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Die politische Ökonomie der Abfallwirtschaft in Russland

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Abstract

Die Entsorgung von Hausmüll ist eine der zahlreichen ökologischen Herausforderungen, vor denen Russland heute steht. Die landesweite Reform der Abfallwirtschaft im Jahr 2019 soll diesem Problem durch die Förderung von Recycling entgegenwirken. Diese geriet jedoch landesweit ins Stocken, was auf einige Besonderheiten der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Russland zurückzuführen ist. Der Mangel an Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen und die Bedeutung persönlicher Beziehungen zwischen den Unternehmen und den föderalen bzw. regionalen Behörden behindern die Umsetzung der Reform und führen zu suboptimalen Ergebnissen bei der Bekämpfung des Abfallproblems.
ANALYSE
Wladimir Pun – Führer, Diktator, Kriegsherr 2
Benno Ennker (München)
UMFR AGEN
Russland auf dem Weg zur Führerdiktatur 8
STAT I STIK
Erwähnungen der Wörter »Genozid«, »USA« und »NATO« im
russischen Fernsehen 03.12.2021 – 13.03.2022 16
UMFR AGEN
Russland auf dem Weg zur Führerdiktatur – 2 19
ANALYSE
Krieg, Protest und Regimestabilität 19
Jan Ma Dollbaum (Universität Bremen)
ANALYSE
Die polische Ökonomie der Abfallwirtscha in Russland 23
Olga Masyuna und Ekaterina Paustyan (Universität Bremen)
DEKODER
»Fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Pun selbst« 27
Andrej Nekrassow (Moskau)
DEKODER
Bystro #34: Können Sankonen Pun stoppen? 28
Janis Kluge (Berlin)
CHRONIK
23. – 29. Mai 2022 31
Regimedynamiken
Nr. 421 | 20.06.2022
Russland–Analysen
www.laender-analysen.de/russland
Forschungsstelle Osteuropa
an der Universität Bremen
Deutsches
Polen-Institut
Deutsche Gesellschaft für
Osteuropakunde
Leibniz-Institut für
Agrarentwicklung in
Transformationsökonomien
Leibniz-Institut für
Ost- und Südosteuropa-
forschung
Zentrum für Osteuropa- und
internationale Studien
(ZOiS) gGmbH
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 2
ANALYSE
Wladimir Putin – Führer, Diktator, Kriegsherr
Benno Ennker (München)
DOI: 10.31205/R A .421.01
Zusammenfassung
Das »System Putin« hat sich zu einer Führerdiktatur entwickelt. Unter dieser politischen Herrschaft wirkt
das Führerprinzip für den Präsidenten und gibt ihm oberste Befehlsgewalt auf allen politischen, rechtlichen
und militärischen Gebieten ohne Kontrollinstanzen. In vielen ihrer Attribute scheinen die Führersysteme des
zwanzigsten Jahrhunderts, die Diktaturen Hitlers, Francos, Mussolinis und Stalins, wieder auf. Wladimir
Putin hat als Besonderheit seines Regimes die neu inszenierte »Symphonie« zwischen seinem Staat und der
Russisch-Orthodoxen Kirche mit ihrer »imperialen eologie« als politische Ressource vereinnahmt. Putins
Führerdiktatur nähert sich mit umfassend werdender terroristischer Repression zunehmend einer totalitä-
ren Herrschaft an, deren Machtwahn ihr selbst zum Verhängnis werden kann.
Einleitung
Die Krise um die Ukraine, die sich bis zum Angriffskrieg
Russlands entwickelte, hatte einen Regisseur: Wladimir
Putin. Souverän, um seinen schon öffentlich – im Mani-
fest über die »historische Einheit der Ukrainer und Rus-
sen« vom Sommer 2021 (http://www.kremlin.ru/events/
president/news/66181) – erklärten Willen zur Vernich-
tung des ukrainischen Staates zu exekutieren; souveräner
»Meister«, um die Figuren seