang eher unterschätzte Rolle bei der
Entscheidung junger Männer gegen eine Ausbildung in einem geschlechtsun-
typischen Beruf. Um solchen potentiellen Zusammenhängen vertiefend nach-
zugehen, wären weitere Forschungen zu Berufs- wie Geschlechtsorientie-
rungsprozessen junger Männer erforderlich.
Ebenfalls mit Blick auf die Relevanz von Homosozialität und bezogen auf
die berufs(fach)schulische Praxis erscheint uns eine anerkennungsgeleitete
und inklusionsorientierte Thematisierung und Reflexion von Geschlecht unter
professionsbezogener Perspektive statt seiner von uns beobachteten Nicht-
Thematisierung im berufs(fach)schulischen Kontext sinnvoll und hinsicht-
lich der immer wieder beobachteten Herausbildung von beruflichen ‚Ge-
schlechterrevieren‘ sogar geboten. In der Konsequenz müssten an den hoch-
schulischen Ausbildungsstätten für die berufsbildenden Lehrkräfte Anstren-
gungen unternommen werden, um vergeschlechtlichte Berufskulturen und
Wissensbestände zu entgendern und kritisch-queeres Geschlechterwissen im
jeweiligen Professionswissen zu verankern. Mit Blick auf die Tatsache, dass
die Ausbildung in einem Assistenzberuf eine erste Qualifizierung darstellt und
Arbeitsmarkt wie Berufswelt sich ständig wandeln, sind die beruflichen
Schulen darüber hinaus gefordert, Unterstützung für die weitere Berufs- und
Lebensplanung vorzuhalten.
In Bezug auf berufs- und tätigkeitsbezogene Geschlechterkonstruktionen
haben die Interviewanalysen ungeachtet aller Gemeinsamkeiten auch
Unterschiede zwischen den beiden Ausbildungsberufen sichtbar gemacht. Eine
explizit vergeschlechtlichte Deutung von beruflichen Tätigkeiten haben wir in
Interviews mit tätigkeitsfern motivierten SPA-Auszubildenden gefunden:
Während bestimmte Tätigkeiten weiblich codiert und folglich aus dem eigenen
Zuständigkeitsbereich suspendiert werden – z.B. emotionale Zuwendung und
Empathie bei weinenden Kindern – werden andere als männliche Domänen
206
markiert und als Ausdruck einer exklusiv männlichen Expertise argumentiert
z.B. Sozialisationsfunktion für Kinder von alleinerziehenden Müttern oder
sportliche Angebote wie Fußball. Eine ähnlich offensive Vergeschlechtlichung
des Tätigkeitsprofils von medizinischen Fachangestellten war in den Inter-
views mit den MFA-Auszubildenden nicht erkennbar. Ein Interviewter hebt
zwar auf Tätigkeiten ab, die (auch) männlich codiert sind (Arbeiten am
Computer), nimmt jedoch keine explizit vergeschlechtlichte Deutung vor. Die
in beiden Feldern also unterschiedlich stark ausgeprägte Vergeschlechtlichung
beruflicher Handlungskompetenz kann im Zusammenhang mit den beruflichen
Perspektiven der Interviewten betrachtet werden: Während die SPA-Aus-
bildung primär für eine frühpädagogische Tätigkeit in der Kita qualifiziert,
eröffnet die MFA-Ausbildung Zugänge in weitere, prestigeträchtige Gesund-
heitsberufe, die weniger stark geschlechtlich codiert sind. Da die Ausbildung
von den MFA-Interviewten in erster Linie als Durchgangsstation betrachtet
wird, besteht möglicherweise keine mit dem frühkindlichen Feld vergleichbare
Notwendigkeit, sich mit der Vergeschlechtlichung des Ausbildungsberufs
auseinanderzusetzen (vgl. Puhlmann 2012: 53).
Literaturverzeichnis
Albrecht, Günter/Ernst, Helmut/Westhoff, Gisela/Zauritz, Manuela (2014): Bildungs-
konzepte für heterogene Gruppen – Anregungen zum Umgang mit Vielfalt und
Heterogenität in der beruflichen Bildung. Kompendium. Bonn: Bundesinstitut für
Berufsbildung (BIBB).
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020): Bildung in Deutschland 2020. Ein in-
dikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten
Welt. Bielefeld: wbv Publikation.
Barthold, Hans-Martin (2020): SAGE-Berufe Trotz Systemrelevanz wenig Wert-
schätzung und Anerkennung. /www.berufsreport.com/sage-berufe-trotz-system-
relevanz-wenig-anerkennung-und-wertschaetzung/ (Zugriff: 07.11.2021).
BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2020): Berufsbildungsbericht
2020. Bonn: BMBF. www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/berufliche-bildung/strategie-
und-zusammenarbeit-in-der-berufsbildung/der-berufsbildungsbericht/der-
berufsbildungsbericht_node.html (Zugriff: 07.11.2021).
BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2021): Berufsbildungsbericht
2021. Bonn: BMBF. www.bmbf.de/bmbf/de/bildung/berufliche-bildung/strategie-
und-zusammenarbeit-in-der-berufsbildung/der-berufsbildungsbericht/der-
berufsbildungsbericht_node.html (Zugriff: 07.11.2021).
Böhnisch, Lothar/Schroer, Wolfgang (2010): Soziale Räume im Lebenslauf
Aneignung und Bewältigung. In: sozialraum.de, Grundlagen, Ausgabe 2/2010.
www.sozialraum.de/soziale-raeume-im-lebenslauf.php (Zugriff: 07.11.2021).
Breitenbach, Eva/Bürmann, Ilse (2014): Heilsbringer oder Erlösungssucher? Befunde
und Thesen zur Problematik von Männern in frühpädagogischen Institutionen. In:
207
Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.): Männlichkeiten.
Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen, S. 51–66.
Breuer, Franz (2010): Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die For-
schungspraxis. Wiesbaden: Springer.
Brüggemann, Tim/Driesel-Lange, Katja/Weyer, Christina/Weyland, Ulrike (2016):
Favorisieren Jugendliche Gesundheitsberufe? Empirische Befunde und
pädagogische Perspektiven zur Berufsorientierung. In: Faulstich-Wieland,
Hannelore/Rahn, Sylvia/Scholand, Barbara (Hrsg.): Berufsorientierung über die
Lebensspanne. https://www.bwpat.de/ausgabe/spezial12. (Zugriff: 07.11.2021).
Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia (Hrsg.): Berufsorientierung. Ein Lehr und Arbeits-
buch. New York: Waxmann.
Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia (2020): Der Übergang Schule–Beruf als gesellschaft-
liche Herausforderung und professionelles Handlungsfeld. In: Brüggemann,
Tim/Rahn, Sylvia (Hrsg.) Berufsorientierung: Ein Lehr- und Arbeitsbuch, S. 11–
24.
Budde, Jürgen/Böhm, Maika/Willems, Katharina (2009): Wissen, Image und Erfahrun-
gen mit Sozialer Arbeit - relevante Faktoren für die Berufswahl junger Männer?
In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 7 (3), S. 264–283.
Budde, Jürgen/Debus, Katharina/Krüger, Stefanie (2011): „Ich denk nicht, dass meine
Jungs einen typischen Madchenberuf ergreifen würden“: Intersektionale Perspek-
tiven auf Fremd- und Selbstrepräsentationen von Jungen in der Jungenarbeit. In:
Gender, 3 (3), S. 119–127.
Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.) (2014): Männlichkei-
ten. Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen. Jahrbuch Frauen-
und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Budrich.
Buschmeyer, Anna (2013): Zwischen Vorbild und Verdacht. Wie Männer im Erzieher-
beruf Männlichkeit konstruieren. Wiesbaden: Springer.
Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlich-
keiten. Wiesbaden. VS.
Cremers, Michael/Krabel, Jens (2012): Generalverdacht und sexueller Missbrauch in
Kitas. Bestandsanalyse und Bausteine für ein Schutzkonzept. In: Koordinations-
stelle Männer in Kitas (Hrsg.): Männer in Kitas. Opladen: Budrich, S. 265–285.
Cremers, Michael/Krabel, Jens/Calmbach, Marc (2015): Männliche Fachkräfte in Kin-
dertageseinrichtungen. Eine Studie zur Situation von Männern in Kindertagesstät-
ten und in der Ausbildung zum Erzieher. Berlin: BMFSFJ.
Cremers, Michael/Diaz, Miguel (2012): „... mir ist es egal, Hauptsache soziale Arbeit.“
Neue Wege für Jungen in der Berufswahl. In: Koordinationsstelle Männer in Kitas
(Hrsg.): Männer in Kitas. Opladen: Budrich, S. 29–44.
Deutsche Presse-Agentur (2021): Regierung: Wertschätzung für medizinische Fachan-
gestellte. www.zeit.de/news/2021-04/12/regierung-wertschaetzung-fuer-medizin-
ische-fachangestellte (Zugriff: 07.11.2021).
Faulstich-Wieland, Hannelore (2016): Auszubildende in geschlechtsuntypischen Beru-
fen. In: Faulstich-Wieland, Hannelore (Hrsg.), Berufsorientierung und Geschlecht.
Weinheim: Juventa, S. 85–114.
Fegter, Susann (2012): Die Krise der Jungen in Bildung und Erziehung. Diskursive
Konstruktion von Geschlecht und Männlichkeit. Wiesbaden: Springer.
208
Gottfredson, Linda S. (1981): Circumscription and compromise: A Developmental
Theory of Occupational Aspirations. In: Journal of Counseling Psychology, 28 (6),
S. 545–579.
Granato, Mona/Ulrich, Joachim (2020): Berufsorientierung von Jugendlichen unter den
Bedingungen eines Ausbildungsmarktes: Welche Sicht haben Jugendliche auf Be-
rufe? In: Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia (Hrsg.): Berufsorientierung: Ein Lehr-
und Arbeitsbuch, S. 157–177.
Handelmann, Antje (2020): Die Suche nach einem Beruf. Wege in Ausbildung im
Spannungsfeld gesellschaftlicher Erwartungen und biografischer Orientierungen.
Weinheim: Juventa.
Hardie, Jessica Halliday (2015): Women’s Work? Predictors of Young Men’s Aspira-
tions for Entering Traditionally Female-dominated Occupations. In: Sex Roles
(72), p. 349–362.
Heilmann, Andreas/Scholz, Sylka (2017): Caring Masculinities gesellschaftliche
Transformationspotentiale fürsorglicher Männlichkeiten? In: Feministische Stu-
dien, 2, S. 345–353.
Hirschauer, Stefan (2001): Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Ka-
tegorie sozialer Ordnung. In: Heintz, Bettina (Hrsg.): Geschlechtersoziologie,
Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-
psychologie: Sonderheft 41), S. 208–235.
Holtmann, Anne Christine/Menze, Laura/Solga, Heike (2019): Schulabgänger
und -abgängerinnen mit maximal Hauptschulabschluss. In: Quenzel,
Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Handbuch Bildungsarmut, Wiesbaden:
Springer, S. 365–388.
Höppner, Heidi (2018): SAGE – Potenziale nutzen. In: Sozialwirtschaft, (6), S. 24–25.
DOI: https://doi.org/10.5771/1613-0707-2018-6-24
King, Vera (2013): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Gene-
rativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: Springer.
Klein, Uta/Wulf-Schnabel, Jan (2007): Männer auf dem Weg aus der Sozialen Arbeit.
In: WSI Mitteilungen (3), S. 138–144.
Klinger, Sabine (2015): Das ,feminisierte‘ Studium der Erziehungs- und Bildungswis-
senschaften und die studentische (De-)Thematisierung von Geschlecht und Ge-
schlechterfragen. In: Gender –Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft,
(7) H. 1, S. 113–128.
Meuser, Michael (2005): Die widersprüchliche Modernisierung von Männlichkeit.
Kontinuitäten und Veränderungen im Geschlechterverhältnis. Online:
www.genderkompetenz.info/veranstaltungs_publikations_und_news_archiv/gend
erlectures/genderlecturemeuser.pdf (Zugriff: 07.11.2021).
Meuser, Michael (2018): Jungen und Männlichkeit. In: Lange, Andreas/Reiter, Her-
wig/Schutter, Sabine/Steiner, Christine (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugend-
soziologie. Wiesbaden: Springer, S. 365-378.
Meuser, Michael/Scholz, Sylka (2012): Herausgeforderte Männlichkeit. Männlich-
keitskonstruktionen im Wandel von Erwerbsarbeit und Familie. In: Baader, Meike-
Sophie/Bilstein, Johannes/Tholen, Toni (Hrsg.): Erziehung, Bildung und Ge-
schlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies. Wiesbaden: Springer, S.
23–40.
209
Oeynhausen, Stephanie/Gerd, Joachim (2020): Das Bedürfnis nach sozialer Anerken-
nung bei der Berufswahl von Jugendlichen. In: Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia
(Hrsg.): Berufsorientierung: Ein Lehr- und Arbeitsbuch, S. 97–108.
Pangritz, Johanna Maria (2020): Strafende Pädagogen – fürsorgend und doch hegemo-
nial? Brauchen wir wirklich mehr Männlichkeit? (Dissertation). Bielefeld.
Pasternak, Peer (2015): Die Teilakademisierung der Frühpädagogik. Eine Zehnjahres-
beobachtung. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt.
Pasternak, Peer/Keil, Johannes (2013): Vom ‚mütterlichen‘ Beruf zur gestuften Profes-
sionalisierung. Ausbildungen für die frühkindliche Pädagogik. HoF-Handreichun-
gen 3, Beiheft zu „die hochschule“ 2013. Halle-Wittenberg: Institut für Hochschul-
forschung (HoF).
Peukert, Almut (2017): „Involvierte“ Vater zwischen Beruf und Familie. Zur
Re/Produktion von Männlichkeiten in paarinternen Aushandlungen. In: JFR
Journal of Family Research, (29), H. 1, S. 90–113.
Puhlmann, Angelika (2012): Zwischen Differenzierung und Angleichung - Berufsori-
entierungs-prozesse junger Männer und Frauen. In: Koordinationsstelle Männer in
Kitas (Hrsg.): Männer in Kitas. Opladen: Budrich, S. 45–56.
Reinders, Heinz (2003). Jugendtypen. Ansätze zu einer differentiellen Theorie der
Adoleszenz. Wiesbaden: Springer. DOI: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-663-
10454-4
Rohrmann, Tim (2014): Männer in Kitas: Zwischen Idealisierung und Verdächtigung.
In: Budde, Jürgen/Thon, Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.): Männlichkei-
ten. Geschlechterkonstruktionen in pädagogischen Institutionen, Opladen: Barbara
Budrich, S. 67–84.
Rottermann, Benno (2017): Sozialisation von Jugendlichen in geschlechtsuntypischen
Berufslehren. Opladen: Budrich.
Sabla, Kim-Patrick/Rohde, Julia (2014): Vergeschlechtlichte Professionalität Zu-
schreibungen einer ‚gelingenden‘ Praxis qua Geschlecht. In: Budde, Jürgen; Thon,
Christine/Walgenbach, Katharina (Hrsg.): Männlichkeiten. Geschlechterkonstruk-
tionen in pädagogischen Institutionen, S. 187–200.
Scambor, Elli (2015): Burschen und Care-Berufe – Geschlechtersegregation, Barrieren
und be-währte Praktiken. AMS info 327/328. Wien: Arbeitsmarktservice Öster-
reich.
Scholand, Barbara/Thielen, Marc (2021): Männer in Care-Berufen: Fürsorgliche Männ-
lichkeiten in Sicht? In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis – BWP 4/2021,
S. 35-38.
Stauber, Barbara/Pohl, Axel/Walther, Andreas (Hrsg.) (2007): Subjektorientierte Über-
gangsforschung. Rekonstruktion und Unterstützung biografischer Übergänge jun-
ger Erwachsener. Weinheim: Juventa.
Warning, Anja (2020): Rekrutierungsprobleme im Beruf der Erzieherin/des Erziehers
– Engpässe werden immer stärker sichtbar. IAB-Kurzbericht 2. Nürnberg.
Wetterer, Angelika. (2002): Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. „Gender at
Work“ in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz: Universitatsverlag.
Wippermann, Carsten (2018): Kitas im Aufbruch Männer in Kitas. Die Rolle von
Kitas aus Sicht von Eltern und pädagogischen Fachkräften. Berlin: Koordinations-
stelle „Chance Quereinstieg/Manner in Kitas“.
Sorge als Beziehungsverhaltnis – Zum Umgang
männlicher Auszubildender mit Emotionen in der
Pflege
Kevin Stützel und Sylka Scholz
1 Einleitung
In der Debatte um Care-Arbeit wird die Verknüpfung von Sorge und
Emotionen bisher wenig in den Blick genommen (vgl. Thelen 2013). In den
vorhandenen Untersuchungen gerät damit oftmals aus dem Blick, wie sich
Sorge als emotionales Beziehungsverhältnis konstituiert. Der vorliegende Text
beschäftigt sich mit der Komplexität von Gefühlen im Beziehungsverhältnis
von Care-Gebenden und Care-Empfangenden in der beruflichen Pflege, die
unter dem Aspekt von Männlichkeit analysiert werden. Nachdem zunächst
Sorge als emotionales Beziehungsverhältnis betrachtet wird (Kap 1.), setzt sich
der Artikel mit dem Verhältnis von Männlichkeit, Sorge und Emotionen
auseinander (Kap. 2). Anhand einer rekonstruktiven Interviewstudie wird
anschließend aufgezeigt, wie männliche Auszubildende im Hinblick auf
Sorgebeziehungen Emotionen bearbeiten (Kap. 3). Im abschließenden Fazit
werden die Erkenntnisse zu Pflege als emotionales Beziehungsverhältnis
systematisiert (Kap 4). Herausgearbeitet wird, wie sich das Beziehungs-
verhältnis ausgehend von der Perspektive männlicher Auszubildender
gestaltet. Dabei wird das Konzept caring masculinities (Scholz und Heilmann
2019) als Prozess- und Analysekategorie genutzt, um aufzuzeigen, wie kom-
plex und vielfältig sich die Relationen zwischen Männern, Männlichkeit, Sorge
und Emotionen gestalten.
2 Sorge als Beziehungsverhältnis1
In den aktuellen Debatten um die Frage, wie die alltäglichen Bedürfnisse nach
Fürsorge befriedigt werden sollen und wie die Pflege von kranken und alten
1In diesen Abschnitt fließen Überlegungen ein, die in dem DFG-Projekt „Fürsorgliche
Jungen? Alternative (Forschungs-)Perspektiven auf die Reproduktionskrise“ gemeinsam mit
212
Menschen angemessen erfolgen kann, konkurrieren zwei Begriffe: Der im in-
ternationalen Kontext genutzte Ausdruck Care und die deutschen Bezeichnun-
gen Sorge bzw. Fürsorge. Der englische Begriff Care ruft die „positiven Asso-
ziationen ‚von Apfelkuchen und Mutterliebe‘ hervor“, wie es Tatjana Thelen
mit Bezug auf Michael D. Fine herausstellt (Fine 2007: 23, zit. nach Thelen
2013: 23), wahrend der deutsche Begriff „Sorge“ negativer konnotiert ist: Eine
Person sorgt sich um eine andere Person oder eine (eigene) Angelegenheit (vgl.
auch Kohlen und Kumbruck 2008; Papenkort 2020).
2.1 Care oder Sorge? Begriffliche Klärungen
Der englische Begriff Care ist sehr eng mit dem in den 1990er Jahren von Joan
Tronto entwickelten Konzept der „Ethic of Care“ (Tronto 1993) verbunden. Er
schließt an die Studien zur unterschiedlichen Moralentwicklung von Männern
und Frauen von Carol Gilligan (1982) an. Tronto und weitere feministische
Wissenschaftler*innen machten darauf aufmerksam, dass Menschen grundle-
gend aufeinander angewiesen und abhängig von menschlichen Beziehungen
sind. Die Möglichkeitsbedingungen individueller Autonomie sind entspre-
chend prekär und verletzbar. Care wird als eine wechselseitige Beziehungspra-
xis zwischen Menschen verstanden, die zugleich darauf abzielt, das soziale
Zusammenleben zu erhalten. In ihrer viel zitierten Definition von Care formu-
liert Tronto ein sehr weites Verständnis:
„[I]n the most general sense, care is a species activity that includes everything we do to
maintain, continue, and repair our world so that we may live in it as well as possible. That
world includes our bodies, our selves, and our environment, all of which we seek to inter-
weave in a complex, life-sustaining web” (Tronto 1993: 103).
In der Care-Ethik Trontos werden praktische Care-Tätigkeiten mit moralischen
Qualitäten verknüpft. Der Ansatz zielt auf eine Aufwertung der in der Regel
unentgeltlich von Frauen geleisteten Care-Arbeit. Aus dieser Ausrichtung
resultiert auch die bereits genannte Kritik an einem Verständnis von Care,
welches Sorgebeziehungen nur mit positiven Assoziationen in Verbindung
bringt. Unbeachtet bleibt, dass viele Care-Tätigkeiten mit negativen
Emotionen wie Ekel oder Scham, aber auch diffusen Aggressionen bis hin zu
Wut einher gehen können und durchaus mit Dominanz, Kontrolle und Macht
verknüpft sind (vgl. Laufenberg 2017; Rieske 2018).2
den Projektmitarbeiter*innen Nadine N. Başer, Jessica Just, Aaron Korn, Kevin Leja und Iris
Schwarzenbacher entstanden sind (vgl. Korn 2020).
2In Kontexten beruflicher Pflege wird demgegenüber durchaus der Umgang mit Ekel thema-
tisiert (vgl. u.a. Jettenberger 2017).
213
Der Begriff Sorge nimmt diese Verknüpfungen stärker auf als der Begriff
Care. So umfasst das semantische Feld von Sorge eine Bedeutungsvielfalt von
Fürsorge, Vorsorge, Obsorge, Sorgfalt, Besorgnis, aber auch Sorglosigkeit
(vgl. Klinger 2014). Nach Cornelia Klinger bezieht sich dieses Begriffsfeld
sowohl auf theoretische Reflexionen als auch auf praktische Relationen zwi-
schen Menschen, „die sich aus den Bedingungen der Kontingenz, das heißt aus
dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben“ (ebd.: 82 f.). Die Notwendig-
keit von Sorge entsteht durch Natalität, Morbidität und Mortalität des Men-
schen. Entsprechend umfasst Sorge auch ein breites Spektrum von Aufgaben:
Sie betreffen den Körper, der erhalten, bei Krankheit wiederhergestellt werden
muss und sich fortpflanzen soll. Auch „Seele und Geist“ (ebd.: 83) sind einbe-
zogen. Das Spektrum reicht für Klinger von der Vermittlung von sozialem
Wissen und Orientierung bis zur Persönlichkeitsentwicklung. Auch „Aktivita-
ten der Sorglosigkeit“ (ebd.: 83) sind angesprochen, wie kreative Tatigkeiten
in Spiel, Sport oder Kunst, sowie Fragen nach dem Lebenssinn, wie die Sorge
um die Seele als „kontemplative, spirituelle und religiöse Dimension“ (ebd.:
83). Weil Sorge so umfassend mit der menschlichen Natur und dem menschli-
chen Leben verbunden ist, tragt „Sorgearbeit […] entsprechend zirkulare und
repetitive Züge und ist nie fertig“ (ebd.: 83).
Vor diesem Hintergrund nutzen wir im Beitrag den Begriff Sorge,
gleichwohl greifen wir auch auf Erkenntnisse aus der Debatte um Care zurück.
Da sich die Begriffe, wie gezeigt, nicht synonym verwenden lassen, nehmen
wir an einigen Punkten auf die englische Begrifflichkeit Bezug. Unser breit
angelegtes Konzept von Care/Sorge wird im Folgenden auf die Wechsel-
beziehung zwischen den involvierten Personen fokussiert und in seiner
Verflochtenheit mit Emotionen betrachtet. Denn Sorge als Tätigkeit ist Ulrich
Papenkort zufolge „ein nach Außen gerichtetes Geschehen“ (2020: 7), dass mit
einem „innere[n] Zustand des Besorgtseins“ (ebd.: 7) einhergeht, der als
„Befindlichkeit“ (ebd.), aber auch als „Gefühl der Sorge“ (ebd.: 8) bezeichnet
werden kann.
2.2 Sorge als emotionales Beziehungsverhältnis
Um Sorge als Beziehungsverhältnis genauer zu fassen, greifen wir auf das vier-
teilige Analysemodell von Joan Tronto zurück, welches von ihr im Rahmen
ihrer Care-Ethik entwickelt wurde. Tronto differenziert zwischen caring
about, caring for, care giving, care receiving (vgl. Tronto 2015: 5 ff.). Caring
about und caring for sind als Haltungen zu verstehen. Während caring about
darauf abzielt, bestimmte Bedürfnisse einer Person zu erkennen, bedeutet ca-
ring for die Verantwortung für die identifizierten Bedürfnisse zu übernehmen
und diese zu adressieren. Die praktische Handlung wird als care giving be-
zeichnet. Diese Trennung zwischen Haltung und Handlung wird auch der
214
Tatsache gerecht, dass gerade in verberuflichten Sorgebeziehungen caring for
und care giving oftmals nicht von der gleichen Person geleistet werden. Care
receiving bezieht sich auf die Person, auf deren Bedürfnisse eingegangen wird:
Ihre Reaktionen zeigen an, ob ihre Bedürfnisse hinreichend befriedigt worden
sind. Konzeptionell zeigt sich ein starkes Wechselverhältnis zwischen der Per-
son, die Sorgearbeit leistet und der Person, die sie empfängt. Während in der
Idealvorstellung die Beziehungen zwischen Care-Gebenden und Care-Emp-
fangenden reziprok sind, ist dies im Alltag selten der Fall. Oftmals sind Sorge-
beziehungen in Generationshierarchien eingelassen und somit asymmetrisch
strukturiert. Dies betrifft nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung, sondern auch,
wie in unserem analysierten Fall, Pflegebeziehungen zwischen männlichen
Pflegekräften und kranken oder alten pflegebedürftigen Menschen.
Um die emotionalen Dimensionen der Sorgebeziehungen zu erfassen un-
terscheidet Beatrice Müller (2020) zwischen zwei Dimensionen von Sorgear-
beit: „Thinly und thickly embodied labor“ (Müller 2020: 69). Unter thinly em-
bodied labor versteht sie die funktionalen, rein körperlichen Aspekte von Care,
die keine leibliche „Interaktion beziehungsweise Resonanz“ (ebd.: 69) erfor-
dern, wie etwa die Körperpflege. Während in der professionellen Pflege häufig
davon ausgegangen wird, dass vor allem thinly embodied labor zu leisten ist,
argumentiert Müller, dass auch das tägliche Waschen, das zur Alltagspraxis
der Pfleger*innen gehört mit thickly embodied labor verknüpft ist. Denn auch
das Waschen erfolgt in einer Beziehung, die auf „einer umfassend verkörper-
lichten Interaktion basiert und etwa Zuneigung, Mitgefühl, Spontanität und
manchmal auch Schmerz umfassen kann“ (ebd.: 69). Sorgearbeit muss daher
als ein emotional-leibliches Beziehungsverhältnis verstanden werden. Müller
geht davon aus, dass Sorgebeziehungen durch oftmals diffuse „leiblich-affek-
tive Dimensionen“ (ebd.: 70) bestimmt sind und nennt „Schmerz, Scham und
Wohlbefinden“ (ebd.: 70). Als anschlussfahig an diese leibliche Dimension der
Sorgearbeit erweist sich die Konzeptualisierung von Gefühlen bei Christoph
Demmerling und Hilge Landweer (2007). Mit Bezug auf die Phänomenologie
charakterisieren Demmerling und Landweer Gefühle als leibliche „Widerfahr-
nis“ (ebd.: 31), von denen Personen meist ohne bewusstes und kontrolliertes
Zutun betroffen sind. „Gefühle geschehen einem gewissermaßen“, wie es
Landweer an anderer Stelle formuliert, „sie stoßen einem zu und (…) stellen
sich nicht unbedingt ein, wenn man es wünscht“ (ebd.: 66). Gefühle ver-
schwinden vor allem auch nicht, „wenn man sie loswerden will; man ist ihnen
zunachst einmal ausgeliefert.“ (ebd.: 66). Gefühle in diesem weiten Sinn ver-
standen, umfassen alle affektiven Phänomene wie Emotion, Stimmung und
Empfindung.3
3 Insgesamt liegt eine Fülle an Ansätzen im Bereich der Emotionsforschung und Affect Studies
vor (vgl. Senge 2013), die je unterschiedliche Begriffe benutzen und kaum in einem Aus-
tausch miteinander stehen (vgl. Landweer 2018).
215
3 Männlichkeit – Sorge – Emotionen
Gefühle sind für die Geschlechtsdarstellung und Geschlechtswahrnehmung re-
levant (vgl. Landweer 1997: 251). Eine Verbindung von Gefühlsphänomenen
und Geschlecht zeigt sich etwa in Interaktionen, bei denen sich die Interagie-
renden „zu Geschlechtsnormen ins Verhaltnis setzen [müssen]“ (ebd.: 251).
Meist werden jedoch in der Alltagsinterpretation, die physiologischen Verän-
derungen, die auftreten, wenn man von einem Gefühl betroffen ist, mit dem
Gefühl selbst identifiziert. In wissenschaftlichen Diskussionen zeigt sich, dass
Gefühle häufig als reine Bewusstseinsphänomene behandelt werden. Demge-
genüber verweist die phänomenologische Auseinandersetzung darauf, dass
Gefühle nicht als Summe von Einzelprozessen, sondern ganzheitlich erfah-
ren“ (ebd.: 252) werden. Landweer verweist auf die „implizite, aber leiblich
verankerte Wirkung von Geschlechternormen“ (ebd.: 264).
Gerade in der Herausbildung der Pflege als geschlechtersegregiertem Be-
rufsfeld zeigt sich, dass bestimmte Emotionen historisch weiblich konnotiert
sind. Frauen wurden Tätigkeiten zugewiesen, deren Handlungsmaxime sich an
Liebe, Sorge und moralischer Pflicht orientieren, während männliche Tätig-
keiten mit Verstand, Technik und Muskelkraft assoziiert wurden. Hinzu-
kommt, dass die Geschichte ‚mannlicher Gefühle‘ für die Moderne meist ne-
gativ erzahlt wird „als Disziplinierung, Unterdrückung oder verhangnisvolle
Entfesslung“ (Borutta und Verheyen 2010: 7). Catherine Newmark hat darauf
aufmerksam gemacht, dass die abendländische Geistesgeschichte von einem
„eigenartige[n] Mechanismus“ (Newmark 2010: 50) durchzogen ist, männli-
che Gefühle zu „entemotionalisieren“ und tendenziell in Richtung Vernunft
umzuinterpretieren. Newmark kommt zu dem Schluss, dass die traditionell
mannlich konnotierten Gefühle „schlicht aus dem Emotionalitatsdiskurs [des
19. Jahrhunderts] herausdefiniert“ (ebd.: 52) wurden. Mit dieser geschlechts-
spezifischen Diskursivierung von Emotion hängt zusammen, dass Sorge und
Sorgearbeit mit Weiblichkeit verknüpft wurde und immer noch wird. Auch
wenn männliche Fachkräfte nie gänzlich aus der Pflegearbeit verschwanden
(Schwamm 2020), werden sie erst seit kurzem wieder explizit als Arbeitskräfte
adressiert (vgl. Bohn 2020).
Die Relation von Männlichkeit und Sorge(-arbeit) bildete lange Zeit eine
konzeptionelle Leerstelle innerhalb der Männlichkeitsforschung (vgl. Ruby
und Scholz 2018). In den vergangenen zehn Jahren hat sich jedoch eine neue
Debatte zu diesem Zusammenhang unter dem Schirmbegriff caring masculi-
nities herausgebildet (vgl. Heilmann et al. 2019), die sich an der Schnittstelle
von wissenschaftlicher Männlichkeitsforschung sowie Geschlechter- und
Männlichkeitspolitik konstituiert (vgl. Scambor et al. 2014). In einer Verbin-
dung von kritischer Männlichkeitsforschung und feministischer Care-Theorie
fasst Karla Elliot caring masculinities als „masculine identities that reject do-
216
mination and its associated traits and embrace values of care such as positive
emotion, interdependence, and relationality (Elliott 2016: 40). Eine solche De-
finition wendet sich normativ gegen männliche Dominanz- und Herrschaftsan-
sprüche. Um den normativen Beiklang, der in diesem Begriffsverständnis mit-
schwingt, mit einer analytischen Perspektive zu verbinden, wird den folgenden
empirischen Rekonstruktionen caring masculinities als Prozess- und Praxiska-
tegorie zugrunde gelegt (vgl. Scholz und Heilmann 2019). Das Caring im eng-
lischen Begriff ist somit kein definierendes Attribut eines neuen Männlich-
keitstypus, wie dies im Konzept von Elliott angedacht ist. Caring ist vielmehr
ein Tun-Wort, eine Praxis, die auf Männlichkeit angewandt wird: Männlich-
keiten, so die Annahme, können durch eine Fürsorgepraxis über einen längeren
Zeitraum transformiert werden und dies mit ergebnisoffenem Ausgang. Aus-
gehend von einer rekonstruktiven Interviewstudie, die im Verbundprojekt
„Jungen und Bildung“ durchgeführt wurde, richtet sich der Blick also nicht
darauf, wie die Befragten in einem geschlechtersegregierten Berufsfeld eine
männliche Identität konstruieren und Sorge(-arbeit) in diese integrieren. Her-
ausgearbeitet wird vielmehr, wie männliche Pflegekräfte mit Sorge als emoti-
onalem Beziehungsverhältnis umgehen. Nach dieser Rekonstruktion werden
die empirischen Befunde vor dem Hintergrund der Kategorie Männlichkeit dis-
kutiert.
4 Umgang mit Emotionen in der Pflege
Im Rahmen der rekonstruktiven Interviewstudie „Wege mannlicher
Jugendlicher in Pflegeberufe“ wurde der Zugang mannlicher Auszubildende
zur Alten- und Krankenpflege untersucht. In den zwanzig erhobenen bio-
graphisch-narrativen Interviews, die mit der Dokumentarischen Methode
ausgewertet wurden4, zeigt sich, dass die Bearbeitung von Emotionen eine
hohe Bedeutung für viele der männlichen Auszubildenden im Berufseinstieg
hat. Im Folgenden werden unterschiedliche Bearbeitungsweisen von Emo-
tionen wie Ekel und Scham herausgearbeitet, die in der Gestaltung der
Beziehung zu den care receivern aufgeworfen werden und sich als
Reziprozität (Typus I), Re-Souveränisierung (Typus II) und Generativität
(Typus III) fassen lassen. Die Darstellung erfolgt im Hinblick auf die
Zuordnung der Interviews im Rahmen einer rekonstruktiven Typenbildung, in
der die Fälle systematisch aufeinander bezogen wurden.5
4 Ausführlicher zur Anlage der Untersuchung siehe den Beitrag von Scholand und Stützel in
diesem Band
5 Die Interviews wurden im Rahmen der rekonstruktiven Typenbildung als pragmatisch-pas-
sageres Muster (Typus I), altruistisches Muster (Typus II) und generatives Muster (Typus
217
4.1 Reziprozität (Typus I)
Die Befragten, die Typus I zugeordnet wurden, schildern im Interview, dass
sie in den Pflegebereich gekommen sind, ohne dies geplant zu haben. In der
Arbeit mit den care receivern wird Fachlichkeit und professionelle Distanz
betont. Damit einher geht eine Orientierung an Reziprozität im Hinblick auf
die Gestaltung von Sorgebeziehungen, die sich auch im Umgang mit Emotio-
nen zeigt. Dies wird etwa bei Fall IBRAHIM deutlich, der zum Zeitpunkt des
Interviews 30 Jahre alt ist und sich im ersten Lehrjahr einer Ausbildung zum
Altenpfleger befindet. IBRAHIM hat in seinem Geburtsland Ägypten ein Stu-
dium im Bereich Tourismus abgeschlossen und absolviert einen Quereinstieg
in den Pflegebereich. IBRAHIM kommt an verschiedenen Stellen des Inter-
views auf seinen Umgang mit Emotionalität zu sprechen. Die Frage, ob er ei-
nem anderen Mann seinen Beruf empfehlen würde, bejaht er mit der Ein-
schränkung, dass dieser mit Ekel umgehen können muss. Die Auseinanderset-
zung mit Ekel wird von IBRAHIM im Interview als „Hauptarbeit“ benannt und
mit einer körperlichen Herausforderung verbunden („Körperbelastung“). Ekel
wird außerdem als „seelische Belastung“ geschildert, was mit den Ausführun-
gen von Demmerling und Landweer korrespondiert, dass Ekel ein vergleichs-
weise „körpernahes Gefühl“ (2007: 95) ist, dass mit einer heftigen leiblichen
Reaktion einhergehen kann.
In meiner Praxis mein erster Tag das war für mich bisschen interessant (1) ich sehe die alte
Menschen so die Wunde mit Dekubitus und sowas und die alten Menschen auch so die
inkontinent sind für mich war das das erste Mal in mein Leben das zu sehen es war teilweise
eklig soll ich ehrlich sagen aber (1) ja es hat mir Gefühl das diese Menschen brauchen jemand
zu helfen die sind alt und die brauchen eine professionale Mitarbeit zu helfen und ich hab
gesagt ok trotzdem ich muss einen Monat noch in meine Praxis mich selber prüfen ob ich
weitermachen kann oder nicht und ich hab gefunden das jeden Tag ich lerne was Neues mit
Menschen und die alte Menschen sind froh wenn jemand hilfsbereit da ist (Fall IBRAHIM,
07:37-08:41).
IBRAHIM schildert in der Beispielsequenz seinen ersten Tag in der Praxis.
Aufgeworfen wird ein ambivalentes Gefühl („bisschen interessant“), dass
IBRAHIM auf seine erste Begegnung mit Wunden und Inkontinenz bezieht
(„das erste Mal in mein Leben“). In seinen Ausführungen dokumentiert sich
Überraschung, die mit der Einsicht einhergeht, wie herausfordernd das Beo-
bachtete ist („soll ich ehrlich sagen“). Der Umgang mit Ekel wird von IBRA-
HIM dahingehend thematisiert, dass es darum gehe alten Menschen zu helfen
(„brauchen jemand zu helfen“). Dieser Umgang lasst sich als Orientierung an
III) charakterisiert. Da die Bearbeitungsweisen von Emotionen nur einen Teilaspekt des je-
weiligen Musters darstellt konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf diese Ver-
gleichsebene. Für eine Übersicht der rekonstruierten Muster siehe den Beitrag von Scholand
und Stützel in diesem Band.
218
Reziprozität charakterisieren („jemand hilfsbereit da ist“). Hierbei macht
IBRAHIM aber auch deutlich, dass er sich weiter prüfen muss, ob er die Aus-
bildung absolvieren kann („ob ich weiter machen kann“). Als positiver Hori-
zont wird eine Orientierung an Lernen und Zukunft herausgestellt.
Das is unsre Arbeit wir arbeiten mit Toilettensachen so mit Menschen die dement sind wir
arbeiten jeden Tag mit Urin wir arbeiten jeden Tag mit Stuhlgang wir arbeiten jeden Tag mit
Leute die übergeben die alles das is auch für viele Menschen is nich einfach ich glaube für
mich am Anfang erste Monate vor mich das war sehr schwierig aber (2) Schritt für Schritt
jetzt is ok aber erste Monate für mich das war voll schwierig das (1) mit mit Urin jeden Tag
zu tun zu arbeiten der Geruch von Stuhlgang und natürlich das zu arbeiten wir haben immer
Schutz und alles natürlich wir haben immer gute Hygiene Handdesinfektion wir haben Hand-
schuhe alles aber trotzdem is nich einfach für manche Menschen muss man wissen ob man
das machen kann oder möchte oder nicht (Fall IBRAHIM, 50:18-51:20).
In einer detaillierten Aufzahlung („Urin“, „Stuhlgang“, „übergeben“) stellt
IBRAHIM die Alltaglichkeit der Konfrontation mit Ekel heraus („jeden Tag“).
In seiner Beschreibung werden keine konkreten Situationen oder konkreten
Heimbewohner*innen erwahnt („Menschen die dement sind“), was auf wie-
derkehrende Handlungsabläufe verweist. Als herausfordernd wird der Umgang
mit Ausscheidungen benannt („Geruch von Stuhlgang“). In der Darstellung
von IBRAHIM zeigt sich, dass Ekel mit einer Grenzüberschreitung verbunden
ist, die von außen kommt und droht „einen zu Durchdringen“ (Demmerling
und Landweer 2007: 95). Demgegenüber verweist IBRAHIM zwar auf die
Möglichkeit der Professionalisierung („Hygiene“, „Handdesinfektion“,
„Handschuhe“). Dennoch bleibt es bei einer Herausforderung, („muss man
wissen ob man das machen kann“). IBRAHIM macht deutlich, dass sich etwas
bei ihm verandert hat („Schritt für Schritt“), nachdem es am Anfang für ihn
schwierig war mit „Toilettensachen“ umzugehen.
Auch Fall KAZIM kommt auf einen Lernprozess zu sprechen, der mit einer
Orientierung an Reziprozität einhergeht. Der Interviewte ist zum Zeitpunkt des
Interviews 21 Jahre alt und befindet sich im dritten Lehrjahr einer Ausbildung
zum Krankenpfleger. KAZIM ist aus Afghanistan geflohen und entscheidet
sich vor dem Hintergrund einer drohenden Abschiebung für die Ausbildung.
Im Vorfeld absolviert er ein freiwilliges Praktikum in einem Krankenhaus.
Ick hab ne Patientin gehabt sie hatte- er hatte wirklich die Hose komplett voll und ich bin
rein und ja mit Schwester mussten wir den sauber machen und ick konnte nich da stehn weil
es so doll gestunken hat ja das war als Praktikant so bisschen krass wenn man das zum ersten
Mal gesehn hat aber jetzt in der Ausbildung is halt denke es is total locker ich hab auch letzte
Woche zwei Praktikanten gehabt und die hatten gleiche Situation wie meine Situation da-
mals in der Praktikumszeit und er hat so ich kann nich mehr ich- ich sage so nein du musst
nich bei mir stehn wenn du willst kannst du rausgehn aber ich denke du bist hier um dir die
ganze Situation angucken vielleicht willst du später in der Pflege arbeiten dann hat er sich
da hingestellt und nächste Tag kam er zu mir ja ich dachte ich kann gar nich essen nach dem
Arbeit und so weil von dieser ganze Sache halt aber eigentlich sacht er zu mir es geht eigent-
lich is ja gar nich so schlimm (Fall KAZIM, 08:50-09:45).
219
KAZIM schildert eine Situation, die er mit einer emotionalen Herausforderung
verbindet. Deutlich wird in seiner Erzahlung ein Gefühl des Ekels („die Hose
komplett voll“), dass keinen Raum für eine Distanzierung lasst („ich konnte
nich da stehn“). In der weiteren Erzahlung von KAZIM wird eine Orientierung
an Reziprozität geschildert, bei dem er sich als jemand beschreibt, der heute
andere Praktikant*innen anleitet, die eine vergleichbare Situation erleben
(„gleiche Situation wie meine damals“). Hierbei stellt er heraus, dass man sich
zwar nicht zwingend mit einer solchen Situation auseinandersetzen muss
(„wenn du willst kannst du rausgehen“). Allerdings ist es für ihn im Hinblick
auf eine Tätigkeit in der Pflege notwendig sich an solche Situationen zu ge-
wöhnen („vielleicht willst du spater in der Pflege arbeiten“). Aufgeworfen
wird, wie eine andere Person etwas lernt („is gar nich so schlimm“), was KA-
ZIM für sich bereits erfolgreich bewältigt hat.
Neben Ekel setzt sich KAZIM im Interview mit Scham auseinander. An
verschiedenen Stellen kommt er auf sein Geburtsland Afghanistan zu sprechen
in dem eine strikte Geschlechtertrennung vorherrscht. KAZIM schildert, wie
er eigene Schamgefühle, die mit „sexuellen Gedanken“ gegenüber weiblichen
care receivern einhergehen, überwindet. Gleichzeitig kommt er auf einen se-
xualisierten Übergriff seitens einer älteren Patientin, während seiner Arbeit zu
sprechen.
Ick hab auch nochmal was erlebt mit ein Patientin die war halt dement 82 und (2) ick hab ihr
halt beim Abendbrot geholfen da hat sie mir irgendwas erzählt ja machen sie das Fenster zu
damit mein Mann es nich sieht ich bezahle ihnen das Geld und so ick hab erstmal gar nich
verstanden was sie will von mir und dann nach dem Essen hab ich sie umgezogen Nachthemd
angezogen und dann wollt ich sie bisschen ein Stück hochziehn damit sie besser liegt als ich
sie so hochziehn wollte sie hat mein Kopf und wollte mich küssen (1) das war so schrecklich
für mich (1) und ich bin schnell raus zu meine Kollegin hab ich gesagt ich geh nich in dieses
Zimmer rein weil sie hat versucht mich zu küssen und dann hat sie irgendwas vom Fenster
zu machen damit mein Mann es nich sieht und sowas erzählt das war natürlich das war
unangenehm für mich und (1) ja dann hat wurde mir erzählt ja sie is halt dement sie weiß gar
nich was sie macht und so (1) da hab ich gesagt aber trotzdem ich will wirklich heute nicht
in dieses Zimmer rein weil es wirklich nich so schön für mich war (Fall KAZIM, 21:21-
22:22).
Nach der Äußerung „machen sie das Fenster zu damit mein Mann es nich sieht
ich bezahle ihnen das Geld“ versucht die Patientin KAZIM festzuhalten und
zu küssen. Deutlich wird ein Gefühl des Ekels („das war so schrecklich für
mich“), dass dazu führt das KAZIM die Situation verlasst und sich seiner Kol-
legin mitteilt („ich bin schnell raus zu meine Kollegin“). Wahrend seine Kol-
legin den Vorfall bagatellisiert („sie weiß gar nich was sie macht“), zieht KA-
ZIM eine Grenze („ich will wirklich heute nich in dieses Zimmer rein“). Der
sexualisierte Übergriff stellt die Asymmetrie der Pflegebeziehung zwischen
KAZIM und der Patientin in Frage. KAZIM wird passiviert, was ihm eine un-
tergeordnete Position im Geschlechterverhältnis zuschreibt.
220
4.2 Re-Souveränisierung (Typus II)
Die Befragten des Typus II finden vor dem Hintergrund biographischer Kri-
sensituationen zur Pflege. Hinsichtlich des Umgangs mit Emotionen dokumen-
tiert sich eine Gleichzeitigkeit von Verletzlichkeitserfahrungen und dem Stre-
ben nach Re-Souveränisierung. Pflege wird als persönliche Anerkennung
durch die care receiver dargestellt. Betont wird der Spaß, den die Befragten
bei ihrer Arbeit in der Pflege haben. Dies wird etwa bei Fall PADDY deutlich,
der zum Zeitpunkt des Interviews 34 Jahre alt ist und sich im dritten Lehrjahr
einer Ausbildung zur Altenpflege befindet. PADDY absolviert einen Querein-
stieg, nachdem er seinen vorherigen Beruf aus gesundheitlichen Gründen,
nicht mehr ausüben konnte. Der Befragte kommt im Interview auf seinen ers-
ten Probearbeitstag in der ambulanten Pflege zu sprechen.
Total lustige Situation alte Frau sitzt auf der Toilette meine erste Aufgabe die ältere Dame
vonner Toilette zu holn und den Po sauber zu machen stand ick da wusste nich wie ick was
machen muss und dann hat er son bisschen erklärt der da zugeguckt hat dann hab ick dat halt
so gemacht hab mich halt gewundert warum nischt dreckig is war ne lustige Situation sie saß
auf Toilette @(1)@ is hochgekommen war nischt auf Toilette hab ick mich halt gewundert
na kennst et halt nich wa is halt neuer Beruf ja will se anziehn und dann war halt die Wurst
inne Schlüpfer drinne die Dame hatte en Witz gerissen und hat mich dann so zum Lachen
gebracht dass ick dachte ja @dat willste machen is zwar@ jetzte auf eene Art auch en biss-
chen für manch einen eklig mir macht et nischt aber war halt ne lustige Situation dacht ick
mir ja in dem Beruf kannste bestimmt lachen machste (Fall PADDY, 03:22-04:12).
Bezogen auf seinen ersten Probearbeitstag schildert PADDY eine Situation, in
der er eine Patientin beim Toilettengang unterstützen soll. In seiner
Schilderung zeigt sich eine gewisse Unbeholfenheit („wusste nich wie ick was
machen muss“), die für ihn mit seiner neuen Tatigkeit in der Pflege einhergeht
(„neuer Beruf“). Im Gegensatz zu den Fallen des Typus I wird der Umgang
mit Stuhlgang, aber nicht als etwas Ekliges beschrieben, an das man sich erst
gewöhnen muss. Herausgestellt wird vielmehr das Lustige an der Situation
(„so zum Lachen gebracht“) und ein individualisierter Umgang mit Emotionen
(„für manch einen eklig mir macht et nischt“). Negative Emotionen werden
eher de-thematisiert, was sich in einer Erzählung über eine Patientin
dokumentiert, die PADDY im Interview als „Lieblingspatientin“ bezeichnet.
Man flirtet so als Mann man hat ja den tollen Reiz als männlicher Pfleger bei den älteren
Damen jut anzukommen @(.)@ ja mit der hab ick mich halt total toll verstanden bis sie
palliativ gesetzt wurde und dann halt im Sterbeprozess och war (1) da fühlt man doch auf
eenmal anders weil is wie ein Familienmitglied denn irgendwann hat man so dat Gefühl dass
man das verliert irgendwie und dat is dann halt ne emotionale Sache sag ick mal mit der
glaub ick also bei mir gehts immer noch aber halt glaub ick nich jeder klarkommen würde
am besten is dann wirklich jar keene Bindung den Patienten wirklich als Patient ansehn klingt
für mich oder is für mich eigentlich och hart in ner Pflege find ick aber man muss es halt so
machen weil sonst glaub ick wird man nie professionell irgendwie dann wird man och nich
ernstgenommen oder wenn man dann wirklich ernsthafte Sachen machen muss dann fang
221
die an rumzualbern oder sowat weil die eenen halt anders kennengelernt ham ja ich bin da
sowieso so der Paradiesvogel in meiner Einrichtung so der Clown (Fall PADDY, 11:40-
12:42).
PADDY stellt in der Beispielsequenz eine starke persönliche Nähe heraus
(„toll verstanden“). Zum einen wird die Anerkennung seitens der Patientin auf-
geworfen („man flirtet so als Mann“). Zum anderen wird das Ende der persön-
lichen Beziehung zwischen ihm und der Patientin durch den Sterbeprozess the-
matisiert („palliativ gesetzt“). Deutlich wird ein Modus mannlicher Re-Souve-
nisierung. Obwohl sich in der Passage dokumentiert, wie stark PADDY den
Verlust der Patientin empfindet („wie ein Familienmitglied“), macht er deut-
lich, dass ihm dies anscheinend nur wenig auszumachen scheint („bei mir gehts
immer noch“). Als positiver Gegenhorizont wird ein Ideal der Bindungslosig-
keit aufgeworfen („keene Bindung“), dass nicht erreicht werden kann. Zwar
reflektiert PADDY in seinen Ausführungen, dass Professionalität bei zu star-
ker persönlicher Nähe nicht möglich ist, gleichzeitig gestaltet er die Bezie-
hungsverhältnisse mit den care receivern persönlich nah und schildert sich als
„Clown“ und „Paradiesvogel“.
Die Bedeutung einer persönlichen Beziehung mit den care receivern wird
auch bei Fall PAUL herausgestellt. PAUL ist zum Zeitpunkt des Interviews 21
Jahre alt und absolviert im zweiten Lehrjahr eine Ausbildung als Altenpfleger.
Deutlich wird im Interview ähnlich wie bei Fall PADDY – eine starke per-
sönliche Nähe zu den Patient*innen.
Ich hatte es im ambulanten Bereich extrem (1) da wollten die halt die wir versorgt hatten
oder denen ich mal die Kompressionsstrümpfe angezogen hatte (1) die wollten mir halt
immer Geld geben ja hier so ne Kleinigkeit oder so oder halt was man sonst auch erlebt
Kuchenstücke oder so es gab so Personen also so drei (1) es gab so drei Ehepärchen mit
denen hab ich mich echt gut verstanden in der Zeit in den neun Wochen und die auch und da
hat man sich halt mehr ausgetauscht so was mag der andere was mag derjenige dann hab ich
denen auch mal selbstgemachtes Rhabarber oder so mitgebracht (1) und geschenkt (2) wusste
aber auch wiederum ich weiß dass das in Ordnung is also sowas so Dinge die selbstgemacht
sind sind besser als wie man Geld irgendwie kriegt weil ich fühl mich damit nich wohl (2)
is nich meins ich verdien mein Geld mit dem Beruf und ich brauch nich noch ma extra Geld
für das was ich tue als Dank eher will ich ein Danke in mündlicher Form (Fall PAUL, 29:16-
30:20).
PAUL geht in der Beispielsequenz auf die materielle Wertschätzung ein, die
er im Zuge seiner Tätigkeit in der ambulanten Altenpflege von Seiten der care
receiver erlebt („Geld geben“, „ne Kleinigkeit“, „Kuchenstücke“). Aufgewor-
fen wird eine starke persönliche Nahe zu manchen der Patient*innen („echt gut
verstanden“), die zu einem wechselseitigen Austausch von Aufmerksamkeiten
führt („selbstgemachtes Rhabarber“). Als positiver Horizont stellt PAUL Ge-
schenke heraus „die selbstgemacht sind“ und grenzt diese von finanziellen Zu-
wendungen ab („is nich meins“). Anerkennung seitens der care receiver ist für
PAUL nicht an Geld geknüpft, sondern zeigt sich in einer persönlichen Bezug-
nahme („was mag der andere“). Hierbei deutet sich an, dass PAUL zwar ver-
222
sucht nicht abhängig von den care receivern zu werden („ich brauch nich noch
ma extra Geld für das was ich tue“), aber sich dennoch stark persönlich ver-
strickt. Dies zeigt sich im Interview anhand von Berichten sexualisierter Über-
griffe. Die Rede ist im Interview von grenzverletzenden Situationen seitens
weiblicher Klientinnen („hinterhergefasst“, „flotte Sprüche“).
Bei der Körperpflege zum Beispiel da gehen wir ja in die Intimszonen total rein und dann
hat sie mir halt zum Beispiel ma an=nen Hintern gegriffen und meinte so ja zieh dich doch
auch aus und so und hab ich dann gesagt nein also bis hierhin und nich weiter also ausziehn
werd ich mich vor ihnen garantiert nich (1) wenn dann würden wir nach anderen Möglich-
keiten suchen die=s ja gibt (1) ja und das hab ich halt auch im Team besprochen dass es dazu
kam und dann wurde halt direkt im gesamten Team drüber gesprochen wie=s jetzt weitergeht
dass ich wirklich so weiter sage nein bis hierhin und nich weiter das is mein Bereich das is
ihr Bereich und hier is Grenze ja damit=s halt nich also damit die männlichen Kollegen wir
ham auch nur zwei drei im Team nich das Gleiche ereilt (Fall PAUL, 07:59-08:52).
PAUL kontextualisiert die grenzverletzende Handlung entlang einer Beschrei-
bung der Situation („Körperpflege“). In seiner Beschreibung der Klientin, die
grenzverletzend gehandelt hat, bleibt er allerdings vage. Auch die Intensität
des sexualisierten Übergriffs wird von PAUL relativiert („ma an Hintern
gegriffen“). Angedeutet wird ein Modus mannlicher Re-Souveränisierung
(„nach anderen Möglichkeiten suchen“), der im Kontrast zur betonten Grenz-
ziehung von PAUL steht („bis hierhin und nich weiter“) und sich von der Passi-
vierung unterscheidet, die KAZIM (Typus I) bezogen auf einen sexualisierten
Übergriff beschreibt. Darüber hinaus wird deutlich, dass PAUL im Team
Anerkennung für seine Grenzziehung bekommt („im gesamten Team drüber
gesprochen“), wahrend der sexualisierte Übergriff KAZIM gegenüber von
einer Kollegin relativiert wird. PAUL wird allerdings auch die Verantwortung
für andere männliche Kollegen gegeben und er wird zum Repräsentanten aller
männlicher Pflegekrafte gemacht bzw. macht sich selbst dazu („nich das
Gleiche ereilt“).
4.3 Generativität (Typus III)
Bei Typus III wird die Pflege als Tätigkeit geschildert, bei der das eigene Mit-
gefühl verberuflicht wird. Bezogen auf den Umgang mit Emotionen dokumen-
tiert sich eine Orientierung an Generativität, die auch im Hinblick auf die ei-
gene Bestimmung für den Pflegeberuf aufgeworfen wird. Dies wird etwa bei
Fall JULIAN deutlich, der eine Ausbildung im Bereich Altenpflege im zweiten
Lehrjahr absolviert und zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt ist. Bezogen
auf seinen Weg hin zur Altenpflegeausbildung erscheint JULIAN wie jemand,
der einen durch Andere vorgeschriebenen Weg folgt. Diese schicksalserge-
bene Haltung zeigt sich auch, wenn JULIAN auf Situationen aus seiner Aus-
bildung zu sprechen kommt. Bezogen auf ein Praktikum in einem Hospiz
223
erzählt er vom Tod eines Patienten, den er bereits aus einem vorherigen Prak-
tikum in einer Seniorenresidenz kannte.
Ich mach so die Tür auf auf einmal kam komplett Blut raus aus seinem Mund alles is hoch-
gespritzt und dann is er umgekippt wir ham ihn gerade noch so halten können und ich glaub
nach 30 Sekunden is er gestorben an (1) ich glaub Lungenriss war das Lungenriss? (3) also
ich bin mir jetzt unsicher ob es Lungenriss oder so war aber es kam so viel Blut raus das war
für mich so erschreckend (2) es war für mich nich schön (1) gerade weil ich ja wirklich dabei
war auch in dem Raum geblieben bin auch einer Seite war=s wirklich mega
spannend muss ich ehrlich sagen bei einer andern Art war das für mich extrem belastend
(Fall JULIAN, 17:02-18:00).
JULIAN schildert die Situation in nüchterner Weise. Erwähnt wird die mögli-
che Todesursache („ich glaub Lungenriss“) und weniger welche emotionale
Bedeutung das Ereignis für ihn hatte („nich schön gerade“). Ausgedrückt wird
die Faszination für das Gesehene („megaspannend“). Gleichzeitig wird von
JULIAN aber auch deutlich gemacht, dass die Situation „extrem belastend“ für
ihn war. Entgegen der nüchternen Schilderung des Erlebten dokumentiert sich,
dass JULIAN die Situation nah begleitet hat („gerade noch so halten können“).
In seinen weiteren Schilderungen im Interview wird eine hohe Bedeutung von
Familie für ihn deutlich, was auch im Bezug auf die care receiver aufgeworfen
wird.
Na es gab ma ne Patientin die hatte en sehr sehr schlechte Zeit durchgehabt die hatte
Depression hat sie halt immer noch und ich war derjenige der immer mit ihr gesprochen hat
un sie nich irgendwie zur Seite geschubst hat und so getan hat als wär sie irgendwie ne kranke
Olle sage ich jetzt ma so wie=s is (1) ja sie ich hab immer mit ihr gesprochen weil wir hatten
auch irgendwie so so den gleichen Humor sag ich jetzt so dann ham wir uns oft unterhalten
oft Späße gemacht (1) und (1) ja da hat sie hat dann halt auch gesagt ich bin dir so dankbar
dass du in der schweren Zeit immer für mich da warst wo=s kein anderer weil Familie hatte
sie nich mehr (Fall JULIAN, 22:50-23:36).
In der Beispielsequenz zeigt sich die Unterstützung des Befragten für eine Pa-
tientin, die eine „sehr schlechte Zeit“ hatte. Geschildert wird eine permanente
Unterstützung („immer mit ihr gesprochen“), die ihn aus seiner Sicht von an-
deren Pflegekraften unterscheidet („nich irgendwie zur Seite geschubst“). Der
Befragte macht deutlich, dass er die Patientin nicht pathologisiert hat („ne
kranke Olle“) und sich beide auf einer persönlichen Ebene begegnet sind („den
gleichen Humor“). Wichtig scheint für JULIAN die zwischenmenschliche
Ebene zu sein („Spaße gemacht“), die zwischen beiden gut funktioniert hat und
die JULIAN als eine Art Familienersatz erscheinen lasst („Familie hatte sie
nich mehr“).
Ein vergleichbarer Umgang mit Sorge als emotionalen Beziehungsverhält-
nis wird auch bei Fall TIM deutlich, der zum Zeitpunkt des Interviews 22 Jahre
alt ist und im dritten Lehrjahr eine Ausbildung im Bereich Altenpflege absol-
viert. Angesprochen darauf, ob sich über die Ausbildung etwas in seinem Le-
ben verändert hat, kommt er auf seinen Umgang mit Ekel zu sprechen.
224
Beim WC bin ich zu Hause derjenige der=s macht weil ich einfach auch ne Toilette reinigen
kann ohne gleich Ekel zu verspürn ne weil das ja (2) sag ma so Körperausscheidungen in
irgendeinem Sinne sind normal für mich geworden ne es is vieles normaler geworden wo
man früher gesacht hat oh niemals ne um Gottes Willen ekelhaft (1) Schamgefühl is ganz
klar zurückgegangen bei mir also man brauch sich einfach nich schämen weil sich durch die
ja auch vielleicht durch die Ausbildung durch das theoretische Wissen aber auch durch die
Pflege sich ganz andere Türen geöffnet haben die man so als normaler Mensch in Anfüh-
rungsstrichen nich kennt oder nich mit konfrontiert wird ne so Toilettengänge meine Güte
es geht mal was daneben die ersten 30 Male das wegzumachen klar is für jeden dann was
Neues aber irgendwann is das normal da lernt man hier im Theorieunterricht warum wieso
weshalb und dann wird es so alltäglich zu ner normalen Geschichte auch das Sterben sollte
eigentlich keine normale Geschichte sein es gehört aber dazu wie die Geburt so (2) (Fall
TIM, 51:35-52:56).
TIM stellt heraus, dass der Umgang mit Ausscheidungen für ihn
„normal“ geworden ist. Aufgeworfen wird ein Unterschied zwischen früher
(„um Gottes Willen ekelhaft“) und heute („vieles normaler geworden“). Auch
bezogen auf Schamgefühle schildert er einen Rückgang („man brauch sich
einfach nich schamen“). Aufgemacht wird ein Unterschied zwischen seiner
Persönlichkeitsentwicklung, die er über seine Tätigkeit in der Altenpflege ge-
macht hat („ganz andere Türen geöffnet“) und Menschen, die diese Erfahrung
nicht gemacht haben. Herausgestellt wird ein Prozess der Routinisierung („die
ersten 30 Male“), den TIM an einer anderen Stelle des Interviews auch als
„abstumpfen“ beschreibt. In den Schilderungen von TIM bezogen auf den Tod
von Patient*innen dokumentiert sich zudem eine Orientierung an Genera-
tivität („gehört aber dazu wie die Geburt“). Dieser Umgang mit Tod und Trauer
zeigt sich an verschiedenen Stellen des Interviews, in denen der Befragte
darauf zu sprechen kommt, dass er nach seiner Ausbildung eine Weiterbildung
als Palliativfachkraft absolvieren möchte.
Jetzt aus rein persönlicher Sicht wo ich selbst entschieden hab dass ich in die Palliativmedi-
zin gehe war ein solcher Fall da hatten wir eine demente Bewohnerin gehabt die dann also
im Sterbeprozess lag und sie hatte keine Angehörigen mehr gehabt da warn die Kinder auch
schon traurigerweise verstorben der Mann auch also sie hatte dann niemanden mehr und sie
hatte wahnsinnige Angst und ich bin dann wirklich zu jeder möglichen Sekunde sach ich ma
so wies mir halt möglich war zu dieser Bewohnerin gegangen und hab ganz normale Sachen
letztendlich mit ihr gemacht ne hab vielleicht Buch gelesen bisschen Zeitung übers Wetter
unterhalten Nachrichten mit ihr geguckt ihr das erläutert falls sie ma nichts also das nich
verstanden hat aber ich wusste aufgrund der Demenz ich red da gegen also in nen schwarzes
Loch hinein aber das war für mich eher sekundär ob die Bewohnerin das jetzt nu weiß oder
nich noch in zwei Stunden für mich is halt wichtig dass die in dieser Situation wo ich dann
da bin halt keine Ängste verspürn oder sonstiges oder einfach abgelenkt werden auch von
diesem ganzen Prozess ne sodass se halt en bisschen runterfahrn können (Fall TIM, 17:38-
19:02).
TIM schildert die Erfahrung des Sterbeprozess einer Patientin als ausschlag-
gebend für seine Entscheidung in die Palliativmedizin zu gehen. Erzählt wird
vom Gefühl der Angst einer Bewohnerin des Pflegeheims, in dem er seine
225
Ausbildung absolviert („wahnsinnige Angst“). Obwohl TIM deutlich macht,
dass die Bewohnerin auf sich allein gestellt war („hatte dann niemanden
mehr“), scheint es in seiner Begleitung des Sterbeprozesses nicht um ihn per-
sönlich, sondern eine Art Familienersatz zu gehen. TIM tut, was getan werden
muss auch wenn er nicht weiß, ob seine Zuwendung aufgrund der Demenz der
Bewohnerin überhaupt etwas bringt („in nen schwarzes Loch hinein“). Deut-
lich wird auch ein Spannungsverhältnis zwischen der Dringlichkeit die Bewoh-
nerin nicht allein lassen zu wollen („zu jeder möglichen Sekunde“) und der
Banalitat der Betreuung („Buch gelesen bisschen Zeitung übers Wetter unter-
halten“). Die Situation scheint TIM im Unterschied zu den Befragten des Ty-
pus I nicht herauszufordern. Im Vergleich zu den Befragten des Typus II muss
er auch nicht betonen, dass ihm die Situation nichts auszumachen scheint. Es
dokumentiert sich vielmehr ein schicksalsergebener Umgang mit Emotionen,
der von der eigenen Person absieht und auf die care receiver fokussiert („biss-
chen runterfahrn“).
5 Männer, Männlichkeit und emotionale
Sorgebeziehungen
In den dargestellten empirischen Befunden zeigt sich, wie männliche
Auszubildende im Berufseinstieg mit Sorge als emotionalen Beziehungs-
verhältnis umgehen. Konzipiert als eine Praxis- und Prozesskategorie6 können
die sich andeutenden Männlichkeitskonstruktionen in der Pflegepraxis sowohl
als Ressource und Bewältigungsstrategie, aber auch als Hemmnis fungieren.
Weitergehend wird daher nach einem möglichen Transformationspotenzial
von Männlichkeitskonstruktionen gefragt. Diese Transformationen sind in den
Wandel von modernen Geschlechterverhältnissen eingebunden, die sich durch
eine widersprüchliche Dynamik auszeichnen, welche sich mit Barbara
Rendtorff et al. (2019: 6) als „Un/Gleichzeitigkeiten“ bezeichnen lassen.
Anders ausgedrückt: Wir erwarten keine linearen Entwicklungen, sondern
nehmen Verschiebungen in der Relation von Männern, Männlichkeit, Emo-
tionen und (Für-)Sorge in den Blick.
5.1 Sorgebeziehungen im Kontext von Mortalität und Morbidität
In den empirischen Befunden im Kontext von männlichen Auszubildenden und
Pflege zeigt sich, dass die Befragten der Interviewstudie in einem Ausmaß mit
6 Vgl. auch die Debatte zu Mannlichkeit als Analysekategorie in dem Beitrag „Was heißt heut-
zutage ‚mannlich‘ sein?“ in diesem Band.
226
Krankheit, Bedürftigkeit und Tod konfrontiert sind, welches nur schwer mit
ihren bisherigen Lebenserfahrungen vermittelbar ist. Mit Rekurs auf die Ar-
beiten von Cornelia Klinger lässt sich feststellen, dass die emotionalen Sorge-
beziehungen in der Pflege, mit denen die Befragten umgehen müssen, durch
die menschliche Kontingenz in Bezug auf Morbidität und Mortalität struktu-
riert sind (2014). Dies gilt in Kranken- und Altenpflege in unterschiedlichen
Abstufungen. Insbesondere bei Altenpfleger*innen ist das berufliche Handeln
im Vergleich mit Erzieher*innen oder Lehrer*innen, die in anderen Teilpro-
jekten des Forschungsverbundes „Jungen und Bildung“ untersucht wurden, am
Ende des Lebens der Klient*innen situiert. Die männlichen Auszubildenden
haben nicht teil an einem offenen Entwicklungsprozess, sondern begleiten ihre
Klient*innen beim Abschiednehmen vom Leben und teilweise im Sterbepro-
zess.
Übergreifend über die drei rekonstruierten Typen hinweg lässt sich Pflege
als asymmetrisches Beziehungsverhältnis beschreiben, das von der Abhängig-
keit der care receiver geprägt ist. Dieses Beziehungsverhältnis geht, wie empi-
risch aufgezeigt wurde, oftmals mit negativen Emotionen wie Ekel oder Scham
einher, mit denen die männlichen Auszubildenden in ihrem Arbeitsalltag
umgehen müssen. Die vorliegenden Rekonstruktionen verweisen aber auch
darauf, dass sich Machtasymmetrien zu Ungunsten der caregiver verschieben,
etwa wenn es um sexualisiertes, grenzverletztendes Verhalten geht. Die Kom-
plexität der emotionalen Wechselbeziehung zwischen care giver und care
receiver zeigt sich hier auf eine andere Weise. Deutlich wird eine Konstella-
tion, die der hegemonialen Geschlechterordnung widerspricht: Ältere Frauen
können junge Männer verletzen. Dieser Befund verweist darauf, dass Verlet-
zungsmacht nicht per se Männern zugeschrieben werden kann respektive
Verletzungsoffenheit Frauen, sondern für beide Geschlechter in einem
komplexen Wechselverhältnis stehen (vgl. auch Bereswill 2007).
5.2 Praktiken von Caring Masculinities?
Nutzt man das Konzept der caring masculinities als Prozess- und Analyseka-
tegorie so zeigt sich, dass in allen rekonstruierten Typen eine Haltung der Für-
sorge (caring for) entwickelt wird, die mit den praktischen Fürsorgetätigkeiten
(care giving) verknüpft ist. Diese Erkenntnis mag zunächst banal klingen,
bricht aber die kulturell verfestigte Konnotation von Weiblichkeit und Für-
sorge(-arbeit) auf. Die dargestellten Fallrekonstruktionen verweisen jedoch zu-
gleich auf eine unterschiedliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Männ-
lichkeit, Sorge und Emotionen. Bei den Fällen des Typus I (IBRAHIM, KA-
ZIM) wird eine Orientierung an Reziprozität ersichtlich. Vergeschlechtlichte
Deutungsmuster werden de-thematisiert, was damit zusammenhängen könnte,
dass bei den Befragten mit Flucht- oder Migrationsgeschichte in den Her-
227
kunftsländern Pflege weniger stark vergeschlechtlicht ist als in Deutschland.
Ob sich mit diesem Typus langfristig ein Transformationspotenzial in Rich-
tung Abbau der weiblichen Konnotation und Verschiebung hin zu einem ge-
schlechtergemischten Beruf für das Feld der Pflege konstituiert, lässt sich zum
derzeitigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Zu vermuten ist, dass die vielfältigen
oftmals rassistisch konnotierten Diskriminierungserfahrungen und die Dethe-
matisierung von Männlichkeit dem entgegenstehen.7
Die Fälle des Typus II (LARS, PADDY) erleben vor dem Hintergrund der
Kontingenz des Lebens, dass der angestrebte Modus der Re-Souveränisierung
nicht erreicht werden kann. Angesichts der eigenen Verletzungsoffenheit wird
ein Ideal der Bindungslosigkeit aufgeworfen, dass eng mit hegemonialer
Männlichkeit verknüpft ist. Die eigene Verletzungsoffenheit führt jedoch zu
einer Wiederholung krisenhafter Erfahrungen, die eigentlich vermieden
werden sollen. Ihr Platz im Feld der immer noch weiblich konnotierten Pflege
wird von den Befragten als der eines ‚Clowns‘ oder ‚Paradiesvo-
gels‘ entworfen.
Bei den Fällen des Typus III (JULIAN, TIM) zeigt sich ein generativer,
schicksalsergebener Umgang mit Emotionen. Deutlich wird eine Übergegen-
sätzlichkeit von Müssen und Wollen, bei dem die Befragten ihre gesellschaft-
liche Positionierung („Pflegeader“) nicht als Zwang, sondern als Präferenz
schildern. Das eigene Werden wird als vorherbestimmt gesehen, wobei der da-
mit einhergehende Zwang biographisch nicht bearbeitet werden kann. In den
Blick geraten damit tendenziell Pflegekräfte, die anders als die Befragten des
Typus I und Typus II nicht erst seit kurzem in der Pflege anzutreffen sind,
sondern was ihre Orientierungen anbelangt vermutlich schon länger in der
Pflege arbeiten, jedoch bisher kaum sichtbar waren. Zumindest spielen diese
Männer, so auch Christoph Schwamm (2020), im öffentlichen Diskurs um
Männer und Pflege keine Rolle. Gerade sie könnten im Anschluss an Karla
Elliott (2016) als Verkörperung eines neuen Typus von caring masculinities
verstanden werden, denn ihre berufliche Identität als Pfleger ist Teil ihrer
männlichen Identität. Es greift aber zu kurz, ihnen das Transformationspoten-
zial einer antihegemonialen Männlichkeit zuzuschreiben. Die empirische Re-
konstruktion zeigt, wie sie in biographische Zwänge eingebunden sind, die sie
nicht bearbeiten können und ihnen damit andere berufliche Entwicklungsmög-
lichkeiten gar nicht erst offenstehen.
7 Offen bleibt, inwieweit es sich bei der gesellschaftlich erwünschten Integration von jungen
Männern mit Flucht- und Migrationserfahrungen in die Altenpflege um eine Domestizierung
von migrantischen Männlichkeiten handelt wie sie Ester Gallo und Francesca Scrinzi (2016)
für Italien festgestellt haben. Im Kontrast zur Konstruktion der Diskursfigur des gefährlichen
und oftmals gewalttätigen migrantischen Mannes wird eine sanfte, gesellschaftlich nützliche
Männlichkeit in den Anwerbekampagnen diskursiviert.
228
5.3 Komplexe Relationen
Statt den Fokus auf Identitätskonstruktionen zu richten, plädieren wir dafür die
komplexe Relation zwischen Männlichkeit, Sorge und Emotionen zu
rekonstruieren, um auf diese Weise verfestigte gesellschaftliche Stereotype
aufzubrechen. Die immer noch weit verbreitete Annahme, Männlichkeit sei
mit Gefühlsabstinenz verbunden,8 lässt sich anhand eines rekonstruktiven
Zugangs, der das implizite handlungspraktische Wissen in den Blick nimmt,
relativieren. Insbesondere die Vielfalt der Emotionen von Ekel, Scham, Trauer
bis hin zu Anerkennung und Begehren, die mit Sorge als Beziehungsverhältnis
einhergeht, verweist auf die Fruchtbarkeit eines emotionstheoretisch fun-
dierten Zugangs zur Analyse von Sorgebeziehungen. Zwar zeigt sich auf der
Ebene der manifesten Darstellung, dass es in den Interviews nur zu wenigen
detaillierten Schilderungen emotionaler Herausforderungen kommt. Demge-
genüber werden aber vielfältige positive und negative Horizonte aufgeworfen,
die Bestandteil der Handlungspraxis männlicher Pflegekräfte sind und
Rückschlüsse auf Männlichkeitskonstruktionen zulassen. Diesen Zusammen-
hang gilt es in der Männlichkeitsforschung stärker zu berücksichtigen,
empirisch zu erforschen und weiter zu theoretisieren. In der Pflegeausbildung
bedarf es der Bearbeitung institutionalisierter Deutungs- und Bewältigungs-
muster, insbesondere was die Reflexion der emotionalen Herausforderungen
angeht, die teilweise zwar in Rahmenlehrplänen verankert ist, aber häufig nicht
auf Geschlecht bezogen wird. Dies gilt vor allem auch für sexualisierte grenz-
verletzende Situationen, die der hierarchischen Geschlechterordnung wider-
sprechen. Gerade im Umgang damit deutet sich ein Wandel von Männlichkeit
an, der sich im Feld der Pflege vollzieht. Die männlichen Auszubildenden
reagieren nicht mit Wut, Zorn oder gar Gewalt Emotionen die mit Männlich-
keit konnotiert sind (vgl. Newmark 2010), auf die erlebten Grenzüberschrei-
tungen seitens der care receiver, sondern zunächst mit Scham und/oder Ekel,
später jedoch auch mit einer reflexiven Perspektivenübernahme und der Suche
nach angemessenen Bewältigungsmustern. Ersichtlich wird eine Haltung, die
auf die komplexe Relation von Männern, Männlichkeit und Fürsorge verweist
und belegt, wie wichtig es ist, Emotionen in die Erforschung der Konstruktion,
aber auch der Transformation von Männlichkeit einzubeziehen.
8 Vgl. dazu die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Lothar Böhnisch (2004) mit Pro-
zessen männlicher Sozialisationsanforderungen bezüglich der Bearbeitung von Emotionen.
Verwiesen sei auch auf die populärwissenschaftliche Kritik des britischen Journalisten Jack
Urwin (2016) in seinem Buch „Boys don’t cry“
229
Literaturverzeichnis
Bereswill, Mechthil (2007): Sich auf eine Seite schlagen. Die Abwehr von Verletzungs-
offenheit als gewaltsame Stabilisierung von Männlichkeit. In: Bereswill, Mecht-
hild/Meuser, Michael/Scholz, Sylka (Hrsg.): Dimensionen der Kategorie Ge-
schlecht. Der Fall Männlichkeit. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 101–118.
Böhnisch, Lothar (2004): Männliche Sozialisation. Eine Einführung. Weinheim: Ju-
venta.
Borutta, Manuel/Verheyen, Nina (2010): Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und
Emotion in der deutschen Geschichte 1800-2000. In: Borutta, Manuel/Verheyen,
Nina (Hrsg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne.
Bielefeld: Transcript, S. 11–40.
Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge (2007): Philosophie der Gefühle. Von Ach-
tung bis Zorn. Stuttgart: J. B. Metzler.
Elliott, Karla (2016): Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept. In: Men
& Masculinities, 19 (3), S. 240–259.
Fine, Michael D. (2007): A Caring Society? Care and the Dilemmas of Human Service
in the 21st Century, Houndsmills: Palgrave McMillan.
Gilligan, Carol (1982): In a different Voice. Psychological Theory and Women’s De-
velopment. Harvard University Press.
Gallo, Ester/Scrinci, Francesca (2016): Männer und Männlichkeiten in der
internationalen Teilung reproduktiver Arbeit. In: Lengersdorf, Diana/Meuser,
Michael (Hrsg.): Männlichkeiten und der Strukturwandel von Erwerbsarbeit in
globalsiereten Gesellschaften. Weinheim: Juventa, S. 112–136.
Heilmann, Andreas/Korn, Aaron/Scholz, Sylka (2019): Einleitung: Vom Wachstum zur
Fürsorge. In: Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (Hrsg.): Caring Masculinities?
Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften.
München: Oekom, S. 13–40.
Jettenberger, Marion (2017): Ekel Professioneller Umgang mit Ekelgefühlen in Ge-
sundheitsfachberufen. Maßnahmen und Strategien für einen gesunden Umgang mit
Ekelgefühlen. Berlin: Springer.
Klinger, Cornelia (2014): Krise war immer - Lebenssorge und geschlechtliche Arbeits-
teilung in sozialphilosophischer und kapitalismuskritischer Perspektive. In: Ap-
pelt, Erna/Aulenbacher, Brigitte/Wetterer, Angelika (Hrsg.): Gesellschaft. Femi-
nistische Krisendiagnosen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 82–104.
Kohlen, Helen/Kumbruck, Christel (2008): Care-(Ethik) und das Ethos fürsorglicher
Praxis (Literaturstudie). Bremen: Universität Bremen, https://www.uni-
bremen.de/fileadmin/user_upload/sites/artec/Publikationen/artec_Paper/151_pape
r.pdf (Zugriff: 22.10.2021)
Korn, Aaron (2020): Männlichkeit, Adoleszenz und die Frage nach Care. Eine kritisch-
tiefenhermeneutische Betrachtung der Lebenswelten männlicher Jugendlicher.
Masterarbeit. Jena: Friedrich-Schiller-Universität/Fakultät für Verhaltenswissen-
schaften (unveröff.).
Landweer, Hilge (2018): Gefühle: Von der Geschlechter- und der Emotionsforschung
zu den Affect Studies. In: Kortendiek, Beate/Sabisch, Katja/Riegraf, Birgit
(Hrsg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Wiesbaden: Springer,
S. 1083–1091.
230
Landweer, Hilge (2007): Sozialität und Echtheit der Gefühle. Geschlechtertheoretische
Perspektiven. In: Neumayr, Agnes (Hrsg.): Kritik der Gefühle. Feministische Po-
sitionen. Wien: Milena, S. 63–91.
Landweer, Hilge (1997): Fühlen Männer anders? Überlegungen zur Konstruktion von
Geschlecht durch Gefühle. In: Stoller, Silvia/Vetter, Helmuth (Hrsg.): Phano-
menologie und Geschlechterdifferenz. Wien: WUV-Universitätsverlag, S. 249–
273.
Laufenberg, Mike (2017): Fürsorge, Männlichkeit und Postwachstum – Ein Kommen-
tar. In: Feministische Studien, 35, 2, S. 359-364.
Müller, Beatrice (2020): Die Abwertung von Care als relational-leibliche Arbeit. In:
Müller, Beatrice/Spahn, Lea (Hrsg.): Den LeibKörper erforschen. Bielefeld:
Transcript, S. 65–84.
Newmark, Catherine (2010): Männliche Rationalität und Emotionalität von der früh-
neuzeitlichen Moralphilosophie bis zum bürgerlichen Zeitalter. In: Borutta, Ma-
nuel/Verheyen, Nina (Hrsg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion
in der Moderne. Bielefeld, S. 41–56.
Papenkort, Ulrich (2020): Sorge. In: Socialnet. www.socialnet.de/lexikon/Sorge
(Zugriff: 22.10.2021)
Rendtorff, Barbara/Riegraf, Birgit/Mahns, Claudia (2019): Einleitung. In: Rendtorff,
Barbara/Riegraf, Birgit/Mahns, Claudia (Hrsg.): Struktur und Dynamik
Un/Gleichzeitigkeiten im Geschlechterverhältnis. Wiesbaden: Springer, S. 1–10.
Rieske, Thomas Viola (2018): Caring Masculinities eine Reflexion. Flensburg: Ar-
beitspapier im Verbundprojekt Jungen und Bildung (unveröff.).
Ruby, Sophie/Scholz, Sylka (2018): Care, Care Work and the Struggle for a Careful
World from the Perspective of the Sociology of Masculinities. In: Österreichische
Zeitschrift für Soziologie, 43, 1, S. 73–83.
Scambor, Elli/Bergmann, Nadja/Wojnicka, Katarzyna/Belghiti-Mahut, Sophia/Hearn,
Jeffery/Holter, Øystein Gullvåg/Gartner, Marc/Hrženjak, Majda/Scambor, Chris-
tian/White, Alan (2014): Men and Gender Equality: European Insights. In: Men
and Masculinities, 17(5), S. 552–577.
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (Hrsg.) (2019): Caring Masculinities? Männlichkei-
ten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München:
Oekom.
Senge, Konstanze (2013) Die Wiederentdeckung des Gefühls. In: Senge, Kon-
stanze/Schützeichel, Rainer (Hrsg.): Hauptwerke der Emotionssoziologie. Wies-
baden: Springer, S. 11-32.
Schwamm, Christoph (2020): Pflegenotstand, Hegemoniale Männlichkeit und der Gen-
der Care Gap in der Wirtschaftswunderzeit. In: Dinges, Martin (Hrsg.): Männlich-
keit und Care. Weinheim: Juventa, S. 262–279.
Thelen, Tatjana (2014): Care/Sorge. Konstruktion, Reproduktion und Auflösung be-
deutsamer Bindungen. Bielefeld: Transcript.
Urwin, Jack (2017): Boys don’t cry. Identitat, Gefühl und Mannlichkeit. Hamburg:
Nautilus.
Jenseits von Dominanz und Hegemonie? Männliche
Auszubildende in der Pflege
Barbara Scholand und Kevin Stützel
1 Einleitung
Das Berufsfeld der Pflege gilt als Engpassberuf und ist von einem starken
Mangel an Fachkräften bestimmt. Der Pflegebereich kann außerdem als ge-
schlechtstypisch weiblich charakterisiert werden: Mehr als drei Viertel der
Fachkräfte sind Frauen. Männliche Auszubildende werden erst in jüngster Zeit
adressiert, sich eine berufliche Zukunft in der Pflege aufzubauen (Schwamm
2020; Bohn 2020). Der folgende Beitrag setzt sich mit männlichen Auszubil-
denden auseinander, die eine Ausbildung im Pflegebereich absolvieren. Aus-
gehend von Analysen zur geschlechtersegregierten Arbeitsteilung wird zu-
nachst die „Feminisierung der Pflege“ (Wetterer 2002: 89) in den Blick ge-
nommen (Kap. 2), um dann auf den Wissensstand zu männlichen Fachkräften
in der Pflege (Kap. 3) einzugehen. Anhand von zwei rekonstruktiven Inter-
viewstudien werden die berufs- und geschlechtsbezogenen Orientierungen der
Befragten im Übergang in die Pflegeausbildung herausgearbeitet (Kap. 4).
Ausgehend von einer studienübergreifenden Zusammenführung der empiri-
schen Befunde wird abschließend diskutiert, inwiefern der Übergang der Be-
fragten in einen geschlechtsuntypischen Pflegeberuf mit einer nachlassenden
Bedeutung hegemonialer Männlichkeit (Connell 2015) und einer zunehmen-
den Relevanz fürsorglicher Männlichkeit (Heilmann und Scholz 2017) einher-
geht (Kap. 5).
2 Pflege als weiblicher Beruf
Mit der Herausbildung der bürgerlich-industriellen Gesellschaft ging ein Aus-
schluss von Frauen aus Bildung und Beruf einher. Im Zuge der Durchsetzung
eines binär vergeschlechtlichten Berufsmodells erfolgte die Einschließung von
232
Frauen in die bürgerliche Familie. Für weiblich kategorisierte Personen war
lediglich „Arbeit für andere“ (Rabe-Kleberg 1996: 288) vorgesehen. Frauen
wurden Tätigkeiten zugewiesen, die als „Verlangerungslinie der hauslichen
Funktionen“ (Bourdieu 2005: 163) verstanden werden können. Dies galt auch
für Frauen aus der Arbeiterklasse, die als Dienstmädchen in bürgerlichen
Haushalten arbeiteten (Klinger 2014: 91). Sozialkonstruktivistische Analysen
heben, bezogen auf die „rigide Geschlechterexklusivitat“ (Wetterer 2002: 45)
der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, den diskursiven Prozess der Verge-
schlechtlichung der Arbeitsinhalte hervor (vgl. ebd.: 93). Außerdem verweisen
sie darauf, dass die Reproduktion geschlechtshierarchischer Strukturen von
politischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Ressourcen abhängt (vgl.
ebd.: 98). Hinsichtlich der Herausbildung der Pflege als ‚typischer Frauenbe-
ruf‘ gilt unter dieser Perspektive, dass die Tatigkeiten, die als weiblich‘ ge-
dacht und konzipiert werden, vor allem Effekt der Erfindung der ‚weibli-
chen‘ oder ‚mannlichen‘ Tradition eines Berufs auf Basis vermeintlich essen-
tieller Geschlechterdifferenzen sind (vgl. ebd.: 98). Geschlechter im Berufsfeld
der Pflege sind also nur „in dem Maße verschieden, in dem sie Unterschiedli-
ches tun“ (ebd.: 100).
2.1 Feminisierung der Pflege
Mit der Herausbildung der Pflege als erstem bürgerlichen Frauenberuf zu
Beginn des 19. Jahrhunderts1 ging die Feminisierung der Pflegetätigkeiten und
die Ver-Weiblichung der Pflegekrafte einher. Die ‚weiblichen‘ Fahigkeiten,
die ins Feld geführt wurden, um Frauen des Bürgertums für die Pflege zu
gewinnen2, wurden von den Verhaltensmustern, die etwa für die
Krankenpflege als unerlässlich galten, kaum noch unterschieden (vgl. ebd.:
327f.).3 Historisch erkennbar ist eine Berufserziehung, die als „Erziehung zur
Weiblichkeit“ (ebd.: 331) charakterisiert werden kann. Der Berufsalltag war
als bestandige Übung spezifisch ‚weiblicher‘ Tugenden konzipiert (vgl. ebd.:
331).
Die Analogie zwischen Frauenberufsarbeit und Weiblichkeit wird mit der
Schaffung weiterer bürgerlicher Frauenberufe ab der zweiten Hälfte des 19.
1 Siehe hierzu ausführlich Wetterer 2002: 299-336.
2 Als verlangerter Arm des Arztes […] waren Frauen der bürgerlichen Sozialschichten“
(Frevert 1985: 423) nicht nur in der Familie, sondern auch in Anstalten und Kliniken für die
Umsetzung anspruchsvoller werdender Hygiene- und Pflegearbeiten vorgesehen. Arbeiter-
frauen galten demgegenüber als moralisch unfähig bzw. zu unvernünftig, um solche
Aufgaben zu übernehmen (vgl. ebd.: 425).
3 Wetterer macht am Beispiel der Dienstordnung für evangelische Diakonissen deutlich, dass
Selbstdisziplin und Diensterfüllung, Unterordnung unter die Leitung und Fürsorge für andere
sowie Enthaltsamkeit gegenüber ‚der Welt‘ und Konzentration auf die Arbeit erwartet wur-
den (vgl. Wetterer 2002: 331).
233
Jahrhunderts auch im Bereich der Wohlfahrts- oder Kinderpflege vorherr-
schend. Hegemonial wird die Überzeugung, dass sich vor allem im Bereich
pflegerischer und sozialer Arbeit „die besonderen ‚weiblichen‘ Eigenschaften
und Fähigkeiten zum Nutzen der Gesellschaft wie der Frauen realisieren las-
sen“ (ebd.: 335). Berufliche Tätigkeiten werden mit binären Geschlechterbil-
dern verbunden, die andere Geschlechter ausschließen, wobei der sukzessive
Zugang zu qualifizierter Erwerbsarbeit sich für Frauen vor allem über Erzie-
hungs- und Pflegeberufe eröffnete (vgl. Niemeyer 2016: 297). Frauen werden
geringfügig vergütete Berufe zugewiesen, deren Handlungsmaxime sich an
Liebe, Sorge, Pflege und moralischer Pflicht orientieren, während männliche
Tätigkeiten mit Verstand, Sachlichkeit, Technik und Muskalkraft assoziiert
werden (vgl. ebd.: 284).
2.2 De-Platzierung von Männern in der Pflege
Der rasante Ausbau von Krankenhäusern zu Beginn des 20. Jahrhunderts
führte – parallel zur Industrialisierung und Bevölkerungszunahme – vor allem
in Großstädten zur Gründung von Ausbildungseinrichtungen durch
„Schwesternschaften“ (Klindt 1998: 36). Erkennbar ist die Verdrangung
männlicher Pflegekräfte, die in der Regel Angehörige ärmerer Bevölkerungs-
gruppen waren. Darüber hinaus wurde dem männlichen Pflegepersonal mit der
abwertenden Berufsbezeichnung Warter“ die Eignung für den Pflegeberuf
abgesprochen. Männliche Pflegekräfte wehrten sich dagegen, in der sich
herausbildenden Krankenhaushierarchie weiblichen Pflegekräften unterstellt
zu werden, indem sie bspw. in Verbandszeitschriften Stellung bezogen (vgl.
Klindt 1998). Zu keinem Zeitpunkt verschwanden Männer gänzlich aus der
Pflege. Bekannt ist, dass sie in psychiatrischen Einrichtungen, im militär-
ischen Sanitätsdienst sowie vorrangig auf Stationen für Urologie sowie für
Haut- und Geschlechtskrankheiten tätig waren (vgl. Hähner-Rombach 2015:
133). In der Bundesrepublik fanden seit den 1960er Jahren junge Männer über
den Zivildienst oder ein Freiwilliges Soziale Jahr Zugang zu einem
Pflegeberuf, seit 2011 über den Bundesfreiwilligendienst.
Als Ende der 1960er Jahre die Berufsorganisationen der Krankenschwes-
tern und der Krankenpfleger im Zuge einer umfassenden Pflegereform zusam-
mengeführt wurden, zeigten sich die Folgen der geschlechtersegregierten Ent-
wicklung im Berufsfeld Pflege. Nicht nur war die „Aufhebung der Geschlech-
tertrennung“ (Schwamm 2020: 267) umstritten, sondern mannliche Pflege-
krafte verteidigten „ihre Prasenz in der Pflege mit völlig kontraren Strate-
gien“ (ebd.: 271). Um ihre Unterordnung unter die „Schwesterneliten“ (ebd.:
269) zu überwinden und den Zugang zu Weiterbildungen durchzusetzen,
wurde von männlichen Pflegekräften bspw. argumentiert, dass sie aufgrund
von „Technikkompetenzsowie „Dominanz und Entscheidungskraft“ (ebd.:
234
270) im modernen, zunehmend von Medizintechnik geprägten Krankenhaus
unverzichtbar seien. Diese Strategie „orientierte sich eindeutig an hegemonia-
ler Mannlichkeit“ (ebd.: 271). Im Gegensatz zu Pflegekräften in Krankenhäu-
sern in öffentlicher Trägerschaft vertraten Männer aus christlich geprägten Or-
ganisationen die Auffassung, dass empathische Fürsorge durchaus männlich
und Technikkompetenz weiblich sei. Mit diesen „Entwürfe[n], die den idealen
Krankenpfleger lieber in Abstand zur sozial erwünschten Männlichkeit sa-
hen“ (Schwamm 2020: 273), war eine Kritik an den herrschenden Geschlech-
ternormen verbunden. Langfristig ermöglichten beide Strategien, hegemoniale
wie nichthegemoniale, den Aufstieg von männlichen Pflegefachkräften in lei-
tende Positionen, die vormals den Krankenschwestern vorbehalten waren.
Letztlich wurde dadurch „mittelbar auch der Weg zur heutigen ungleichen
Verteilung von Sorgearbeit in den Pflegeberufen“ (ebd.: 274) geöffnet: Man-
ner in der Pflege bevorzugen leitend-verwaltende sowie unterrichtende Tätig-
keiten und vermeiden den Verbleib in der direkten pflegerischen Arbeit (vgl.
ebd.: 263).
3 Männliche Fachkräfte in der Pflege
Die Herausbildung der Pflege als weiblicher Beruf hat weitreichende und bis
heute bestehende Konsequenzen. Diese zeigen sich etwa im zahlenmäßigen
Geschlechterverhältnis in der Pflege. In den zurückliegenden Jahren stieg die
Zahl der Beschäftigten im Pflegebereich um mehr als ein Drittel, wobei sich
der Männeranteil nur geringfügig von 15,4% (2009) auf 17,3% (2019) in den
Pflegeheimen und von 12,5% auf 14,0% in den ambulanten Pflegediensten er-
höhte (Statistisches Bundesamt 2020a).4 Im gleichen Zeitraum stieg der Män-
neranteil an den Ausbildungsanfänger*innen im Pflegebereich von 19 auf 25
Prozent (Statistisches Bundesamt 2020b).
Die Abbruchquote in den Pflegeausbildungen wird auf 20 bis 30 Prozent
und damit als durchschnittlich eingeschätzt (vgl. Auffenberg 2021: 147), wo-
bei keine Daten darüber vorliegen, ob sich die Abbruchquoten nach Geschlecht
unterscheiden. Als Gründe für den Ausbildungsabbruch werden vor allem phy-
sische und psychische Belastungen sowie Konflikte mit der Leitung bzw. im
Team genannt (vgl. Hasselhorn et al. 2005). Vermutlich trägt auch das geringe
Prestige der Pflege dazu bei, dass ein Berufswechsel vollzogen wird oder aus-
bildungsinteressierte Jugendliche Pflegeberufe für sich ausschließen. Insbe-
sondere die Altenpflege hat mit einem schlechten Image zu kämpfen, da sie
häufig mit Körperpflege und der Beseitigung von Körperausscheidungen as-
4 Eigene Berechnung auf Basis der Tabellen Personal in Pflegeheimen“ und „Personal in
ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten“.
235
soziiert wird. Die jüngsten Versuche, das Image der Pflege aufzubessern, um
das Interesse junger Männer zu wecken5, erscheinen jedoch insofern zweifel-
haft, als teilweise auf vermeintlich männliche Eigenschaften gesetzt und somit
das geschlechtsbezogene „Sameness Taboo (Rubin 1975) aufrechterhalten
wird: „Angesprochen werden nicht Manner, die sich ihren Beruf jenseits von
Geschlechterklischees wünschen, sondern solche, die bereit sind, Männlichkeit
im Beruf zur Ressource zu machen“ (Bohn 2020: 291).
Mit Blick auf die Berufswahlforschung zeigt sich, dass der Forschungs-
stand zur Berufsfindung von Männern insbesondere im Hinblick auf ge-
schlechtsuntypische Berufe noch dürftig ist (vgl. Makarova und Herzog
2020).6 Bei der Entscheidung für einen Pflegeberuf sind allerdings nicht nur
die Geschlechtszugehörigkeit, sondern auch andere soziale Lagerungen rele-
vant. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass ein Hauptschulabschluss sowie –
insbesondere bei männlichen Schülern – ein Migrationshintergrund die Wahr-
scheinlichkeit erhöht, dass ein Pflegeberuf in Betracht gezogen wird (vgl.
Matthes 2019: 97 f.). Heintz et al. (1997) unterscheiden beim Übergang von
Mannern in die Pflege „Direkteinsteiger“ von „Zweitberuflern“ (ebd.: 83). Bei
beiden stellen sie ein „heterogenes Spektrum an Motivationslagen“ fest. Unter
„intrinsische Orientierungen“ (Heintz et al. 1997: 82) fassen sie „starke Pra-
gung durch Elternhaus“ bzw. durch Verwandte, „existenzielle Motivierung
durch Kindheitserfahrungen mit Krankheit und Tod“ sowie „Frömmigkeit oder
humanistische Orientierung“ (ebd.). Demgegenüber ordnen sie Nennungen
wie die „Möglichkeiten zur Realisierung von Neuem/Aufstiegsorientierung“,
„Arbeit im Team“ sowie „gescheiterte berufliche Alternativen“ als „sekundare
Orientierungen“ ein (ebd.: 83). Im Einzelfall zeige sich auch eine Mischung
aus beiden Orientierungen, wobei Manner ebenso wie Frauen „sinnstiftende
Funktionen als zentrale Gratifikation des Berufs“ (ebd.: 84) anführen. Unter-
schiede zwischen Männern und Frauen stellen sie hinsichtlich der berufsbezo-
genen Selbstdarstellung fest. Männer schildern ihre Berufsbiografien eher als
„Abfolge autonomer Entscheidungen“ (ebd.: 95). Dies sei auch dort noch er-
kennbar, „wo durch situationelle Umstande (…) die Weichen schon gestellt
sind“ (ebd.: 85).
Insgesamt ist ein gestiegenes Interesse von Männern an geschlechtsuntypi-
schen Sorge-Berufen erkennbar (vgl. Cremers 2017). Vor dem Hintergrund ei-
nes gesamtgesellschaftlichen Strukturwandels gerät auch zunehmend das Ver-
hältnis von Männlichkeit und (Für-)Sorge in den Fokus (vgl. Böhnisch 2018).
5 Vgl. die von der Bundesregierung im Rahmen der Konzertierte Aktion Pflege umgesetzte
Werbekampagne: https://www.zukunftsberuf-pfleger.de/.
6 Bisherige Studien fokussieren vor allem auf Männer in pädagogischen Berufen (vgl.
Scholand und Thielen in diesem Band). Hingegen sind vor dem Hintergrund der historisch
spät eintretenden Berufstätigkeit sowie der immer noch nicht überwundenen beruflichen
Benachteiligung von Frauen zu deren Berufswahlen umfangreiche Forschungen zu
verzeichnen (vgl. Makarova und Herzog 2020).
236
Daher ist zu fragen, ob sich der gesellschaftliche Wandel auch in veränderten
Männlichkeitskonzepten jenseits von Dominanz und Hegemonie (Connell
2015) – dokumentiert, etwa indem bisher als weiblich geltende Orientierungen
integriert werden.
4 Empirische Befunde: Männliche Auszubildende in der
Pflege
Im Rahmen des Forschungsverbunds „Jungen und Bildung“ setzten sich zwei
Interviewstudien mit männlichen Auszubildenden in der Pflege auseinander.
In den empirischen Rekonstruktionen der beiden Forschungsprojekte zeigte
sich, dass starke Ähnlichkeiten zwischen den erhobenen Fällen bestehen.
In der Studie Wege männlicher Jugendlicher in Pflegeberuf (Studie A) wurde
untersucht, wie männliche Auszubildende den Übergang in einen Pflegeberuf
gestalten und ob bzw. inwiefern es zu einem Wandel geschlechtsbezogener
Orientierungen kommt. Erhoben wurden 20 biografisch-narrative Interviews
(Schütze 1983) mit Auszubildenden im Alter von 16 bis 41 Jahren, die sich in
unterschiedlichen Phasen der Ausbildung zur Alten- und Krankenpflege
befanden. Der Schwerpunkt der Studie lag auf dem Bereich Altenpflege (13
Fälle). Im Hinblick auf mögliche Kontraste wurden weitere Interviews mit
Krankenpflegern (fünf Fälle) und Studenten der Pflegewissenschaften (zwei
Fälle) durchgeführt. Von den erhobenen Fällen absolvierten sieben einen
Quereinstieg in die Pflege. Sechs Befragte hatten eine Flucht- oder
Migrationsgeschichte. Insgesamt wurden zehn Fälle mit der Dokumen-
tarischen Methode feinanalysiert (Bohnsack 2021; Nohl 2017).
Die ethnografische Studie Junge Männer in beruflicher Bildung (Studie B)
fragte nach den Motiven und Erfahrungen Auszubildender, die sich am Beginn
ihrer Ausbildung zum Altenpfleger befanden. Vor dem Hintergrund des
Vergleichs geschlechtsuntypischer Ausbildungsgänge an berufsbildenden
Schulen wurden leitfadengestützte Interviews mit acht Auszubildenden
durchgeführt.7 Die Befragten befanden sich zum Zeitpunkt des Interviews im
ersten Jahr der Ausbildung und waren zwischen 16 und über 49 Jahre alt. Für
fünf von ihnen ist es die erste Ausbildung, drei weitere sind Berufswechsler
aus nnlich konnotierten Berufen. Die Interviewten unterscheiden sich
außerdem im Hinblick auf Migrationserfahrung, Familienstand und
Bildungsabschlüsse. Neben dem Zugang zur Ausbildung und den weiteren
beruflichen Perspektiven wurden die geschlechtsbezogenen Orientierungen
7 Insgesamt wurden 24 männliche Auszubildende in den Ausbildungsgängen Altenpflege, Me-
dizinische/r Fachangestellte/r und sozialpädagogische Assistenz befragt.
237
der Auszubildenden analysiert. Die Interviewauswertung erfolgte gemäß der
Grounded Theory Methodologie (Strauss 1991; Strübing 2021).
Bei ähnlich gelagerten Fragestellungen folgten die beiden Studien unter-
schiedlichen methodologisch-methodischen Designs. Studie A zielte auf bio-
grafische Erzählungen und die Erarbeitung einer Typologie, während Studie B
den Fokus auf die Abfrage von berufs- und geschlechtsbezogenen Erfahrungen
legte. Die unterschiedlichen Herangehensweisen ergänzten sich: Während Stu-
die A von den in Studie B erarbeiteten Kategorien profitierte, gewann Studie
B durch die typologische Rekonstruktion in Studie A an Abstraktion. Die Be-
funde beider Studien werden zunächst in getrennten Kapiteln dargestellt, um
sie anschließend zusammenzuführen und im Hinblick auf die Transformation
von Männlichkeit weitergehend zu diskutieren.
4.1 Wege männlicher Jugendlicher in Pflegeberufe
In Studie A wurden anhand der analysierten Fälle drei Typen herausgearbeitet:
Das pragmatische Muster (Typus I), das altruistische Muster (Typus II) und
das generative Muster (Typus III). Diese Modi unterscheiden sich bezogen auf
den Zugang zur Ausbildung, den reflexiven Selbstbezug der Befragten sowie
die Gestaltung der Beziehung mit den zu Pflegenden.8 In der folgenden Dar-
stellung der empirischen Befunde werden die Zugänge der männlichen Auszu-
bildenden herausgearbeitet, die sich als Individuelle Statusverbesserung (Ty-
pus I), Hilfe für andere (Typus II) und familiäre Einsozialisation (Typus III)
fassen lassen.
Pragmatisches Muster – Individuelle Statusverbesserung
Bei den Fällen des pragmatischen Musters wird eine Orientierung an
Statusverbesserung deutlich. Die Entscheidung für den Pflegeberuf erfolgt
selbsttätig etwa über das aktive Beschaffen von Informationen oder das
Sammeln erster Praxiserfahrungen. Hierbei überprüfen die Befragten schritt-
weise, ob sie eine Ausbildung in der Pflege absolvieren können, was sich bei
Fall IBRAHIM dokumentiert. Der Befragte ist zum Zeitpunkt des Interviews
30 Jahre alt und befindet sich im ersten Lehrjahr einer Ausbildung zum
Altenpfleger. IBRAHIM hat in seinem Geburtsland Ägypten ein Studium im
Bereich Tourismus absolviert und auch im Tourismusbereich gearbeitet. An-
gesprochen auf seinen Werdegang bis zum Quereinstieg in eine Pflege-
ausbildung beginnt der Befragte seine Erzählung mit dem Zeitpunkt seiner
Ankunft in Deutschland. IBRAHIM erzählt davon, dass er nach der Absol-
vierung eines Integrationskurses zwei Jahre in der Gastronomie gearbeitet hat.
8 Siehe hierzu den Beitrag von Scholz und Stützel in diesem Band.
238
Obwohl diese Arbeit für ihn „kein Problem“ war, macht er deutlich, dass die
Gastronomie „keine gute Zukunft“ für ihn geboten hat. IBRAHIM sieht sich
in seiner Tätigkeit in der Gastronomie als ersetzbar, da zwar einige in diesem
Bereich über eine Ausbildung verfügen, diese aber nicht unbedingt notwendig
ist. Als positiver Horizont wird ein Beruf aufgerufen, der finanzielle Absich-
erung und eine zertifizierte Ausbildung bietet. Deutlich wird eine Orientierung
an der Verbesserung des eigenen Status.
Hab ich gefragt meine Kollegin wie viel verdient man wenn examiniert ist sie haben mir
gesagt ungefähr 2500 Brutto ich hab gesagt naja das ist ungefähr 700 Euro mehr als Gastro-
nomie so ich hab in Gastronomie gearbeitet und ich hab weniger verdient (1) das ist so ein
Teil von mir natürlich an Geld das es für mich wichtig ist das ich besser leben kann vielleicht
ist unterbezahlt für andere Leute aber für mich gerade is finde ich gut wenn ich 2500 Euro
Brutto monatlich habe (2) und eine andere Seite das find ich ok dass ich mehr lernen kann
das über Sachen die hab ich noch nie in mein Leben gelernt so wie die Krankheiten die
Menschen die Psyche und das für mich war sehr interessant jede Mal wenn ich die Unterricht
meinen Stundenplan sehe oh wir lernen über Krankheit wir lernen über Lagerung oder De-
pression oder der Gesprächsführung das für mich eine sehr interessant Sache und seit dem
ich hab gesagt ok das mach ich das- mach ich gerne jetzt und ich will gerne weitermachen
bis zu die drei Jahre fertig ist (1) (Fall IBRAHIM, 08:45-10:12)
In der Beispielsequenz zeigt sich ein pragmatischer Abwägungsprozess
bezogen auf den Zugang zur Ausbildung. Ausgehend von der Befragung einer
Kollegin vergleicht IBRAHIM das Gehalt einer examinierten Pflegefachkraft
mit seinem früheren Einkommen in der Gastronomie. Hierbei zeigt sich, dass
die angestrebte Statusverbesserung von IBRAHIM am Status seiner vor-
herigen Tätigkeit und nicht an Verdienstmöglichkeiten generell gemessen
wird. Die mögliche Fremdbeurteilung anderer Menschen („vielleicht ist
unterbezahlt für andere“) wird von ihm antizipiert. IBRAHIM wagt ab und
entscheidet, dass es für ihn persönlich erstrebenswert ist, das Gehalt einer
Pflegekraft zu bekommen, um besser leben zu nnen. Im Modus einer
Theorie über das eigene Selbst stellt IBRAHIM allerdings auch heraus, dass
der zukünftige Verdienst ein Faktor neben anderen ist („dass ich mehr lernen
kann“). Die Ausbildung im Bereich Altenpflege bietet ihm auch die Möglich-
keit neuer Lernerfahrungen („Krankheit“, „Lagerung“, „Depression“,
„Gesprachsführung“). In diesem Zusammenhang macht IBRAHIM im
Interview auch deutlich, dass er seine bisherigen Kenntnisse für die Pflege
anderer als nicht ausreichend erachtet. Hieraus folgt für IBRAHIM, dass er
angesichts von herausfordernden Situationen eine andere Bezugnahme, auf die
zu Pflegenden entwickeln muss.
Seitdem ich hab gesagt ok wenn du diese Ausbildung machen möchtest du musst mehr Ge-
duld lernen (1) mehr als ich habe das muss weil normale Geduld geht nich muss man eine
spezielle Geduld haben mit so richtig mit alte Menschen und mit alte kranke Menschen aber
soll ich ehrlich sagen das am Anfang hat mich richtig geärgert ich weil ich andere Arbeit
machen möchte weil ich hab nich jeden Tag nur eine Person wenn ich jeden Tag nur eine
Person vor achtundhalbe Stunde is ok is nur eine Person aber ich habe mehrere Personen
239
mehrere Bewohner ich muss diese Zimmer fertig und dann zum andern und zum andern und
zum andern und zwischendurch gibt=s auch Klingel zwischendurch gibt Situationen die
du=du nich gerechnet hast muss sofort den machen (1) und seitdem das hat mich auch hat
mich selbst so gelernt dass ich mehr strukturiert und mehr Geduld auch mit den Menschen
ja (Fall IBRAHIM, 33:21-34:33)
IBRAHIM berichtet in einer Hintergrundkonstruktion im Modus einer
Beschreibung von seiner Einsicht, nicht geduldig genug für seine Arbeit zu
sein. Deutlich wird ein reflexiver Selbstbezug („wenn du diese Ausbildung
machen möchte“), der mit einer hohen Erwartungshaltung an sich selbst
einhergeht („mehr Geduld lernen“). Dieser Prozess des Umlernens bisheriger
Orientierungen wird von IBRAHIM mit den körperlichen und kognitiven
Einschränkungen der Bewohner*innen begründet („alte kranke Menschen“).
Mit der argumentativen Unterscheidung zwischen „normaler“ und „spezieller
Geduld“ wird eine Theorie über die Erfordernisse des Feldes aufgeworfen.
Geduld als traditionell weibliche Fähigkeit wird von IBRAHIM in Anerken-
nung der beruflichen Anforderungen positiv angeeignet und nicht in einen
Zusammenhang mit Geschlecht gebracht. Seine ursprüngliche Fähigkeit zur
Geduld ist dabei das „normale“ Maß an Geduld. Für die Anforderungen, die
ihm in seiner Ausbildung begegnen, braucht er hingegen eine „speziel-
le“ Geduld, die darüber hinausgeht. Angedeutet werden Situationen, in denen
Bewohner*innen die Aufmerksamkeit von IBRAHIM übermäßig
beanspruchen („ich hab nich jeden Tag nur eine Person“). Hierbei zeigt sich,
dass IBRAHIM den Umgang mit der hohen Arbeitsbelastung in der Pflege als
individuelle Aufgabe begreift, die er durch eine Optimierung seiner Haltung
zu bewaltigen versucht („mehr Geduld auch mit den Menschen“). Aufge-
worfen wird, dass die herausfordernde Arbeitssituationen ein hohes Maß an
Strukturierung erfordert, die von ihm eigenverantwortlich geleistet werden
muss. Im Interview mit IBRAHIM finden sich hierbei keine Bezugnahmen
oder Begründungen, die explizit mit Geschlecht in Verbindung gebracht
werden.
Altruistisches Muster – Hilfe für andere als Hilfe für sich selbst
Die männlichen Auszubildenden des altruistischen Musters entscheiden sich
vor dem Hintergrund von biografischen Krisensituationen für eine Ausbildung
im Pflegebereich. Dies wird etwa bei Fall PADDY deutlich. Der Befragte ist
zum Zeitpunkt des Interviews 34 Jahre alt und befindet sich im dritten Lehrjahr
einer Ausbildung zur Altenpflege. PADDY absolviert einen Quereinstieg in
den Pflegebereich, nachdem er seinen vorherigen Beruf nicht mehr ausüben
konnte.
Nach der Schule hab ick erstma ne Ausbildung angefangen als Schlosser nach der Ausbil-
dung bin ick halt auf Montage gefahrn dann jabs nach nen paar Jahren nach sechs Jahren
genau gesehn (2) hab ick ne große Knie OP jehabt weil man da ja auf Stahlträgern Gitterros-
240
ten auf Knien und dann stand ick halt da (1) wat mach ick jetzt weil den Beruf durft ick nich
mehr weiter machen vom Arbeitsamt dann auch MDK und allet und die wollten mich ei-
gentlich in EU Rente schicken wat ick persönlich nich wollte weil in dem Alter von wie alt
war ick da 27 wollt ick jetzt nich Rentner sein oder sowat weil ick halt gerne arbeiten geh
und dann stand ick halt wieder da dann hab ick ne Freundin kennengelernt die Schwieger-
mutter hatte en @Pizzaunternehmen@ dann bin ick Pizzafahrer geworden hab ick später die
Firma übernommen wat heißt übernommen geleitet wie es halt is im Familienunternehmen
gab nen großen Knall nach der Trennung dann stand ick halt wieder da dann musste die
Platte ausm Knie rausgenommen werden dann hieß es wieder (1) weil ick mich ja dann auf-
grund meiner Krankheit wieder beim Amt melden musste hieß es wieder EU Rente (1) hab
ick wieder nein gesacht und hab gefragt wat für Alternativen ick habe (Fall PADDY, 00:52-
02:08)
PADDY erzählt in der Eingangspassage des Interviews, dass er nach seinem
Schulbesuch eine geschlechtstypische Berufsausbildung („Schlosser“) absol-
viert hat. Eine berufsbedingte Erkrankung („Knie OP“) führt zum Bruch der
bisherigen Berufsbiografie („dann stand ick halt da“). Mit diesem Bruch geht
eine persönliche Krise einher, da der Medizinische Dienst der Krankenkassen
(„MDK“) eine Erwerbsunfahigkeitsrente („EU-Rente“) empfiehlt, die er je-
doch ausschlagt („wollt ick jetzt nich Rentner sein oder sowat“). Im Rahmen
einer neuen Beziehung erfolgt eine berufliche Umorientierung („Pizzafahrer“),
die mit einer erneuten biografischen Krisensituation endet („en großen Knall“).
Hierbei dokumentiert sich, dass der Befragte, die Situation selbstständig und
ohne externe Unterstützung bewaltigen möchte („hab ick wieder nein gesa-
cht“).
Im Interview dokumentiert sich eine Hilfe für andere als Hilfe für sich
selbst. Der Zugang zur Ausbildung wird als „Helfersyndrom“ gerahmt.
PADDY kommt im weiteren Verlauf des Interviews etwa darauf zu sprechen,
dass er seinen Onkel, der nach einem Arbeitsunfall querschnittsgelähmt ist,
unterstützt und spricht davon, dass er Spaß daran habe, anderen Menschen zu
helfen. In diesem Zusammenhang macht er deutlich, dass er sich besser um
andere Menschen kümmern könne als um sich selbst. PADDY erhält Anerken-
nung für seine Hilfe für andere, was ihm auch in Bezug auf seine eigene Kri-
sensituation weiterhilft.
Dann aber irgendwann wieder im Krankenhaus hochgekomm; also war dann och kurz in
Therapie weil (1) war ne Akutsituation da hat=s mir halt och schon Spaß gemacht da hab ick
och nich um mich gekümmert sondern um die Patienten die da warn hab dann die Ärzte
angemeckert wenn die da nich reagiert ham oder sowat also überhaupt nie um mich selber
gekümmert so wirklich (1) ja das is och so=n (1) wahrscheinlich mach ick deswegen den
Beruf so gerne weil es einfach halt toll is anderen Menschen zu helfen (2) das et jetzt älteren
Menschen (3) kann ick jetzt nich sagen ick muss sagen in meiner Einrichtung sind etwas
jüngere da sieht man halt och so Fälle auch in mein Alter mit 30 die dann beatmet sind
nach=m schweren Unfall die dann och im Wachkoma liegen (1) is auf eene Art abschreckend
(3) wo man weeß so will man nich enden das war auch der erste Grund warum ick gesagt
habe Patientenverfügung in=ner Schule ja so willste nich werden und da gewaschen werden
oder sowat aber du weeßt halt dass du den Menschen noch wat Jutes tust (Fall PADDY,
15:48-16:41)
241
PADDY schildert in der Beispielsequenz, wie sich seine Situation im Kran-
kenhaus verbessert hat, wobei die Bedeutung fremder Hilfe von ihm einge-
grenzt wird („Akutsituation“). Der Befragte wechselt von der Rolle des Pati-
enten in die Rolle eines Anwalts anderer Patient*innen („hab dann die Ärzte
angemeckert“). Im Modus einer Theorie über das eigene Selbst stellt PADDY
die Freude heraus, die er über die Hilfe für andere erfahrt („einfach halt toll is
anderen Menschen zu helfen“). Hierbei hat es für PADDY eine hohe Bedeu-
tung anderen Hilfe anbieten zu können und selbst nicht auf Hilfe angewiesen
zu sein. Dies macht er am Beispiel von Wachkomapatienten deutlich, die er in
seiner Praxiseinrichtung betreut („auf eene Art abschreckend“). PADDY deu-
tet über den Verweis auf die Patientenverfügung an, auf lebensverlängernde
Maßnahmen verzichten zu wollen („so will man nicht enden“), wobei er her-
ausgestellt, wie wichtig es ist diesen Menschen zu helfen („dass du den Men-
schen noch wat Jutes tust“).
Helfen als weiblich konnotierte Tätigkeit stellt für PADDY den positiven
Horizont seiner Tätigkeit in der Pflege dar. Demgegenüber scheint es ihm
schwer zu fallen, Hilfe durch andere in biografischen Krisensituationen anzu-
nehmen. Bezogen auf seine Arbeit in der Pflege stellt PADDY auch heraus,
dass es einer Gewöhnung an pflegerische Tätigkeiten bedarf. So gibt er an, auf-
grund seiner vorherigen Tätigkeit im Stahlbau seine Körperkraft in der Pflege
nicht richtig einschatzen zu können („schmeißt man den Menschen jetzte zu
doll auf die Seite“). Körperkraft, die männlich konnotiert ist, wird von PADDY
aber auch nicht zur Ressource für seine Arbeit gemacht. Vielmehr führt er im
Interview aus, dass es wichtig für ihn war, seine Kraft besser einschätzen zu
können („en Gefühl halt kriegen“).
Generatives Muster – Familiäre Einsozialisation in die Pflege
Bei den männlichen Auszubildenden des generativen Musters dokumentiert
sich eine frühe Ausübung pflegender Tätigkeiten und ein gezielter Zugang in
den Pflegebereich. Der eigene Werdegang wird als bruchlos geschildert und es
wird kein Zweifel an einer Tätigkeit in der Pflege deutlich. Aufgeworfen wird
eine schicksalhafte Bestimmung, die sich etwa beim Fall JULIAN dokumen-
tiert. Der Befragte ist zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt und befindet
sich im zweiten Ausbildungsjahr zum Altenpfleger. JULIAN schildert in der
Eingangspassage des Interviews, dass die Unterstützung seiner Großmutter
zentral für seine spätere Altenpflegeausbildung war.
Ich war damals nich im Kindergarten (1) weils gar keine Plätze dafür gab somit war ich
eigentlich Tag und Nacht immer mit meiner Oma zusammen gewesen (3) irgendwann hab
ich dann gemerkt das sie nicht mehr viel alleine machen konnte das sie zum Beispiel Prob-
leme hatte beim Laufen deswegen hat sie auch nen Rollator bekommen das sie beim Essen-
machen nicht mehr so wirklich wie soll ich erklären konnte sie alles selbst nicht mehr aus-
führen somit hab ich sie unterstützt ich war da glaub ich (1) fünf sechs weiß ich aber dann
hab probiert zu unterstützen beim zum Beispiel (1) Zwiebel schneiden oder Ähnliches und
242
da hatte ich dann auch schon den ersten Kontakt gehabt so dieses Pflegerische da so also
quasi das mir das liegt hab ich damals dann irgendwie schon bemerkt (2) u:nd (1) naja ich
hab sie wirklich viel unterstützt und deswegen wurde mir halt auch immer gesagt ich hab
irgendwie so ne Pflegader also das mir das in die Wiege gelegt wurde jemanden zu pflegen
(Fall JULIAN, 02:15-03:14)
JULIAN macht deutlich, dass er als Kind sehr viel Zeit mit seiner Großmutter
verbracht hat („Tag und Nacht“). In der Erzahlung dokumentiert sich, dass sich
die Betreuungsverhältnisse hierbei umkehren. Nachdem zunächst die Groß-
mutter für JULIAN sorgt, weil dieser keinen Platz im Kindergarten hat
(„immer mit meiner Oma zusammen gewesen“), erkennt der Befragte, dass
seine Großmutter zunehmend auf Hilfe angewiesen ist („gemerkt dass sie nicht
mehr viel alleine machen konnte“). Vor dem Hintergrund der Pflegebedürf-
tigkeit der Großmutter schildert JULIAN, dass er sie zunehmend in Alltags-
tatigkeiten unterstützt hat („Zwiebel schneiden“). Seine Unterstützung wird
von ihm als eine natürliche Disposition andere zu pflegen gerahmt: Die
„Pflegeader“ wird von JULIAN als etwas beschrieben, dass bereits im frühen
Kindesalter („fünf sechs“) bei ihm zu beobachten gewesen sei („in die Wiege
gelegt“). Deutlich wird eine familiäre Einsozialisation als Zugang zur Aus-
bildung, die auf die Familie bzw. Sorgeverhältnisse innerhalb der Familie
zurückgeht. Dies zeigt sich auch im weiteren Verlauf des Interviews, in dem
JULIAN bezogen auf seine Mutter und seinen Bruder ein gemeinsames, fami-
liares „Pflegeding“ herausstellt. Deutlich wird eine starke Orientierung an der
eigenen Familie und eine Einordnung der eigenen Interessen und Fähigkeiten
in den familiären Horizont. Demgegenüber grenzt sich JULIAN von Pflege-
kräften ab, die missmutig ihre Arbeit erledigen.
Ich hab da im ersten Ausbildungsjahr einen andern Azubi zum Beispiel gehabt und einen
Ausgelernten mit dem hatte ich mich immer sehr gut verstanden (1) und wir ham auch immer
zusammen Patienten und alles gepflegt und die Damen hatten halt immer angefangen irgend-
wie zu lästern und gesagt ja der eine der hat irgendwie zugenommen und wenn er weiter so
macht dann sieht er irgendwann so und so aus oder ja die drei die arbeiten immer zusammen
und die machen ihre Arbeit nich richtig und wir ham nie ein böses Wort denen gegenüber
verloren also wir ham immer gesagt ja die machen ihre Arbeit gut also nie jemanden kriti-
siert; heute is es denk ich normal dass man Leute kritisiert weil (1) ja die wolln wirklich ne
Menge an den Azubis halt auch abwälzen und deswegen (1) bin ich der Meinung dass ein
Pfleger der bessere Pfleger is (Fall JULIAN, 26:34-27:35)
Anhand eines Beispiels aus seinem ersten Ausbildungsjahr geht JULIAN auf
eine gute Zusammenarbeit mit zwei anderen männlichen Pflegekräften ein
(„wir ham auch immer zusammen Patienten und alles gepflegt“). Demgegen-
über wird das Verhalten der weiblichen Pflegekräfte als negativer Vergleichs-
horizont geschildert. JULIAN geht auf Distanz zu seinen Kolleginnen („die
Damen“). Er stellt heraus, dass die weiblichen Pflegekrafte die männlichen
Kollegen diskreditieren („lastern“) und ihnen misstrauen („die machen ihre
Arbeit nich richtig“). Im Gegenzug hebt er hervor, dass die mannlichen Pfle-
gekrafte ihren weiblichen Kolleginnen ein positives Zeugnis ausstellen („die
243
machen ihre Arbeit gut“). Aus seiner heutigen Perspektive fügt er hinzu, dass
die damalige Kritik weiblicher Pflegekräfte für ihn heute Alltag geworden ist
(„heute is es denk ich normal“). Dies begründet JULIAN damit, dass es darum
gehe Arbeit abzuwälzen. Als positiver Horizont werden – an anderer Stelle im
Interview – Pflegekrafte geschildert „die wirklich mit Herz dabei sind“. Dies
bringt JULIAN mit männlichen Pflegekräften in Verbindung. Mit der Formu-
lierung „ein Pfleger ist der bessere Pfleger“ stellt JULIAN dezidiert einen Zu-
sammenhang zwischen guter Pflege und Männlichkeit her und konstruiert eine
fachliche Überlegenheit männlicher Pfleger gegenüber weiblichen Pflegekräf-
ten.
4.2 Junge Männer in beruflicher Bildung
In Studie B wurde die Altenpflegeausbildung bei fünf Befragten als Wunsch-
beruf bzw. bedingter Wunschberuf eingeordnet, bei zwei Interviewten als erste
Karrierestufe im Berufsfeld Pflege, bei einem weiteren Auszubildenden als
Zwischenstation auf dem Weg in das männliche konnotierte Berufsfeld Poli-
zei/Zoll (vgl. Scholand und Thielen 2021: 36 f.). In einigen Fällen lassen sich
Parallelen zu den in Studie A rekonstruierten Fällen erkennen, in einem Fall
zeigt sich ein deutlicher Kontrast. Nachfolgend wird in der Präsentation der
Befunde zugunsten einer Überblicksdarstellung zum jeweiligen Fall auf die
Analyse längerer Interviewausschnitte überwiegend verzichtet.
Orientierung an familiärer Tradition
Im Fall des 20 Jahre alten Interviewten GERO, bei dem sich die Ausbildung
als Wunschberuf bezeichnen lässt, zeigt sich, dass sein Zugang zur Ausbildung
in eine familiäre Tradition eingebunden ist. GERO orientiert sich nach dem
Erwerb des mittleren Schulabschlusses zunächst geschlechtstypisch und be-
ginnt eine Ausbildung als Elektroniker. Diese bricht er ab, da ihm die langen
und anstrengenden Arbeitstage auf Baustellen nicht zusagen. Er gibt an, dass
seine Mutter wie auch seine Großmutter in der Pflege arbeiten. Diese Tätigkeit
hatte er zunächst als für sich nicht passend abgelehnt:
„Anfangs dachte ich mir so: Nee, ist nichts für mich, weil [ich wollte] so handwerklich, ein
bisschen männlicher und sowas, aber danach habe ich mich doch anders entschie-
den.“ (GERO, Z. 23-25).
GERO thematisiert einen Prozess der Umorientierung, in dessen Verlauf er
nach negativ bewerteten Erfahrungen in der Elektroniker-Ausbildung – die an-
fängliche Relevanz der Geschlechtstypik hinsichtlich seiner Berufswahl zu-
rückstellt und eine biografische Wende einleitet. Als wichtigsten Kontakt in
der Schule führt er seinen männlichen Sitznachbarn an. Im Betrieb hat er über-
wiegend mit Kolleginnen zu tun. Auf Nachfrage äußert er, dass dies keinen
244
Unterschied für ihn mache, denn er verstehe sich gut „mit den ganzen Leuten,
mit den ganzen Frauen, können auch gut lachen“ (GERO. Z. 271 f.).
Als ausschlaggebend für seine Entscheidung bezüglich der Altenpflegeaus-
bildung benennt er seine Erfahrungen während eines einwöchigen Praktikums.
Dort erhält er positive Resonanz von den zu Pflegenden. Für seine Arbeit er-
fährt GERO Dankbarkeit und Respekt in Form von „Lacheln“. Entscheidend
sind für ihn die persönlichen Beziehungen zu den alten Menschen und als be-
deutsam erscheinen die freundschaftlichen Interaktionen mit ihnen („unterhal-
ten“, „quatschen“). Dieser Austausch ist für GERO der entscheidende Antrieb,
der ihn gerne zur Arbeit gehen lasst. Der Befragte führt „gute Laune“ und „Fit-
ness“ als wichtige Eigenschaften für den Beruf an. Die im Beruf geforderte
und tendenziell weiblich konnotierte – Fähigkeit zur Empathie ist bei ihm we-
nig ausgeprägt: Dass die Patient*innen die Pflegehandlungen mitunter als
schmerzhaft erleben, relativiert er („das tut denen jetzt nicht so super weh“).
GERO berichtet im weiteren Verlauf des Interviews von fehlgeschlagenen
Bewerbungen bei Firmen des handwerklich-technischen Bereichs. Das Prakti-
kum in der Altenpflege absolviert er schließlich auf Drängen seiner Mutter und
Anraten eines Freundes, der sich in der Ausbildung zum Altenpfleger befindet.
GERO zitiert den Leiter der Altenpflegeeinrichtung, der mit ihm am Ende des
Praktikums ein Gesprach führt: „Hey, du bist noch jung, ich gebe dir eine
Chance.“ (Z. 154 f.). GERO ergreift diese Chance und bezeichnet das Ausbil-
dungsangebot als „Glück“: „Ja, ich hab noch mal schnell Glück gehabt, dass
ich jetzt nicht großartig noch eine Bewerbung machen muss.“ (Z. 162 f.). Im
Licht dieser Äußerungen erscheint der Übergang in die Altenpflege-Ausbil-
dung als schicksalhafte Wende, welche durch sein soziales Umfeld befördert
wird. Insofern ist bei GERO eine starke Homologie zum generativen Muster
erkennbar.
Divergierende Sorge-Orientierungen
Der Zugang zur Ausbildung der Interviewten JOHANN, über 50 Jahre alt, und
JOSÉ, 27 Jahre, wurde in der Untersuchung als bedingter Wunschberuf ge-
fasst, weil beide Interviewte Umschüler und in ihren Wahlmöglichkeiten durch
Vorgaben der Arbeitsagentur eingeschränkt sind. Angesprochen auf die zah-
lenmäßige Dominanz weiblicher Kolleginnen im Pflegeberuf zeigt sich bei JO-
HANN eine De-Thematisierung von Geschlecht. Der Befragte berichtet, dass
er diese Konstellation bereits aus seinen bisherigen beruflichen Tätigkeiten
kenne („ist mir nicht fremd“, „das merke ich gar nicht“). JOSÉ hingegen
nimmt, nach einer anfänglichen De-Thematisierung von Geschlecht („eigent-
lich egal“), eine die weiblichen Pflegekrafte kritisierende Differenzsetzung vor
(„Frauen sind zickiger“), welche er darauf bezieht, dass Kolleginnen auf
„kleine“ Fehler „dramatisch“ reagieren, wahrend mannliche Kollegen diese
hingegen nur andeuten würden.
245
JOHANN hat aufgrund der Digitalisierung in seinem bisherigen Tätigkeits-
feld keine Anstellung mehr in seinem erlernten, männlich konnotierten künst-
lerischen Medienberuf gefunden. Weil er seine „Familie versorgen muss“,
habe er sich „überlegt, noch einmal neu zu starten in eine zukunftssichere Aus-
bildung“, die ihm „auch Spaß macht“ und ihm „liegt“. JOHANNs Orientierung
auf die Existenzsicherung der eigenen Familie lässt Züge eines pragmatischen
Handlungsmusters erkennen. Den Ausschlag für die Altenpflege gab sein „per-
sönliches Interesse im sozialen Bereich zu arbeiten“. Er rekurriert auf seinen
weit zurückliegenden Zivildienst, den er in der Altenpflege abgeleistet hat, und
konstatiert eine Neigung zu helfenden Tatigkeiten, welche er als „sinnvoll“ er-
achtet. Die Tätigkeit in der Pflege entwirft JOHANN mit der Aussage „jetzt
steht der Mensch im Vordergrund“ als positives Gegenbild zu seinem bisheri-
gen Berufsleben, in dem „immer nur Zahlen herrschten“. Es zeigt sich eine
intensive Reflexion der „Beweggründe“ für den Altenpflegeberuf sowie eine
Orientierung auf konkrete Pflegetatigkeiten („praktische Sachen“), die JO-
HANN „unter Anleitung“ und „durchs Zuschauen“ lernt.
Auch der als Teenager von den Philippinen eingewanderte JOSÉ hat Fami-
lie und ist gerade Vater geworden. Die Möglichkeit, in dieser ihn sehr erschöp-
fenden Situation Hilfe in Anspruch zu nehmen, thematisiert er nicht. Nach der
Erstausbildung zum Fachlageristen einem geschlechtstypisch männlichen
Beruf – und einer längeren gesundheitlichen Krise absolviert er auf Drängen
seiner Eltern zunächst eine Qualifizierungsmaßnahme zum Altenbetreuer, bei
der er sein Interesse an der Arbeit mit Menschen und am Pflegeberuf „ent-
deckt“. Als Motivation führt er an, spater seine Eltern pflegerisch versorgen zu
wollen, worin sich ein enger Bezug zur Herkunftsfamilie dokumentiert. In ei-
nem einwöchigen Praktikum stellt er fest, dass er gut mit Ekel umgehen
kann“ und er die pflegerische Behandlung alter Menschen und deren Beglei-
tung im Sterbeprozess erlernen möchte, um für ihr Wohlergehen sorgen zu
können („dass sie lacheln beim Sterben“). Dieser Zugang zur Ausbildung lasst
eine altruistische Haltung gegenüber der älteren Generation erkennen. Seinen
Entwurf für die Zeit nach der Ausbildung umreißt JOSÉ mit „arbeiten“, „Geld
haben“ und „sich etwas gönnen“, was den Pflegeberuf als Mittel zum Gelder-
werb erscheinen lasst. Spater möchte JOSÉ, sofern er „das Geld hat“, in sein
Herkunftsland zurückkehren, denn „dort kann man wie ein König leben“.
Diese Aussagen lassen eine Orientierung auf Ungebundenheit und Souveräni-
tät („König“) und damit eine Ausrichtung an tradierten Mannlichkeitsmustern
erkennen.
Orientierung auf Karriere im Pflegeberuf
Anders als bei den bisher vorgestellten Fällen werden vom Interviewten HEN-
RIK, 17 Jahre, weitergehende Bildungs- und Karriereziele thematisiert, so dass
sich die Altenpflege-Ausbildung als erste Karrierestufe darstellt. Sein Zugang
246
zur Altenpflege ist unspezifisch: Der Interviewte gibt an, dass er keine Lust
mehr auf Schule gehabt habe und er dann darauf gestoßen sei, dass er sein
Fachabitur im Rahmen einer Ausbildung erwerben kann. In der Ausbildungs-
vorbereitung entscheidet er sich auf Empfehlung einer Lehrkraft für ein Alten-
pflege-Praktikum. Auf die Frage danach, was ausschlaggebend für die Alten-
pflegeausbildung gewesen sei, gibt er an, dass Zeitdruck bestanden und er
„keine große Wahl mehr“ gehabt habe. Den gleichzeitig angebotenen Ausbil-
dungsplatz zum Rechtsanwaltsfachangestellten schlägt er aus, weil er dort, an-
ders als in der Altenpflege, „nicht herzlich empfangen“ worden sei und keine
Wertschätzung erfahren habe. Seine Eltern unterstützen seine Entscheidung, in
seinem Umfeld ist er jedoch der Einzige, der im Pflegebereich arbeitet.
HENRIK macht im Interview deutlich, dass sein Betrieb viel von ihm
erwartet und ihm ein hohes Maß an Unterstützung im Kontext einer Zehn-
Jahres-Perspektive zukommen lässt, welche nach Ausbildung, Weiter-
bildung und Studium – in die Übernahme der Einrichtungsleitung münden soll.
HENRIK fühlt sich davon sehr angesprochen und ist zuversichtlich, die
Belastungen des zusätzlichen Fachabiturs bewältigen zu können. Er rekurriert
in diesem Zusammenhang auf ein Sprichwort: „Wo ein Wille ist, ist auch ein
Weg.“ HENRIK beschreibt sich als willensstark und mit einer schnellen
Auffassungsgabe ausgestattet. Zudem gibt er an, über gute soziale und
kommunikative Kompetenzen sowie Einfühlungsvermögen zu verfügen.
HENRIKs selbstbewusste Erzählung verbindet sich mit einer geschlechter-
egalisierenden und Vielfalt akzeptierenden Haltung. Es stellt für ihn kein
Problem dar, überwiegend mit Kolleginnen zu tun zu haben, für ihn ist die
Qualitat des Kontakts („nett“) relevant:
„Für mich ist es jetzt nicht abhangig davon, ob jemand Mann oder Frau ist. Es geht darum,
wie man mit der Person auskommt und da alle nett zu mir sind, habe ich keine Veranlassung
dagegen zu arbeiten, gegen die Person. Solange jemand nett ist zu mir, bin ich auch nett zu
dem. Da ist es egal, ob Mann oder Frau, schwul, lesbisch, schwarz, weiß ist. Ja.“ (HENRIK,
Z.326-330).
Auf die Frage nach seinen Kontakten in der Schule gibt er an, dass er am meis-
ten mit seinem etwa gleichaltrigen mannlichen Sitznachbarn und „eigentlich
nur mit Jungs“ zu tun habe: Man habe „die gleichen Interessen“, wie
„Sport“ und „schöne und teure Klamotten“.
HENRIKs Erzählungen lassen in erster Linie prestige- und statusbezogene
Motive erkennen, seine inhaltlichen Bezugnahmen auf Pflege sind diesen un-
tergeordnet: Der Befragte weist die Darstellung, dass Pflege vor allem mit „ek-
ligen Sachen“ zu tun habe, zurück und argumentiert, dass „viel mehr dahinter-
steckt“ und sich zudem „immer mehr Jungs oder auch Manner“ für den Pfle-
geberuf entscheiden würden. Diese Aussagen lassen sich als Aufwertung der
Pflege deuten, um darüber die geschlechtsuntypische Ausbildungswahl zu le-
gitimieren, wobei HENRIK seinen Aufenthalt in der Altenpflege von vorne-
herein als zeitlich begrenzt – passager – konzipiert.
247
5 Jenseits von Dominanz und Hegemonie?
Die dargestellten empirischen Befunde zeigen, dass der Übergang in eine ge-
schlechtsuntypische Pflegeausbildung mit differenten geschlechts- und berufs-
bezogenen Orientierungen einhergeht. Deutlich wird, dass männliche Auszu-
bildende in eigensinniger Weise an vergeschlechtlichte Aspekte des Berufsfel-
des anschließen oder diese zurückweisen. In der Zusammenführung der empi-
rischen Befunde zeigen sich vier fallübergreifende Muster, bei denen der Zu-
gang zum bzw. Übergang in den geschlechtsuntypischen Pflegeberuf mit einer
jeweils typischen geschlechtsbezogenen Orientierung einhergeht.
Die Befragten des pragmatischen Musters gelangen vor dem Hintergrund
einer prekären bzw. prekär gewordenen Existenz in die Pflegeausbildung. Der
Übergang in den Pflegeberuf erscheint als positiver Horizont, der eine Status-
verbesserung ermöglicht. Der Einstieg in ein gänzlich anderes berufliches Feld
ist mit einer Öffnung gegenüber den zu erlernenden beruflichen Tätigkeiten
und Haltungen verbunden. Es dokumentiert sich ein Einlassen auf die Pflege
und eine Transformation von Wertorientierungen (vgl. Heilmann und Scholz
2017: 349), die auf einen Bruch mit an Dominanz orientierten Reproduktions-
mustern von Männlichkeit hinweisen. Verknüpft wird die De-Thematisierung
von Geschlecht mit einer pflegeaffinen, fürsorglichen Männlichkeit. Diese
zeigt sich beispielsweise alslearning by doing(Gruhlich 2019: 112) in der
Einübung von Geduld. Das pragmatische Muster verspricht die weitrei-
chendste Chance auf eine nachhaltige Veränderung von Männlichkeit. Eine
öffentliche Diskursivierung könnte diesen pragmatischen Wandel von Männ-
lichkeit und Sorge vorantreiben.
Die Befragten des altruistischen Musters gelangen angesichts einer durch
Krankheiten und Krisen geprägten Biografie in den Pflegebereich. Ihre berufs-
bezogene Orientierung kann zwar als pflegenah beschrieben werden, ist jedoch
insofern ambivalent, als auf die Anforderung, weiblich konnotierte, berufsre-
levante Handlungen zu erlernen, eher widerstrebend reagiert wird. Die den Ty-
pus kennzeichnende Spannung zwischen der Zuwendung zu den zu Pflegenden
und dem Bestreben nach Souveränität verweist auf eine Männlichkeit, die
keine Ressourcen für eine Transformation von Männlichkeit aktivieren kann.
Die Befragten des generativen Musters schließen an eine familiale Pflege-
tradition an, wobei der Verbleib im Herkunftsmilieu mit der Orientierung an
hegemonialer Männlichkeit einhergeht. Zwar werden mit der Entscheidung für
den Pflegeberuf geschlechtliche Normen überschritten, es erfolgt jedoch eine
distinktive Abgrenzung gegenüber dem weiblichen Personal. Die Einnahme
einer professionell erforderlichen, empathischen Haltung wird verweigert.
Kennzeichnend für das legitimierend-passagere Muster ist eine Orientie-
rung an Prestige und Status. Das Karriereziel einer zukünftigen Leitungstätig-
keit korrespondiert mit einer pflegefernen Haltung und einer egalisierenden
248
Einstellung bezogen auf Geschlecht. Es zeigt sich eine modernisierte Form he-
gemonialer Männlichkeit, durch welche wie bereits in Untersuchungen zu
gesellschaftlich diskutierten neuen Männlichkeiten herausgestellt wurde (vgl.
Speck 2020) – eine vergeschlechtlichte Aufteilung von Sorgearbeit sowie die
vertikale Segregation nach Geschlecht in der Pflege konserviert werden.
Der Beitrag zeigt darüber hinaus die Wandlungen des Berufsfeldes der Pflege
auf: Die ehemals eingeschränkten beruflichen Möglichkeiten für Männer in
der Pflege haben sich im historischen Verlauf sukzessive erweitert. Der
steigende nneranteil in Pflegeberufen birgt die Chance auf eine
‚Neutralisierung‘ der weiblichen Kodierung des Berufs. Die empirisch
erkennbare Heterogenität von Biografien und Männlichkeitskonstruktionen
verdeutlicht, dass caring masculinities (Heilmann und Scholz 2017)
verstanden als nicht-dominanzorientierte Formen von Männlichkeit sich
nicht quasi von selbst mit der Ausübung einer Care-Tätigkeit einstellen. Daher
müsste das berufsbildende Personal dafür qualifiziert werden, in Unterricht
und Praxis eine Reflexion von Geschlechternormen anzuregen und eine
Entstereotypisierung des Berufsbildes zu fördern. Letzteres gilt auch im
Hinblick auf Werbekampagnen für den Pflegeberuf, die sich an männliche
Ausbildungsinteressierte richten: Es sollte eine Vielfalt von Männern
abgebildet und die mit dem pragmatischen Typus verbundenen Haltungen und
Handlungen in den Mittelpunkt gerückt werden.
Literaturverzeichnis
Auffenberg, Jenny (2021): Fachkräftemangel in der Pflege? In: Bericht zur Lage 2021,
Arbeitnehmerkammer Bremen, S. 145–153.
Bohn, Simon (2020): Altenpflege: Männersache?! – Die Konstruktion beruflicher Pas-
sungsverhältnisse in der Anwerbung männlicher Pfleger. In: Dinges, Martin
(Hrsg.): Männlichkeiten und Care. Selbstsorge, Familiensorge, Gesellschaftssorge.
Weinheim: Beltz Juventa, S. 279–296.
Böhnisch, Lothar (2018): Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlich-
keit. Bielefeld: transcript.
Bohnsack, Ralf (2021): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Me-
thoden. Stuttgart: UTB.
Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Connell, Raewyn (2015): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlich-
keiten. 4., durchgesehene und erweiterte Aufl. Wiesbaden. Springer.
Cremers, Michael (2017): Bundesprogramm „Lernort Praxis“. Abschlussbericht. Ber-
lin: BMFSFJ. www.bmfsfj.de/resource/blob/117924/5886996db9c4021efb6c821
fad48e3b6/lernort-praxis-abschlussbericht-data.pdf. (Zugriff: 09.02.2022).
249
Frevert, Ute (1985): „Fürsorgliche Belagerung“: Hygienebewegung und Arbeiterfrauen
im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft, 11 (4), Frau-
enleben, S. 420–446.
Gruhlich, Julia (2019): Und sie ändern sich doch!? Die Transformation von Männlich-
keit aus praxeologischer Perspektive. In: Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas
(Hrsg.): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der Transformation kapitalisti-
scher Wachstumsgesellschaften. München: oekom, S. 109–120.
Hähner-Rombach, Sylvelyn (2015): Männer in der Geschichte der Krankenpflege. Zum
Stand einer Forschungslücke. Medizinhistorisches Journal 50 (1, 2), Themenheft:
Geschlechterspezifische Gesundheitsgeschichte: Warum nicht einmal die Männer?
S. 123–148.
Hasselhorn, Hans-Martin/Müller, Bernd Hans/Tackenberg, Peter/Kümmerling,
Angelika/Simon, Michael (2005): Berufsausstieg bei Pflegepersonal. Arbeits-
bedingungen und beabsichtigter Berufsausstieg bei Pflegepersonal in Deutschland
und Europa. www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Schriften-reihe/Ueber-
setzungen/Ue15 (Zugriff: 09.02.2022).
Heilmann, Andreas/Scholz, Sylka (2017): Caring Masculinities gesellschaftliche
Transformationspotentiale fürsorglicher Männlichkeiten? In: Feministische
Studien, 2, S. 345–353.
Heintz, Bettina/Nadai, Eva/Fischer, Regula/Ummel, Hannes (1997): Ungleich unter
Gleichen. Studien zur geschlechtsspezifischen Segregation des Arbeitsmarktes.
Frankfurt a. M.: Campus.
Klindt, Kai Martin (1998): „Geschlecht“ und „soziale Schichtung“ als Kategorien der
Pflegegeschichte: Männliche Pflegekräfte in der Verberuflichung der deutschen
Krankenpflege um 1900. In: Pflege: Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflege-
berufe, 11, S. 35–42.
Klinger, Cornelia (2014): Krise war immer… Lebenssorge und geschlechtliche Arbeits-
teilungen in sozialphilosophischer und kapitalismuskritischer Perspektive. In: Ap-
pelt, Erna/Aulenbacher, Brigitte/Wetterer, Angelika (Hrsg.): Gesellschaft. Femi-
nistische Krisendiagnosen. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 82–102.
Makarova, Elena/Herzog, Walter (2020): Geschlechtersegregation bei der Berufs- und
Studienwahl von Jugendlichen. In: Brüggemann, Tim/Rahn, Sylvia (Hrsg.): Be-
rufsorientierung – Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Münster: Waxmann, S. 271–278.
Matthes, Stephanie (2019): Warum werden Berufe nicht gewählt? Die Relevanz von
Attraktions- und Aversionsfaktoren in der Berufsfindung. Bonn: BIBB.
Niemeyer-Jensen, Beatrix (2016): Die Ausbildung des Übergangs – Überlegungen zur
Institutionalisierung einer Lebenslaufphase. In: Dausien, Bettina/Rothe, Da-
niela/Schwendowius, Dorothee (Hrsg.): Bildungswege. Biographien zwischen
Teilhabe und Ausgrenzung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 287–310.
Nohl, Arnd-Michael (2017): Interview und Dokumentarische Methode. Wiesbaden:
Springer.
Rabe-Kleberg, Ursula (1996): Professionalität und Geschlechterverhältnis. Oder: Was
ist ‚semi‘ an traditionellen Frauenberufen? In: Combe, Arno/Helsper, Werner
(Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogi-
schen Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 276–302.
Rubin, Gayle (1975): The Traffic in Women: Notes on the „Political Economy” of Sex.
In: Reiter, Rayna R. (Hrsg.): Toward an anthropology of women. New York: Mon-
thly Review Press, S. 157–210.
250
Scholand, Barbara/Thielen, Marc (2021): Männer in Care-Berufen: Fürsorgliche Männ-
lichkeiten in Sicht? In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis – BWP 4/2021,
S. 35–39.
Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis,
13 (3), S. 283–293.
Schwamm, Christoph (2020): Pflegenotstand, Hegemoniale Männlichkeit und der Gen-
der Care Gap in der Wirtschaftswunderzeit. In: Dinges, Martin (Hrsg.): Männlich-
keiten und Care. Selbstsorge, Familiensorge, Gesellschaftssorge. Weinheim: Beltz
Juventa, S. 262–278.
Speck, Sarah (2020): Paradoxe Modernisierung. Warum Gleichheit zu Ungleichheit
wird. In: Forster, Edgar/Kuster, Friederike/Rendtorff, Barbara/Speck, Sarah
(Hrsg.): Geschlecht er-denken: Theoretische Erkundungen. Opladen: Barbara
Budrich, S. 54–82.
Statistisches Bundesamt (2020a): Gesundheitsberichterstattung des Bundes.
Thema/Abschnitt: Gesundheitsversorgung/Beschäftigte und Einrichtungen der
Gesundheitsversorgung/Pflege (ambulant) und Pflege (teilstationär/stationär).
https://www.gbe-bund.de (Zugriff: 09.02.2022).
Statistisches Bundesamt (2020b): Gestiegenes Interesse an Pflegeberufen: 71 300
Menschen haben 2019 eine Ausbildung begonnen. Pressemitteilung Nr. N 070
vom 28. Oktober 2020. www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/10/
PD20_N070_212.html (Zugriff: 09.02.2022).
Strauss, Anselm L. (1991). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. München: Fink.
Strübing, Jörg (2021): Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und
epistemologischen Fundierung eines pragmatistischen Forschungsstils.
Wiesbaden: Springer.
Wetterer, Angelika (2002): Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. „Gender at
work“ in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz: UVK.
Theoretische Perspektiven auf
Forschungen zu männlichen
Akteuren in Bildungs-
kontexten
Männlichkeitskonzeptionen in Kindheit und Jugend im
Kontext von Bildungs- und Erziehungsinstitutionen
Jürgen Budde
1 Einleitung1
Der vorliegende Band betont an unterschiedlichen Stellen, dass Männlichkeit
kein einheitliches oder monolithisches Konstrukt ist, sondern als soziale
Konstruktion in Relation zu den jeweiligen Kontexten und ihren Praktiken
steht. So wird etwa auf unterschiedliche institutionelle Zugehörigkeit, auf
Entwicklungen von Männlichkeitskonzeptionen im biographischen Verlauf
sowie auf die Verschränkung von Männlichkeit mit anderen sozialen
Differenzkategorien verwiesen. Weiter impliziert die Vorstellung sozialer
Konstruiertheit ebenso, dass sich kulturell geprägte Männlichkeitskonzep-
tionen transformieren können. Besondere Aufmerksamkeit in der Forschung
erhalten in den letzten zwei Jahrzehnten alternative, metrosexuelle, hybride,
inklusive, fürsorgliche sowie queere Männlichkeiten. In Politik, pädagogischer
Praxis, Zivilgesellschaft und Wissenschaft werden Fragen nach der Tradierung
oder Transformation von Geschlechterverhältnissen und Männlichkeiten
diskutiert. Besondere Bedeutung für Prozesse geschlechtsbezogener Sozialisa-
tion in Kindheit und Jugend haben dabei pädagogische Institutionen. Der
Beitrag nimmt Datenmaterial aus ethnografischen Protokollen sowie Inter-
views in den Blick, um darüber zu einer empiriegestützten, auf Männlichkeit
bezogenen Heuristik für zukünftige Forschungen beizutragen. Die Darstellung
erfolgt entlang der unterschiedlichen Bildungsinstitutionen im Lebensverlauf.
Es lassen sich in Kindertagesstätte, Schule, Berufsbildung und Jugendarbeit
sowohl durchlaufende Muster als auch institutionenspezifische Differenzen
erkennen.
1Besonderen Dank gilt Barbara Scholand sowie Thomas Viola Rieske, die durch mehrfache
Diskussionen zur Qualitätssteigerung des Textes beigetragen haben.
254
2 Männlichkeitskonzeptionen in Bildungs- und
Erziehungsinstitutionen
Wiederholt weist der vorliegende Sammelband darauf hin, dass Männlichkeit
weder ein homogenes Konzept ist, noch eine unmittelbare Gleichsetzung der
Aktivitäten von Jungen mit der Herstellung von Männlichkeit theoretisch wie
empirisch zielführend ist. Entsprechend werden Praktiken von und mit Jungen
in Bezug auf unterschiedliche biographische und pädagogische Kontexte dis-
kutiert. Rieske und Budde (in diesem Band) argumentieren, dass sich Männ-
lichkeitskonzeptionen je nach biographischer Entwicklungsphase transformie-
ren und entsprechend Unterschiede etwa zwischen früher Kindheit und Ado-
leszenz bestehen. Auch je nach sozialer Situation (etwa Peergroup, auf einer
Familienfeier, im Sportverein oder in der Schulpause) zeigen sich bei Jungen
individuell unterschiedliche Männlichkeitskonzeptionen. In der Summe ver-
weist dies darauf, dass Männlichkeit als flexibel, dynamisch und transformie-
rend angesehen werden muss.
Die Frage, inwieweit und in welcher Weise sich Transformationen bzw.
Tradierungen in Praktiken des doing masculinity zeigen, wird im Folgenden
anhand von Unterschieden und Gemeinsamkeiten in eben diesen Praktiken in
verschiedenen Bildungsinstitutionen systematisch untersucht. Da im Datenma-
terial neben geschlechtsbezogenen Unterscheidungspraktiken auch Praktiken
des doing difference auftauchen, wird außerdem der Frage nachgegangen, in-
wieweit und in welcher Weise Praktiken des doing masculinity mit anderen
Differenzierungspraktiken verschränkt sind und in welcher Relation die jewei-
ligen Kategorien sozialer Differenzierung zueinanderstehen.
Insofern die Annahme der Flexibilität und Dynamik von Praktiken des
doing masculinity plausibel ist, ist auch davon auszugehen, dass sich verschie-
dene pädagogische Bildungs- und Erziehungsinstitutionen hinsichtlich der sich
in ihnen realisierenden Männlichkeitskonzeptionen unterscheiden könnten und
Jungen entsprechend in divergierenden Möglichkeitsräumen agieren, je nach-
dem, ob es sich um Kindertagesstätte, Jugendclub, Sportverein, Gymnasium
oder Förderschule handelt. Dies läuft darauf hinaus, zu argumentieren, dass
der pädagogische Kontext in Zusammenhang mit den je feldspezifisch domi-
nanten Männlichkeitskonzeptionen steht.
2.1 Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in Kindheit und Jugend
Bildungsinstitutionen werden in diesem Artikel nicht als starre Gebilde in den
Blick genommen, sondern als Konstellationen, in denen sich bestimmte
pädagogische Praktiken routinisieren und so institutionellen und dauerhaften
Charakter annehmen. Pädagogische Institutionen lassen sich in dieser Optik
255
entsprechend als historisch gewachsene Konstellationen verstehen, in denen
Fragen der Erziehung, der Bildung, des Lernens oder etwa der Fürsorge
regelhaft organisiert und ‚auf Dauer‘ gestellt sind. Strukturfunktionalistische
Theorien betonen dabei die Funktonalität und Stabilität von Institutionen zur
Regulierung gesellschaftlich relevanter Bereiche, idealtypisch Jura die
Normen, Ökonomie den Warentausch und Bildung die gesellschaftliche
Reproduktion. Zu den klassischen Bildungsinstitutionen zählen etwa Schule,
Kindertagesstätten, Einrichtungen der Jugendhilfe oder der Erwachsenen-
bildung, denen jeweils unterschiedliche Funktionen und Aufgaben für
Erziehungs- und Bildungspraktiken in Kindheit und Jugend zugeschrieben
werden. Im Anschluss an die „Konzeptionellen Grundlagen für einen
Nationalen Bildungsbericht“ geht der Artikel davon aus, dass
„formale Bildung in den formalen Institutionen des Bildungssystems im engeren Sinne:
Schule, Ausbildung und Hochschule [stattfindet]. Der Ort informeller Bildung ist der Alltag
von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Familie, in der Nachbarschaft, in der
Arbeit und der Freizeit. Und non-formale Bildung […] ermöglicht die Kinder- und Jugend-
hilfe mit ihren auf Freiwilligkeit basierenden Angeboten und Aktivitaten“ (Rauschenbach et
al. 2004).
Im Mittelpunkt des hier diskutierten Forschungsprojektes stehen formale und
non-formale Institutionen des Bildungssystem, wobei der Begriff
Bildungssystem insofern irreführend ist, als dass damit erstens Bildung als die
zentrale Leistung aller Institutionen in Kindheit und Jugend gleichsam
vorausgesetzt wird. Zwar hat der frühkindliche Bereich seit längerem einen
Bildungsauftrag und auch Familien werden zunehmend in ihrer Bildungsver-
antwortung adressiert. Insbesondere die Indienstnahme der Familie für Bil-
dungsprozesse von Kindern und Jugendlichen während der Coronapandemie
verstärkt diese Adressierung und wirkt darüber hinaus ungleichheitsver-
schärfend. Dadurch wird jedoch gleichzeitig einer (nicht unproblematischen)
Privilegierung von Bildung als primärer Gegenstand pädagogischer Kontexte
Vorschub geleistet. Auf diese Weise werden gleichzeitig andere Aspekte wie
Erziehung, Fürsorge, Beratung etc. marginalisiert und unkenntlich gemacht,
die ja ebenfalls in pädagogischen Kontexten stattfinden (für pädagogische
Praktiken vgl. Budde und Eckermann 2021). Zweitens wird per definitionem
vorausgesetzt, dass in den genannten Institutionen auch wirklich Bildung statt-
findet. Ob und inwiefern dieses aber tatsächlich der Fall ist, wäre im Einzelfall
empirisch zu prüfen. So zeigen ethnographische Forschungsprojekte etwa für
die Schule deren Bedeutung auch als informeller Ort für Peer- und Freizeit-
aktivitäten auf (Breidenstein 2006), die sich kaum als formale Bildungs-
aktivitäten im bildungstheoretischen Sinne definieren lassen.
Daher wird hier vorgeschlagen, für die Organisation von non-formaler und
formaler Bildung zusammenfassend von pädagogischen Institutionen zu
sprechen; pädagogisch insofern, als dass all diese Institutionen auf der Idee der
geplanten und professionellen Bearbeitung von spezifischen Heraus-
256
forderungen in Kindheit und Jugend basieren. Mit pädagogisch ist weiter
gemeint, dass diese Institutionen über spezifische Ziele, Aufgaben, Didaktiken
und Methoden verfügen und auf dieser Basis intentional pädagogisch gerahmte
Angebote und Maßnahmen für Zielgruppen realisieren, um Bildung und
Erziehung zu realisieren.2 Pädagogische Institutionen haben damit wie jede
Institution ihre je spezifische eigene Ordnung, Ziele und Normen, die sich
insbesondere entlang von der Praxis von Erziehung und Bildung der nach-
wachsenden Generation organisiert und die pädagogische Praktiken (vgl.
Budde und Eckermann 2021) ausbilden.
Kinder und Jugendliche verbringen große Teile ihres Alltags in Bildungs-
und Erziehungskontexten und die Entstehung einer eigenständigen Lebens-
phase „Kindheit“ lasst sich historisch mit der Institutionalisierung von Bildung
in Verbindung bringen (Aries 2007). Durch die Etablierung von Schule und
Schulpflicht wird Kindheit von unmittelbarer Verantwortung für die (Mit-
)Erbringung des Lebensunterhaltes tendenziell entpflichtet zum Bildungs-
moratorium; durch die Etablierung von Jugendwohlfahrt wird Jugend erziehe-
risch institutionell konturiert. Gesteigert wird dies etwa durch den sich auswei-
tenden Anspruch auf Ganztagsbildung, sodass auch von einer zunehmenden
„Institutionalisierung von Kindheit(Zeiher 2009; Kelle 2013; Honig 2010)
gesprochen wird, in der Kinder und Jugendliche mit zunehmender Häufigkeit
und Dauer an unterschiedlichen Institutionen partizipieren. Entwicklungen wie
ein früherer und täglich längerer Besuch elementarpädagogischer Einrichtun-
gen oder der gesetzliche Anspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule
deuten darauf hin, dass Kinder immer größere Anteile ihrer Biografie in päda-
gogischen Institutionen verbringen.3
Häufig wird die generelle Institutionalisierung von Kindheit zusätzlich mit
einem Verschwimmen institutioneller Grenzen in Zusammenhang gebracht
(Bittner und Budde 2018; Fölling-Albers 2000). So besteht einerseits die
Annahme einer ‚Scolarisierung außerschulischer Lebenswelten‘, die sich in
der Etablierung institutioneller Regelungen sowie schulunterrichtsähnlicher
Erziehungs- und Bildungspraktiken in Familie und Freizeit (und damit als eine
generelle Ausweitung des Schulischen) zeigt und die für den Elementarbereich
bereits ansatzweise in den Blick genommen wird (Mierendorff 2016). Ander-
erseits deutet die Rede von einer ‚Familialisierung von Schule‘ etwa im Zuge
von Individualisierung und Inklusion darauf hin, dass Schule Elemente non-
und informeller Institutionen integriert, sodass das Verhältnis pädagogischer
2 Inwieweit diese Intentionen erreicht werden, ob dies praktisch als Bildung, Erziehung oder
etwas anders zu verstehen ist, ist damit noch nicht vorausgesetzt, sondern muss sich in der
Praxis erweisen und hängt nicht unwesentlich damit zusammen, was in der Praxis als eben-
dieses verstanden wird.
3 So ist beispielweise der Anteil an 0- bis 3-Jährigen in Tageseinrichtungen von ca. 250.000
im Jahr 2006 auf fast 700.000 im Jahr 2020 gestiegen (destatis 2021). Gleichzeitig weitet
sich die Dauer des täglichen Besuches aus.
257
Institutionen in Kindheit und Jugend sich generell in Transformation befindet,
Schnittmengen ausbildet und Grenzziehungen zwischen formalen und non-
formalen Bildungsinstitutionen zunehmend schwieriger werden (Budde 2020).
Mit neoinstitutionalistischen Theorien (Meyer und Rowan 1977; Schaefers
2009) sowie aus Perspektive der „institutional ethnography“ (Smith 2006)
lassen sich diese Abgrenzungsproblematiken theoretisch fassen. Neoinstitu-
tionalistische Theorien verstehen pädagogische Institutionen nicht – wie etwa
im Strukturfunktionalismus entlang ihrer Funktion, sondern anhand ihrer
Praktiken, sodass Institutionen sich im Laufe von Zeit und Kontext transfor-
mieren. Pädagogische Praktiken als Basisoperation von pädagogischen
Institutionen im Sinne von „ruling relations“ (Smith 2006: 32) organisieren die
Verknüpfungen von Aktivitäten, Akteur*innen, Dingen sowie Räumen und
konstituieren auf diese Weise eine jeweilige pädagogische Ordnung.4 Päda-
gogische Institutionen stellen also keine ‚Gegenwelten‘ dar, die Kindern
gegenüber stünden und sie disziplinierend zurichteten. Vielmehr werden
Kinder und Jugendliche in modernen Gesellschaften in erheblichem Maße als
pädagogisierte Kindheiten subjektiviert.
Die je konkrete Praxis pädagogischer Institutionen variiert dabei je nach
Lebensphase. Während im frühkindlichen Bereich Fürsorge neben Erziehung
und Bildung einen wichtigen Bestandteil pädagogischer Praktiken darstellt,
gewinnt in der Jugend die Orientierung auf berufliche Institutionen einen
immer größeren Stellenwert. Dies korrespondiert damit, dass Kindheit und
Jugend als Lebensphasen mit besonderen persönlichen Transformationen
verstanden werden. Kognitiv, körperlich oder etwa emotional verändern und
entwickeln sich Menschen während dieser Lebensphase in besonderer Weise.
Dies bedeutet nicht, einen bestimmten ‚natürlichen Entwicklungsverlauf‘
anzunehmen, denn die Art und Weise, wie diese Entwicklungen praktisch
vollzogen und pädagogisch gerahmt werden, variiert je nach Kontext oder
Epoche. Der bereits zitierte Verweis auf Aries oder etwa die Arbeiten von
Kelle (2013) oder Bollig und anderen (2018) zeigen, dass Kindheit oder
Jugend wie ja auch Geschlecht keine anthropologischen Konstante sind,
sondern soziale Konstruktionen, sodass von einem doing generation oder
doing age zu sprechen wäre. Scholz und Heilmann (2019) oder Rieske und
Budde (in diesem Band) argumentieren, dass auf Geschlecht resp. Männ-
lichkeit bezogene Herstellungsprozesse von Jungen nicht mit den Männlich-
keitskonzeptionen von Erwachsenen gleichgesetzt werden können und
Konzepte wie hegemoniale Männlichkeit oder männliche Herrschaft nur
bedingt geeignet sind, die spezifischen Subjektivierungen in der Kindheit zu
beschreiben. Eine generational-differenzierende Betrachtung der Transfor-
4 Der Begriff ruling relations beschreibt „jene objektivierten Formen von Organisation und
Wissen, die moderne Gesellschaften koordinieren und regulieren: formale Organisationen
sowie wissenschaftliche, professionelle und mediale Diskurse“ (Nadai 2012: 151).
258
mationen von Männlichkeitskonzeptionen in Kindheit und Jugend erscheint
also zielführend.
2.2 Doing gender und doing masculinity in pädagogischen
Institutionen
Geschlechterkonstruktionen stellen einen grundlegenden Bestandteil
pädagogischer Institutionen dar. Geschlecht ist „present in processes, prac-
tices, images and ideologies, and distributions of power“ (Acker 1992: 567),
sodass sämtliche soziale Institutionen als vergeschlechtlicht angenommen
werden müssen. Institutionen und ihre Organisationen bilden je spezifische
Geschlechterkulturen (s. Beiträge in Müller et al. 2013). Dabei folgt der
Beitrag nicht dem Vorschlag, Geschlecht als eine soziale Institution zu
verstehen, innerhalb und mithilfe derer vor allem Fragen der Organisation von
re/produktiver Arbeit geregelt werden (Martin 2004). Vielmehr richtet sich das
Interesse auf Männlichkeitskonzeptionen in unterschiedlichen Kontexten,
sprich verschiedenen pädagogischen Institutionen sowie unterschiedlichen
biographischen Phasen. Die jeweiligen Männlichkeitskonzeptionen sind
Resultat von subjektivierend wirkenden Praktiken des doing gender.
Eingeführt von West und Zimmerman (1991) betont das doing gender-
Konzept, dass den Inszenierungen und praktischen Aktivitäten ein bedeutender
Anteil an der Re/Produktion von Geschlecht und Männlichkeit zukommt.
Doing gender wird verstanden als ein aktiver und handlungsorientierter
Prozess. Die geschlechtliche Selbstinszenierung muss für die soziale Umwelt
ständig berechenbar – „accountable“ (Fenstermaker und West 2001: 244)
sein. Nach West und Zimmerman bedeutet doing gender die permanente
Mitarbeit an der Herstellung von Geschlecht: „Members do gender, as they do
housework“ (ebd.: 31). Durch diesen Rückgriff können die individuellen
Aktivitäten mit breiteren gesellschaftlichen Ebenen verbunden werden.
Geschlecht muss zwar praktisch hergestellt werden, die Subjektivierung
realisiert sich jedoch erst in Interaktionen auf der Grundlage kollektiver und
dichotomer Deutungsmuster. Die dauerhafte Wiederholung von Männlichkeit
in doing gender-Praktiken bedeutet gleichzeitig nicht, dass diese immer in der
gleichen Weise aufgeführt werden. Butlers Konzept der Iterabilität etwa weist
auf die Möglichkeit und Notwendigkeit von Verschiebungen, Brüchen und
Kontingenz hin (Butler 1995). Für Aktivitäten, die in Bezug zu Männlichkeit
stehen, findet sich in der Debatte der Begriff des „doing masculinity(Meuser
2002; Budde 2005a). Meuser versteht darunter jene Interaktionen, in denen ein
männlicher Habitus erworben und hergestellt wird. Alternativ kann auch von
männlichen Subjektivierungen gesprochen werden, um die Relationalität
sozialer Praxis besser abzubilden (vgl. Rieske und Budde in diesem Band).
259
Bereits Goffman (2001) schärfte mit seinem Verweis auf die institutionelle
Reflexivität die Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass Geschlecht im Rahmen
eines doing gender-Ansatzes nicht als interaktionistische und situative Herstel-
lungsleistung verkürzt missverstanden werden dürfte, sondern dass sich Ge-
schlechterordnungen durch Institutionalisierungen stabilisieren, ‚verlasslich‘
gestalten und ‚auf Dauer gestellt‘ werden. Die Institutionalisierung bildet ge-
wissermaßen ein Bindeglied zwischen einer rein interaktionistischen und einer
makrostrukturellen Perspektive, indem die Stabilität von Geschlechterordnun-
gen und deren permanente Transformation zugleich in den Blick genommen
werden können. Dominierend ist dabei eine geschlechtsbezogene Dichotomi-
sierung. Goffman spricht von parallelen Organisationen und stellt fest:
„Wie bei den parallelen Organisationen, die sich an anderen binären sozialen Klassifizierun-
gen festmachen – Schwarze-Weiße, Erwachsene-Kinder, Offiziere-Rekruten und so weiter
–, bietet die auf dem Geschlecht basierende parallele Organisation einen leicht handhabbaren
Ausgangspunkt für die Etablierung einer unterschiedlichen Behandlung der Geschlechter“
(Goffman 2001: 114).
Dichotome Vergeschlechtlichungen von Institutionen werden in unterschied-
licher Hinsicht kenntlich. Beispielsweise können sich bereits in der quantitati-
ven Verteilung von Teilnehmer*innen Geschlechterdifferenzen zeigen. So
wird etwa historisch ein Wandel in der Geschlechterrelation von Lehrer*innen
dokumentiert, wobei etwa das Prestige der Schulform Einfluss auf die Ge-
schlechterrelationen nimmt. Auch die Institutionenkultur kann vergeschlecht-
licht sein. Untersucht werden zum Zusammenhang von Geschlecht und Bil-
dungsinstitutionen bislang insbesondere Faktoren, die eine gleichberechtigte
Teilhabe von Mädchen und Frauen am MINT-Bereich (Augustin-Dittmann
und Gotzmann 2015) und an Führungspositionen erschweren (Henn 2009;
Beaufays et al. 2012). Auch ein Wandel des Charakters pädagogischer Institu-
tionen im Sinne einer vermeintlichen ‚Feminisierung‘ wird erforscht (Hurrel-
mann 2012; Baar 2010). Kleiner (2015) analysiert Möglichkeiten und Blocka-
den transformatorischer und gegenheteronormativer Bildungsprozesse in der
Schule am Beispiel von LGBT*Q(I)-Jugendlichen auf der Ebene von pädago-
gischen Interaktionen und schulischen Institutionen.
Entsprechend der zunehmenden Institutionalisierung von Kindheit und
Jugend gewinnen auch institutionell gerahmte Konstruktionsprozesse von
Geschlecht und Männlichkeit an Relevanz, die sich nicht nur auf explizite
Praktiken mit pädagogisch Professionellen beziehen, auch Freizeit- und
Peeraktivitäten verlagern sich verstärkt in institutionelle und pädagogische
Kontexte. Insofern sich Subjektivierungen zunehmend als pädagogisch-
institutionell gerahmt vollziehen, verschieben sich auch – so die Vermutung –
die Möglichkeitsräume geschlechtsbezogener (und hier genauer: männlicher)
Subjektivierung.
In der Literatur finden sich verschiedene Sichtweisen der Jungenforschung
auf die Relationierung von Institutionalisierung und Männlichkeit. So zeigen
260
einige Studien, dass die Schule als formale Bildungsinstitution konflikthaft zu
bestimmten Formen tradierter Männlichkeit steht und diese negativ sanktio-
niert (Budde 2010; Wellgraf 2014). Die bildungsbürgerlichen schulischen
Leistungs- und Erziehungserwartungen gelten als zwei der Gründe. Demge-
genüber scheinen non-formale pädagogische Institutionen mehr Freiräume für
diversitätsorientierte und eigensinnige Männlichkeitskonzeptionen zu bieten.
Eine ähnliche Sichtweise findet sich auch in der Jungenpädagogik, die sich in
Distanz zum Schulischen entwirft (Budde 2014). Andere Studien zeigen, dass
gerade non-formale Bildungsinstitutionen eine Inszenierungsarena für proble-
matisierte Männlichkeitspraktiken marginalisierter Jungen und junger Männer
darstellen können (Weber und Gosch 2005). Für formale wie non-formale Bil-
dungsinstitutionen lassen sich aber gleichermaßen gegendominante, vielfalts-
orientierte und geschlechterkritische Praktiken identifizieren (vgl. die Beiträge
in diesem Band; auch Rose und Schulz 2007). Über die hier kursorisch aufge-
führten Forschungen hinaus bestehen national wie international kaum Studien,
die sich systematisierend der kontextbezogenen Unterschiedlichkeit von doing
masculinity widmen.
Studien zur Herstellung von Männlichkeit weisen auf die Bedeutung domi-
nanzorientierter Aktivitäten und der Einübung in Männlichkeit durch die
„ernsten Spiele des Wettbewerbs“ (Meuser 2006: 163) hin. Zwar ist der Be-
fund, dass Aktivitäten von Jungen je nach Altersstufen und pädagogischer In-
stitution eine Ressource zu Herstellung und Absicherung männlicher Domi-
nanz sein können einerseits nach wie vor aktuell, andererseits weisen Studien
auf unterschiedliche Alternativen hin, sodass der Befund der Einübung in
Mannlichkeit durch die ‚ernsten Spiele des Wettbewerbs‘ relativiert werden
muss. Die Gruppe um Anderson dokumentierten Praktiken, in denen Elemente
wie Dominanz, die Abgrenzung von Weiblichkeit oder ein funktionaler, wett-
kampforientierter Umgang mit dem Körper nicht aufgegriffen werden sollen,
und die sich als „inklusive Mannlichkeit“ verstehen lassen (Anderson 2011;
Anderson und McCormack 2018).
Darüber hinaus ist einzubeziehen, dass Männlichkeit nicht nur ein
relationales Konzept innerhalb von Geschlechterordnungen ist. Vor allem die
Zusammenhänge von gender mit weiteren sozialen Kategorien stehen im
Fokus (Qin 2006; Phoenix 2009; Martino und Rezai-Rashti 2009). Auch in
Deutschland konzentrieren sich die bisher vorliegenden qualitativen Studien
auf Schnittstellen von gender mit weiteren Kategorien (King 2009; Riegel
2010). Die Arbeitsgruppe um King und Koller (King 2009) beispielsweise
analysiert Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Milieu und Ethnizität an-
hand der Bildungsverläufe von Schüler*innen mit Migrationshintergrund und
weist darauf hin, dass Heranwachsende aufgrund von Effekten und Wechsel-
wirkungen zwischen diesen Kategorien unterschiedlich große ‚Entfernungen’
zurücklegen müssen, um im Bildungssystem bestehen zu können.
261
3 Die Erforschung der Praxis von und mit Jungen in
pädagogischen Praktiken
Der Beitrag entwirft auf der Basis zentraler Befunde der ethnographischen
Teilprojekte des Forschungsverbundes zum ersten eine kontrastierende
Systematisierung von Bildungspraktiken von und mit Jungen in den formalen
Bildungsinstitutionen Schule und Berufsvorbereitung sowie den non-formalen
Bildungsinstitutionen Kindertagesstätte und Jugendhilfe. Im Rahmen eines
‚simulierten Langsschnitts‘ wird zum zweiten eine Systematisierung von der
Kleinkindphase bis zur späten Jugend vorgenommen. Grundlegend dafür ist
ein praxistheoretischer Ansatz. So wird die praktikentheoretische Vorstellung
aufgegriffen, dass die Ordnungen pädagogischer Institutionen keiner Dicho-
tomie von Mikro- und Makroebene und keiner Differenz von Individuum und
Struktur folgen, sondern im Sinne Schatzkis Vorschlag einer „flachen
Ontologie“ (Schatzki 2016a, 2016b) – Konstellationen ausbilden. Damit wird
auch eine Perspektive eingenommen, die die Dichotomie zwischen Indivi-
duum und Institution auflöst. Vielmehr ist soziale Ordnung in Praktiken selber
eingeschrieben, Praktiken stellen aufgrund der ihnen inhärenten regelhaften
Elemente einen geordneten Zusammenhang von unterschiedlichen Aktivitäten
dar. Die Konstellationen bilden sich in der Relationierung von Aktivitäten und
Entitaten bzw. in Form sogenannter „Practice-Arrangement-Bundles“. Mit
dem Subjektivierungskonzept lassen sich die in diesen Konstellationen prozes-
sierten Subjektpositionierungen analysieren.
Abbildng 1: Institutionelle und generationale Zuordnung der Teilprojekte.
Für die Analyse von Praktiken bietet sich ein ethnographisches Vorgehen an.
Ethnographie interessiert sich für die Aktivitäten von Akteur*innen in der
sozialen Praxis. Im Vordergrund stehen nicht der Sinn oder die subjektive
Non-formale
Bildung
Formale
Bildung
Kindheit
Jungen und Bil-
dung in früher
Kindheit
Jungen und Bil-
dung in Schule
Jugend
Jungen und non-
formale Bildung
Jungen in beruf-
licher Bildung
262
Bedeutung, sondern das Wie, also der Vollzug des Sozialen. Aus diesem
Grund können ethnographische Verfahren besonders gut Mechanismen von
doing masculinity in den Blick nehmen, da sie sich für die praktische
Ordnungsbildung interessieren. Durch teilnehmende Beobachtungen und
Interviews lassen sich Herstellungspraktiken und Institutionalisierungen von
Männlichkeiten kontextbezogen dokumentieren. Doing masculinity wird im
Sinne der Orientierung auf Bildungsinstitutionen in Kindheit und Jugend nicht
lediglich als situative Interaktion verstanden, sondern es geht darum, die „kon-
krete Praxis in einem konkreten Kontext und die organisationalen und insti-
tutionellen Strukturbedingungen dieser Praxis ethnographisch einzuholen und
auf der Basis empirischer Daten zu analysieren“ (Nadai 2012: 141). Her-
angezogen werden Protokolle und Interviews der Teilprojekte Frühpädagogik
und Jugendarbeit für non-formale pädagogische Institutionen sowie Schule
und berufliche Bildung für formale pädagogische Institutionen.5
Abbildung 2: Modell divergierender Männlichkeiten.
Der Beitrag will einen pointierten Überblick über Gemeinsamkeiten und
Besonderheiten der in Bildungsinstitutionen stattfindenden Praktiken mit und
von Jungen bzw. jungen Männern sowie in Bezug auf Männlichkeit liefern. Es
entsteht so ein ‚simulierter Langsschnitt‘, der alters- und institutionenspe-
zifische Umgangsweisen gleichermaßen erkennbar werden lässt. Zur
Theoretisierung wird auf das Modell divergierender Männlichkeiten (vgl.
Budde und Rieske in der Einleitung zu diesem Band) zurückgegriffen.
5 Dank gilt Michael Cremers, Phillipe Greif, Jens Kabel, Bernhard Könnecke, Barbara Scho-
land, Hartwig Schuck, und Kevin Stützel für die überaus hilfreiche und aufbereitete
Bereitstellung der Auszüge aus den Daten.
263
Im Folgenden werden einige relevante Befunde zusammenfassend darge-
stellt. Neben den Peer-Praktiken kommen den pädagogischen Praktiken eine
besondere Bedeutung bei der Analyse institutioneller Kontexte zu, die sich ei-
nerseits unabhängig von institutionellem Kontext und Altersstufe als übergrei-
fende Praktiken zeigen (Kap. 4) und andererseits auf institutionelle sowie ge-
nerationale Differenzen hindeuten (Kap. 5).
4 Institutionen- und generationenübergreifende Praktiken
in den Befunden der Teilprojekte
Die erhobenen Daten und die Befunde der Teilprojekte verweisen darauf, dass
es übergreifende männlichkeitsbezogenen Praktiken gibt, die sich in allen In-
stitutionen und unabhängig von der Altersstufe der Jungen vollziehen. Dies
sind einerseits traditionelle norm- und dominanzorientierte Männlichkeitskon-
zeptionen (Kap. 4.1), aber auch unterschiedliche vielfaltsorientierte Praktiken
(4.2).
4.1 Norm- und dominanzorientierte Männlichkeitskonzeptionen
In peer- wie pädagogischen Praktiken finden sich Aktivitäten, die Differenz,
Dominanz und Hierarchie im Sinne tradierter Männlichkeitskonzeptionen her-
stellen. Hierunter lassen sich geordnete Aktivitäten verstehen, bei denen
Männlichkeit zur Herstellung von Differenz, Dominanz und Hierarchie expli-
zit oder implizit im Vordergrund steht. Einen relevanten Analysefokus erzie-
hungswissenschaftlicher Jungenforschung bildet bereits seit dem Beginn der
geschlechtsbezogenen Sozialisationsforschung die Ebene der Peer-Praktiken
von Jungen. Eine Studie von Budde (2005b) dokumentiert beispielsweise an-
hand des Zusammenhangs von Konkurrenz und Solidarität sowie des Doppel-
mechanismus‘ von Einschluss in die Peer-Group durch Ausschluss illegitimer
Männlichkeiten Prozesse des doing masculinity auf, die an die Herstellung von
Dominanz und Eindeutigkeit gebunden sind (auch Jösting 2005). Aber auch
auf der Ebene der pädagogischen Institutionen zeigt eine kritische erziehungs-
wissenschaftliche Geschlechterforschung wiederholt auf, dass diese ebenfalls
dazu tendieren, Geschlechterstereotype in Praktiken mit Jungen zu reproduzie-
ren (Budde et al. 2008).
Innerhalb der Peer-Group finden sich insbesondere in der Kindheitsphase
Beobachtungen, die auf die parallele Herstellung von Differenz und Hierarchie
und damit auf Dominanzpraktiken verweisen und bei denen körperliche Inter-
aktionen im Mittelpunkt stehen. In der Kindertagesstätte etwa spielen einige
264
Jungen ‚auf den Po hauen‘. Dabei versuchen sie zuerst, sich gegenseitig, unter
Gelächter, auf den Po zu schlagen, dann wählen sie ein Mädchen aus.
Irgendwann kommt Susi in den Gartenbereich, in dem sich die Jungen und ich aufhalten. Die
Jungen kommen auf Susi zu und umringen sie, lachen und versuchen auch ein paar Mal, ihr
auf den Po zu hauen. Die Situation wirkt auf mich zuerst nicht bösartig, sondern wie ein
Spiel bzw. ein Spielangebot. Susi bleibt zuerst stehen. Zuerst kann ich ihren Gefühlszustand
nicht einschätzen, dann aber weicht sie zur Seite und ich habe den Eindruck, dass die Situa-
tion für sie unangenehm ist. Sie zeigt den Jungen, dass sie aufhören sollen, die machen aber
weiter. Dann flüchtet sich Susi zu mir und beginnt zu weinen und zu schreien. (TPKT-P6)
Das geschilderte Spiel der Jungen (‚auf den Po hauen‘) kombiniert unter-
schiedliche Elemente: Gefordert sind Geschicklichkeit, Geschwindigkeit
sowie Risikobereitschaft. Der Po als Ziel der Schläge ist kulturell als intimes
Körperteil markiert und gilt daher als sensibel, wobei leichte Schläge auf den
Po gleichzeitig nicht besonders schmerzhaft sind. Jeder Treffer beim Mitspie-
ler kann dessen Reaktion evozieren. Der Spaß der Jungen konstituiert sich hier
in körperlichen Formen, in denen lustvolles körper-, wettkampf- und konkur-
renzorientierte Spiel durch gegenseitiges Berühren in Form von ‚hauen
vollzogen wird. Dass der Grat zwischen Spaß und dominanzorientierter
Grenzverletzung schmal ist, zeigt sich in dem Moment, in dem Susi zur Ziel-
scheibe des Treibens wird. Erscheint das Spiel unter den drei Jungen spaßhaft
und dient der Herstellung von Gemeinschaft durch Konkurrenz untereinander,
so richtet sich die Gemeinschaft nun gegen eine Außenstehende, die gegen
ihren Wunsch in die Spielpraktiken involviert wird. Während das Spiel der
Jungen reziprok wirkt, schlägt es gegenüber Susi in eine Grenzverletzung um.
Die Exklusion anderer wird durch Dominanzpraktiken realisiert.
Auch das Grundschulprojekt dokumentiert Formen des doing masculinity
durch Differenzkonstruktionen, die sich gegenüber Weiblichkeit abgrenzen,
wie das folgende Beispiel exemplarisch zeigt:
Zwei Jungen, Carlo und Mike räumen ihre Mäppchen aus auf der Suche nach bestimmten
Farben. Sie zeigen sich gegenseitig die Stifte. „Du hast ja Madchen-rosa“, sagt Mike, als
Carlo einen rosa Buntstift aus dem Mappchen holt. „Sei still“, sagt Carlo. Er läuft zu anderen
Kindern und leiht sich Stifte in der Farbe, die er sucht. (TPAS-P)
Zwei Jungen suchen gemeinsam Stifte in ihren Federtaschen. Dabei wird Carlo
von seinem Mitschüler Mike vorgeworfen, einen „madchen-rosa“ Stift zu be-
sitzen. Dieser skandalisiert die Geschlechtsüberschreitung, die Carlo in seinen
Augen verübt. Weiblichkeit und damit Carlo als ‚Trager falscher Symbole‘
wird dadurch abgewertet. Auf diese Abwertung folgt eine befehlende Zurecht-
weisung („Sei still“) als mannliche Resouveranisierung, durch die Carlo ver-
6 Das Kürzel gibt an, aus welchem Teilprojekt (TP) das Material stammt (KT=Kindertages-
stätte, AS= Allgemeinbildende Schule, NB=Non-formale Bildung, BS=berufliche Schule
und ob es sich um ein Beobachtungsprotokoll (-P) oder einen Interviewausschnitt (-I)
handelt.
265
sucht, seinen Mitschüler zum Schweigen zu bringen, damit den Vorwurf zu
entkräften und gleichzeitig Männlichkeit wiederherzustellen. Die Differenz-
konstruktionen müssen sich nicht in allen Fällen auf die Ausgrenzung von
Mädchen beziehen. Der siebenjährige Schüler Ronaldo etwa verknüpft körper-
liche Stärke mit Männlichkeit, indem er bei einem Schulausflug anbietet, alle
Rucksacke der Kinder zu tragen mit der Begründung: „Ich bin ein Mann, ich
bin stark“.
Zwar vollziehen sich die bis hierher dargestellten Praktiken des doing mas-
culinity in der Kindheit, aber auch in der Jugendphase konnten beispielsweise
im offenen Bereich eines der non-formalen Bildung zuzurechnenden Jugend-
zentrums differenz- und dominanzorientierte Praktiken bei marginalisierten
männlichen Jugendlichen beobachtet werden.
Berta und Anton fangen an, Tischtennis zu spielen. Plötzlich stellt sich Ron neben Berta
dazu, den Schläger in der Hand. Ron spielt die Bälle sehr hart und Anton, der nicht so gut
spielen kann, versucht sie so gut es geht zu parieren und auf Berta den Ball zuzuspielen. Ron
fängt den Ball vor Berta ein paar Mal ab und macht sich provozierend über Anton lustig.
Berta verzieht etwas das Gesicht. Berta und Anton versuchen trotzdem sich die Bälle etwas
zuzuspielen. Als Ron den Ball ins Aus spielt ruft er frustriert: „Der Ball hat kein Respekt!
Mann!“ Berta geht nun. Sie klatscht bei uns allen zur Verabschiedung in die erhobene Hand.
Ron kommentiert dies mit den Worten, dass er jetzt dann ja richtig loslegen könne. (TPNB-
P)
Berta und Anton spielen gemeinsam Tischtennis. Plötzlich kommt mit Ron ein
weiterer Junge hinzu und platziert sich auf Bertas Seite. Er beginnt sofort, das
Spiel zu dominieren, indem er einerseits für Berta bestimmte Bälle abfängt und
andererseits hart und provozierend gegen Anton spielt. Als Ron ein Spielfehler
unterlauft, erklart er dies mit der „Respektlosigkeit“ des Balles. Verantwortung
delegiert er so an den Artefakt und verweist auf mangelnde Anerkennung. Die
Konstruktion dominanter nnlichkeit durch Abwertung von Frauen zeigt
sich zuletzt darin, dass er den Weggang von Berta damit kommentiert, dass die
verbleibenden mannlichen Spieler nun „richtig loslegen“ können. In der ho-
mosozialen sportlichen Konkurrenzgemeinschaft wird die Jugendliche als stö-
render Fremdkörper markiert.
4.2 Vielfalts- und egalitätsorientierte Männlichkeitskonzeptionen
Interessanter als die (erwartbare) übergreifende Tradierung herkömmlicher
Formen dominanter Männlichkeit allerdings sind Transformationen von doing
masculinity, welche die im Modell divergierender Männlichkeiten theoretisch
modellierten, egalitätsorientierten Praktiken empirisch fundieren. So zeigt
schon Michalek (2006) für die Ebene von Peerpraktiken, dass Jungengruppen
Zugehörigkeit auch ohne Bezug auf Männlichkeit konstituieren. Und päda-
gogische Institutionen stehen als gesellschaftliche Institutionen in besonderer
Weise in der Verantwortung, Geschlechteregalität herzustellen. So definiert
266
beispielsweise das Schulgesetz Hamburg als „Aufgabe der Schule, die
Schülerinnen und Schüler zu befähigen und ihre Bereitschaft zu stärke, ihre
Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsatzen […] der
Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten“ (§2 Abs. 1). In Schleswig-
Holstein heißt es, dass „die Bildungswege so zu gestalten sind, dass jungen
Menschen […] unabhangig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit der Zugang zu
allen Schularten eröffnet und ein Schulabschluss ermöglicht wird“ (§4, Abs.
7). Dieser Anspruch gilt in ähnlicher Weise auch für andere pädagogische
Institutionen. Darüber hinaus rücken zunehmend Ausschlüsse non-binärer
Kinder und Jugendlicher und damit die Grenzen der heteronormativen
Ordnung in den Blick von Politik, Praxis und Forschung (Kleiner 2015; Klenk
2022). Als übergreifende Muster ergeben sich in dem Material der Teilprojekte
mit Care, Professionalität sowie Differenzkritik drei verschiedene Ausdrucks-
gestalten einer Transformation (bzw. einer Entdramatisierung) von Geschlech-
terverhältnissen im Sinne von Egalität und Vielheit. Zwar sind diese
vielfaltsorientierten Praktiken je nach Altersstufe und Institution unterschied-
lich ausgeprägt, gleichwohl können sie in allen Teilprojekten dokumentiert
werden.
Care/Fürsorglichkeit
Neben der angedeuteten Bedeutung des Körpers als Bastion dominanzorien-
tierter Männlichkeit kommt ihm ebenfalls eine besondere Bedeutung bei der
Ausgestaltung fürsorglicher Praktiken zwischen Peers zu, die auch als „caring
masculinity(Scholz und Heilmann 2019) oder inclusive masculinity“ (An-
derson 2011) bezeichnet werden können. In der Kindertagesstätte etwa doku-
mentieren sich Formen der Fürsorge, hierarchiefreier Anerkennung und der
Vermittlung von sozialen Kompetenzen von älteren Jungen gegenüber Jünge-
ren, wie die folgende Passage zeigt, in der zwei Jungen miteinander interagie-
ren.
Sam sitzt nachdem Frühstück alleine auf der Couch und hat ein Buch in der Hand. Er erzählt
sich die ganze Zeit etwas, dass sich nicht verstehen lässt, aber augenscheinlich mit dem zu
tun hat, was er in dem Buch sieht. Dann geht Leo zu Sam und sagt ihm, dass er noch was auf
dem Tisch vergessen hätte, was in den Müll gehöre. Sam geht zum Tisch, nimmt es und
bringt es zum Mülleimer, bevor er dann zum Tisch zurückkehrt. Dann schauen sich Leo und
Sam gemeinsam ein anderes Buch an und Leo erzählt Sam was in dem Buch zu sehen ist.
Dann bringen sie das Buch zurück und setzen sich zurück auf die Couch. Leo zeigt auf sich
und sagt, „ich bin Leo“ und du musst jetzt sagen, „Ich bin Sam“. Dann sagt Leo Sam etwas
vor, das Sam wiederholt. Leo sagt: „Gut gemacht, mein cooler Freund!“ (TPKT-P)
Sam schaut sich alleine auf der Couch ein Buch an. Als Leo kommt, tritt er mit
Sam in Interaktion. Zuerst klärt der Ältere den Jüngeren über die Verhaltens-
ordnung auf, übernimmt so die Vermittlung sozialer Normen und unterstützt
ihn bei der Einsozialisation in die Gruppe. Gleichzeitig zeigt Leo auch in der
267
Hinsicht fürsorgliche und erzieherische Aufgaben, indem er Sam vorliest, ihn
zu Lernspielen animiert und ihm positives Feedback gibt („gut gemacht, mein
cooler Freund“). Jenseits dieser konkreten Interaktion konnte das Kindertages-
stätte-Projekt häufig Situationen beobachten, bei denen Jungen andere Kinder
trösteten oder sich bei anderen Kindern entschuldigen und in dieser Hinsicht
fürsorglich miteinander umgehen.
Auch in der Grundschule ließen sich ebenfalls zahlreiche zärtliche und trös-
tende Körperkontakte zwischen Jungen beobachten, die keinen Anlass für Hie-
rarchisierung boten. Im Gegenteil, einige Jungen, die in anderen Interaktionen
Abwertung und Dominanz herstellen, verhielten sich oftmals tröstend gegen-
über Mitschüler*innen. Im Matheunterricht der ersten und zweiten Klasse ei-
ner großstädtischen Grundschule etwa beziehen sich Carlo und Paul intensiv
aufeinander.
Carlo und Paul unterhalten sich die ganze Zeit. Carlo zupft an Paul, will seine Aufmerksam-
keit. Nimmt seinen Arm und küsst ihn dreimal. Schreibt etwas bei ihm ins Heft. Paul hat sein
Arbeitsheft vergessen, und sie fragen die Lehrerin, ob sie zusammen Carlos Aufgabe lösen
dürfen, nämlich Geld aus einem Bogen zu drücken. (TPAS-P)
Carlo und Paul interagieren auf einer körperlich intensiven Ebene miteinander.
Der eine küsst den anderen, dies führt nicht zu Abwehr, sondern im Gegenteil
dazu, dass die beiden bei einer anschließenden Aufgabe zusammenarbeiten
möchten. Die körperliche Nähe ist hier Ausdruck von Freundschaft. Zwar
stammen die Mehrzahl der Beispiele für fürsorgliche Praktiken aus der Kind-
heit, jedoch lassen sich auch an der weiterführenden Schule zärtliche Interak-
tionen finden, insbesondere, wenn Jungen ihre Mitschüler*innen aufgrund
schlechter Noten trösten, wie ein Protokoll aus der achten Klasse exemplarisch
zeigt.
Tomke sitzt neben Jeppe, er legt den Arm um ihn. Jeppe beugt sich runter und holt etwas aus
seiner Tasche. Tomke legt wieder den Arm um ihn, als er wieder oben ist. Er putzt sich die
Nase. (…) Ich sehe jetzt, dass sich Jeppe mit dem Handrücken über die Augen wischt. Tomke
streichelt ihn auf dem Rücken. (TPAS-P)
Die Klasse hat eine Klausur zurückbekommen, dessen Ergebnis bei Jeppe zu
Traurigkeit führt. Er sucht ein Taschentuch und hat feuchte Augen. Sein Nach-
bar Tomke streichelt ihn daraufhin zärtlich über den Rücken. Die Beispiele
zeigen, dass fürsorgendes Trösten auch unter Jungen bis in die Jugendphase
selbstverständlich verbreitet ist. Etwaige Berührungstabus oder heteronorma-
tive Ordnungen werden nicht erkenntlich. Trösten durch körperlich Zuwen-
dung erweist sich in pädagogischen Kontexten als kaum vergeschlechtlichte
Praktik. Auch das Projekt zu non-formalen Bildungsinstitutionen berichtet von
zärtlichen Berührungen unter Jungen, in der Tanzgruppe steht der kooperative
körperliche Umgang miteinander sogar im Zentrum der pädagogischen Bemü-
hungen. Dies stellt in der Summe eine Transformation gegenüber früheren Stu-
dien dar, die für westliche Kulturen noch von einem Zärtlichkeitstabu unter
268
Jungen ausgegangen waren, Theweleit etwa sprach Anfang der 1980er Jahre
noch vom „Körperpanzer“ als Mechanismus mannlicher Abwehr (Theweleit
1983).
Professionalität statt Geschlecht
Für pädagogische Professionelle stellen fürsorgliche Praktiken wie Versor-
gungstätigkeiten, Trösten, Streit schlichten oder die Förderung sozialer und
kommunikativer Kompetenzen das Alltagsgeschäft dar und gelten entspre-
chend als typische Professionspraktiken, die geschlechterentdramatisierend
wirken können. Dadurch sind – so zeigen alle Teilprojekte auf diese in der
praktischen Ausführung tendenziell weniger geschlechtlich konnotiert. Die
folgende Situation, die im Gruppenraum einer Kindertagesstätte spielt, zeigt
dies beispielhaft.
Mehrere Kinder haben sich vor der (männlichen) Fachkraft versammelt, der auf einem Ho-
cker ein paar Meter von mir entfernt sitzt. Sie versuchen, seinen Bart zu kraulen. Die Fach-
kraft lässt sie gewähren und macht ab und zu das Monster und die Kinder rennen kreischend
weg. Kurz darauf macht er auch ein auf Zombie: „Ich bin ein Zombie und Zombies beißen.“
Ich reflektiere, dass ich bisher noch keine*n andere*n Erzieher*in gesehen habe, der/die so
körperlich mit den Kindern umgeht. Irgendwann reicht es der Fachkraft und er ruft „Stopp“,
er brauche eine Pause.
Bei einem der ‚Kinderauflaufe‘ stößt Ben Jesper um (ich bekomme nicht mit, ob er das ab-
sichtlich tut). Die Fachkraft bittet die die beiden Jungen zum Gespräch, erklärt Ben, dass er
Jesper umgestoßen habe und dass er sich dafür entschuldigen soll. Ben ist ein bisschen wi-
derwillig, entschuldigt sich dann aber bei Jesper. Anschließend soll Ben Jesper auch noch
die Hand geben, was er auch widerwillig tut. (TPKT-P)
Der Erzieher spielt unterschiedliche Spiele mit den Kindern. Er bietet sich kör-
perlich als Spielflache an, indem er sich den Bart kraulen lasst oder „als Mons-
ter“ oder „als Zombie“ versucht, die Kinder zu fangen, die große Freude an
dem Spiel haben. Körperliche Nähe wird hier sowohl durch Zärtlichkeit
(„kraulen“) initiiert durch die Kinder, als auch durch wettkampforientiertes Ja-
gen initiativ durch den Erzieher hergestellt, welches aufgrund der spielerisch
erzeugten ‚Gefahrlichkeit‘ des Jagers noch gesteigert wird. Als anschließend
Ben Jesper umstößt, initiiert der Pädagoge eine Entschuldigung. Die variie-
rende Körperlichkeit und die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Jesper do-
kumentieren fürsorgliche Elemente des Umgangs. Die Tatsache, dass lediglich
bei dieser männlichen Fachkraft ein derart ausgeprägter und vielfältiger kör-
perlicher Kontakt sichtbar wurde, ist bemerkenswert und verweist auf fürsorg-
liche Männlichkeit. Gleichzeitig sind dies Bestandteile professioneller Prakti-
ken, die sich (weniger intensiv) in ähnlicher Form einerseits auch bei anderen
Fachkräften beobachten lassen und die sich andererseits an alle Kinder richten
und insofern keine explizite Vergeschlechtlichung aufweisen.
269
Auch in der allgemeinbildenden Schule zeigen sich zahlreiche professio-
nelle pädagogische Praktiken von Lehrpersonen. Diese gestalten sich insbe-
sondere in Form fachlicher Unterstützung, etwa indem Inhalte wiederholt er-
klärt werden, damit alle Schüler*innen sie verstehen können. Ausschließlich
von Lehrerinnen finden sich bis in die Oberstufe darüber hinaus Sorgeprakti-
ken wie etwa die Erinnerung an Arzttermine oder die Beruhigung von Schülern
vor Prüfungen. An berufsbildenden Schulen für medizinische, pflegende und
sozialpädagogische Berufe lassen sich des Weiteren egalisierende und entdra-
matisierende Haltungen finden, die im Sinne einer professionellen Ausdeutung
der beruflichen Anforderungen. So reagieren mehrere Auszubildende auf die
Frage danach, ob es für sie eine Rolle spielt, dass sie überwiegend mit Kolle-
ginnen zu tun haben, mit der Aussage, dass dies – laut Baran – „kein Problem“
sei, oder „keine Rolle spielt“, wie Moussa meint, wobei dies unabhangig vom
Alter oder Ausbildungsgang der Interviewten erfolgt. Cem meint, die Zusam-
menarbeit mit Frauen sei „ganz normal“. Ein Altenpflege-Schüler, Henrik, ant-
wortet:
„Gar kein Problem. Halt für mich ist es jetzt nicht abhangig davon, ob jemand Mann oder
Frau ist. Es geht darum, wie man mit der Person auskommt […]. Solange jemand nett ist zu
mir, bin ich auch nett zu dem. Da ist es egal, ob Mann oder Frau, schwul, lesbisch, schwarz,
weiß ist. Ja.“ (TPBS-I)
Henrik bezieht explizit eine egalitäts- und vielfaltsorientierte Position, mit der
er geschlechtsbezogene Zuschreibungen zurückweist. Grundlage sozialer In-
teraktionen seien nicht soziale Differenzkategorien, sondern die Frage, ob „je-
mand nett ist“. Damit wird der individuellen Beziehung Vorrang gegenüber
distinktiven Gruppenzugehörigkeiten eingeräumt. Im Kontext der Ausbildung
wird von mehreren Interviewten das „Gut-Miteinander-Auskommen“ als zent-
rales Kriterium hervorgehoben. Deutlich wird, dass in der Lernsituation die
Angewiesenheit auf Unterstützung und Wissensvermittlung im Vordergrund
steht, die Relevanz von Geschlecht tritt in den Hintergrund und wird negiert.
Bei einigen Auszubildenden lässt sich eine entgeschlechtlichte Orientierung
auf helfende Tätigkeiten und damit auf Empathie und Fürsorglichkeit erken-
nen. So erklärt Nadik, „ich mache nur diese Ausbildung, weil ich Menschen
helfen will so gerne“ und Arvi sagt von sich, „ich bin so ein Typ, der gerne
Menschen hilft“. Ähnliche Motive finden sich auch in dem Typus „Altruisti-
sches Muster“, den Scholz und Stützel (in diesem Band) rekonstruieren.
Auch in der Ausbildungsvorbereitung an berufsbildenden Schulen zeigen
sich Praktiken eines undoing gender im Sinne einer Nicht-Thematisierung von
Geschlecht. So schildert eine Berufliche Integrationsbegleiterin die professio-
nelle Kompetenz eines Schülers.
„Ich habe gemerkt, dass er sehr aufmerksam, liebevoll mit den Kindern war. Er hat sehr
darauf geachtet, dass sie alle Regeln eingehalten haben. Er hat sie dann beim Zähneputzen
begleitet und war da sehr umsichtig, fand ich. Er konnte sich sehr gut integrieren in die Ar-
beitsabläufe. Er hat einfach alles gemacht, was man gesagt hat. Ich fand, dass sein Verhalten
270
mit den Kindern sehr liebevoll und aufmerksam war. Also, so ganz süß so. […] Also, es ist
so rührend, da er sehr entschlossen und entschieden ist. Ich habe zu ihm gesagt, dass ich es
richtig super finde, dass er dieses Ziel hat. (TPBS-I)
Die Begleiterin schildert die professionelle Kompetenz eines Schülers mit Be-
griffen wie „aufmerksam“, „umsichtig“, „liebevoll“ und resümiert diese als
„ganz süß“. Daneben wird seine Anpassungsfähigkeit an die institutionellen
Anforderungen und die Fähigkeit zur Integration in die Arbeitsabläufe der Kin-
dertagesstätte hervorgehoben, die sich darin zeigt, dass er in seiner Rolle als
Auszubildender Anweisungen Folge leistet. Abschließend äußert die Begleite-
rin unterstützende Zustimmung für das berufliche Ziel des Schülers, den sie als
„entschlossen und entschieden“ wahrnimmt.
Differenzkritik
Neben der Handlungserweiterung durch fürsorgliche Praktiken unter Peers und
professionelle Ausdeutungen unter Professionellen, die im Rahmen binärer
Geschlechtervorstellungen verbleiben und die erweitern oder egalisieren,
lassen sich in pädagogischen Institutionen explizit geschlechterkritische
Praktiken von Professionellen beobachten. Die folgende Situation etwa
vollzieht sich im Anschluss an den Morgenkreises in der Kindertagesstätte.
Die Fachkraft sagt nun: „So und jetzt, dürfen sich erstmal die Jungen draußen im Flur die
Schuhe anziehen“. Bis auf Jesper stehen die Jungen daraufhin auf und gehen nach draußen.
Das Sitzenbleiben von Jesper, wird, soweit ich das beobachten kann, von niemandem kom-
mentiert. Dann meint die Fachkraft „Und jetzt die Kinder mit braunen Haaren.“ In dieser
Situation herrscht allerdings bei einigen Mädchen etwas Ratlosigkeit, weil sie nicht ganz
genau wissen, ob ihre Haare braun sind. Die Fachkraft hilft ein, zwei Mädchen bei der Ein-
schatzung ihrer Haarfarbe. Die Madchen mit „braunen Haaren“ gehen nach draußen, dann
auch der Rest der Kindergruppe. (TPKT-P)
Nach dem Morgenkreis sollen die Kinder in den Außenbereich zum Spielen
gehen. Dabei wird zuerst eine geschlechterdichotome Aufteilung aufgerufen,
um dem Umkleidebereich nicht zu überfüllen, denn zuerst sollen sich „die Jun-
gen“ die Schule anziehen. Nach dieser Geschlechterdramatisierung allerdings
erfolgt dann eine weitere Differenzierung, welche die Einteilung nach Ge-
schlecht offensichtlich unterläuft, indem nun die Haarfarbe als neues Kriterium
ausgegeben wird. Diese Praxis steht im Kontext einer Kritik an Aufteilungen
nach Geschlecht, welche die flexible Verwendung von Differenzkategorien
vorschlägt, um den sozialen Konstruktionscharakter praktisch erfahrbar zu ma-
chen. Dass diese geschlechterkritische Aufteilung allerdings nicht in gleicher
Weise routiniert verlauft, zeigt sich an der „Ratlosigkeit“ einiger Madchen, die
nicht wissen, ob sie dem Kriterium entsprechen.
Je älter die Kinder werden, um so expliziter werden auch die geschlechter-
kritischen pädagogischen Praktiken, wie sich in der Sekundarstufe II zeigt.
271
Die Deutsch-Lehrerin in der 11. Klasse lässt die Rollen im Theaterstück gegengeschlechtlich
lesen, ohne das weiter zu kommentieren. Sie sucht dann für die Frauenrolle das Gegenge-
schlecht, also dezidiert einen Jungen. (TPAS-P)
Die Lehrerin unterlegt die fachliche Aufgabe, ein Theaterstück vorzulesen, mit
einer geschlechterkritischen Durchführung, indem sie Männerrollen von
Schülerinnen und Frauenrollen von Schülern lesen lässt. Außerdem aktua-
lisiert sie – ähnlich wie das Beispiel des ‚Schuhe anziehen‘ in der Kindertages-
stätte – Geschlechterdifferenzen, indem die Dichotomie der Rollen im Theater-
stück auf die (vermeintliche) Dichotomie von Geschlecht bei den Schü-
ler*innen ‚umgedreht‘ angelegt wird, gleichzeitig werden dadurch gewohnte
Zugehörigkeitsmuster durchbrochen. Auffällig ist in beiden Fällen die
‚Normalitat‘ des praktischen Vollzugs: Weder die Fachkraft in der Kinder-
tagesstätte noch die Lehrerin markieren die Handlung als erklärungsbedürftig,
auch zeigen sich keine Widersprüche, sondern lediglich kurze Irritationen. Den
Kindern und Jugendlichen werden die geschlechterkritische Durchkreuzung
als ebenso alltägliche wie legitime Aufteilungen dargestellt und in solcher
Weise reagieren sie auch.
Eine Lehrkraft an einer der berufsbildenden Schulen gibt an, die Schü-
ler*innen in der Ausbildungsvorbereitung explizit zu einer geschlechterunty-
pischen Berufswahl zu animieren.
„Ja also dieses Genderdenken haben wir eigentlich nicht, sondern wir animieren Madchen
auch sehr, wenn sie in einen handwerklichen Beruf wollen, das zu tun beziehungsweise ver-
suchen auch einfach zu sagen: Mensch, kannst du dir nicht vorstellen, ins Handwerk zu ge-
hen. […] Und auch Jungs, wir haben wirklich einige, die auch in die Pflege gehen und das
sind manchmal auch die harten Kerle, wo man sagt: ‚Ich hatte nicht gedacht, dass der wirk-
lich ins Altenpflegeheim gehen @möchte@‘ (lachend) Und da aber auch einen sehr guten
Job macht tatsachlich. […] wenn wir die Jugendlichen fragen ‚Wohin soll die Reise gehen?‘,
fragen wir immer drei Sachen ab. Und das ist völlig egal ob Junge oder Mädchen, und das
fragen wir auch bei allen. Und dann kann man so weiter, feiner schachteln und gucken, wo
könnte es sein.“ (TPBS-I)
Der Ermutigung zu einer untypischen Berufswahl liegen Kenntnisse über ge-
schlechtstypische Berufe zugrunde. Pädagogischer Anspruch der beruflichen
Orientierung ist es, Jugendliche für alternative Wege zu interessieren und dabei
von Geschlechterstereotypen abzusehen. Zur Legitimation wird ein geschlech-
teregalisierendes Argument vorgebracht, nach dem es „völlig egal ist, ob je-
mand Junge oder Madchen“ ist. Im Vordergrund steht das Recht aller, ihre
berufliche Biographie ihren individuellen Neigungen entsprechend auszuge-
stalten. Im Vordergrund der Passage steht nicht das Interesse an der Erweite-
rung des Handlungsspektrums einzelner, sondern der Versuch, berufliche Ori-
entierung und Geschlechterstereotype voneinander zu entkoppeln und so auch
zu einer Transformation von Geschlechterverhältnissen beizutragen. Dabei
sind die Stereotype („harte Kerle“) durchaus gelaufig, diese sollen aber die be-
ruflichen Optionen bzw. Empfehlungen nicht einschränken.
272
In der Tanzgruppe aus dem non-formalen Bildungsbereich verbinden die
Teilnehmer*innen Dominanzpraktiken mit Geschlechterkritik.
Nach dem Aufwärm-Tanzen: Liegestütze. Manche Jugendlichen freuen sich darüber, andere
stöhnen, alle wirken aber recht fröhlich. Nadine, die Teamerin meint: „Ihr könnt alle die
Knie benutzen.“ Einige haben das akustisch nicht verstanden, fragen nach. Ein Mädchen
wiederholt: „Alle können die Knie benutzen, ihr müsst nicht die schwereren Liegestütze ma-
chen, nur weil Ihr Jungs seid.“ Niklas erwidert: „Aber wenn wir doch durchtrainiert sind.“
Einige lachen, es entbrennt eine kurze, spaßige Diskussion. Ich höre: „alle gleichberechtigt“.
Sie fangen an, Liegestütze zu machen. Nadine und viele andere machen die Liegestütze auf
den Knien, manche andere auf den Füßen. (TPNB-P)
In diesem Beispiel bietet die Teamerin für die Übung Liegestütz-Variationen
mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad an. Ein Mädchen nutzt dies grup-
penöffentlich als Anlass für eine scherzhafte Vergeschlechtlichung, indem sie
Konkurrenz unter Jungen adressiert und damit die Herstellung von dominanter
Männlichkeit ironisiert. In der anschließenden spaßhaften Auseinandersetzung
deutet sich dann als wahrnehmbare Orientierung einen egalitären und ge-
schlechterkritische Standpunkt an, der annimmt, dass „alle gleichberechtigt“
sind.
5 Institutionen- und generationendifferenzierende
Praktiken in den Befunden der Teilprojekte
Neben den übergreifenden Praktiken zeigen sich auch je spezifische institutio-
nelle (5.1) sowie generationale (5.2) Differenzen, die zu einer Ausdifferenzie-
rung der Gesamtbefunde beitragen.
5.1 Institutionelle Differenzen bei der Aushandlung von Zugehörigkeit
Eine erste Differenz verläuft zwischen formalen und non-formalen Bildungs-
institutionen. Während die formalen pädagogischen Institutionen anhand des
institutionellen Kriteriums (unterschiedlicher Ausdrucksgestalten von) Leis-
tung tradierte Formen von Männlichkeit hervorbringen, werden in männlich-
keitsbezogenen Praktiken in non-formalen Bildungsinstitutionen wie Kinder-
tagesstätte oder Jugendbildung vor allem Zugehörigkeiten ausgehandelt.
Differenzkonstruktionen durch Leistung in formalen Bildungsinstitutionen
In der formalen Bildungsinstitution Schule zeigt sich die Parallelität von Dif-
ferenz und Dominanz insbesondere im Sportunterricht (vgl. auch Kap. 4.1).
273
Hier herrscht eine starke Körperbezogenheit vor, die auf schulische Leitungs-
anforderungen rekurriert.
Es ist Sportunterricht in der 8. Klasse, die Gruppe soll sich warmlaufen. „Carl kann schon
nicht mehr“ ruft der Lehrer durch die Halle. Carl ist leicht korpulent. Dann fordert er auf:
„Linke Damen vorwarts, bitte“. Nun ruft er „Carl hat schon alles Sauerstoff weg?!“ Carl
grinst, er ist ganz rot im Gesicht.
Der Lehrer ruft Aufforderungen und Kommentare durch den Raum. Jetzt sollen sie fünf Lie-
gestütz machen. Er lobt jetzt Carl „ja, Hintern hoch lassen, die Liegestütze sind gut! Genau
so! Du bist ganz weit unten!“ Alle anderen sind schon fertig und schauen jetzt auf Carl. Er
geht in die nachste Liegestütze. „Genau darum geht es!“ ruft der Lehrer zwei Mal. Carl bricht
zusammen. Er murmelt etwas von Armen und grinst. Er ist rot im Gesicht. Lachen in der
Klasse. (TPAS-P)
Im Sportunterricht wird der Schüler Carl vom Lehrer mehrfach vor der Klasse
wegen seiner Unsportlichkeit ironisierend vorgeführt. Seine fehlende Kon-
dition wird durch den Lehrer öffentlich markiert, eine Gruppe von Mädchen
wird durch die Ansprache als „Damen“ vergeschlechtlicht und ihr fehlendes
sportliches Engagement damit ebenfalls kritisiert. Die anschließenden Liege-
stützen absolviert Carl wiederum unter Kommentierungen vom Lehrer in der
Klassenöffentlichkeit. Wenngleich dieser ihn lobt, so scheint dieses ironische
Lob entwertend zu sein, denn Carl ist „nun ganz weit unten“. Die Aufgabe
überfordert Carl offensichtlich, da er mit rotem Gesicht „zusammenbricht“.
Grundlage dieser Interaktion ist eine vergeschlechtlichte Vorführung von Carls
fehlender sportlicher Kompetenz zur allgemeinen Belustigung und damit die
öffentliche Erniedrigung von Jungen, die nicht dem Sportlichkeitsideal
entsprechen. Die Exklusion des Einen sichert die Teilhabe an Männlichkeits-
normen der Anderen. Auch im Sportunterricht in anderen Klassen zeigen sich
ähnliche Muster der Herstellung von Männlichkeit, sodass in den pädagogisch
gerahmten Praktiken des Sportunterrichtes hegemoniale Männlichkeitsnormen
abgesichert werden.
Erziehung zum Durchhalten und zu Disziplin scheint auch in der Ausbil-
dungsvorbereitung Bestandteil pädagogischer Praxis zu sein. So äußert sich
eine Lehrkraft im Interview über einen Kollegen, der einem als ‚schwierig‘
geltenden Jugendlichen zur Ausbildung verholfen habe:
„Den haben wir in Ausbildung bekommen. Das ist aber auch meinem Kollegen zu verdan-
ken, der sich sehr dahintergeklemmt hat. Und auch nachdem die AV hier verlassen wurde
und er in Ausbildung war, hat dieser Junge immer noch Kontakt gehalten. Also, das war
wirklich ein Mentor, nicht nur als Lehrer, sondern auch so ein bisschen Vaterersatz. Und er
hat ihn immer getreten und gesagt (mit verstellter, tieferer Stimme): ‚Und wenn du da nicht
hingehst, dann komme ich persönlich vorbei und dann kriegst du auf die Ohren‘, so. Und das
das brauchte der“. (TPBS-I)
Die Lehrkraft gibt an, dass der fragliche Kollege für einen Auszubildenden
eine Mentorenfunktion innehatte, bzw. einen vergeschlechtlichten „Vaterer-
satz“ darstellte. Diese Vaterschaft umfasst auch die Androhung körperlicher
274
Gewalt zur Durchsetzung von Ausbildungszielen, die der Motivation des Ju-
gendlichen diene. Gleichzeitig wird kein Widerspruch der Interviewpartnerin
sichtbar, der Rekurs auf die Androhung körperliche Gewalt zur Erreichung von
Zielen erweist sich als padagogisch legitim und notwendig. Um einen ‚schwie-
rigen‘ Jungen zu erziehen, scheinen körperliche Strafen ein nach wie vor zwei-
felsfrei einsetzbares Mittel. Die Erziehung zur Härte dient aber nicht der kör-
perlichen Zurichtung an sich, sondern der Durchsetzung von Leistungserwar-
tungen seitens der formalen Bildungsinstitutionen.
Auch in Bezug auf andere Differenzkategorien findet sich eine Prozessie-
rung institutioneller Passung. Insbesondere in der Schule finden sich Praktiken,
die zuallererst auf Schnittmengen von Geschlecht mit ökonomischem Hinter-
grund und Rassifizierungen verweisen.
Es hat geklingelt, die Kinder kommen rein, die Lehrerin spricht noch im Flüsterton zu mir.
„Und das ist nun tatsachlich so, dass die Kinder, dass die Jungs, viel mehr bemuttert werden.
Das hatten sie jetzt gerade gesehen, weil sie so viele rumanische Kinder hatten, „das soll
jetzt nicht rassistisch klingen, aber wir erfahren das ja einfach so, wenn wir Elterngespräche
haben, oder über Kollegen, dass den Jungs zu Hause echt der Hintern abgewischt wird und
ich muss sie immer wieder daran erinnern“, dass sie selber machen. (…) „Es ist schwieriger,
diese Jungs selbststandig zu kriegen.“ (TPAS-P)
Die Kritik der Lehrerin knüpft zuerst an fehlender Eigenständigkeit der Kinder
an. Nicht fachliche Inhalte, sondern fehlende Selbstsorge (hier in Bezug auf
Getränke) bietet den Anlass für die rassifizierende Schilderung der, durch ihre
Mütter verwöhnten rumänischen Jungen. Das Beispiel verweist auf eine Ver-
schränkung von gender, class und race zur Erklärung der Tatsache, dass die
kritisierten Schüler die Leistungserwartungen in Bezug auf Selbstständigkeit
nicht erfüllen.
Alle drei Beispiele aus Institutionen der formalen Bildung dokumentieren
die Bedeutung institutioneller Vorstellungen von Leistung. Damit ist in den
meisten Fällen nicht unmittelbar die Fachleistung gemeint, sondern ein spezi-
fischer Dreiklang aus Fachleistung, leistungsbezogenem Verhalten und Leis-
tungsbereitschaft (vgl. Budde et al. 2022). Im ersten Beispiel ist die unmittel-
bare fachliche sportliche Leistung das institutionelle Ziel, im zweiten Beispiel
der regelmäßige Besuch der Ausbildungsstätte und im letzten Fall Selbsttätig-
keit als Grundbedingung schulischer Leistungsbereitschaft. In allen Fällen sol-
len institutionelle Anforderungen erfüllt werden. Die Mittel, um diese institu-
tionelle Passung zu erzeugen, rekurrieren auf körperliche Härte, Beschämung
sowie rassifizierenden Vorurteilen und damit auf tradierte Mechanismen der
Herstellung von Differenz, Dominanz und Hierarchie, wie sie (nicht nur, aber
auch) in Connells Theoretisierung hegemonialer Männlichkeit benannt wurden
(vgl. Connell 1999, zu Beschämung siehe auch Rieske 2020).
275
Vielfältige Differenzen und exklusive Zugehörigkeit in non-formalen
Bildungsinstitutionen
Während sich für die Schule zeigt, dass doing masculinity zentral mit Leis-
tungsvorstellungen verwoben ist, zeigt sich für die non-formalen pädagogi-
schen Institutionen ein vielfältigeres Bild. In der Kindertagesstätte etwa doku-
mentiert sich Alter als zentrale Differenzkategorie, die Zugehörigkeit gewährt
oder auch verwehrt. Einerseits bezieht sich dies auf die generationale Differenz
zwischen Erzieher*innen und Kindern, andererseits auch auf die Relationen
der Kinder untereinander. Cremers und Krabel (in diesem Band) kommen zu
dem Schluss, dass „die Differenzierung nach ‚Geschlecht‘ aus unserer Per-
spektive überbetont bzw. […] insbesondere das Alter vernachlassigt“ wird.
Neben dem Alter bestehen in der Kindertagesstätte noch viele weitere Diffe-
renzlinien, über die Zugehörigkeiten und institutionelle Normen prozessiert
werden.
Auch das Projekt non-formale Bildung identifiziert mit der Zugehörigkeit
zur Gruppe eine weitere feldspezifisch relevante Differenzkategorie.
Wir sind sehr eigen. Wir sind nicht wie die anderen. Wir haben unseren eigenen Stil, wir
haben unseren eigenen Charakter, und wir sind einfach offen. Wir sind so, wie wir sind. Wir
verstellen uns nicht. Wir sind die Gleichen. Egal, ob wir jetzt einen Auftritt haben oder ob
wir irgendwo sind, wir sind trotzdem so, wie wir auch normal sind. Also, wir verstellen uns
jetzt nicht für irgendwelche Auftritte oder so was.
Ein Mitglied der Tanzgruppe betont „den eigenen Stil“, da sie nicht so „sind
wie die anderen“. Die Zugehörigkeit wird hier nicht über tradierte soziale Dif-
ferenzkategorien begründet, sondern über die Gruppenkultur. Die Zugehörig-
keit zur Peergroup wird nicht primär über Geschlecht, die Exklusivität des Bin-
nengefüges der Gruppe „wir verstellen uns nicht“ organisiert diese viel-
mehr. Zwar beinhaltet dies durchaus Mechanismen des Ein- und Ausschlusses
und der Binnenhierarchie zwischen Trainerin und Peers (wie sie sich auch bei
der Herstellung von Geschlechtszugehörigkeit finden lassen), wie sich in einer
genaueren Analyse der Praktiken der Tanzgruppe zeigt. Die Mechanismen des
Ein- und Ausschlusses werden allerdings nicht zuletzt aufgrund der koedu-
kativen Zusammensetzung – nicht über vergeschlechtlichte Abgrenzungen or-
ganisiert, sondern rekurrieren auf eigene Kategorien der Zugehörigkeit.
Die Hinweise auf Kindertagesstätte (vgl. auch Kap. 5.2.3) wie Tanzgruppe
verdeutlichen exemplarisch, dass in den non-formalen Bildungsinstitutionen
Zugehörigkeiten verhandelt werden. Dies kann zwar mit Männlichkeit und Ge-
schlecht verknüpft sein, gleichzeitig spielen auch weitere Kategorien eine kon-
stitutive Rolle. Dies reflektiert in gewisser Hinsicht die größere institutionelle
und curriculare Offenheit der non-formalen Bildung, die unter anderem darauf
abzielt, Kindern und Jugendlichen (pädagogisch gerahmt) unterschiedliche Er-
fahrungen eigener higkeiten und Kompetenzen zu ermöglich. Gleichwohl
spielen auch für diese non-formalen pädagogischen Institutionen (ähnlich wie
276
in der formalen schulischen Bildung) die Herstellung von Zugehörigkeiten in-
nerhalb sozialer Kontexte eine wichtige Rolle. Denn alle untersuchten forma-
len wie non-formalen pädagogische Institutionen verfolgen das Ziel, Praktiken
der Zugehörigkeiten innerhalb von sozialen Kontexten und unter Bezug auf
die je spezifischen institutionellen Erwartungen pädagogisch zu rahmen.
5.2 Männlichkeit als generationale Entwicklung
In Bezug auf Transformationen im Laufe von Kindheit und Jugend zeigen sich
empirisch drei Entwicklungslinien, die in der Summe auf die Etablierung von
Männlichkeitsnormen und adulter Rationalität verweisen.
Von der homosozialen Gemeinschaft zu heterosozialen Kontexten
Wie das Kapitel 4.1 zeigt bestehen unabhängig von der jeweiligen pädagogi-
schen Institution Praktiken, in denen dominante Männlichkeit in den ‚ernsten
Spielen des Wettbewerbs‘ eingeübt wird. Die Abgrenzung von Weiblichkeit
ist dabei insbesondere für die Phase der Kindheit und in der Schule von großer
Bedeutung, wie die Befunde aus den Teilprojekten zeigen. Zwar finden sich
auf der Ebene der Praxis auch in der Kindheit Interaktionen zwischen Jungen
und Mädchen, jedoch dominieren Bezüge auf Geschlechterdifferenzen. Im
zeitlichen Verlauf allerdings verliert diese Abgrenzungslinie an Relevanz und
die homosoziale Peergroup wird ergänzt oder ersetzt durch heterosoziale
Freundschaftsgruppen. In der Tanzgruppe findet sich ein inklusiver Bezug auf
die Zugehörigkeit zu einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe, wie ein Mitglied
ausführt:
„Also, mittlerweile sind sie nicht nur Freunde, sondern auch schon fast Familie geworden,
weil wir sehen uns auch eigentlich schon fast immer in der gesamten Gruppe teilweise sehr
oft, auch außerhalb [der Sporteinrichtung], außerhalb von Auftritten, wie zum Beispiel zu
Weihnachtsfeiern oder wenn Nadine mal sagt: Kommt vorbei und lasst einfach was essen.
Und deswegen sehe auch ich die Breakers quasi schon als Familie an. Oder als sehr, sehr
feste Freunde, wie man es nehmen möchte.“ (TPNB-I)
Tim, ein Mitglied der Tanzgruppe entwirft sich in diesem Interview als Teil
einer aufeinander bezogenen „Familie“, die durch gemeinsame Aktivitaten ei-
nen positiv konturierten emotionalen Innenraum konstituiert, der auf der Ebene
der Peers weder geschlechtsbezogene Differenzierungen noch Binnenhierar-
chien aufweist.
Auch die Befunde der anderen Teilprojekte zeigen in der Summe, dass im
Zeitverlauf von Kindheit und Jugend die explizite Abgrenzung von Weiblich-
keit abnimmt. Dies deutet allerdings im Gegensatz zum Beispiel der
Tanzgruppe nicht in allen Fällen auf eine Enthierarchisierung von
Geschlechterrelationen hin, sondern kann auch auf die Inkorporierung einer
277
Geschlechterordnung hindeuten, die auf offensichtliche Durchsetzung nicht
mehr angewiesen ist. Denn einerseits können homosoziale Bezugnahme auf
einer impliziteren Ebene weiter bestehen und zum zweiten können
selbstverständlich auch heterosoziale Interaktionen binäre Geschlechter-
stereotype verstärken. Allerdings stellen dies eher theoretische Überlegungen
dar, da diese Positionen im Material der Teilprojekte kaum vorzufinden waren.
Nichtsdestotrotz nimmt die Bedeutung der offensichtlichen Abgrenzung für
die Konstitution von Männlichkeit und der Anerkennungskämpfe unter Jungen
ab und dies bietet Möglichkeiten für eine egalitäre Praxis.
Vom Trösten zur Geschlechterkritik
Wie in Kap 4.2.2 und 4.2.3 dargestellt finden sich vielfaltsorientierte Transfor-
mationen etwa in Richtung Fürsorge oder Differenzkritik in allen untersuchten
pädagogischen Institutionen. Auf der Ebene der Peers verschiebt sich der
Schwerpunkt allerdings im Zeitverlauf, diese Veränderung lässt sich auf die
Formel ‚vom emotionalen Trösten zur Geschlechterkritik‘ bringen. So können
sich – wie analysiert – in der Kindertagesstätte und der Grundschule zahlreiche
Praktiken beobachten lassen, in denen sich Kinder (mit oder ohne Aufforde-
rung durch andere) gegenseitig trösten, etwa wenn sich diese weh getan haben
oder schlechte Noten erhalten haben, wie das folgende Beispiel aus der Kin-
dertagesstätte zeigt.
„Johanna fallt die Couch runter und landet auf den Armen und dem Bauch. Neben den beiden
Fachkräften kommen auch gleich vier Kinder (Mädchen wie Jungen) zu ihr gelaufen, um zu
schauen, wie es Johanna geht und auch um sie zu trösten“. (TPKT-P)
Zwar finden sich diese Praktiken auch noch in der Jugendphase, allerdings in
geringerer Intensität. Was dort hingegen zunimmt, ist eine geschlechteregali-
täre, bzw. -kritische Einstellung bei Jugendlichen unabhängig von den be-
forschten Bildungsinstitutionen. Darauf verweisen zum Beispiel die differenz-
kritischen und professionsbezogenen Einstellungen in den erforschten berufli-
chen Schulen. Ein Beispiel für eine explizit geschlechterkritische Positionie-
rung von Jungen unter Peers findet sich im Politikunterricht in der weiterfüh-
renden Schule, bei dem – durch den didaktisch eingeführten Gegenstand Gen-
der Pay Gapfeministische und männliche Dominanz kritisierende Positio-
nen von Jungen artikuliert werden.
Anton sagt „in der Berufswelt ist es, wenn eine Person für ein Jahr ausfallt, oder langer, z.B.
wegen einer Schwangerschaft, dann ist das nicht gut für ein Unternehmen“. Protest regt sich
im Kurs. „Oh man ey!“, stöhnt Bela, wahrend Anton redet. Bela widerspricht laut „Eine Frau
fällt nicht automatisch ein Jahr aus! Das ist das, was von der Gesellschaft erwartet wird, aber
das ist falsch!“ Ein lauter Disput zwischen Anton, Markus, Bela folgt. Anton sagt „Das ist
halt unvorteilhaft fürs Unternehmen. Dann fehlt eine Arbeitskraft.“ Eymen dreht sich um zu
Markus „So zu denken ist aber voll Asi eigentlich“ sagt er zu ihm. Der Disput geht laut
278
weiter, Markus ruft „Wir wissen ja, Kapitalismus und Gerechtigkeit ist so ne Sache!“ Es
folgt Gelächter, dann geht die laute Diskussion weiter. (TPAS-P)
Anton verweist in der Diskussion darauf, dass Unternehmen Nachteile
erfahren, wenn Mitarbeiterinnen aufgrund von Schwangerschaft und Geburt
für längere Zeit nicht erwerbstätig sind. Diese Position allerdings erfährt
scharfe Kritik, indem einerseits die Normativität der Annahme von Bela
empirisch angezweifelt wird und Eymen den normativen Gehalt als „voll Asi“
kritisiert. Markus ratifiziert dann die Kritik, indem er darauf hinweist, dass
„Kapitalismus und Gerechtigkeit“ (hier im Sinne feministisch konnotierter
Entscheidungsfreiheit) nicht gut vereinbar sei. Vorherrschende inhaltliche
Norm der Schüler ist die Positionen der beruflichen Gleichberechtigung.
Schon groß sein – noch klein sein: Normative generationale Erwartungen
Die Analyse von Veränderungen des doing masculinity im Zeitverlauf bringt
das Phanomen des „schon groß sein“, bzw. „noch klein sein“ hervor. Verweise
auf Generationalität werden in pädagogischen Praktiken genutzt, um über
diese Differenzkategorie an eine altersangemessene und ‚groß-sein entspre-
chendes‘ (spricht rational-vernünftige) Verhalten zu appellieren. Exemplarisch
zeigt sich dies in dem Teilprojekt zu Bildung in der frühen Kindheit, welches
die besondere Bedeutung von Generationalität für die Herstellung von Domi-
nanz herausstreicht. Dadurch werden Disziplinierungen legitimiert und durch-
gesetzt und die Erwartung an die Einhaltung eines spezifischen Normhorizon-
tes markiert. Dies zeigt etwa die folgende Situation im Gruppenraum im Rah-
men eines Morgenkreises, bei der die Kategorie „Vorschüler*in“ als Adressie-
rung durch die Fachkräfte aufgerufen wird.
„Maik steht ab und zu auf und setzt sich woanders hin. Die (weibliche) Fachkraft daraufhin:
„Maik, du bist jetzt ein Vorschulkind, du wirst es schaffen, sitzen zu bleiben.“ Etwas spater
beim Namen-Spiel sagt Elisa ihren Namen nicht. Kerstin daraufhin (in eher freundlichem
Ton): „Elisa, du schaffst das, ich weiß das. Du bist nachstes Jahr ein Vorschulkind, da kannst
du schon mal reden.“ (TPKT-P)
Die Kategorie Vorschulkind markiert einen spezifischen Erwartungshorizont
in Bezug auf Verhalten (‚sitzenbleiben‘) und Selbstvertrauen (‚Namen sagen‘),
der sich in der Kindertagesstätte geschlechterunabhängig auf die institutionelle
Kategorie einer altersgemäßen Entwicklung bezieht. Mit einem bestimmten
Alter wird ein spezifischer Status („Vorschulkind“) und daraus begründet eine
Verhaltenserwartung verbunden, die Differenzen zwischen verschiedenen
Kindern konstruiert. Dabei geht es in der Regel um die pädagogisch geleitete
Auseinandersetzung mit dem normangemessenen Handeln in Gruppen. Auch
unter den Kindern wird Generationalität in ähnlicher Weise praktisch thema-
tisch. Die folgende protokollierte Situation, in der ein älterer Junge die Regel
missachtet, dass Kindergartenkinder (im Gegensatz zu Krippenkindern) be-
stimmte Roller nicht mehr fahren dürfen, spielt im Garten der Einrichtung.
279
Heute sind die Kinder schon sehr früh draußen, weil sie schon um 11:30 zu Mittag essen.
Nizar, der auch noch nicht so lange aus der Krippe raus ist, fährt mit einem blauen Motor-
roller auf dem blauen Weg. Das scheint aber den Krippenkindern vorbehalten zu sein, woran
er von einigen älteren Kindern, die um ihm herumstehen, erinnert wird. Nizar ignoriert dies
und fährt weiter auf dem Motorroller, indem er mit seinen Beinen und Füßen das Gefährt
anschiebt. Etwa drei Minuten später ist die Traube der Kinder deutlich größer geworden, die
Nizar auffordert den Roller zu verlassen, weil er für die „Kleinen“ gedacht ist. (TPKT-P)
Das Beispiel zeigt, wie die Kinder auch untereinander die Relevanz der
Kategorie Alter bedeutsam machen, Nizar führt mit einem Roller, der ihm qua
Gruppenzugehörigkeit zu „den Großen“ nicht mehr zusteht. Diese Regelver-
letzung markieren andere Kinder und weisen Nizar darauf hin. Die institutio-
nelle Regel der Ressourcenvergabe qua Alter wird praktisch innerhalb der
Peer-Group prozessiert. Je älter allerdings die Kinder in den unterschiedlichen
Institutionen werden, desto exklusiver wird der Vorwurf, sich nicht altersan-
gemessen genug bzw. sich ‚wie ein Kleinkind‘ zu verhalten an Jungen
adressiert. Auch in der Schule zeigen sich an Alter gebundene Verhaltenser-
wartungen im Sinne des ‚noch klein sein‘ – hier ausschließlich für Jungen. So
kritisiert eine Lehrerin der 8. Klasse im Gesprach, „Tomke sei ja Kindergarten,
er turne immer rum“. Auch im Unterricht adressiert sie Tomkes Verhalten als
„Kindergarten“ und damit in der generationalen Ordnung als nicht angemes-
sen. Damit wird im Laufe der zeitlichen Entwicklung ein allgemeines
Entwicklungsmotiv namlich rational und ‚vernünftig‘ zu sein (sprich, die
institutionellen Verhaltenserwartungen zu erfüllen) als eines eingeführt,
welches exklusiv an Jungen adressiert wird. Deren (mangelnde) Reife ist
oftmals Gegenstand normbezogener pädagogischer Thematisierungen,
wohingegen etwa das Teilprojekt zu Bildung in Schule darauf hinweist, dass
Mädchen eher als ‚zu reif‘ sexualisiert und kritisiert werden. Mannlicher
Jugendlicher zu werden bedeutet damit, sich vom Status des Kindlichen,
Verspielten, Irrationalen und Emotionsorientierten zu lösen und ‚groß‘ zu
werden. Dies impliziert Vorstellungen rationaler Männlichkeit und kann einer
Verdrängung emotionaler Anteile Vorschub leisten.
6 Diskussion und Fazit
6.1 Transformation oder Tradierung?
Die vorliegenden Teilstudien bestätigen die bekannten Befunde zur Herstel-
lung von nnlichkeit durch dominanzorientierte Aktivitäten und der Ein-
übung in Mannlichkeit durch die „ernsten Spiele des Wettbewerbs“ (Meuser
2006: 163) als weiterhin gültig. Körperliche Leistungsfähigkeit und Wett-
kampf erweisen sich in unterschiedlichen Teilprojekten als wichtige Bastion
280
der Herstellung von männlicher Dominanz. Nicht selten wird dies pädagogisch
begleitet oder sogar initiiert. Männlichkeit wird so im habitualisierten körper-
lichen Bereich als erzieherische Praxis generiert. Die Protokolle berichten von
Ausgrenzungen und Dominanzpraktiken sowohl gegenüber Weiblichkeit
(„richtig loslegen“), als auch gegenüber anderen Jungen („Madchenrosa“).
Diese müssen sich nicht immer auf ein konkretes Gegenüber beziehen, sondern
können auch allgemeine Darstellungen (körperlicher) Überlegenheit sein, die
geschlechtlich konnotiert sind.
Zwar verweisen die Analysen darauf, dass die Aktivitäten je nach Alters-
stufen der Jungen und pädagogischer Institution eine Ressource zu Herstellung
und Absicherung männlicher Dominanz sein können, allerdings liegen eben-
falls zahlreiche Befunde in den Projekten vor, die alternative Gestaltungsfor-
men von Männlichkeit dokumentieren. So ergeben sich in Interaktionen unter
Jungen auch geschlechterkritische und inklusive Praktiken, sodass die These
der Einübung in Mannlichkeit durch die ‚ernsten Spiele des Wettbewerbs‘ re-
lativiert werden muss. Denn in der Summe finden sich wiederholt Praktiken,
in denen Elemente wie Dominanz, die Abgrenzung von Weiblichkeit oder ein
funktionaler, wettkampforientierter Umgang mit Körper nicht aufgegriffen
werden, und die sich daher als „inklusive Mannlichkeit“ verstehen lassen
(Anderson 2011; Anderson und McCormack 2018). Transformationen von
Männlichkeitskonzeptionen in Richtung Fürsorge und Geschlechterkritik ohne
Bezug auf Differenz und Hierarchie zeigen sich in allen untersuchten Alters-
stufen und Institutionen und müssen entsprechend als legitimer Bestandteil von
gegenwärtigem Junge-Sein betrachtet werden. Tradierte Dominanzorientie-
rungen scheinen praktisch an Relevanz für die Strukturierung von Aktivitäten
unter Peers als auch mit Professionellen in pädagogischen Institutionen zu ver-
lieren. Auch auf der körperlichen Ebene zeigt sich nicht nur die Tradierung
dominanter Männlichkeit, sondern ebenso eine Ausweitung fürsorglicher
Praktiken. Dies stellt eine Transformation gegenüber früheren Studien dar, die
noch von einem Zärtlichkeitstabu unter Jungen ausgegangen waren.
Dieser Befund stützt sich auch auf die Tatsache, dass die hier exemplarisch
analysierten Beispiele keine Widersprüche oder Entwertungen inklusiver
Praktiken dokumentieren. Die egalitäts- und vielfaltsorientierten Praktiken
sind ebenso selbstläufig und routiniert wie die norm- und dominanzbezogenen.
Kleine Unterschiede zeigen sich allerdings: Bei älteren Beteiligten und in
formalen Bildungsinstitutionen erscheinen die Orientierungen ‚professio-
neller’ und ‚kognitiver‘. In diesem Sinne transformieren sich die Aktivitäten.
Nicht mehr nur „Entdramatisierung von Geschlecht“ (Faulstich-Wieland et al.
2004; Budde et al. 2008) in je spezifischen Kontexten, wie noch Anfang der
2000er Jahre angenommen wurde, sondern eine darüber hinausreichende,
Ausweitung legitimer Handlungsmöglichkeiten von Jungen (und damit ein
tendenzieller Bedeutungsverlust radierter Männlichkeit in Kindheit und
Jugend) erweisen sich als ebenso stabiles wie legitimes Interaktionsmuster.
281
Diese vielfaltsorientierte Position rekurriert dabei weniger auf ‚alternative‘
Formen einer ‚positiv besetzten‘ Mannlichkeit (etwa im Sinne einer Debatte
um „neue Manner“, vgl. Pech 2002; Zulehner und Volz 1998), sondern
reklamiert geschlechterdifferenzunabhängige allgemeingültige Perspektiven,
die Spielraum für individuelle Differenzsetzungen lassen (wie ‚nett sein‘ oder
‚gerne helfen‘).
Egalitäre Praktiken, die den Handlungsspielraum von Jungen und männli-
chen Jugendlichen jenseits dominanzorientierter Männlichkeitskonzeptionen
erweitern, und die unter Peers aller Altersstufen und in allen pädagogischen
Institutionen relativ weit verbreitet sind, können sich auf der Peer-Ebene nicht
nur als legitim erweisen, sondern bisweilen wie das Beispiel der Politik-
stunde oder die Tanzgruppe zeigt – selber die vorherrschende Deutungsmuster
werden können. Hingegen finden explizit geschlechterkritische Positionierun-
gen, in denen Ungleichheitsverhältnisse und vergeschlechtlichte Normen the-
matisiert und kritisiert werden, unter Peers sehr viel seltener statt. Auch exis-
tieren an manchen Stellen pädagogische Praktiken der Professionellen, welche
die Binarität und Hierarchie explizit geschlechterkritisch anfragen.
Damit kann für die untersuchten Institutionen in der Summe eine Gleich-
zeitigkeit tradierter und transformierter männlichkeitsbezogener Praktiken an-
genommen werden. In allen untersuchten Institutionen scheinen dominanz-
und vielfaltsorientierte Positionen auf der Mikroebene sozialer Praxis relativ
konfliktfrei nebeneinander bestehen zu können. Entsprechend stellen sich
diese Konstellation als Spannungsfeld dar, in dem allerdings weniger Kämpfe
um Deutungshoheit ausgefochten werden, sondern unterschiedliche Männlich-
keitskonzeptionen parallel zueinander existieren können, ohne in dauerhafte
Konflikte zu geraten. Dies entspricht einerseits einer allgemeinen Entwicklung
moderner Gesellschaften, die durch Individualisierung, Enttraditionalisierung
und Pluralisierung gekennzeichnet sind. Andererseits besteht dadurch das Ri-
siko, Ungleichheitsverhältnisse unkenntlich zu machen, da Machtverhältnisse
und Widerstand dethematisiert oder bagatellisiert werden. Die Institutionali-
sierung von Kindheit scheint somit Möglichkeiten der praktischen Ausweitung
der Handlungsspielräume von Kindern und Jugendlichen zugunsten vielfalts-
orientierter Positionen zu bieten, ohne dass dadurch bereits Herrschaftsverhält-
nisse transformiert werden.
Zu berücksichtigen ist, dass die Daten zu einem nicht geringen Teil aus
Einrichtungen stammen, die aus unterschiedlichen Gründen eher ‚am
Rande‘ tradierter Mannlichkeitskonzeptionen‘ angesiedelt sind, sei es auf-
grund eines je spezifischen diskriminierungssensiblen Konzeptes, aufgrund
besonderer Erfahrungen mit benachteiligten oder non-binären Kindern oder
aufgrund der Ausrichtung auf ein weiblich kodiertes Berufsfeld. Somit stellen
die Theoretisierungen auch deswegen kein Abbild ‚der‘ Praxis dar oder
könnten Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Vielmehr zeigen sich
exemplarische Strukturen in Bildungsinstitutionen, die Transformationen
282
tradierter Geschlechter- und Männlichkeitskonzeptionen tendenziell positiv-
gestalterisch gegenüberstehen. Der darauf beruhende Befund einer Parallelität
und vielschichtigen Transformation in Richtung Fürsorge und Geschlechter-
kritik ist nicht zuletzt diesem Umstand geschuldet und akzentuiert damit eine
andere Perspektive als jene, die sich insbesondere für die Reproduktion von
Differenz und Hierarchie interessiert.7
6.2 Differenzierungen
Jenseits der allgemeinen Befunde zeigen sich auch Differenzierungen. Kind-
heit in elementar- und primarpädagogischen Institutionen stellt eine besonders
intensive Phase des doing masculinity dar. Mit zunehmendem Alter nimmt die
Häufigkeit offensichtlicher Praktiken bei Jugendlichen ab. Auch die pädago-
gischen Adressierungen verschieben sich: Stehen in der Kindheit noch emoti-
onalisierende und fürsorgliche Praktiken im Vordergrund, so werden die Inter-
aktionen zwischen Jungen und Pädagog*innen zunehmend distanzierter, rati-
onaler und ironischer, wie die Befunde der einzelnen Teilprojekte zeigen. Dies
fügt sich in eine altersbezogene Entwicklungslinie ein, nach der sich das päda-
gogische Arbeitsbündnis verschiebt. Zu Beginn des Bildungsweges von Kin-
dern in pädagogischen Institutionen steht die Regulation individueller Emoti-
onen im Verhältnis zum Leben in Gruppen im Vordergrund (und damit der
Erwerb von ‚Haltungen‘ zu überindividuellen, institutionellen Normen). Nor-
mierte institutionelle Erwartungen an ein (nicht naher spezifiziertes) ‚altersge-
rechtes Verhalten‘ flankieren diesen Wechsel dauerhaft, indem Rationalitat
und Vernunft als altersbezogene Fähigkeit in jenen Fällen markiert wird, in
denen (insbesondere) Jungen diesen Erwartungen nicht entsprechen. Päda-
gog*innen agieren hier in gewisser Hinsicht als Stellvertreter*innen dieser
Normen, indem sie diese auch durch die eigene Person kenntlich machen, wie
etwa der Erzieher, der angibt, dass er „eine Pause braucht“ und so die Legiti-
mität von Erholungsphasen darstellt. In der Jugend gestaltet sich das pädago-
gische Arbeitsbündnis dann rationaler und sachbezogener. Weniger Emotio-
nen als vielmehr Inhalte bilden den Gegenstand pädagogische Praktiken, bei-
spielsweise in der Schule oder der Tanzgruppe. Trotzdem werden für eine pä-
dagogische Beziehung weiterhin wichtige emotionale Bezüge hergestellt, ins-
besondere über Ironie. Damit verschiebt sich auch die generationale Ordnung
hin zu rationaleren und fordernderen Interaktionen.
Darüber hinaus gestalten sich diese Beziehungen innerhalb eines
professionellen pädagogischen Settings. Im Rahmen der Institutionalisierung
und Pädagogisierung von Kindheit und Jugend sind mithin auch Praktiken des
7 Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Daten zur Fundierung einer analytischen Heuristik
herangezogen wurden und die Auswertung aus diesem Grunde hier nicht in aller Detailtiefe
durchgeführt werden konnten (für genauere Analysen vgl. die Beiträge in diesem Band).
283
doing masculinity zunehmend in institutionelle Konstellationen eingebunden,
die einerseits egalisierend und vielfalt-ermöglichend wirken. Denn die Institu-
tionalisierung von Kindheit scheint glichkeiten der praktischen
Ausweitung der Handlungsspielräume von Kindern und Jugendlichen zugun-
sten vielfaltsorientierter Positionen zu bieten. Andererseits aber vollziehen sich
Praktiken des doing masculinity in pädagogischen Institutionen immer inner-
halb eines spezifischen normativen Horizontes – nämlich einem pädagogisch-
institutionellen und sind entsprechend schon immer gerahmt. Diese
Rahmung bezieht sich zum ersten auf je spezifische Verhaltens-, Leistungs-
und Zugehörigkeitsnormen. Zum zweiten wirken die Normen selbstverständ-
lich praktisch normierend und sind damit mit Machtverhältnissen verwoben.
Pädagogische Institutionen wirken auf diese Weise präfigurierend auf die in
ihnen realisierbaren Männlichkeitskonzeptionen ein.
Die Herstellung von Dominanz vollzieht sich insbesondere in formalen Bil-
dungsinstitutionen. So erweist sich in der Schule vor alle der koedukative
Sportunterricht als eine explizite Basis für die Etablierung von Geschlechter-
hierarchien und -normen. Die Tatsache, dass dies vor allemm in formalen Bil-
dungsinstitutionen beobachtet wird, lässt darüber hinaus die Vermutung zu,
dass diese Praxis mit spezifischen curricularen Vorgaben und Leistungsanfor-
derungen verknüpft ist. Während die non-formalen Bildungsinstitutionen fle-
xibler mit Inhalten und Interaktionen umgehen können, bestehen in den forma-
len Bildungsinstitutionen mit den zu bewertenden Inhalten und der Teilnahme-
verpflichtung gleichsam außerhalb der unmittelbaren Interaktionspraxis lie-
gende Konstellationen (wie Gesetze, Lehrpläne, usw.) welche verbindlichere
Formen der Kooperation notwendig machen.
Vor allem in elementar- und primarpädagogischen Einrichtungen spielen
darüber hinaus Praktiken des doing differences eine explizite Rolle. In beiden
Institutionen non-formaler Bildung steht nicht Geschlecht im Vordergrund.
Vielmehr sind die Kategorien auf der Peer-Ebene eng verwoben mit institu-
tionsorganisierenden Differenzen wie Zugehörigkeit oder Generation. Auch in
formalen Bildungsinstitutionen beziehen sich Differenzkonstruktionen neben
Geschlecht unter Peers zumeist auf institutionelle Relevanzen, in der
weiterführenden Schule gewinnt Leistung an Bedeutung für die Herstellung
von Dominanz.
Literaturverzeichnis
Acker, Joan (1992): From Sex Roles to Gendered Institutions. In: Contemporary Soci-
ology, 21 (5): 565. doi:10.2307/2075528.
Anderson, Eric (2011): Inclusive masculinity: The changing nature of masculinities.
New York: Routledge.
284
Anderson, Eric/McCormack, Marc (2018): Inclusive Masculinity Theory: overview, re-
flection and refinement. In: Journal of Gender Studies, 27 (5): 547–561.
doi:10.1080/09589236.2016.1245605.
Aries, Phillip (2007): Geschichte der Kindheit, München: Dt. Taschenbuch.
Augustin-Dittmann, Sandra/Gotzmann, Helga (Hrsg.) (2015): MINT gewinnt Schüle-
rinnen: Erfolgsfaktoren von Schülerinnen-Projekten. Wiesbaden: Springer.
Baar, Robert (2010): Allein unter Frauen: Der berufliche Habitus männlicher Grund-
schullehrer. Wiesbaden: Springer.
Beaufays, Sandra/Engels, Anita/Kahlert, Heike (2012): Einfach Spitze? Neue Ge-
schlechterperspektiven auf Karrieren in der Wissenschaft. Frankfurt/Main: Cam-
pus.
Bittner, Martin/Budde, Jürgen (2018): Praktiken der Differenz in der Schnittmenge von
Schule und Familie. In: Thon, Christine/Menz, Magarete/Mai, Miriam/Abdessa-
dok, Luisa (Hrsg.): Kindheiten zwischen Familie und Kindertagesstätte. S. 225–
243. Wiesbaden: Springer.
Bollig, Sabine/Neumann, Sascha/Betz, Tanja/Joos, Magdalena (2018): Einleitung. In-
stitutionalisierungen von Kindheit. Soziale Ordnungsbindungen im Schnittfeld
von Pädagogik, Wissenschaft und Gesellschaft. In: Betz, Tanja/Bollig, Sa-
bine/Joos, Magdalena/Neumann, Sascha (Hrsg.): Institutionalisierungen von Kind-
heit. S. 7–20. Weinheim: Juventa.
Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Bowleg, Lisa. 2012: The problem with the phrase women and minorities: Intersection-
ality – an important theoretical framework for public health. In: American Journal
of Public Health, 102, S.1267–1273.
Brehmer, Ilse (Hrsg.) (1982): Sexismus in der Schule: Der heimliche Lehrplan der Frau-
endiskriminierung. Weinheim: Juventa.
Breidenstein, Georg (2006): Teilnahme am Unterricht: Ethnographische Studien zum
Schülerjob. Wiesbaden: Springer.
Budde, Jürgen (2005a): Doing gender - Doing masculinity. Männlichkeiten in schuli-
schen Interaktionen. In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien,
23 (4), S. 68–78.
Budde, Jürgen (2005b): Männlichkeit und gymnasialer Alltag: Doing gender im heuti-
gen Bildungssystem. Bielefeld: Transcript.
Budde, Jürgen (2010): „Der Valentin ist ein Sorgenkind…“. Bildungsungleichheiten
als kulturelle Passungsprobleme zwischen Habitus und Schulkultur? In: Erziehung
und Bildung (5+6), S. 505–512.
Budde, Jürgen (2012): Intersektionalität als Herausforderung für eine erziehungswis-
senschaftliche soziale Ungleichheitsforschung. In: Siebholz, Susanne/Schneider,
Edina/Busse, Susann/Sandring, Sabine/Schippling, Anne (Hrsg.): Prozesse sozia-
ler Ungleichheit. 245–258. Wiesbaden: Springer.
Budde, Jürgen (2014): Jungenpädagogik zwischen Tradierung und Veränderung. Em-
pirische Analysen geschlechterpädagogischer Praxis. Leverkusen: Barbara Bud-
rich.
Budde, Jürgen (2020): Bildungsungleichheiten zwischen Schule und Familien. In:
Kotthoff, Helga/Heller, Vivien (Hrsg.): Ethnografien und Interaktionsanalysen im
schulischen Feld: Diskursive Praktiken und Passungen interdisziplinär, S. 27–56.
Tübingen: Narr.
285
Budde, Jürgen/Nina Blasse (2016): Vergeschlechtlichungen von Care im inklusiven
Unterricht. In: Budde, Jürgen/Offen, Susanne/Tervooren, Anja (Hrsg.): Das Ge-
schlecht der Inklusion. S. 99–118. Leverkusen: Barbara Budrich.
Budde, Jürgen/Eckermann, Thorsten (2021): Grundrisse einer Theorie pädagogischer
Praktiken. In: Budde, Jürgen/Eckermann, Thorsten (Hrsg.): Studienbuch Pädago-
gische Praktiken. S. 10–34. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore (2008): Geschlechter-
gerechtigkeit in der Schule. Weinheim: Juventa.
Budde, Jürgen/Offen, Susanne/Schmidt, Jens (2013): Das Verhältnis von Praxis, The-
orie und persönlicher Haltung in der Weiterbildung von LehrerInnen zum Umgang
mit Kategorien sozialer Ungleichheit. In: Lehrerbildung auf dem Prüfstand (4), S.
32–49.
Budde, Jürgen/Rißler, Georg/Blasse, Nina/Geßner, Johanna (2022): Leistungsordung
in inklusiven Unterrichtskonstellationen. In: Fuhrmann, Laura/Akbaba, Yaliz
(Hrsg.): Schule zwischen Stagnation und Wandel. Wiesbaden: Springer.
Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts.
Berlin: Berlin Verlag.
Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/Willems, Katharina (2004): Doing Gen-
der im heutigen Schulalltag: Empirische Studien zur sozialen Konstruktion von
Geschlecht in schulischen Interaktionen. Weinheim: Juventa.
Fenstermaker, Sarah/West, Candace (2001): Doing difference revisited: Probleme,
Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung. In: Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft 41): S. 236–249.
Fölling-Albers, Maria (2000): Entscholarisierung von Schule und Scholarisierung von
Freizeit? Überlegungen zu Formen der Entgrenzung von Schule und Kindheit. In:
Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 20 (2), S. 118–131.
doi:10.25656/01:10932.
Fütty, Tamás Jules (2019): Gender und Biopolitik: Normative und intersektionale Ge-
walt gegen Trans*Menschen. Bielefeld: Transcript.
Goffman, Erving (2001): Interaktion und Geschlecht, Frankfurt/Main: Campus.
Henn, Monika (2009): Die Kunst des Aufstiegs: Was Frauen in Führungspositionen
kennzeichnet, Frankfurt/Main: Campus.
Honig, Michael-Sebastian (2010): Geschichte der Kindheit im „Jahrhundert des Kin-
des“. In: Krüger, Heinz- Heimann (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugendfor-
schung. S. 335–358. Wiesbaden: Springer.
Hurrelmann, Klaus (2012): Pädagogische Arbeit braucht gemischte Fachkollegien. In:
Hurrelmann, Klaus/Schultz, Tanjev (Hrsg.): Jungen als Bildungsverlierer: Brau-
chen wir eine Männerquote in Kitas und Schulen? S. 47–64. Weinheim: Juventa.
Jösting, Sabine (2005): Jungenfreundschaften: Zur Konstruktion von Männlichkeit in
der Adoleszenz. Wiesbaden: Springer.
Kelle, Helga (2013): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Zur
(Un)Unterscheidbarkeit und Bestimmung der Begriffe. In: Kelle,
Helga/Mierendorff, Johanna (Hrsg.): Normierung und Normalisierung der
Kindheit. S. 15–37. Weinheim: Juventa.
King, Vera (2009): „Weil ich mich sehr lange Zeit allein gefühlt hab‘ mit meiner
Bildung…“: Bildungserfolg und soziale Ungleichheiten unter Berücksichtigung
von class, gender, ethnicity. In: Budde, Jürgen/Willems, Katharina (Hrsg.):
286
Bildung als sozialer Prozess: Heterogenitäten, Interaktionen, Ungleichheiten. S.
53–72. Weinheim: Juventa.
Kleiner, Bettina (2015): Subjekt Bildung Heteronormativität: Rekonstruktion Schuli-
scher Differenzerfahrungen Lesbischer, Schwuler, Bisexueller und Trans*Jugend-
licher. Leverkusen: Barbara Budrich.
Martin, Patricia Yancey (2004): Gender As Social Institution. In: Social Forces 82 (4),
S. 1249–1273. doi: 10.1353/sof.2004.0081.
Klenk, Florian (2022): Die post-heteronormative Schule. Opladen: Barbara Budrich.
Martino, Wayne/Rezai-Rashti, Goli (2009): Relationship between Boys, Teachers and
Education. In: Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hrsg.): Jungenforschung empi-
risch: Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur. S. 191–204. Wies-
baden: Springer.
Meuser, Michael (2002): „Doing Masculinity“ - Zur Geschlechtslogik männlichen Ge-
walthandelns. In: Dackweiler, Regina- Maria/Schäfer, Reinhild (Hrsg.): Gewalt-
Verhältnisse: Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt. S. 53–78.
Frankfurt am Main: Campus.
Meuser, Michael (2006): Riskante Praktiken. Zur Aneignung von Männlichkeit in den
ernsten Spielen des Wettbewerbs. In: Bilden, Helga/Dausien, Bettina (Hrsg.): So-
zialisation und Geschlecht. S. 163–178: Leverkusen: Leske + Budrich.
Meyer, John W./Rowan, Brian (1977): Institutionalized Organizations: Formal Struc-
ture as Myth and Ceremony. In: American Journal of Sociology, 83 (2), S. 340–
363. doi: 10.1086/226550.
Michalek, Ruth (2006): „Also, wir Jungs sind …“: Geschlechtervorstellungen von
Grundschülern. Münster: Waxmann.
Mierendorff, Johanna. 2016: Elterliche und institutionelle Praxen der Distinktion in
kommerziellen Kindertageseinrichtungen in Deutschland – die narrative Konstruk-
tion von Ungleichheit. In: Diehm, Isabell/Kuhn, Melanie/Machold, Claudia
(Hrsg.): Differenz - Ungleichheit - Erziehungswissenschaft: Verhältnisbestimmun-
gen im (Inter-)Disziplinären. S. 239–256. Wiesbaden: Springer.
Nadai, Eva (2012): Von Fällen und Formularen: Ethnographie von Sozialarbeitspraxis
im institutionellen Kontext. Wiesbaden: Springer.
Pech, Detlef (2002): „Neue Manner“ und Gewalt: Gewaltfacetten in reflexiven mann-
lichen Selbstbeschreibungen. Opladen: Leske + Budrich.
Phoenix, Ann (2009): Consuming Masculinities: Intersections of Gender and Peer Cul-
ture in Everyday School Practices. In: Budde, Jürgen/Mammes, Ingelore (Hrsg.):
Jungenforschung empirisch: Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkul-
tur. S. 149–161. Wiesbaden: Springer.
Qin, Desiree (2006): The Role of Gender in Immigrant Children’s Educational Adap-
tation. In: Current Issues in Comparative Education, 9 (1), S. 8–19.
Rauschenbach, Thomas/Leu, Hans-Rudolf/Lingenauber, Sabine (2004): Non formale
und informelle Bildung in Kinder und Jugendalter: Konzeptionelle Grundlagen für
einen nationalen Bildungsbericht. Bonn.
Riegel, Christine (2010): Intersektionelle Perspektiven für die Kooperation von Schule
und Jugendhilfe. In: Ahmed, Sarina/Höblich, Davina (Hrsg.): Theoriereflexionen
zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule: Brücken und Grenzgänge. S. 143–
162. Baltmannsweiler: Schneider.
Müller, Ursula/Riegraf, Birgit/Wilz, Sylvia Marlene (2013): Geschlecht und Organisa-
tion. Wiesbaden: Springer.
287
Rose, Lotte/Schulz, Marc (2007). Gender-Inszenierungen. Jugendliche im pädagogi-
schen Alltag. Königstein, Taunus: Helmer.
Schaefers, Christine (2009): Schule und Organisationstheorie - Forschungserkenntnisse
und -fragen aus der Perspektive des soziologischen Neo-Institutionalismus. In:
Koch, Sascha (Hrsg.): Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft.
Grundlegende Texte und empirische Studien. S. 308–325: Wiesbaden: Springer.
Schatzki, Theodore R (2016a): Practice Theory as Flat Ontology. In: Spaargaren,
Gert/Weenink, Don/Lamers, Machiel (Hrsg.): Practice Theory and Research: Ex-
ploring the dynamics of social life. S. 28–42. Florence: Taylor and Francis.
Schatzki, Theodore R (2016b): Praxistheorie als flache Ontologie. In: Schäfer, Hilmar
(Hrsg.): Praxistheorie: Ein soziologisches Forschungsprogramm. S. 29–44. Biele-
feld: transcript.
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (2019): Caring Masculinities? Männlichkeiten in der
Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München: oekom.
Smith, Dorothy E (2006): Institutional ethnography as practice. Lanham, Md.: Rowman
& Littlefield.
Tertilt, Hermann (2001): Turkish Power Boys: Ethnographie einer Jugendbande. Frank-
furt am Main: Suhrkamp.
Theweleit, Klaus (1983): Männerphantasien 1: frauen, fluten, körper, geschichte.
Frankfurt/Main: Roter Stern.
Weber, Martina (2009): Das Konzept „Intersektionalitat“ zur Untersuchung von Hie-
rarchisierungsprozessen in schulischen Interaktionen. In: Budde, Jürgen/Willems,
Katharina (Hrsg.): Bildung als sozialer Prozess: Heterogenitäten, Interaktionen,
Ungleichheiten. S. 73–91. Weinheim: Juventa.
Weber, Martina/Gosch, Petra (2005): Inszenierung von Männlichkeit unter Bedingun-
gen sozialer Randständigkeit: Kind Jugend Gesellschaft. In: Zeitschrift für Jugend-
schutz, 50 (1), S. 18–23.
Wellgraf, Stefan (2014): Hauptschüler: Zur gesellschaftlichen Produktion von Verach-
tung. Bielefeld: Transcript Verlag.
West, Candace/Zimmerman, Don H (1991): Doing gender. In: Lorber, Judith/A. Farell,
Susann (Hrsg.): The social construction of gender. S. 13–37. London: Sage.
Zeiher, Helga (2009): Ambivalenzen und Widersprüche der Institutionalisierung von
Kindheit. In: Honig, Michael- Sebastian (Hrsg.): Ordnungen der Kindheit. Prob-
lemstellungen und Perspektiven der Kindheitsforschung. S. 103–126. Weinheim:
Juventa.
Zulehner, Paul/Volz, Rainer (1998): Männer im Aufbruch. Wie Deutschlands Männer
sich selbst und wie Frauen sie sehen: Ein Forschungsbericht. Ostfildern:
Schwabenverlag.
Was heißt heutzutage ‚mannlich‘ sein? Von ‚dicken
Begriffen‘, ‚diskursiven Brecheisen‘, ‚Barbiepuppen
als Spiderman‘, ‚Jungs im rosa Kleid‘ und dem Ringen
um Begriffe und männlichkeitstheoretische Konzepte
in der Forschungspraxis
Kevin Stützel im Gespräch mit Jürgen Budde, Stephan Höyng,
Marc Thielen, Thomas Viola Rieske und Sylka Scholz
Der Projektverbund „Jungen und Bildung“ ist ein vom Bundesministerium für
Familie, Frauen, Jugend und Senioren gefördertes Forschungsprojekt. Es be-
steht aus sechs Teilprojekten, die an verschiedenen Universitäten verortet wa-
ren, gesteuert wurde das Projekt von der Europa-Universität Flensburg. Bei
einem unserer ersten präsenten Verbundtreffen in Berlin stellte sich rasch eine
anregende Diskussionsatmosphäre ein. Denn es kamen Forscher*innen zusam-
men, die sich schon lange mit Männlichkeit beschäftigt hatten und die Männ-
lichkeitsforschung in Deutschland mitgeprägt hatten, und Wissenschaftler*in-
nen, die erst seit kurzen zu diesem Gegenstand forschten. Theoriebrocken und
empirische Bruchstücke flogen durch den Raum und es herrschte eine Auf-
bruchstimmung, nun in einem gemeinsamen Forschungsverbund all die offe-
nen Fragen zu Jungen, männlichen Jugendlichen und deren Konstruktionen
von Männlichkeit in den folgenden Jahren klären (oder zumindest diskutieren)
zu können. Und es stellte sich die Frage, in welcher Arbeitsweise die im Raum
vorhandenen Expertisen der älteren Wissenschaftler*innen und die kritischen
Nachfragen der jüngeren Forscher*innen fruchtbar gemacht werden können.
Dabei entstand die Idee einer Gruppendiskussion unter den Forscher*innen,
um über offene theoretische sowie methodologisch-methodische Fragen der
Jungen- und Männlichkeitsforschung zu debattieren.
Die Corona-Pandemie erschwerte den Forschungsalltag erheblich,
ermöglichte aber zugleich mit dem einhergehenden Digitalisierungsschub
regelmäßige virtuelle Verbundtreffen. Oftmals entstanden wiederum sehr in-
spirierende Diskussionen, immer blieben Fragen offen. An der Idee der Grup-
pendiskussion hielten wir fest und setzten sie im Juli 2021 um. Sechs
Wissenschaftler*innen trafen sich kurz vor Abschluss der Projektlaufzeit, um
abschließend ungeklärte Fragen zur Begrifflichkeit, zum Verhältnis von
Theorie und Empirie, den unterschiedlichen theoretischen und methodolo-
gisch-methodischen Präferenzen und Vorgehensweisen zu besprechen sowie
die jeweiligen Projektergebnisse zu vergleichen und zu bündeln. Wie in der
290
Forschung üblich, ist auch diese Diskussion eine Momentaufnahme eines
unendlich fortlaufenden wissenschaftlichen Gesprächs, in dem wir gemeinsam
um neue Erkenntnisse ringen. Gerade hatten Jürgen Budde und Thomas Viola
Rieske das Modell divergierender Männlichkeiten1 vorgelegt und wir
diskutierten die Reichweite dieses Modells der feldspezifischen Konstruktion
von Männlichkeit im pädagogischen Feld.
Abbildung 1: Modell divergierender Männlichkeiten (erstellt von J. Budde)
Das abgedruckte, natürlich gekürzte und bearbeitete Gespräch2 gibt den
interessierten Leser*innen einen Einblick in die wissenschaftlichen Debatten
im Projektverbund „Jungen und Bildung“ in der noch nicht üblichen Form
geschliffener wissenschaftlicher Texte, sondern in einem theoretisch ambitio-
nierten oftmals alltagssprachlich und pointiert formulierten Austausch, der
einen ergänzenden Einblick in die wissenschaftliche Praxis des Projektver-
bundes ermöglicht.
1 Vgl. die Einleitung von Budde und Rieske in diesem Band.
2 Die Gruppendiskussion wurde von Sylka Scholz und Kevin Stützel vorbereitet, wir danken
Julia Perlinger herzlich für Transkription und Kommentierung. Die Bearbeitung erfolgte
zunächst von Sylka Scholz, dann überarbeiteten alle Beteiligten ihre Statements.
291
1 Junge, Mann und Männlichkeit zwischen
Alltagsbegriffen und analytischen Kategorien
Kevin Stützel: Herzlich willkommen zur Gruppendiskussion, wir steigen mit
einer großen Frage ein: Was heißt denn heute Männlichkeit und wie kann man
Männlichkeit erforschen?
Sylka Scholz: Wenn wir Männlichkeit erforschen wollen, dann müssen wir
dieses Geschlecht identifizieren, weil sich unser Erkenntnisinteresse darauf
richtet. Gleichzeitig können wir nicht davon ausgehen, dass alle Personen, die
als männlich klassifiziert werden, Männlichkeit konstituieren. Das habt ihr
beide, Thomas und Jürgen, in eurem Text3 so schön beschrieben: ‚Junge‘,
‚mannlicher Jugendlicher‘, ‚Mann‘, das sind Alltagsbegriffe, aber trotzdem
sind sie grundlegend mit der Kategorie Männlichkeit verknüpft und uns inter-
essiert, was ist das Männliche daran. In meinen Arbeiten habe ich mich daran
orientiert, Männlichkeit nicht mehr als eine Strukturkategorie zu verstehen, so
wie sie in den 1980er-Jahren in der Geschlechterforschung verstanden worden
ist, sondern in Anlehnung an die Historikerin Joan Scott und die Kultur-
wissenschaftlerin Irene Dölling als eine analytische Kategorie4. Hintergrund
dieser begrifflichen Neufassung waren die Transformation von Geschlechter-
verhältnissen in den 1990er-Jahren und damit verbundene Widersprüche,
Brüche und Ungleichzeitigkeiten. Man konnte nicht mehr davon ausgehen,
dass Geschlecht immer relevant ist, in jedem alltäglichen Handeln. Das ist die
theoretische Idee von ‚Geschlecht als analytische Kategorie‘. Wenn man dann
aber ‚Junge‘ oder ‚mannlicher Jugendlicher‘ als Alltagsbegriff nimmt und man
herauskriegen will, was ist männlich, steht man natürlich trotzdem vor dem
Problem, wie kriegt man das denn jetzt hin? Das habe ich das „Entschlüs-
selungsproblem“5 genannt. Denn Geschlechterwissen ist oftmals routinisiertes
und implizites Wissen. Es gibt auch ein reflexives Geschlechterwissen, Mich-
ael Meuser6 würde sagen ‚Mannlichkeit ist mittlerweile eine reflexive Kate-
gorie geworden‘, doch wieviel ist den Menschen, die wir beobachten, die wir
befragen von Geschlecht/Männlichkeit bewusst? Wenn wir dann unsere
Beobachtungsprotokolle oder Interviews vorliegen haben, dann gehen wir als
Geschlechterforscher*innen mit unserem hoch spezialisierten Geschlechter-
wissen an die Empirie. Und dann besteht immer so ein Stückchen die Gefahr,
eine Vergeschlechtlichung zu sehen, wo eigentlich keine ist. Damit müssen wir
uns auseinandersetzen und was ist die Lösung für mein ‚Entschlüsselungs-
problem‘? Rekonstruktive Sozialforschung, die in Interpretationsgruppen an
3 Vgl. den Text Rieske und Budde in diesem Band.
4 Vgl. Dölling (1999) und weiterführend Scholz (2012).
5 Vgl. Scholz (2012: 52).
6 Vgl. Meuser (2010).
292
das Material rangeht, die jeweilige Standortgebundenheit der Forschenden
nutzt, um gut begründet rauszuarbeiten, was hat das denn jetzt hier mit Männ-
lichkeit zu tun, was hat das mit anderen Kategorien des sozialen Raums und
anderen sozialen Zugehörigkeiten zu tun?
Kevin Stützel: Sylka hat eine rekonstruktive Perspektive stark gemacht, um mit
dem umzugehen, was sie als ‚Entschlüsselungsproblem‘ benannt hat. Außer-
dem wurde der Text von euch, Jürgen und Thomas Viola angesprochen. Im
Text sprecht ihr im Hinblick auf Bildungsprozesse von Jungen von der Not-
wendigkeit, den Gegenstand Junge, der ein alltagspraktisches Konzept in der
Jungenforschung ist, weitergehend zu theoretisieren. Meine Frage ist, inwie-
fern sich dieser Zugang von einer rekonstruktiven Perspektive unterscheidet?
Was bedeutet es für euch, Jungen als Gegenstand der Jungenforschung zu the-
oretisieren? Wo seht ihr da Bezugspunkte oder auch Abgrenzungen?
Thomas Viola Rieske: Ich bin jetzt durcheinander, weil wir gerade Männlich-
keit hatten, jetzt sind wir bei Jungen und das möchte ich gerne getrennt disku-
tieren. Zum Thema Männlichkeit erforschen: Ich habe in letzter Zeit viele
Texte gelesen, die sich erstens auf den Differenzfeminismus beziehen, also in
der Erziehungswissenschaft sind das z.B. Barbara Rendtorff, Jeanette Wind-
heuser,7 und zweitens mich mit Diskursen über Reproduktions- bzw. Care-Ar-
beit beschäftigt.8 Ich komme immer mehr zur Idee, wenn ich über Männlich-
keit forsche, will ich über das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie
forschen, weil ich das Gefühl habe, dass da was ganz Wichtiges drin steckt,
was bei den Fragen nach Dominanz, die bei Bezügen auf Bourdieu und
Connell9 üblich sind, nicht gut gefasst werden kann. Was ich mit deren Theo-
rien gut fassen kann, sind Dominanzverhältnisse. Aber was ich damit weniger
gut in den Blick bekomme, ist die Privilegierung von Autonomie, die aus mei-
ner Sicht zu Männlichkeit auch gehört. Sehr zugespitzt würde ich aktuell sogar
sagen: Männlichkeit ist die Privilegierung von Autonomie, Freiheit, Souverä-
nität und die Abwehr von Bezogenheit, Verletzbarkeit, Fremdbestimmtheit. Es
ist ja derzeit so, dass man – salopp gesagt – irgendwie Schwule jetzt ok findet
und Jungen mit Sternchen schreibt und nicht mehr richtig festlegen will, was
Männlichkeit ist. Natürlich nicht überall, aber diese Praxis hat sich zumindest
verbreitet, insbesondere in der geschlechterreflektierten Pädagogik. Aber die
Frage ist, wie wird das transformiert und wenn ja, geht es in Richtung „Ey ich
hab damit kein Problem ist doch alles easy!“, da könnte man ja durchaus schon
wieder ein männliches Muster identifizieren im Sinne von Coolness, von Un-
berührtheit, von Souveränität. Zugleich frage ich mich, ob ich da mehr sehe,
7 Siehe etwa Rendtorff (2020) und Windheuser (2019, S. 151ff.).
8 U.a. Federici (2015). Siehe auch Forsters (2020) Plädoyer dafür, das Thema Reproduktion in
den Mittelpunkt von Männlichkeitstheorie zu stellen.
9 Vgl. Bourdieu (2005) und Connell (1999) sowie den Text von Budde und Rieske zur
erziehungswissenschaftlichen Forschung zu Jungen in diesem Buch.
293
als ich sehen sollte. Ich würde sagen: Jungen und Männerforschung sollte eine
rekonstruktive Forschung sein, die sensibel ist für alle möglichen Normen und
Ungleichheiten oder Relationen. Männlichkeitsforschung sollte eine auch re-
konstruktive Forschung sein, die sich auf alle möglichen Personen bezieht, also
für mich sind das zwei unterschiedliche Sachen.
Jürgen Budde: Ich kann den Widerspruch gar nicht erkennen und stimme des-
wegen gerne zu. Ich tue dies aus rekonstruktiver praxistheoretischer Perspek-
tive, weil ich diesen Zugang sehr schätze und weil ich denke, dass die Vorstel-
lung von sozialen Praktiken zum Beispiel ermöglicht, die Aufhebung des Ge-
gensatzes zwischen Subjekt und Struktur oder Gesellschaft und Individuum zu
denken. Der Vorschlag, Jungen als Alltagskonzept zu verstehen, als alltags-
weltliche Markierung, zielt darauf, dass man Junge und Männlichkeit nicht
gleichsetzen kann, sondern dass wir es auf der einen Seite mit alltäglichen
Klassifizierungen zu tun haben und auf der anderen Seite mit etwas, was man
als ‚analytische Kategorie‘ beschreiben kann und es deswegen dazwischen gar
keine Gleichsetzung geben kann. Allerdings kann ich mir „Junge“ nur vorstel-
len als ein vergeschlechtlichtes Konzept. Die Tatsache, dass wir es so sehr ge-
wohnt sind, von Jungen und Mädchen zu sprechen, wenn es um Kinder geht,
hat eine große Wirkmächtigkeit und darin eingelassen ist immer schon ein Be-
zug auf Geschlecht. Deshalb überzeugt mich die Schreibweise Jungen mit
Sternchen nicht so recht, weil ich den Eindruck habe, es geht beim Begriff
Junge genau um eine geschlechtliche Markierung und nicht um eine Vielfalts-
markierung, wenn ich von Jungen spreche. Was die Reifizierung10 der Katego-
rie Männlichkeit wiederum angeht, da habe ich über die letzten 25 Jahre For-
schungserfahrung den Eindruck, dass – jetzt mal unrein gesprochen die Sorge
vor einer Reifizierung manchmal größer ist als die Bereitschaft, eine Aussage
zu treffen. Ich wäre eher dafür, den Geltungsbereich von wissenschaftlichen
Aussagen einzuklammern, als aufgrund einer Sorge vor Reifizierung auf das
analytische Potenzial der Kategorie Männlichkeit zu verzichten, denn die Tat-
sache, dass wir uns ja über Männlichkeit, Geschlecht, Weiblichkeit austau-
schen können, heißt ja für mich auch, dass diese Begriffe funktionieren, dass
sie bei aller Breite, die sie haben, Erklärungskraft haben, die sie überhaupt dis-
kursfähig machen.
Kevin Stützel: Marc, Stephan, wie sollten wir zu Männlichkeit und zum Thema
Jungen forschen?
Stephan Höyng: Also ich möchte weiterhin empirisch zu Männlichkeit bei
denen forschen, die sich selbst als Junge bezeichnen. Dabei möchte ich aber
nicht nur nach den Deutungen und Verhaltensweisen der Individuen schauen,
10 Reifizierung von Geschlecht/Männlichkeit meint mit Vorannahmen von Geschlecht/Männ-
lichkeit in die empirische Forschung zu gehen und diese zu bestätigen, anstatt sich offen der
Empirie zuzuwenden und diese zu rekonstruieren.
294
was bislang oft im Mittelpunkt von Geschlechterforschungen steht. Wichtig
sind zudem auch die Zeichen, die in ihrem Umfeld erkennbar sind und
außerdem die Rahmenbedingungen und Strukturen. Diese drei Ebenen sind für
das Verständnis von Geschlecht wichtig. Aber mit einer Forschung auf diesen
drei Ebenen stoße ich auch an meine Grenzen. Um Klischees in Medien zu
erforschen, benötigt man andere Forschungsmethoden als die bei uns weit
verbreiteten Interviews und Beobachtungen. Geschlechterverhältnisse können
wir aber erst deuten, wenn wir zu allen drei Ebenen Informationen haben. Wir
brauchen Wissen über die Individuen, wie sie sich bewegen, verhalten, was sie
für Einstellungen haben. Wir brauchen Informationen über die Zeichen in ihrer
Umwelt: geschlechtsmarkierende Schultaschen, Brotdosen, Kleidung oder
auch Medien. Und schließlich ist es nötig, auch die Rahmenbedingungen, die
Strukturen, etwa Vergeschlechtlichungen im System Schule zu erkennen.
Wenn wir da relevante Unterscheidungen entdecken, können wir Geschlecht
auch benennen. Allerdings dürfen wir auch nicht zwanghaft nach Geschlech-
terunterscheidungen suchen. Wenn also in den Kitas das Alter ein Marker ist,
der einen Unterschied macht, wie das meine Kollegen Jens und Micha in ihrer
Untersuchung in Kitas11 herausgearbeitet haben, dann muss man auch sagen,
dass Geschlecht dort meist irrelevant ist.
Marc Thielen: Mir hilft da auch eine praxistheoretische Perspektive, weil die
ja schon hervorhebt, dass einerseits Praktiken immer bestimmte Dinge wieder-
holen, auch geschlechtliches Handeln. Durch die Wiederholung kann zum Bei-
spiel vergeschlechtlichtes Handeln zum Ausdruck gebracht werden. Und dann
gibt es auch das Moment, dass Praktiken etwas Überraschendes haben, etwas
Irritierendes haben können. Den Blick auf Praktiken finde ich ganz gut als
Brille, um dann nicht nur das im Blick zu haben, was vielleicht schon das Er-
wartbare ist. Diese Perspektive mit der hybriden Männlichkeit12 hast du
Thomas schon kurz angesprochen mit dem Verhältnis zum Beispiel zu schwu-
len Männern, dass man da sehr genau hingucken muss und nicht vorschnell
bestimmte Dinge als neu oder jetzt nicht mehr vergeschlechtlichen Wahrneh-
mungsgrundsatz sieht, sondern dass man schaut, wo sich eben das Wider-
sprüchliche zeigt. Auf den ersten Blick würde man sagen eine völlige Entdra-
matisierung von Geschlecht, auf den zweiten Blick aber doch vielleicht eine
neue Formierung von Männlichkeit. Und das finde ich wichtig, dass wir genau
im Detail auf die einzelnen Praktiken, Artefakte und Diskurse schauen.
Kevin Stützel: Jetzt stehen relativ große Begriffe im Raum. Sylka hat von einer
rekonstruktiven Perspektive gesprochen, Jürgen und Marc haben sich auf eine
praxistheoretische Perspektive bezogen. Von Stephan kam die Frage nach dem
gesellschaftlichen Setting und Thomas Viola hat an eine differenzfeministi-
11 Siehe den Beitrag Cremers und Krabel in diesem Band.
12 Siehe dazu Bridges und Pascoe (2014).
295
sche Position angeknüpft, die das Strukturelle der Geschlechterverhältnisse
stark macht. Wo seht ihr tote Winkel in den jeweiligen Ansätzen?
Thomas Viola Rieske: Wenn ich rekonstruktiv höre, dann habe ich die Sorge,
dass manches nicht gesehen wird. Ein wirklich offenes Rekonstruieren entlang
der Frage, „wie kann ich die Orientierung bezeichnen, die hier in der Praxis
vorliegt?“ ist natürlich toll und wichtig. Aber wo kann dann das Wissen ver-
wendet werden, das es schon gibt? Irgendwie sind wir ja schon auch schlau,
aufgrund früherer Forschungen und Diskurse. Deshalb erscheint mir eine
Kombination von offenem Rekonstruieren mit einem theoriegeleiteten Vorge-
hen sinnvoll. Nach dem, was ich vorhin gesagt habe, wäre dann die Frage nach
Relationen, nach Autonomie und Heteronomie zu stellen. Die geht vielleicht
unter, wenn man sie nicht stellt und dann verpasst man auch wichtige Erkennt-
nisse. Gerade weil Geschlecht eben implizit ist, wie Sylka sagte, braucht man
auch eine Theorie davon, und die ist dann auch Teil von Materialanalysen und
Interpretationen. Ist das dann wieder auf der Seite von „Geschlecht als Struk-
turkategorie“?
Jürgen Budde: Die Frage, wie ich Männlichkeit analytisch erkennen kann, ist
immer noch ungeklärt. Also: wieso klassifiziere ich eine Praxis als männlich?
Eine Variante sind ja explizite Äußerungen, wie etwa ‚sei doch nicht so
schwul‘, da könnte ich sagen ‚Ok, das wird was mit Geschlecht und Mannlich-
keit zu tun haben.‘ Das ist ja aber haufig nicht die Regel, dass Bezüge zu Mann-
lichkeit expliziert wird, sondern wir haben es vor allen Dingen mit impliziten
Prozessen zu tun. Man muss eine analytische Vorstellung davon haben, was
Männlichkeit bedeutet und ich habe mir mal für heute aufgeschrieben, Männ-
lichkeit hat was mit Souveränität und Autonomie zu tun, mit Dominanz und
Hierarchie und auch mit Differenz zum Nichtmännlichen. Ich habe nicht mehr
geschrieben: Differenz zu Weiblichkeit, weil ich den Eindruck habe, dass wir
es in diesem Punkt mit einer Pluralisierung zu tun haben und nicht mehr mit
einer eindeutigen Zweigeschlechtlichkeit. Ist bestimmt nicht vollständig, aber
das war so ein Versuch der Strukturierung, weil wir eine Aussage treffen müs-
sen, wie der Gegenstand denn jetzt aussieht.
Stephan Höyng: Souveränität, Autonomie oder Dominanz mit Männlichkeit zu
verknüpfen ist ja erstmal eine Setzung. Ich würde dazu gerne auf empirische
Ergebnisse zurückgreifen. Wenn also das Bild von Männlichkeit analysiert
wird und die Bildersprache in Videospielen zeigt dann etwa, dass in 80 Prozent
aller Bilder Männliches mit Dominanz verknüpft wird, dann kann ich das r
Videospiele erstmal so verallgemeinern. Wenn das aber in sieben Jahren nicht
mehr so wäre, dann müsste ich die Aussage auch ändern. Wenn Männer die
Farbe Rosa nach Meinung der Mehrheit jetzt wieder tragen können und dabei
als männlich wahrgenommen werden, tut sich in der Farbensprache vielleicht
etwas. Die Mühe einer regelmäßigen Überprüfung der Klischees müssen wir
uns schon machen. Wenn jemand mit Männlichkeitsverständnissen von vor 40,
296
50 Jahren hantiert, wird ihm oft erstmal nicht widersprochen, aber ob er damit
tatsächlich noch viele heute Zwanzigjährige berührt, ist doch fraglich. Diese
haben teilweise ganz andere Erfahrungen und erleben andere Männlichkeits-
und Weiblichkeitsanforderungen. Alte Klischees erfassen nicht, welche Zu-
schreibungen und Zumutungen Einzelne heute wirklich erleben. Ich möchte
mich auch nicht mehr an der „Entdeckung“ von neuen Typen weniger ausgren-
zender Männlichkeit beteiligen. Auf der Suche nach Neuformierungen kann
die Kategorisierung selbst schnell zum Problem werden. Ich folge da weiterhin
dem Hegemoniekonzept von Connell13: Männlichkeit existiert nicht an und für
sich, sondern immer in Hierarchien. Die Einordnung in eine Hierarchie inner-
halb und zwischen Geschlechtern ist auch der Zweck dieser typischen Verhal-
tensweisen. Wenn ich also eine Männlichkeit benenne, muss ich diese in ein
Hierarchieverhältnis einordnen, nur so macht es Sinn. Wo stehen neue Männ-
lichkeiten dann in einem geschlechterbezogenen Machtverhältnis?
Marc Thielen: Ich wollte zu den Vorschlägen von Jürgen, wie man Männlich-
keit so beschreiben könnte, kurz etwas sagen. Da hast du Begrifflichkeiten vor-
geschlagen. Ich möchte fragen, wo dieses kollektive Moment ist. Wenn ich an
meine Beobachtungen in meinen Feldern denke, finde ich, dass Männlichkeit
durch bestimmte kollektive Praktiken hergestellt wird, wo ich dann frage, wie
sich das dann zum Autonomiebegriff verhält? Es gibt bestimmte Momente, in
denen geht es nicht um Autonomie, sondern um Vergemeinschaftung, also kol-
lektive Praktiken, die entscheidend sind, um eine männliche Position hervor-
zubringen.
Jürgen Budde: Ich verstehe diese drei Begriffe als Suchstrategie, um
Phänomene als männlich identifizieren zu können oder eben nicht. Und dann
ist es eine empirische Frage. Gleichwohl bin ich der Ansicht, wenn ich alles
unter männlich fassen könnte – von Rosa über Schwarz bis Blau, also männlich
bunt ist und weiblich ist auch bunt dann taugt der Begriff nicht mehr als
wissenschaftliches Konstrukt. Und zu dir Marc, auf jeden Fall kollektiv. Das
ist in den Praktiken inbegriffen, die sind schon kollektiv. Wenn das
vorherrschende Ideal Rücksichtslosigkeit gegenüber Umwelt, Mitmenschen
oder anderen Lebewesen ist, ist es ja eine Form von Autonomie, die sich
kollektiv durchaus ausdrückt. Es ist nicht nur ein individuelles Ideal, sondern
eine Frage der Haltung, des Habitus.
13 Vgl. u.a. Connell (1999).
297
2 Hegemoniale Männlichkeit, Inclusive Masculinity,
Caring Masculinities – die Suche nach angemessenen
Männlichkeitskonzepten
Kevin Stützel: Thomas Viola hat problematisiert, dass rekonstruktive Ansätze
immer so tun, als müsste man erstmal schauen, was empirisch da ist und dabei
vergessen, was an Theorie vorhanden ist. Was sind für Euch theoretische Kon-
zepte, an die man anknüpfen sollte, was sind Konzepte, die man vielleicht ver-
werfen sollte?
Sylka Scholz: Die Antwort auf Thomas Viola ist, und da liegen wir gar nicht
so weit auseinander, dass du natürlich sensibilisierende Konzepte14 brauchst.
Wenn du einfach in die Empirie reingehst, siehst du ja nichts. Du musst eine
Idee haben. Und Jürgen, was du jetzt versucht hast, ist ja eher so ein Konzept
zu machen, was ich schon so unter hegemonialer Männlichkeit verstehen
würde. Auf diese Art und Weise kriege ich Macht und Herrschaft, Dominanz-
verhältnisse raus, die möglicherweise verdeckt sind. Aber was ist denn mit sich
als junge Männer verstehende Personen, die nicht mehr an Souveränität, Au-
tonomie, Dominanz und Differenz festhalten? Wir haben in dem Material von
den Kranken- und Altenpflegern beispielsweise einen, der sagt: ‚ich habe so
ein nettes Herz‘. Also der ist kein Muttersprachler, beschreibt eine Situation,
wo er wirklich sein eigenes Leben gefährdet hat, um eine Person auf der Flucht
zu retten. ‚Ich habe ja so ein nettes Herz und deshalb bin ich so, wie ich bin.‘.
Und der würde in dein Männlichkeitskonstrukt gar nicht reinpassen. Ist der
dann nicht männlich? Das würde er von sich ja nicht sagen und da frage ich
mich, wie gehst du damit um?
Jürgen Budde: Theoretisch stringent würde ich sagen ‚ja, genau‘. Das kann ja
eine alltagspraktische Klassifikation sein, junger Mann, aber im theoretischen
Sinne würde mir jetzt nicht einleuchten, warum ich diesen Satz ‚ich habe so
ein nettes Herz‘ unbedingt mit Mannlichkeitstheorien fassen müsste oder mit
Männlichkeitskategorien beschreiben müsste, sondern da geht es vielleicht um
fürsorgliche Orientierung. Ich würde vorschlagen, das dann nicht mit dem
Männlichkeitsbegriff zu fassen, sondern diesen Begriff eher enger zu halten.
Kevin Stützel: Thomas Viola du hast in der Diskussion mit den Konzepten
Autonomie versus Heteronomie gearbeitet. Beide Begriffe wirken wie Pola-
ritäten, die bearbeitbar sind, aber nicht aufgelöst werden können. So habe ich
auch deine Perspektive auf Männlichkeit verstanden, also das Strukturkate-
gorien bearbeitet werden, die als Autonomie versus Abhängigkeit beschrieben
werden können.
14 Dieser Begriff stammt von Herbert Blumer und hat sich in der qualitativen Sozialforschung
etabliert (vgl. Blumer 1954).
298
Thomas Viola Rieske: Ich glaube inzwischen, dass es mehr um das Verhältnis
zwischen Autonomie und Abhängigkeit geht, also Männlichkeit nicht mit Au-
tonomie gleichzusetzen ist. Ich bin ja lange Olaf Stuve und Katharina Debus
gefolgt, die sinngemäß schrieben: Männlichkeit ist die Anforderung, souverän
zu sein.15 Und ich finde da fehlt, dass es ja gleichzeitig eine Abwehr von Nicht-
Souveränität ist. Ich dachte zuletzt ans Militär. Das gilt ja als einer DER Orte
der Herstellung von Männlichkeit. Aber dort gibt es nicht gerade die tolle in-
dividuelle Handlungsfreiheit, sondern man muss sich unterordnen. Wie passt
das zu der Annahme einer Souveränitätsnorm für Männer? Passender wäre es
doch, wenn man eher ein bestimmtes Verhältnis von Autonomie und Abhän-
gigkeit als eine Art männliches Prinzip begreift. Dann kann man auch das an-
erkennen, was Lothar Böhnisch männliche Verfügbarkeit nennt.16 Die Assozi-
ation von Männlichkeit mit Erwerbsarbeit, Öffentlichkeit, Politik usw. bedeu-
tet einerseits eine erhöhte gesellschaftliche Teilhabe und daher auch Privile-
gien, zugleich aber eben auch Momente der Verpflichtung und Unterordnung.
Zugleich finde ich Sylkas Punkt zu Praktiken von nnern, die nicht an
Dominanz orientiert sind oder so scheinen, total wichtig. Ich habe mich
gefragt, vielleicht gibt es einfach Entdifferenzierungen, die aber nicht die
Zugehörigkeit auflösen und dann kann man auch ein gutes Herz haben – so
lange man das männliche Grundprinzip aufrecht erhält. Jürgen hat mich mal
darauf gebracht: Wenn wir von den Leuten als Jungen, männlichen
Jugendliche und männlichen Kindern reden und zwar seit 500 Jahren auch über
alle Kontinente hinweg, dann muss es ja irgendwas Verbindendes geben, also
wie denken wir denn das, bei aller Differenz, was sie verbindet? Und da
könnten man einerseits sagen, es gibt ein Wort, einen Begriff, was sie
verbindet. Zum Beispiel Souveränität oder Dominanz. Oder man geht post-
strukturalistisch da ran und geht eher von einem ganzen Feld an Elementen
von Männlichkeit aus, von denen keines einzelnen notwendig ist. Wenn ich
einen Text von Edgar Forster richtig verstehe, dann nennt er das „Äquivalenz-
kette“, also eine Kette von als aquivalent geltenden Elementen, von denen
keines allein Männlichkeit definiert, aber es gibt eben doch eine Verkettung
der Elemente.17 ‘Nettes Herz‘ kann dann Teil einer Praxis sein, die durchaus
auch männliche Elemente enthält und insgesamt dann auch nicht als unmä-
nnlich wahrgenommen wird. Ein nochmal etwas anderer Ansatz wäre es aber
dann eben, Männlichkeit als ein Gefüge von Widersprüchlichem zu begreifen.
Eine Selbstbeschreibung mit ‘ein nettes Herz‘ und eine Berufswahl als Pfleger
sind dann vielleicht kombiniert mit Playstation-Spielen in der Freizeit oder
Festhalten an Freundschaften mit sexistischen Männern. Dann gibt es eben
eine Spannung, und die Frage, ob Männlichkeitskonstruktion oder nicht, würde
15 Vgl. Stuve und Debus (2012).
16 Vgl. etwa Böhnisch (2018).
17 Vgl. Forster (2005).
299
nicht an einem einzelnen Element festgemacht werden, sondern an dem
Gesamtgefüge.
Stephan Höyng: Wer sich heute als besonders männlich hervorheben möchte,
muss überhaupt nichts zu tun haben mit einer Männlichkeit von vor 300 Jahren
oder Männlichkeit in einer anderen Kultur. Vor 300 Jahren etwa gab es bei den
allermeisten Menschen noch gar keine Vorstellung von Individualität so wie
wir sie heute haben. Auch wenn eine Polarisierung der Geschlechter damals
eine Rolle spielte, kann ich die Bedeutung nicht gleichsetzen mit der heute. Oft
geht es bei historischen Bezügen darum, dass sich Menschen heute auf angeb-
lich schon immer dagewesenen Verhaltensweisen berufen wollen. Mich inte-
ressieren da eher die Deutungen der Gegenwart, besonders Männlichkeit im
Spannungsfeld von Passivität und Handlungsfähigkeit. In den Theorien Sozi-
aler Arbeit wird Handlungsfähigkeit ja durchweg als positiv wahrgenommen.
So eine Betrachtung schließt aus, dass Nichthandlung, nicht handeln zu wol-
len, zu können auch ein schönes Gefühl sein kann. Manchmal streben Men-
schen und eben auch Männer vielleicht auch dieses Nicht-entscheiden-wollen
an, es kann ihr Ziel sein. Im Militär zum Beispiel können wir sehen, dass es
schon lange ein Teil der Herrschaftskultur gewesen ist, dass Leute sich unter-
ordnen bis hin zur Selbstaufgabe. Etwas Ähnliches können wir bei heutigen
Workaholics wiedersehen: Diese ganze Arbeit, die unter Missachtung des ei-
genen Körpers geleistet wird, ist im Prinzip ja auch eine Verdinglichung seiner
selbst. Doch gerade solche Männer, die sich fremden Logiken unterwerfen,
werden häufig als Leistungsträger und als besonders männlich angesehen. Mit
Autonomie oder Souveränität hat das aber nicht die Bohne zu tun.
Marc Thielen: Da möchte ich ergänzend anschließen: Ich sehe auch diese
Unterwerfungsmomente, die mit der Herstellung von Männlichkeit verbunden
sind. Mir fallen jetzt auch andere Beispiele für homosoziale Kontexte ein. In
der Straße, wo ich wohne, ist so eine Verbindung untergebracht, in so einem
schönen alten ehrwürdigen Haus, natürlich auch männlich kodiert, nur junge
Männer. Jetzt haben sie gerade wieder Neueinzug gehabt und da beobachte ich
immer Rituale und Praktiken und ich habe schon so das Gefühl, die werden da
in eine kollektive Ordnung einsozialisiert. Das geht über viele Bräuche, sie
singen dann jeden Abend beim Bier bestimmte Lieder, ziehen dann bestimmte
Sachen an, da habe ich schon so den Eindruck, dass ist so eine ‚Schule von
Mannlichkeit‘. Da bin ich immer überrascht, wie wenig individuell, wie
klassisch traditionell das ist. Sie sind über eine bestimmte Zeit ihres Lebens
ganz stark in eine Institution eingebunden, sie wohnen da ja auch alle
zusammen mit vielen Regeln, also auch Unterwerfung. Das sind die Mitglied-
schaftsbedingungen, damit ich zum Club dazu gehöre und das sind diverse
Praktiken, die auch diverse Verhaltensbereiche kodieren. Wo ist da die Auto-
nomie? Sie geben sehr viel Autonomie auf, um Zugehörigkeit zu erlangen, um
dann woanders ein Benefit davon auch zu haben.
300
Kevin Stützel: In der Diskussion um caring masculinities wird Fürsorge aber
nicht nur als Verhältnis der Über- und Unterordnung gedacht, sondern auch als
Beziehungsverhältnis. Gerade wenn wir Männlichkeit immer im Hinblick auf
Macht, auf Dominanz, auf Hierarchisierung anschauen, wo sind andere Kon-
zepte, die helfen Männlichkeit nicht nur als Über- und Unterordnung zu den-
ken, sondern als Relationalität?
Sylka Scholz: Das Buch „Caring Masculinities?“18 ist ja im Titel mit Fragezei-
chen publiziert, was es auf jeden Fall geöffnet hat, dass dieser Zusammenhang:
‚Fürsorge geht nur mit Frauen und Weiblichkeit einher‘, den hat es aufge-
sprengt. Es gab eine große Debatte darum, dass die einen gesagt haben, der
Begriff ist zu eng, wenn er als eine Identitätskategorie benutzt wird, wie Karla
Elliott19 das tut, denn es geht eher um Fürsorge von Jungen, männlichen Ju-
gendlichen und Männern und nicht um Männlichkeit. Aber das schließt sich
aus meiner Sicht nicht aus. Jetzt ist der Begriff in der Welt, wie hegemoniale
Mannlichkeit. Was haben wir uns da schon die ‚Köpfe eingerammelt‘, brau-
chen wir dieses Konzept noch oder nicht? Genauso ist es mit caring masculi-
nities, wenn wir es als sensibilisierendes Konzept benutzen und erst einmal
zeigen können, dass Fürsorge und Junge, männlicher Jugendlicher und Männer
sich nicht ausschließen, ist es sinnvoll. Auch Wettbewerbsorientierung und
eine Risikobereitschaft, den Körper riskant einzusetzen, schließen sich mit
Fürsorge gar nicht aus. Es sind die gleichen Personen und das ist lange Zeit
einfach aus dem Blick geraten. Ich würde sagen, das hat die Debatte um caring
masculinities geöffnet und dazu braucht man manchmal einfach begriffliche
Platzhalter. Ich habe aus der Philosophie gelernt, dass das ‚dicke Begriffe‘
heißt, sie sind inhaltlich total überladen, aber können in der Debatte was öff-
nen. Das müsstet ihr sagen, ob das Konzept inclusive masculinity20 das auch
so leistet. Aber auf jeden Fall haben wir ja verschiedene Begriffe in der De-
batte, die uns erstmal in den Theoretisierungen weiterführen können.
Jürgen Budde: Ich glaube inclusive masculinities kann eigentlich Ähnliches,
ist aber in der deutschsprachigen Literatur nicht so verbreitet. Ich finde, was
dieser Begriff ja zeigt, auch wenn ich mich kritisch dazu positioniert habe, dass
die Gleichsetzung von dem, was Jungen tun und dem, was Männlichkeit ist,
stark hinterfragt wird. Gut an dem Konzept finde ich, dass es tatsächlich ein
Gegengewicht zu dieser Vorstellung von hegemonialer Männlichkeit ist, d.h.
der Gleichsetzung, dass das, was Jungs tun, hegemoniale Männlichkeit ist.
Sehr prominent mit einem ‚dicken Begriff‘ platziert, was wir eigentlich ja auch
schon wissen, das bringt er gut auf den Punkt. Deswegen würde ich das be-
schriebene Phänomen trotzdem nicht unbedingt als Ausweitung von Männlich-
keiten beschreiben, aber auf jeden Fall als diskursiv nicht hintergehbare Mar-
18 Vgl. Scholz und Heilmann (2019).
19 Vgl. Elloitt (2016).
20 Vgl. Anderson (2011). Zur Diskussion siehe Budde und Rieske (2019).
301
kierung der Tatsache, dass Jungenleben plural und vielfältig ist und von ganz
widersprüchlichen Praktiken, Orientierungen, Diskursen zur gleichen Zeit
konstituiert sein kann. Also von daher öffnet das Konzept viel und weist auf
eine Transformation von Männlichkeitskonzeptionen hin. Dadurch schränkt er
den Geltungsbereich des Konzepts hegemonialer Männlichkeit durchaus ein.
Den Begriff als ein ‚diskursives Brecheisen‘ zu verwenden, das finde ich sinn-
voll, ob es dann das Werkzeug ist, was am Ende tatsächlich so hilfreich gewe-
sen ist, muss man halt gucken, aber dass er viel offenlegt, das würde ich sofort
unterschreiben.
Stephan Höyng: Der Begriff caring masculinity ist aber schon politisch instru-
mentalisiert worden21. Mit dem Begriff geht es darum, die Aufmerksamkeit
auf die Männer zu lenken, die bereits konkrete Fürsorgetätigkeit leisten und
bessere Rahmenbedingungen für sie einzufordern.22 Heute wird von Männern
aktive Sorgeleistung erwartet, ohne dass sich die Rahmenbedingungen wesent-
lich verändert hätten, die beruflichen Anforderungen etwa sind gleich geblie-
ben. Vereinbarkeit muss so weiterhin vor allem privat geschaffen werden, und
der einzelne Mann muss sich mit der Erwartung auseinandersetzen, gleichzei-
tig viel Geld zu verdienen und Abhängige zu betreuen. Das ist eine normative
Verhaltenserwartung an Männer und könnte ebenso zu einer veränderten he-
gemonialen Männlichkeit führen, die machtvoll eingefordert wird. Normative
individualisierte Anforderungen stärken einen gleichberechtigten, respektvol-
len, friedvollen Umgang nicht.
Thomas Viola Rieske: Ich finde die Begriffe sensibilisieren auf eine sehr
unterschiedliche Weise. Caring masculinities und auch inclusive masculinities
beschreiben bestimmte Verhaltensweisen, eine Praxisform. Ich finde das gut.
In Deutschland gab es ja diese Studie von Michalek und Fuhr23 Ende der
2000er, die mit Jungengruppen Diskussionen gemacht haben und gesagt
haben: ‚Ey wir finden hier nicht, dass die sich hier gegenseitig unterdrücken,
sorry aber wir finden hier eine Gleichheitsorientierung‘. Und sich damit gegen
die These vom männlichen Habitus abgrenzten, die ja sagt: männlicher
Habitus24 ist Libido Dominandi. Hegemoniale Männlichkeit, wie ich das bei
Connell lese, ist für mich eine andere Ebene. Damit wird nicht nur für ein
bestimmtes Praxismuster sensibilisiert, sondern für hierarchische Verhältnisse.
Ich finde es bei einer sozialen Position immer wichtig zu fragen, inwieweit die
auf der Ausbeutung anderer basiert. Das ist so eine Konsequenz für mich aus
den Einsichten von Feminismus und Marxismus. Diese Frage ist in Connells
21 Vgl. Höyng (2019). Der Begriff „Caring Masculinities“ wurde wohl erstmalig im Rahmen
des Projekts „Fostering Caring Masculinities“ verwendet, das von der Europaischen Kom-
mission im Rahmen des Gleichstellungsaktionsprogramms finanziert wurde.
22 Vgl. Holter (2007).
23 Michalek/Fuhr (2008).
24 Vgl. Bourdieu (2005).
302
Modell enthalten, weil es auf die Relationen blickt, aber bei der Theorie
inklusiver Mannlichkeit finde ich diese Frage nicht. Aber gibt’s hier nicht auch
diese Abgrenzung nach dem Motto: Nicht-inklusiv ist rückständig? Und auf-
fälligerweise gelten dann häufig diejenigen als Träger einer nicht-inklusiven
Männlichkeit, die nicht weiß sind oder der Arbeiter*innenklasse zugehören.25
Marc Thielen: Vielleicht zuerst direkt dazu, dass dann bei migrantisierten
Männlichkeiten ethnisch permanent Zuschreibungen unterstellt werden. Dabei
gibt es schon lange empirische Befunde, dass das nicht so ist. Ich denke jetzt
an eine Arbeit von Margret Spohn26 zu älteren türkischen Vätern, die mit bio-
graphischen Interviews zeigt, dass bereits diese Generation relativ wenig von
diesen Zuschreibungen von traditionellen, patriarchalischen Männlichkeits-
konzepten zeigt. Aber spannend ist, dass diese Zuschreibungsprozesse eine
lange Haltbarkeit aufweisen, weiter genutzt werden zur negativen Abgrenzung
für andere Männlichkeiten. Es sind vor allem weiße Jungen, eher aus der obe-
ren Schicht, die dann vermeintlich diese inclusive masculinities vertreten. Der
andere Aspekt ist diese dynamische Perspektive, dass Connell ja betont, dass
sich hegemoniale Männlichkeit permanent verändern muss, weil sie die aktuell
gültige Antwort für das Legitimationsproblem des Patriachats sein muss und
damit nichts Starres ist, sondern sich permanent in einer Weiterentwicklung
befindet. Das wäre vielleicht nochmal so ein Unterschied zu Konzepten, die
eher versuchen Merkmale zu definieren, festzuschreiben. Also hegemoniale
Männlichkeit ist relational und auch zugleich dynamisch.
Thomas Viola Rieske: Aber das finde ich gerade bei Connell nicht, weil die
damalige Definition war ja: Hegemoniale Männlichkeit ist die Antwort auf das
Legitimationsproblem des Patriachat, was ja das Patriachat als existierend vo-
raussetzt. Aber wenn heute Frauen zur Elite gehören, da kannst du dann nicht
mehr von Patriachat reden, wie die das noch vor 30 Jahren gemacht haben.
Dann kann man auch nicht mehr dasselbe Legitimationsproblem behaupten.
Aber was ich eigentlich sagen wollte, dass Connell eigentlich immer eher eine
Erklärung für das Bestehende liefert, Bourdieu ja noch viel mehr und das Dy-
namische, also die Transformation ist in der Theorie, also wie ihr sie nennt,
also in dem Kernstück der Theorie gar nicht enthalten, finde ich.
Sylka Scholz: Naja, im hinteren Teil des Buches „Der gemachte Mann“27 geht
es ja um Männlichkeitspolitik und die Überwindung männlicher Herrschaft.
Connell nimmt an, dass schwule Männlichkeiten sie überwinden können. Ich
würde schon sagen, dass es da auch immer um eine Veränderungsdynamik
geht, aber die Diagnostik, wie sie damals gemacht wurde, stimmt heute nicht
mehr.
25 Siehe z.B. McCormack (2014).
26 Vgl. Spohn (2002).
27 Vgl. Connell (1999).
303
Kevin Stützel: Bei Connell ist diese Veränderungsdynamik ja auch in seinem
Bezug auf Gramsci zu erkennen. Gramscis Hegemonietheorie baut darauf auf,
dass sich etwas verändern kann, sich etwas verändern soll. Der Fokus in der
Ausformulierung von Connells Männlichkeitstheorie wird aber auf andere As-
pekte gelegt. Mit dem Konzept lässt sich aber Veränderung denken, anders als
mit Bourdieu´s Verständnis männlicher Herrschaft, wo die Beharrungskräfte
im Vordergrund stehen.
Stephan Höyng: Connell hat in einem frühen Artikel Männlichkeit als ein Im-
perium28 beschrieben, sie schildert die Veränderungen der hegemonialen
Männlichkeit über Jahrhunderte. Das sind die langen Wellen, in denen Männ-
lichkeitsanforderungen sich verändern, die Dominanz von Männern aber bleibt
bislang.
3 Von der Theorie in die Empirie und zurück: zentrale
Befunde der Teilprojekte und verallgemeinernde
Theoretisierungen
Kevin Stützel: Starten wir mit der zweiten Runde. Die Diskussion über unser
analytisches Werkzeug, die führen wir ja vor dem Hintergrund dessen, was wir
im Projektverbund „Jungen und Bildung“ empirisch untersucht haben. Und da
ist meine Frage, was sind zentrale Befunde aus den Teilprojekten und welche
Gemeinsamkeiten und Unterschiede kann man herausarbeiten? Marc magst Du
anfangen? Marc und Barbara Scholand29 haben zu Jungen in beruflicher Bil-
dung geforscht. Was sind die zentralen Aspekte Eures Projektes?
Marc Thielen: Was ich interessant finde ist, dass Care-Berufe, dass die alle in
unterschiedlicher Weise vergeschlechtlicht sind, geschlechtlich kodiert sind.
Wir haben bei uns die Altenpflege, medizinische Fachangestellte (MFA) unter-
sucht und dann diese neue Ausbildung, die jetzt auch für Hauptschulabsol-
vent*innen geöffnet wurde, der Sozialpädagogische Assistent*innen-Beruf.
Da sind die Geschlechteranteile sehr unterschiedlich, also von weniger als drei
Prozent mannliche Jugendliche bei den MFA‘s bis über 30 Prozent bei der
Altenpflege. Da ist mir nochmal so deutlich geworden, dass man nicht von
pauschalen Erklärungen sprechen kann, weil das ja doch sehr unterschiedlich
ist. Entsprechend unterschiedlich ist dann auch erstmal die Präsenz von
Geschlecht, auch auf so Ebenen wie der Gestaltung von Lehrwerken. Also bei
den MFA in den Lehrwerken, da sind ganz oft nur Frauen abgebildet, also
28 Vgl. Connell (1998).
29 Vgl. die Texte Scholand und Thielen sowie Scholand und Stützel in diesem Band.
304
Männer tauchen da fast gar nicht auf. Also wirklich so Berufe, wo
Männlichkeit gar nicht sichtbar ist, wo dann auch Arztpraxen junge Männer
gar nicht nehmen als Praktikanten, weil sie halt sagen, das stört dann die
Erwartung der Patient*innen, dass da jetzt auf einmal keine attraktive junge
Frau ist. Das ist ein Ausschluss, aber das wird ja meistens nicht so beim Thema
Männlichkeit problematisiert, dass sie in bestimmten Bewerbungskontexten
benachteiligt sind. Dann fand ich es interessant, dass die jungen Männer in den
Interviews, die wir mit ihnen führen, in unterschiedlicher Weise selbst diese
Berufsfelder als geschlechtlich kodiert begreifen. Da haben wir sowohl eine
Beobachtung, dass das sehr wohl auch so wahrgenommen und dann eben auch
thematisiert und verhandelt wird, bis hin, dass das keine große Rolle spielt, so
als wäre das gar nicht ein Phänomen, das erzählenswürdig ist. Das heißt die
interviewten Jugendlichen verhandeln das auch unterschiedlich. Und dann
finde ich total spannend genauer hinzugucken in den Interviews, wo es auch
Widersprüchlichkeiten gibt. Also einerseits gibt es narrative Inszenierungen,
dass man sich erstmal mit so einem Care-Beruf identifiziert, beispielsweise
sich bewusst entscheidet, ‚ich geh jetzt in den Bereich sozialpadagogischer
Assistenz‘ und dann aber zugleich in den Begründungen wieder stark auf
sowas wie männlich kodierte Eigenschaften zurückgegriffen wird. Also einen
Fall hatten wir, da wird da gleich so eine ganze Berufsaufstiegskarriere
imaginiert, also man bleibt zwar im Kitabereich, macht aber schon direkt
parallel zur Ausbildung eine Weiterbildung und die Leitung ist eigentlich das
zentrale Moment, wo man das eigentlich nicht mehr als Care-Identifikation
beschreiben kann. Andere machen das dann wieder anders, über Betonungen
von einer spezifischen Kompetenz, die dann an Männlichkeit geknüpft wird,
also das Klassische: Die können dann mit den Jungs besser, die haben dann die
besseren Angebote für die Jungs, das wird dann anerkannt als Besonderheit.
Oder der Altenpfleger hat dann bestimmte körperliche Stärken, die es
erleichtern bestimmte pflegerische Tätigkeiten zu tun. Also das fand ich span-
nend, immer wieder dieses Verhältnis: Einerseits eine Passung herzustellen zu
diesem Care-Beruf, das durchaus auch hervorzuheben, dass man emotional
zugewandt ist, sensibel ist, gerne mit den alten Leuten spricht, dass einem die
Zusammensetzung eher weiblicher Mitarbeiterinnen gar nicht so bedeutsam
ist. Und andererseits aber mehr oder weniger deutlich an verschiedenen Stellen
dann doch wieder auf männlich kodierte Eigenschaften rekurriert wird, um
eine Passung herzustellen zwischen den Care-Berufen und einem männlichen
Normallebenslauf. Was aber auch interessant ist, ist das unterschiedliche
andere Logiken mit reinspielen. Also die Idee, dass man jetzt junge Männer in
diese sozialpädagogischen Berufe kriegt, indem man das Zugangsniveau
herabsetzt und einen Hauptschulabschluss anerkennt, führt jetzt dazu, dass die
Ausbildungszahlen in die Höhe schießen, führt dazu, dass die Anzahl der
jungen Männer in der Ausbildung wächst. Aber junge Männer nutzen diesen
Zugang dann auch für ganz andere Interessen, weil bestimmte Bewerbungen
305
vorher nicht funktioniert haben, um sich anders zu orientieren. Haben schon
im ersten Ausbildungsjahr oft gesagt, ich bleibe auf keinen Fall in dem Beruf.
Das macht deutlich, dass eine klischeefreie Berufswahl schwer politisch zu
steuern ist.
Kevin Stützel: Ich möchte an dieser Stelle überleiten zum Forschungsprojekt
von mir und Sylka Scholz. Wir haben zu biografischen Orientierungen von
jungen Männern in Care-Berufen30 geforscht. Sylka magst du anfangen und
ich ergänze?
Sylka Scholz: Der methodische Ansatz ist ein anderer und zwar biographische
Interviews zu führen und die mit der dokumentarischen Methode auszuwerten.
Die Fragestellung ist, wie kommen männliche Jugendliche und junge Männer
in Care-Berufe und was ich zeitdiagnostisch extrem wichtig fand war, dass
junge Männer mit Migrations- und Fluchterfahrungen in diesen Care-Bereich
gelenkt werden und deswegen haben wir einen recht großen Teil unseres
Samples so angelegt. Dann hast du Kevin rausgearbeitet, dass es
unterschiedliche Muster gibt, wie die jungen Männer in diese Berufe kommen.
Es gibt die pragmatische Orientierung, wo wir sehr wenige Vergeschlecht-
lichungen im Material sehen. Jungen Männern mit Migrations- und
Fluchterfahrung bietet der Beruf auch eine Bleibeperspektive. Das ist etwas,
was gar nicht gesellschaftlich intendiert ist, sondern das ist etwas, was sich auf-
grund von globalen Geschlechterverhältnissen verändert. Eine pragmatische
Orientierung ist: ‚Wenn ich jetzt in der Gastro arbeite, dann verdiene ich ja
noch weniger Geld und dieses Geld im Pflegeberuf reicht mir, ich weiß schon,
dass das als unterbezahlt gilt, aber für mich ist das ok‘. Da kommt eine ganz
andere Wertung rein, die dann mit Fachlichkeit und professionellem Status
verbunden werden kann, was sich sehr stark überschneidet mit dem passageren
Muster. Es hat was Anderes nicht geklappt und es ist von Anfang an klar, das
ist nur eine Übergangspassage und das geht dann in Richtung eines
Medizinstudiums oder Ähnliches. Also man versucht da einen Aufstieg zu
initiieren, das würde am stärksten vielleicht noch zu männlichen Karrierevor-
stellungen passen. Der Care-Beruf kann positiv gesehen werden als Möglich-
keit der eigenen Erweiterung. Dann haben wir das generative Muster und das
bricht nochmal das Vorurteil auf, dass Männer keine Fürsorge leisten. Das ist
keine sehr große Gruppe, aber es gibt eben diese Jungs, die schon von Anfang
an eine familiäre Tradition von Fürsorgeerfahrung erzählen, dass sie die
Großmutter schon ab sechs Jahren unterstützt haben und sagen: ‚Ich habe so
eine Art Pflegegen, für mich gibt es einfach gar nichts anderes, als diesen
Beruf‘. Das ist dann so eine Art Berufung. Was Kevin noch gefunden hat, ist
das altruistische Muster, wo die Befragten über biographische Krisensitu-
ationen in den Care-Beruf reinkommen. Das ist nicht passager, sie haben nicht
30 Vgl. die Artikel Stützel und Scholand und Stützel und Scholz in diesem Band.
306
eine Idee, da muss ich wieder raus, sondern aufgrund einer gescheiterten
Karriere oder Ähnliches kommen sie in die Pflege und sehen da plötzlich, hier
können sie authentisch das sein, was sie sind. Das ist ihre Deutung und all diese
Deutungen haben gar nicht so viel im Vordergrund mit Männlichkeit zu tun.
Trotzdem hast du das ja auch rausgearbeitet, dass diese Passung hergestellt
werden muss, weil, was Stephan vorhin schon gesagt hat, Zeichen und Struk-
tur, es ist halt ein weiblich vergeschlechtliches Berufsfeld, wo sie in einem
spezifischen historischen Moment reinkommen und sie müssen sich damit
auseinandersetzen. Was wir aber jetzt nochmal stärker empirisch gemacht
haben, das liegt aber vielleicht auch daran, dass wir mit Careforschung drauf
geguckt haben, was die eigentlich leisten müssen und das trifft auch auf junge
Frauen zu: Sie müssen die Arbeit als ein Beziehungsverhältnis lernen zu
strukturieren, die gesamten Caretätigkeiten und da wird das dann spannend,
wo wird Geschlecht relevant gesetzt. Wenn ein junger Mann eine Patientin
waschen soll, bei der Körperpflege, da wird beispielsweise Geschlecht relevant
gesetzt. Bei ganz vielen anderen Tätigkeiten aber nicht. Der Umgang mit
Scham und Ekel, das trifft auf viele Frauen ganz genauso zu, und das wäre mal
ganz spannend, ob das bei den Frauen in der Pflege thematisch wird. Ich habe
keine Studien bisher dazu gelesen, dass das bewältigt werden muss. Und an
diesem Punkt arbeiten wir jetzt weiter, also was hat das mit Geschlecht, mit
Emotionen zu tun, dieses Beziehungsverhältnis zwischen den care givern und
care receivern auszugestalten. So sind wir nicht reingestartet, das hat sich für
uns aus der Empirie ergeben, unseren Fokus darauf nochmal scharf zu stellen.
Kevin Stützel: Wo siehst Du Verbindendes oder Unterschiede zum Schulpro-
jekt31 Jürgen?
Jürgen Budde: Das Schulprojekt weist im Prinzip auf das hin, was wir schon
theoretisch diskutiert haben, nämlich eine Ausdifferenzierung von
verschiedenen Positionen. Wir haben uns ja Schulen im Zeitverlauf angeguckt
und man kann feststellen, wie das Geschlecht als Ordnungskategorie eher an
Relevanz über die Zeit verliert, sowohl was die Peerpraktiken angeht als auch
was die pädagogischen-professionellen Praktiken angeht. Geschlecht spielt in
der ersten Klasse eine wahnsinnig große Rolle, gerade zur Organisation des
pädagogischen Alltages. Das zeigt sich in bestimmter Weise auch in dem
Kitaprojekt. Geschlecht ist aber nicht unbedingt an Dominanz gebunden oder
an Hegemonie und Herrschaft, sondern die Kategorie hilft beispielsweise in
der Schule bei der Frage, wer ist dran, wer sitzt wo? Die Bedeutung nimmt
aber auf der Ebene der praktischen Alltagsorganisation ab, je höher die Klas-
senstufe ist. Was uns erstaunt hat, war aber, dass gleichzeitig die Relevanz von
Geschlecht als Gegenstand des Unterrichtes zunimmt. Wir haben in der
Mittelstufe und in der Oberstufe zunehmend eine ganze Reihe an Unterrichts-
31 Vgl. den Artikel von Dietrich und Budde in diesem Band.
307
stunden gesehen, in denen in irgendeiner Art und Weise auch Geschlecht
reflektiert worden ist. Geschlecht kommt als eine reflexive oder als eine
Wissenskategorie ins Spiel und gestaltet insofern Unterricht selbst mit. Das
bringt uns zu dieser Aussage, dass in diesen pädagogischen Praktiken
geschlechterkritisches Wissen eingesickert ist. Geschlechterkritik führt aber
nicht immer zu einer Auflösung von Geschlechterkategorien. Zum Beispiel
diese Aufrufketten in der ersten Klasse sind geprägt von der Annahme,
möglichst ‚geschlechtergerecht‘ zu handeln, kein Geschlecht zu benach-
teiligen. Da kommen dann immer Jungen und Mädchen abwechselnd dran,
nicht nur, um zu vermeiden, dass Schüler*innen oder eben Freund*innen nur
ihre Freund*innen drannehmen, sondern auch, um Geschlechtergerechtigkeit
herstellen, also Geschlechterhierarchie wird entdramatisiert, aber Geschlech-
terdifferenz dramatisiert. Also es ist durchaus ein kritisches Wissen vorhanden,
das führt aber, wie grad schon gesagt, aufgrund der Handlungsproblematiken
von Unterricht, nicht immer zu einer Auflösung oder Reflexion von
Geschlechterkategorien, sondern bestärkt diese trotz des geschlechter-
kritischen Anspruchs. In der Summe haben wir den Eindruck, Geschlecht
spielt eine Rolle und zwar nicht mehr im Sinne von einem ‚heimlichen Lehr-
plan‘, wie das noch in den 1970er, 1980er Jahren war, sondern tatsachlich eher
in so einem Versuch, in einer pädagogischen Institution mit einem rahmenden
gesellschaftlichen Auftrag eine Form von Geschlechtergerechtigkeit
herzustellen. Im Vergleich mit den Studien, die Faulstich-Wieland32 gemacht
hat, wo es auch darum ging, die impliziten Konstruktionsprozesse zu zeigen,
ist es ein Stück weiter. Geschlecht ist nicht mehr so verdeckt und implizite oder
explizite Benachteiligung von Jungen oder Mädchen spielt auch keine so große
Rolle mehr. Geschlecht wandelt sich im Laufe der Zeit von einer Ordnungs-
kategorie zu einer Reflexionskategorie. Was wäre noch zu sagen? Wir haben
uns fünf Schulen insgesamt angeguckt, in drei von den Schulen tauchte die
Frage nach Transsexualität auf, nonbinär das ist auch ein Thema, was in den
Schulen, entweder von den Schüler*innen oder von den Lehrkräften,
verhandelt wird. Also wir würden sagen für die Schule zeigt sich eine Paral-
lelität von ganz unterschiedlichen Formen des Jungeseins, die sowohl
geschlechterkritisches Wissen umfassen können, als auch alternative Varian-
ten, die vielleicht an das anschließen, was wir als caring masculinities bezeich-
nen. Es gibt aber auch Formen dessen, was mit Connell in Form von
Hegemonie verstanden werden könnte. Und wir finden zu Teilen auch etwas,
was wir als Silencing bezeichnen würden, es ist weder eine Alternative noch
eine Kritik, sondern wo Geschlecht aussetzt. Silencing funktioniert ein
bisschen in Anlehnung an Hirschauers Konzept des undoing gender33. Wobei
das auch bei Hirschauer nicht klar formuliert ist, ob undoing ein ‚Nicht-
32 Vgl. etwa Faulstich-Wieland (1991).
33 Hirschauer (2001).
308
Machen‘ ist oder ein bewusstes Absehen oder ‚Was-Anderes-Machen‘. Aber
diese vier verschiedenen Praktiken34 finden wir nebeneinander und je nach
Kontext, sind die Bedeutsamkeiten immer auch unterschiedlich.
Kevin Stützel: Damit möchte ich an Stephan übergeben: Es wurde schon ange-
sprochen, wie Geschlecht als Ordnungskategorie im Feld der Schule eingesetzt
wird. Wie hat sich das bei euch im Projekt zur frühkindlichen Bildung35 ge-
zeigt?
Stephan Höyng: Etwas stärker als in den anderen Untersuchungen haben meine
Kollegen in der Kita eine Gleichzeitigkeit von geschlechterpolarisierenden und
nichtpolarisierenden Einflüssen beobachten können. Da hängt vor einer Kita
eine Regenbogenflagge verbunden mit der Forderung nach Geschlechter-
gerechtigkeit, andererseits tragen Kinder Taschen, Brotbüchsen, Wasser-
flaschen oder Kleidungsstücke, die klar zwei Geschlechter polarisieren in der
Einrichtung. Das setzt sich fort bei der Personalzusammensetzung: Es gibt
Kitas, in denen es keine Besonderheit, sondern eine Normalität ist, dass auch
Männer erziehen. In anderen arbeiten nur weibliche und überhaupt keine
männlichen Pädagogen. Neben dem Personal gibt es sowohl Geschlecht
polarisierende als auch nicht polarisierende Strukturen der Räume, Logiken
der Institution oder Praktiken. Etwa, wenn Erzieherinnen Bewegungs-
aktivitäten nicht als Spiel verstehen und unterbinden und damit vermehrt
Jungen regulieren. Aber relevanter, ja zentral erscheint in der Untersuchung
die Logik der Altershierarchie zwischen den Pädagog*innen und Kindern und
unter den Kindern selber. Betrachten wir, wer mit wem spielt, wie sich Grup-
pen im freien Spiel zusammenfinden, dann können neben der entscheidenden
Altersfrage noch einige weitere Kriterien von Bedeutung sein, ob das jetzt
Sprache oder Nachbarschaft ist, ob die Kinder sich schon kennen. Und da kann
dann eben auch das Geschlecht relevant sein, muss es aber nicht. Es gibt zwei
Spiele, wo sich im Sample deutlich ein doing gender zeigt: Wenn die Kinder
die Erwachsenenwelt nachspielen, sind etwa die Rollenspiele von Familie
doch sehr binär und geschlechterpolarsiert. Das zweite sehr geschlechterpola-
risierende Spiel ist Fußball, da tauchte bei Kindern wie bei Pädagog*innen
dauernd eine Geschlechtszuordnung auf. Aber bei vielen anderen Spielen
handelten Kinder sehr frei, situations- und kontextabhängig. Kinder haben aus
Barbiepuppen einen Spiderman gemacht oder Puppenwagen zum Transport
von Baumaterialien benutzt. Damit haben sie Artefakte, Gegenstände, die
eigentlich als geschlechtsbezogene Platzanweiser wirken sollen, einfach um-
gedeutet und damit auf eine ganz eigene Weise Geschlecht flüssig gemacht.
Sie haben dieses Differenzangebot nicht angenommen, sondern die Möglich-
keit zur Indifferenz genutzt, um diese geschlechtlich aufgeladenen Gegen-
34 Vgl. das 4-Felder-Schema in der Einleitung in diesem Buch.
35 Vgl. den Text von Cremers und Krabel in diesem Band.
309
stände eigensinnig ganz anders zu verwenden. Das zeigt, dass zumindest in
diesen Kitas Kinder einen großen Spielraum haben, vielfältige Verhaltens-
weisen auszuprobieren und ihre Eigenlogik gegenüber typischen Erwartungen
behaupten können.
Kevin Stützel: Die Überleitung zu dir Thomas Viola36, was sind zentrale Be-
funde, was sind Gemeinsamkeiten, oder auch Linien, die sich durch das Ver-
bundprojekt ziehen?
Thomas Viola Rieske: Ich habe ja auch ein bisschen empirisch gearbeitet und
eine Facebookgruppe zur geschlechtersensiblen Pädagogik untersucht. Da ist
meine Beobachtung, dass es so eine Art Herzchenideal gibt. Soziale Medien
funktionieren ja so, dass man was postet und dann wird das bewertet, u.a. mit
einem Herzchenlike. Das ist eine emotional gefärbte Wertung, ein Ausdruck
von einer affektiven Besetzung. Und wenn es um Jungen geht, so scheinen mir
der Junge mit rosa Kleid und der transgeschlechtliche Junge, dem seine
Transition gelingt, das Herzchenideal zu sein. Also Postings, die das
beinhalten, erhalten besonders viele von diesen Likes. Dahinter scheint mir die
Hoffnung zu stehen, dass das Mögliche erweitert oder entgrenzt wird, also das
Jungs nicht mehr irgendwas sein müssen. Und da würde ich sagen ‚Ok,
Jungenpädagogik ist dann so eine Entlastung von Männlichkeitsanforderungen
oder Befreiung‘, das ist ein verbreitetes, vielleicht auch dominantes Bild von
Jungenpädagogik, jedenfalls unter denen, die sich als männlichkeitskritisch
verstehen. Und das finde ich so markant, weil ich sagen würde,
Jungenpädagogik enthält auch immer eine Konfrontation mit etwas, also nicht
nur Entlastung von, Befreiung von, sondern auch Konfrontation mit
Anforderungen. Das ist vielleicht päda-gogisch nicht mehr so legitim, weil
Normativität negativ konnotiert ist gerade beim Thema Geschlecht. Wir
beglücken die Leute lieber, als dass wir sie einschränken.37 Klar, die Frage der
Begrenzungen von Junge- und Mann-Sein, die muss gestellt werden. Und es
gilt, diese Grenzen da zu erweitern, wo sie Probleme machen. Aber ich finde,
dass das nicht reicht. Es geht in Pädagogik eben auch um die Konfrontation
mit bestimmten Anforderungen z.B. der Mitmenschlichkeit, der Achtsamkeit
für andere und für sich. Da geht’s dann um etwas anderes für mich, nicht eine
Erweiterung von Handlungs-spielräumen, sondern eher um eine neue
Strukturierung. Und bei Männlichkeit ginge es dann darum, dass die
Bezogenheit, die man(n) hat, zu sich und zu anderen, dass die sich verändert.
Weniger Coolness und Abgrenzung, mehr Anerkennung von Bedürftigkeit und
Abhängigkeit. Jedenfalls in manchen Bereichen. In anderen ginge es vielleicht
sogar um mehr Abgrenzung, etwa mit Blick eben auf die Identifikation mit
Erwerbsarbeit oder bei Einladungen zu Dominanzverhalten. Das ist ein
36 Vgl. die Texte Rieske und Budde und Budde und Rieske in diesem Band.
37 Vgl. hierzu auch Rieske (2021).
310
Ergebnis der theoretischen und empirischen Arbeit in meinem Teilprojekt.
Übergreifend, ich frag mich jetzt doch, nachdem ihr gesprochen habt, bei
Anderson, der diese These hat, dass es immer diese orthodoxe Männlichkeit
gab, die beschrieben wurde, also man dominiert, ist sexistisch und darf nicht
kuscheln und dann gibt es die inklusive Männlichkeit, wo Kuscheln erlaubt ist
und wo man nicht misogyn ist. Und Anderson sagt nun, diese beiden Muster
existieren gleichrangig zueinander. Ich fand das eine schräge These, weil ich
finde, dass das nicht funktioniert. Weil beide Muster auch über die Abgrenzung
vom jeweils anderen funktionieren, da geht ja keine friedliche Koexistenz da
die anderen auch schon sind. Aber was ihr so beschreibt, könnte man genauso
interpretieren. Gerade was du sagtest Stephan, mit der Gleichzeitigkeit von
polarisierenden und nicht-polarisierenden Einflüssen. Wie so eine friedliche
Koexistenz von Sachen, die man fast unver-einbar nennen könnte und wo man
eigentlich annehmen könnte, die müssten doch in einem Kampf irgendwie
zueinander sein. Das finde ich interessant, ist das wie so ein wechselseitiges
Laissez-faire?
Jürgen Budde: Ich glaube es ist ja nie eine friedliche Koexistenz, es kommt
immer auf die jeweiligen Kontexte an. Viele von unseren Projekten, haben sich
ja auch explizit Kontexte angeguckt. Das war ja auch beim Projekt zu non-for-
maler Bildung38 so, die am Rande des Erwartbaren geforscht haben. Anspruch
der Teilprojekte war es, durch Fragestellung oder Feldauswahl sozusagen die
Ränder von nnlichkeitskonstruktion in den Blick zu nehmen. Das macht
was aus, deswegen ist die kritische Perspektive vielleicht auch stärker, als hät-
ten wir uns einen Fußballverein, eine Burschenschaft und vielleicht ein katho-
lisches Elitegymasium angeschaut. Ich würde aber davon ausgehen, dass sehr
Unterschiedliches parallel besteht und um Deutungshoheit ringt. Ob das jetzt
immer Hegemoniekämpfe sind, weiß ich nicht, aber dass Spannungsfelder
bestehen, da bin ich mir sehr sicher. Ich glaube nicht, dass das Spannungsfeld
nur zwischen zwei Polen ist, die auf einer Linie angeordnet sind, das Feld ist
nicht entweder hegemonial oder inklusiv, sondern vielfältiger. Da habt ihr ja
in euren Projekten viele verschiedene Positionen, die sich unterschiedlich auf
Fragen von Geschlecht beziehen oder eben nicht beziehen. Und das finde ich
an diesem inclusive masculinity-Ansatz schwierig, dass es so eine Art Polari-
sierung provoziert: Ist die Praxisform orthodox oder inklusiv? Ich glaube,
wenn wir es schaffen, uns Männlichkeiten als Feld vorzustellen, dann hat man
am Ende eine bessere Vorstellung davon, dass Geschlecht und Männlichkeit
tatsächlich durch so eine Gemengelage unterschiedlicher paralleler Entwick-
lungen gekennzeichnet sind. Für den pädagogischen Bereich zeigt sich diese
Gemengelage noch mal als besondere, einmal etwa aufgrund des normativen
Anspruches an Geschlechtergerechtigkeit, zum anderen wegen der inhärenten
Vergeschlechtlichung pädagogischer Handlungsfelder, aber auch, weil
38 Vgl. den Text von Greif und Schuck in diesem Band.
311
Entwicklungsprozesse ein wichtiger Bestanteil pädagogischer Handlungsfel-
der sind.
Kevin Stützel: Ich würde da gerne gleich einhaken und die Frage aufgreifen,
was besteht da eigentlich parallel bzw. was wird unterschiedlich gemacht.
Sylka hat die männlichen Altenpfleger mit Flucht- oder Migrationsbiographie
in unserer Untersuchung angesprochen. Obwohl sich bei allen Befragten zeigt,
dass sie eine Passung zum Care-Beruf herstellen müssen, wird deutlich, dass
sich diese Passung unterscheidet. Da gibt es auf der einen Seite die männlichen
Auszubildenden, die wir als altruistisches Muster bezeichnet haben, die aus
geschlechtstypischen Berufen kommen und aufgrund von biographischen Kri-
senerfahrungen diesen Weg nicht mehr weiter gehen können. Es kommt zu
einem Wechsel des Berufsfeldes, in die Altenpflege, und die Befragten erzäh-
len mir es geht nicht um Professionalität, mich interessiert nicht das medizini-
sche Wissen, das Technische, sondern die sagen: ‚Ich bin der Clown, der Pa-
radiesvogel‘. Und um das kurz zu kontrastieren mit den Auszubildenden, die
eine Flucht- und Migrationsgeschichte haben, die sagen, die Pflege sichert mir
die Aufenthaltsgenehmigung oder sichert mir einen besseren Verdienst. Aber
wo gleichzeitig klar wird, eine Haltung, sich als Clown oder Paradiesvogel zu
beschreiben ist völlig undenkbar für diese Auszubildenden. Was sie erleben,
sind rassistische Diskriminierungen von Kolleg*innen und zu pflegende Be-
wohner*innen bzw. grenzverletzende Situationen, dass es zu sexuellen Adres-
sierungen kommt. Das finde ich interessant, sich in so einer Gemengelage zu
fragen, wie funktioniert dann diese Gleichzeitigkeit, diese Ungleichzeitigkeit
in diesem Feld.
Sylka Scholz: Jürgen und Thomas ihr habt ja dieses 4-Felder-Schema ent-
wickelt. Vielleicht könnt ihr nochmal sagen, wo ihr das so theoretisch verortet.
Geht es um Praktiken? Aber es geht ja auch um hegemoniale Männlichkeit,
alternative Männlichkeit, Geschlechterkritiken, also critical queering
masculinity, und um ignoring masculinity. Wenn man das jetzt als Modell
begreift, kann man das sehr gut auf unser Forschungsfeld übertragen. Das geht
bei uns allen und dann kann man sich angucken, in welchen Relationen das
jeweils zueinandersteht. Also bei diesem pragmatischen Muster ist Männlich-
keit irrelevant, ob das ein weiblich vergeschlechtlichtes Feld ist oder nicht, ist
egal, das ist ihr Berufsfeld. Die Geschichten sind ja sehr dramatisch: Sie stehen
kurz vor der Abschiebung und wenn du jetzt noch irgendwie einen Arbeits-
vertrag kriegst, dann wirst du nicht abgeschoben. Da geht es wirklich um die
Existenz. Ich glaube das funktioniert, aber wo würdet ihr das theoretisch ver-
orten, was habt ihr da gemacht?
Jürgen Budde: Ich habe versucht aufzugreifen, was aus den unterschiedlichen
Projekten kommt, also rauszukommen aus dieser schon erwähnten Polarisie-
rung – was ist hegemonial oder inklusiv? Wie verhält sich das mit der Trans-
formation? – Und da was anders anzubieten. Ich hatte den Eindruck, die Pola-
312
risierung bildet sich im Verbundprojekt nicht ab. Der zweite Impuls war, dass
es in vielen Projekten sowas gibt wie ein Moment des undoing gender. Aber
dann dachte ich mir, was ist denn jetzt damit gemeint? Weil, das kennen wir ja
aus dem Schulkontext, dieses undoing kann ja entweder ein Übersehen von
Geschlecht sein. Es gibt ja auch Lehrkräfte, die behaupten, das spielt für mich
gar keine Rolle und wenn man dann aber in die Praxis reinschaut, stellt man
fest, es spielt doch eine Rolle: Dieses ‚Ich behandle alle gleich‘ ist ja oft in der
Praxis das Gegenteil. Es kann aber auch ein bewusstes Absehen von Ge-
schlecht sein. Also ist das 4-Felder-Schema der Versuch, die Vielschichtigkeit
ein stückweit in die Begrifflichkeit aufzunehmen und erstmal zu sortieren. Wie
lassen sich die theoretischen Beiträge, die aus den Projekten kamen, sortieren?
Ich hatte den Eindruck, es gibt einen Unterschied zwischen denjenigen, wo
explizit Geschlechterkritik formuliert wird, das ist beispielsweise in dem Pro-
jekt nonformale Bildung der Fall, die haben ja sehr stark eine Geschlechterkri-
tik mit drin, das gab es auch im Schulprojekt. Ich glaube auch in dem Projekt
zu den Berufsvorbereitungsklassen. Und es gibt eine Praxis, die sich in der Art
und Weise zeigt, wie sich Kinder in der Kita untereinander kümmern, wie sich
Schüler*innen untereinander kümmern oder was ihr mit dem Pflegenden be-
schreibt. Also alles Situationen, wo es nicht darum geht, Kritik an Verhältnis-
sen zu üben, sondern für sich selber eine nicht-dominante Praxis zu realisieren.
Und daraus hat sich jetzt als einen Sortierungsversuch das 4-Felder-Schema
ergeben, genau diese vier verschiedenen Angebote zu unterscheiden. Wie hoch
man die jetzt theoretisch ziehen kann, da habe ich noch gar nicht drüber nach-
gedacht.
Thomas Viola Rieske: Theodore Schatzki argumentiert in einem Text, dass es
nicht diese Struktur da oben und dann so ein Mikrofeld unten gibt.39 Der sagt,
es gibt Praktikenbündel, die sind unterschiedlich dick. Es ließe sich versuchen,
herauszufinden wie dick sind diese vier Praktikenbündel, um eine Art Zeitdi-
agnose zu bekommen. Ich finde es aber wahnsinnig schwierig, das zu bestim-
men, weil es geht ja nicht nur um die Menge, sondern es geht ja auch um die
Frage, inwieweit ist das institutionalisiert? Das wäre jetzt vielleicht nochmal
eine andere Theoretisierung.
Stephan Höyng: In der Kita ist Geschlecht noch sehr fluide, bei den älteren
Jugendlichen wird die Polarisierung schon greifbarer. Das kann man jetzt auf
zwei verschiede Weisen deuten: Man könnte sagen „In zehn, zwanzig Jahren
ist die Polarisierung der Geschlechter Geschichte, da sind dann diese fluiden
Kinder erwachsen und gestalten die Welt.“. Oder aber wir verstehen diesen
Befund als eine künstliche Längsschnittuntersuchung und beschreiben damit
einen Entwicklungsprozess vom Kind zum Erwachsenen. Dann entwickelten
sich bei den meisten aus einem eher flüssigen Umgang mit Geschlechterkate-
39 Vgl. Schatzki (2016).
313
gorien in der frühen Kindheit eine immer klarer werdende Verordnung in ei-
nem zweigeschlechtlichen System. Ich sehe beides: Die Veränderung und die
Beharrungskräfte. Aus der Schule berichtet Jürgen ja von Anrufungen der Ka-
tegorie Geschlecht, die nicht hierarchisch gemeint seien, sondern nur der Ver-
einfachung und Ordnung dienten. Doch ich sehe, dass es eben schon Anrufun-
gen sind, die eben erstmal klar machen ‚du bist aber ein Junge und das lernst
du schon noch in den nachsten Jahren und nach der Schule weißt du das dann‘.
Darauf aufbauend können dann andere Männlichkeitsanforderungen ange-
bracht werden, die auch Hierarchien, Ungleichheit und Diskriminierung mit
sich bringen. Ich sehe also neben einem Prozess der Vergeschlechtlichung von
Kindern und Jugendlichen auch Auflösungserscheinungen von Geschlecht. Es
hat sich ja schon eine Menge verändert. Viele Verhaltensanforderungen von
Eltern an Jungen und Mädchen, die ich noch aus meiner Kindheit aus den
1960er Jahren werden heute höchstens von rechtsextremistischen Eltern ge-
stellt. Doch Männlichkeitsanforderungen aus anderen Quellen können eben
auch an Bedeutung gewinnen, etwa aus Medien. Abschließend möchte ich
noch einmal unsere Werteorientierung als Forschende klären, bei allem Bemü-
hen sind wir ja nie neutrale Beobachter. Was ist eigentlich unsere Position,
welche Haltung finden wir richtig? Thomas, du hattest das ja vorhin über das
Ideal von dem Jungen mit dem rosa Kleid gesprochen. Ich kann eher noch zu
dem Ideal der ‚interdependenten Mündigkeit‘ stehen. Dabei geht es eben nicht
nur um die Handlungsfähigkeit als Person, sondern auch darum, sich in Bezie-
hung zu verstehen, in Kommunikation, sich nicht nur in Konkurrenzbeziehun-
gen, sondern ebenso in Kooperationsbeziehung wahrzunehmen.
Thomas Viola Rieske: Das war als es um den Bildungsbegriff ging. Im traditi-
onellen Bildungsbegriff geht es darum, mündig werden, das impliziert dann
auch Selbstbestimmung und Autonomie. Und da dachten wir, wie kriegt man
das Relationale rein und haben gesagt ‚interdependente Mündigkeit‘.40
Kevin Stützel: Dieses Projekt ist ja ursprünglich auch mal gestartet, um eine
Aktualisierung von Männlichkeitsforschung zu leisten, in Abgrenzung oder in
Bezugnahme zu Männlichkeitskonzeption von Raewyn Connell und Pierre
Bourdieu, die vorherrschend waren oder sind in der deutschsprachigen Männ-
lichkeitsforschung. Welches Resümee zieht ihr nach diesem Projekt, nach drei
Jahren Arbeit an empirisch-theoretischen Gegenständen: Was macht da eine
Zeitdiagnose aus, was ist vielleicht auch eine Leistung des Verbundes, und mit
dem 4-Felder-Schema inzwischen schonmal angesprochen.
Thomas Viola Rieske: Sowohl als auch!
40 Siehe der Text von Rieske und Budde in diesem Band.
314
Sylka Scholz: Aber ‚sowohl als auch‘ ist so ein Alltagsbegriff. Da finde ich das
4-Felder-Schema schon total gut, um zu sagen, dann lasst uns da nochmal wei-
terdenken.
Jürgen Budde: Ich möchte als Zeitdiagnose die Parallelität herausstellen, dass
zumindest für bestimmte pädagogische Kontexte auch andere Formen von
Geschlechterrepräsentation im Vordergrund stehen können. Wie weit das jetzt
reicht, weiß ich nicht so genau, aber ich finde, dass wir mit dem Schulprojekt,
da geht es ja auch um Leistung, dass eine bestimmte Form dessen, was bei
Connell ‚protestierende Mannlichkeit‘ heißt, nicht erfolgreich in der Schule ist.
Also diese These, dass Jungen in der Schule nebenbei sowas wie Souveränität
und Durchsetzungsfähigkeit erwerben und was ihnen dann später als patriar-
chale Dividende nützt, also diese Konstruktion können wir so nicht untermau-
ern. Sondern wir haben den Eindruck, dass auch andere Normen und Werte
gelten, die mit traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit nicht besonders
gut vereinbar sind. Ich glaube das gilt nicht nur für den schulischen Bildungs-
kontext, sondern das gilt für viele Bildungskontexte in unterschiedlicher Art
und Weise. Dabei ist der Bildungsbereich ein besonderer Kontext, wo eben
klar ist, Bildung steht, anders als Wirtschaft und Erwerbsarbeit, nicht ganz
oben in der gesellschaftlichen Anerkennungshierarchie. Ich habe den Ein-
druck, dass es bei all der Pluralität darauf hinausläuft, die Bedeutung von
Geschlecht, von Männlichkeit weiter einzuklammern. Ich würde nach diesem
Projekt sagen, Männlichkeit ist weiterhin eine relevante Kategorie für die
soziale Ordnung, für soziale Ungleichheit, als biographische Identifikations-
kategorie für Jungen, aber mir scheint deutlich, dass sie weder omnirelevant
noch permanent präsent ist, sondern andere Differenzkategorie oder andere
Identitätskonstruktion, andere Ungleichheitsverhältnisse, spielen eine ebenso
große, oder sogar eine größere Rolle.
Stephan Höyng: Ich mache ja Männlichkeitsforschung, weil ich Benachteili-
gung, Diskriminierung beheben will. Das heißt zuerst, diese aufzuzeigen, zu
analysieren, Handlungsoptionen zu erkunden, um dann Veränderungsschritte
einleiten zu können. Aber es erscheint mir zunehmend schwieriger klare Grup-
pen von geschlechtsbezogenen Benachteiligten und Diskriminierten zu benen-
nen. Die Lebenslagen werden immer unterschiedlicher und individueller. Zu-
dem geht es in dieser individualisierenden Gesellschaft vermehrt um Anerken-
nung, die unter anderem auch medial gewonnen werden muss. Es ist keine
leichte Aufgabe, zu klären, wo Benachteiligung und Diskriminierung begin-
nen. Ist es diskriminierend, wenn jemand nicht dieselbe mediale Aufmerksam-
keit erfährt wie jemand anderes, der/die sich besonders geschlechtstypisch in-
szeniert? Vielleicht, wenn die Medienplattform das steuert. In der wachsenden
Bedeutung von Individuellem und von Symbolen hilft es mir, auch weiterhin
Diskriminierung nicht nur an Anforderungen und Ausgrenzungen festzuma-
chen. Ich möchte die strukturellen Ebenen nicht aus dem Blick verlieren und
315
das sind besonders institutionelle und ökonomische Benachteiligungen und
Gewalt.
Kevin Stützel: Ergänzungen, Widerspruch?
Marc Thielen: Ich fände es schon nochmal spannend, die Erkenntnisse, die
haben wir ja in bestimmten Feldern, in denen wir uns bewegt haben, einzu-
ordnen. Jetzt haben wir uns eben geschlechtsuntypische Felder angeguckt,
beispielsweise. Wir könnten problematisieren, dass wir doch auffallend viel in
Großstädten, in Westdeutschland unterwegs sind. Man könnte auch die Alters-
frage stellen: Wir bewegen uns in Kindheit, Jugendalter, vielleicht noch junges
Erwachsenenalter. Also eine Zeitdiagnose zu Männlichkeit, da müssten wir
nochmal Kontrastfelder und -fälle hinzuziehen. Ich habe jetzt nochmal einiges
zur Jugendkulturforschung gelesen. Da wird ja auch eine kulturelle Insze-
nierung von Jugend beschrieben und da wird im Moment schon diese Spaltung
problematisiert, dass wir einerseits so Jugendkulturen in Großstädten,
gutbürgerlich, mittelschichtsorientiert haben, wo man sowas wie inclusive
masculinity wahrscheinlich eher finden würde. Und, das ist vielleicht auch
etwas stereotypisierend, aber zugleich gibt es auch so Gegenbewegungen. Es
gibt dann eben auch, das ist dann eher ein bisschen so, finde ich, pauscha-
lisierend, aber so eine neue Unterschicht, eher in Ostdeutschland, so wird das
dann genannt. Was findet man da eigentlich für kulturelle Praktiken und sind
das vielleicht Männlichkeiten, die man da finden würde, die wir im Projekt-
verbund durch unsere Perspektive gar nicht erblickt haben?
4 Zum Schluss: Jungenforschung, Männerforschung,
Männlichkeitsforschung – offene Positionierungen
Kevin Stützel: Kommen wir zum Abschluss unserer Diskussionsrunde. Wo se-
hen wir jeweils Jungen- und Männlichkeitsforschung in Zukunft verortet?
Braucht es eine spezifische Jungen-, Männer- und/oder Männlichkeitsfor-
schung? Jungen mit Sternchen? Was ist das, was wir hier betreiben?
Stephan Höyng: Jungen sind nicht gleich Jungen finde ich, also die Zielgrup-
pen, die angeschaut wurden, die gefragt wurden. Wenn man Männlichkeitsfor-
schung drüberschreibt, wenn es sozusagen ein Spannungsfeld gibt, zwischen
Junge- und Mannsein, warum so einen Stern dran? Wenn wir den Jungenbe-
griff so fassen können, dass die, die sich drunter fassen wollen, eben auch als
Jungen adressiert werden, finde ich „Jungenforschung“ ausreichend.
Thomas Viola Rieske: Ein Projekt zu machen zu Jungen, das hat seinen Wert,
aber dann muss ich mir dessen bewusst sein, was meine Aussagen sind, weil
316
wenn ich jetzt mal mit den Mädchen durch das Schulgebäude gehe, fragen
würde, was sie toll finden und was nicht, dann werde ich etwas über diese
Räume erfahren, was ich durch die Jungs nicht erfahre, also wer sich wo wohl-
fühlt, jetzt mal als einfaches Beispiel. Dasselbe nochmal, wenn ich nicht-binäre
Schüler*innen fragen würde. Da merke ich schon manchmal selber so Zweifel
an dem Fokus auf diese Gruppe.
Sylka Scholz: Ich betreibe soziologische Geschlechterforschung und es hat ja
einen historischen Grund, warum wir erstmal auf Jungen, männliche Jugendli-
che, junge Männer geguckt haben, weil die nicht im Fokus der Frauen- und
Geschlechterforschung waren. Seit Jahren beobachte ich so eine Schräglage:
Gibt es eine Studie oder gibt es Studien, die Praktiken von Mädchen in der Bil-
dung so untersuchen, wie wir das jetzt gemacht haben?
Jürgen Budde: Mir ist keine bekannt. Wir haben das im BMFSFJ vorgeschla-
gen, man müsste parallel das Gleiche mit Mädchen erforschen. Das ist, glaube
ich, immer noch die Post-PISA-Aufmerksamkeitsökonomie, die dazu führt,
dass vor allem Jungen im Zentrum stehen.
Sylka Scholz: Wenn man jetzt das Thema Pflege nimmt, die Frage, wie Frauen
pflegen, wird nicht gestellt, die ist gar nicht untersucht. Dann kommt
Männlichkeitsforschung und fragt, wie pflegen Männer und dann merkst du
aber, hey um das jetzt vergleichen zu können, fehlen entsprechende Studien.
Es bräuchte in der Geschlechterforschung einen Schub, die Relationalität von
Geschlecht wirklich ernst zu nehmen.
Jürgen Budde: Wir haben ja die Literaturstudie41 gemacht, da findet sich tat-
sächlich diese Selbstbezüglichkeit des Feldes, die Rezeption von als männlich
gelesenen Autoren, das fand ich einen bemerkenswerten Befund. Wenn man
sich als erziehungswissenschaftliche Jungenforschung oder als erziehungswis-
senschaftliche Geschlechterforschung zum Thema Jungen versteht, wäre si-
cherlich dieser viel breitere Anschluss in Richtung Feminismus, Geschlechter-
forschung, Frauenforschung, intersektionale Perspektiven eine Grundbedin-
gung. Dann halte ich sie für total notwendig, weil sie uns etwas über eine rele-
vante soziale Kategorie erklären, sowohl für die Aufklärung von Ungleich-
heitsverhältnissen als auch für subjektive Identifizierungsprozesse von Kin-
dern und Jugendlichen, mit denen wir in pädagogischen Kontexten zu tun ha-
ben, relevant sind.
Marc Thielen: Ich wollte noch einen Punkt einbringen zur Begrifflichkeit, also
ich hadere mit dem Begriff Jungenforschung tatsächlich, weil ich es immer ein
Stückweit dann doch vergleiche mit anderen Differenzlinien. Also ich hatte
auch mal eine Professur mit Migrationsschwerpunkt, da würde man nie sagen,
da machen wir Migrant*innenforschung, das würde man ganz stark kritisieren,
41 Vgl. den Beitrag von Budde und Rieske in diesem Band.
317
weil damit Verhältnisse von Macht und Gesellschaft dethematisiert werden
und die Migrant*innen als homogene Gruppe konstruiert werden. Ich sehe die
Gefahr wieder zu homogenisieren, eine Gruppe dann doch zu reifizieren. Des-
wegen würde ich persönlich etwas mit Männlichkeit als Begrifflichkeit bevor-
zugen, auch wenn ich da auch nicht ganz glücklich mit bin, wegen der zuneh-
menden Pluralisierung.
Jürgen Budde: Geht es um die theoretische Benennung des Feldes oder geht es
um die Frage, auf wen gucken wir denn dann? Das war ja ein Vorschlag von
Thomas Viola, man muss unterscheiden: wenn man auf Jungen guckt, ist es
nicht automatisch Männlichkeitsforschung und umgekehrt. Von daher würde
ich da mitgehen, ich glaube das Forschungsfeld, das wir in dem Projekt
bearbeitet haben, was auch so benannt werden könnte, da ging es erstmal um
Jungen, das war der Einsatzpunkt und von da aus haben wir dann geguckt,
natürlich immer mit einer männlichkeitstheoretischen Rahmung. Aber dass
sich der Zusammenhang von Jungen und Männlichkeit ja auch nochmal in
diesen drei Jahren ein bisschen loser gekoppelt hat, ist ja sozusagen auch ein
Verdienst des Projektes.
Literaturverzeichnis
Anderson, Eric (2011): Inclusive masculinity. The changing nature of masculinities.
New York: Routledge.
Blumer, Herbert (1954): What is Wrong with Social Theory? In: American Sociological
Review, 19 (1), S. 3–10.
Böhnisch, Lothar (2018): Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlich-
keit. Bielefeld: Transcript.
Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft. Frankfurt: Suhrkamp.
Bridges, Tristan/Pascoe, Cheri Jo (2014): Hybrid Masculinities. New Directions in the
Sociology of Men and Masculinities. Sociology Compass 8 (3), S. 246–258.
doi:10.1111/soc4.12134.
Budde, Jürgen/Rieske, Thomas Viola (2019): Auseinandersetzungen mit (neuen) The-
orien für die erziehungswissenschaftliche Forschung zu Männlichkeiten. In: Ku-
bandt, Melanie/Schütz, Julia (Hrsg.): Methoden und Methodologien in der erzie-
hungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Opladen: Budrich. S. 234–256.
Connell, Raewyn (1998): Männer in der Welt: Männlichkeiten und Globalisierung. In:
Widersprüche, 67 (18), S. 91–105.
Connell, Raewyn (1999): Der gemachte Mann. Männlichkeitskonstruktionen und Krise
der Männlichkeit. Wiesbaden: Springer VS.
Dölling, Irene (1999): „Geschlecht“ – eine analytische Kategorie mit Perspektive in den
Sozialwissenschaften? In: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterfor-
schung, 3 (1), S. 17–26.
318
Elliott, Karla (2016): Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept. In: Men
and Masculinities, 19 (3), S. 240–259.
Faulstich-Wieland, Hannelore (1991): Koedukation - enttäuschte Hoffnungen? Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 65.
Federici, Silvia (2015): Aufstand aus der Küche. Reproduktionsarbeit im globalen Ka-
pitalismus und die unvollendete feministische Revolution. Münster: Edition As-
semblage.
Forster, Edgar. (2005): Männerforschung, Gender Studies und Patriarchatskritik. In:
Casale, Rita/Rendtorff, Barbara/Andresen, Sabine/Moser, Vera/Prengel, Annedore
(Hrsg.): Geschlechterforschung in der Kritik. Opladen: Budrich. S. 41–72.
Forster, Edgar (2020): Männlichkeit denken. In: Rendtorff, Barbara/Mahs, Clau-
dia/Warmuth, Almut. (Hrsg.): Geschlechterverwirrungen. Was wir wissen, was
wir glauben und was nicht stimmt. Frankfurt: Campus. S. 20–25.
Hirschauer, Stefan (2001): Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Ka-
tegorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
logie (Sonderheft 41/2001), S. 208–235.
Höyng, Stefan (2019): Neue Praxen von Männern und ihre Funktionalisierung in einer
neoliberalen Gesellschaft. In: Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (Hrsg.): Caring
Masculinities? Männlichkeiten in der Transformation kapitalistischer Wachstums-
gesellschaften. München: Oekom, S. 135–146.
Holter, Øystein. (2007): Men’s Work and Family Reconciliation in Europe. In: Men
and Masculinities, 9 (4), S. 425–456.
McCormack, Marc (2014): The intersection of youth masculinities, decreasing homo-
phobia and class. an ethnography. In: The British Journal of Sociology, 65 (1), S.
130–149. doi:10.1111/1468–4446.12055
Meuser, Michael (2010): Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kul-
turelle Deutungsmuster. Wiesbaden: Springer VS.
Michalek, Ruth/Fuhr, Thomas (2008): Hegemonialität und Akzeptanz von Abweichun-
gen in Jungengruppen. Empirische Studien zum Umgang mit Opposition. In: Pren-
gel, Annedore/Rendtorff, Barbara (Hrsg.): Kinder und ihr Geschlecht. 4. Jahrbuch
Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Bud-
rich. S. 121–131.
Rendtorff, Barbara (2020): Wo hat Geschlecht seinen Ort? im Kopf? im Leib? oder
stößt es uns von außen zu? In: Forster, Edgar/Kuster, Friederike/Rendtorff, Bar-
bara/Speck, Sarah (Hrsg.): Geschlecht-er denken. Theoretische Erkundungen. Le-
verkusen: Budrich. S. 152 –189.
Rieske, Thomas Viola (2021): Verhältnisse von Autonomie und Heteronomie. Poten-
ziale subjektivierungstheoretischer Perspektiven am Beispiel erziehungswissen-
schaftlicher Forschung zu Jungen. In: Fegter, Susann/Langer, Antje/Thon, Chris-
tine (Hrsg.): Diskursanalytische Geschlechterforschung in der Erziehungswissen-
schaft (Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissen-
schaft, Bd. 17). Leverkusen: Budrich. S. 55–69.
Schatzki, Theodore R. (2016): Praxistheorie als flache Ontologie. In: Schäfer, H.
(Hrsg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld:
Transcript. S. 29–44.
Scholz, Sylka (2012): Männlichkeitssoziologie. Studien aus den Feldern Erwerbsarbeit,
Politik und Militär im vereinten Deutschland. Münster: Westfälisches Dampfboot.
319
Scholz, Sylka/Heilmann, Andreas (2019) (Hrsg.): Caring Masculinities? Männlichkei-
ten in der Transformation kapitalistischer Wachstumsgesellschaften. München:
Oekom.
Spohn, Margret (2002): Türkische Männer in Deutschland. Familie und Identität. Mig-
ranten der ersten Generation erzählen ihre Geschichte. Bielefeld: Transcript.
Stuve, Olaf/Debus, Katharina (2012). Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer
Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen. In:
Dissens e.V.; Debus, Katharina/Könnecke, Bernard/Schwerma, Klaus/Stuve, Olaf
(Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen in der Schule: Berlin: Dissens
e.V. S.43–60. www.jungenarbeit-und-schule.de/fileadmin/JuS/Redaktion/Doku-
mente/Buch/Stuve%20Debus%20-
%20M%C3%A4nnlichkeitsanforderungen.pdf. (Zugriff: 14.11.2021)
Windheuser, Jeannette (2018): Geschlecht und Heimerziehung. Eine erziehungswissen-
schaftliche und feministische Dekonstruktion (1900 bis heute). Bielefeld:
Transcript.
Autor*innen und Projektbeteiligte
Jürgen Budde, Dr. phil., habil., Professor für Theorie der Bildung, des Lehrens
und Lernens an der Europa-Universität Flensburg am Institut für Erziehungs-
wissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Differenzen und Ungleichheiten in Bil-
dungspraktiken und -institutionen, Soziales Lernen; Ethnographie.
Kontakt: juergen.budd@uni-flensburg.de
Michael Cremers, Sozialwissenschaftler mit den Schwerpunkten Geschlech-
terforschung, Jungenarbeit und Berufsorientierung.
Kontakt: Michael-Cremers@web.de.
Anette Dietrich, Dr. phil., Arbeitsschwerpunkte: (Erziehungswissenschaftli-
che) Geschlechterforschung, kritische Rassismusforschung, Antidiskriminie-
rungs-, Diversity- und Gleichstellungspolitiken.
Kontakt: anettedietrich@gmx.de
Philippe Greif, Promotion an der Universität Kassel zum Thema Männlich-
keitskonstruktionen von Jugendlichen aus Pariser Banlieue-Vorstadtvierteln.
Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit, Geschlechterverhältnisse, Ethno-
graphie und Rekonstruktive Sozialforschung.
Kontakt: phi.greif@posteo.de
Stephan Höyng, Dr. phil., Professor für Jungen- und Männerarbeit an der Ka-
tholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Leiter des Instituts für Gen-
der und Diversity in der sozialen PraxisForschung. Arbeitsschwerpunkte: Ver-
hältnis verschiedener Männlichkeiten zu Erwerbsarbeit, zu fürsorglichem Ver-
halten und Pädagogik.
Kontakt: stephan.hoeyng@khsb-berlin.de
Bernard Könnecke, Dipl. Pol., Geschäftsführer und Projektleiter bei Dissens -
Institut für Bildung und Forschung e.V. in Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Ge-
schlechterreflektierte Pädagogik, Jungen*arbeit, Prävention und Aufarbeitung
sexualisierter Gewalt, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften.
Kontakt: bernard.koennecke@dissens.de
Jens Krabel, Institut für Gegenwartsfragen der frühen Bildung. Arbeitsschwer-
punkte: Geschlechterforschung im Feld der frühen Kindheit, Geschlechterbe-
wusste Pädagogik in Kindertageseinrichtungen, Systemische Organisations-
theorie und -beratung im Bereich der Kindertagesbetreuung.
Kontakt: jens.krabel@mailbox.org
322
Julia Perlinger, M. A. Erziehungswissenschaften, wissenschaftliche Mitarbei-
terin und Stipendiatin an der Europa-Universität-Flensburg. Arbeitsschwer-
punkte: Sozialisationstheorie, Persönlichkeitsforschung, qualitative Sozialfor-
schung (narrative Interviews), Sportsoziologie.
Kontakt: julia.perlinger@uni-flensburg.de
Thomas Viola Rieske, Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft mit
Schwerpunkt Elementarpädagogik an der Evangelischen Hochschule Rhein-
land-Westfalen-Lippe. Arbeitsschwerpunkte: Praktiken und Prozesse der Er-
ziehung und Bildung von Jungen und Männern, Theorie und Praxis geschlech-
terreflektierter und Antidiskriminierungspädagogik und Prävention von (sexu-
alisierter) Gewalt in pädagogischen Kontexten.
Kontakt: rieske@evh-bochum.de
Barbara Scholand, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeit im Forschungsprojekt
Jungen und Bildung bis 9/2021, Universität Bremen, ITB - Institut Technik
und Bildung. Arbeitsschwerpunkte: Erziehungswissenschaftliche Ethnografie,
Gender-/Differenzforschung, Bildung und Berufsorientierung.
Kontakt: scholand@uni-bremen.de
Sylka Scholz, Dr. rer. pol., habil, Professorin für Qualitative Methoden und
Mikrosoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Sozio-
logie. Arbeitsschwerpunkte: Geschlechtersoziologie, insbesondere Männlich-
keitsforschung, Familien- und Paarforschung, Methoden der qualitativen So-
zialforschung.
Kontakt: sylka.scholz@uni-jena.de
Hartwig Schuck, Diplomsoziologe. Arbeitsschwerpunkte: Sozialontologie,
Geschlechtertheorie und qualitative Sozialforschung.
Kontakt: hartwig.schuck@dissens.de
Kevin Stützel, Dr. phil., Post-Doktorand an der Goethe-Universität Frankfurt
am Main im DFG-Graduiertenkolleg „Doing Transitions". Arbeitsschwer-
punkte: Theorie und Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung, Professi-
ons- und Professionalisierungsforschung, Neonazismusforschung, nnlich-
keits- und Geschlechterforschung, Rekonstruktive Forschung in der Sozialen
Arbeit.
Kontakt: stuetzel@em.uni-frankfurt.de
Marc Thielen, Dr. phil., Professur für Berufsorientierung in inklusiven Kon-
texten an der Leibniz Universität Hannover am Institut für Sonderpädagogik.
Arbeitsschwerpunkte: Bildungsinstitutionen und Bildungsverläufe im Jugend-
und jungen Erwachsenenalter, pädagogische Ordnungen am Übergang Schule-
Beruf in ethnographischer Perspektive.
Kontakt: marc.thielen@ifs.uni-hannover.de
Andrea Günter
Philosophie und
Geschlechterdierenz
Auf dem Weg eines genealogischen
Geschlechterdiskurses
Seit mehr als 2500 Jahren sind Geschlechterkonzepte heiß umkämpft.
Zur Orientierung in diesen Auseinandersetzungen ist es wichtig, ihre
Traditionen ebenso wie eroberte Alternativen zu kennen. Simone de
Beauvoirs Konzepte der „Existenz“ und „sexuellen Dierenzierung“
und Hannah Arendts Begri der „Pluralität“ stellen entscheidende
Prüfsteine dafür dar, die philosophische Kategorienlehre und deren
Verstrickungen mit Geschlechtertheoremen zu rekonstruieren.
Die Autorin untersucht Geschlechterdiskurse in der Philosophiege-
schichte von der Antike bis in die Moderne, macht die zugrunde lie-
genden Konzepte sichtbar und zeigt darin Kontinuitäten und Brüche
auf.
www.shop.budrich.de
2022274 Seiten Kart. 29,90 € (D) 30,80 € (A)
ISBN 978-3-8474-2589-2 eISBN 978-3-8474-1750-7
Doll | Kavemann | Nagel | Etzel (Hrsg.)
Beiträge zur Forschung
zu Geschlechterbe-
ziehungen, Gewalt und
privaten Lebensformen
Disziplinäres, Interdisziplinäres
und Essays
Der Band präsentiert aktuelle interdisziplinäre Auseinandersetzungen
mit Themen, die in den vergangenen 25 Jahren auch Gegenstand des
Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts zu Geschlechterfragen
Freiburg (SoFFI F.) waren. Neben den Themenschwerpunkten Familie,
Geschlecht, Alter sowie Gewalt im Geschlechterverhältnis, vereint der
Band Beiträge zu Agency, Forschungsethik, Interviewführung, Partizi-
pation in Forschungsprozessen und zum Verhältnis von quantitativer
und qualitativer Forschung.
Dies wird ankiert durch Beiträge aus juristischer und gesellschaftspo-
litischer Perspektive.
www.shop.budrich.de
2022314 Seiten Kart. 39,90 € (D) 41,10 € (A)
ISBN 978-3-8474-2590-8 eISBN 978-3-8474-1777-4
ResearchGate has not been able to resolve any citations for this publication.
Chapter
Der Beitrag entwickelt Grundlagen und Implikationen der Theorie subjektorientierter Jugendarbeit. Subjektorientierung wird dabei als ein übergreifendes Grundprinzip verstanden, das für unterschiedliche konzeptionelle Ansätze der Jugendarbeit bedeutsam ist. Zentral ist die Annahme, dass Offene Jugendarbeit weder auf ein sozialarbeiterisches Mandat der Betreuung, Kontrolle und Disziplinierung benachteiligter Jugendlicher, noch auf die Funktion einer schulergänzenden Betreuung und Qualifizierung reduziert werden sollte. Demgegenüber wird dafür plädiert, Jugendarbeit als einen Bereich pädagogischer Praxis zu gestalten, der eigenständige Möglichkeiten der Förderung von Persönlichkeitsentwicklung durch Bildungsprozesse eröffnet. Grundlegend dafür ist ein Verständnis von Subjektivität als normativ-kritischer Grundbegriff, der dazu dient, sowohl Behinderungen, Beschädigungen und Begrenzungen als auch Ermöglichungsbedingungen von Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit zu analysieren.
Chapter
Soziale Gefüge (re-)produzieren und transformieren sich durch körper-leibliche Einschreibungsprozesse. In den Blick kommt so nicht nur die Auseinandersetzung mit biographischen Verläufen als Materialisierung sozial-historischer Ordnungen, sondern auch die Verletzlichkeit des Seins, das in diese Ordnungen gestellt ist. Als Knotenpunkte leiblich-somatischer Resonanzen - aber auch von Widerständigkeit - diskutieren die hier versammelten Beiträge die Dimensionen Leiblichkeit, Körperlichkeit, Geschlecht und (Selbst-)Bildung als Naht- und Bruchstellen des Sozialen.
Chapter
Der Blick auf Männer und Männlichkeiten wird insbesondere durch das Konzept der hegemonialen Männlichkeit von Connell geleitet. Aus einer macht- und herrschaftskritischen Perspektive werden die Relationen zwischen Männlichkeiten und Weiblichkeiten in einer doppelten Dominanz- und Distinktionslogik betrachtet. Diskutiert werden die Vorteile dieser Perspektive, aber auch die kritischen Aspekte.
Book
Wir geben eine gründliche Anleitung für die Arbeit unter diesem qualitativ-sozialwissenschaftlichen Forschungsstil – eine Fortentwicklung der von Anselm Strauss und Barney Glaser begründeten Methodologie. Das Buch basiert auf ca. 30-jähriger Erfahrung mit dem Ansatz. Wir stellen die Geschichte, die erkenntnistheoretischen Grundlagen, die Denkweise und die zirkuläre Schritte-Abfolge des Forschungsprozesses vor. Die Idee der datenbegründeten Theoriebildung bekommt eine neue Akzentuierung: Wir heben die begleitende reflexive Selbst-Aufmerksamkeit der Forschenden als Leitlinie und Erkenntnisheuristik hervor. Gütekriterien und ethische Fragen des Forschungsstils werden besprochen. Beispiele der Arbeit mit dem Ansatz, der Anwendung seines Instrumentariums sowie seiner Aneignung im Studium runden die Darstellung ab. Aus einer Buchbesprechung zur 3. Auflage „ […] ein aneignungs- und lesefreundliches Werk […], verständlich für EinsteigerInnen und inspirierend für Fortgeschrittene – nicht nur ein Lehrbuch, sondern auch über die Methodologie der Reflexiven Grounded Theory hinaus ein Sammelwerk für die Feinheiten und (selbst-) reflexiven Aspekte qualitativer Forschung.“ Marion Linska, Forum Qualitative Sozialforschung 19(2), 2018 Die Zielgruppen • Studierende aller sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachrichtungen, die eine erfahrungsgesättigte Einführung in die Grounded Theory suchen. • Forschende dieser Fächer, die eine praktisch umsetzbare Anleitung für den Forschungsstil benötigen. • Lehrende aller Fachrichtungen, die qualitative Forschungsmethoden unterrichten. Die Autoren Dr. Franz Breuer ist Professor i.R. am Institut für Psychologie der Universität Münster. Dr. Petra Muckel arbeitet selbständig als Psychologin in eigener Praxis in Oldenburg. Dr. Barbara Dieris arbeitet als Psychologin und systemische Therapeutin an einer Kinderklinik.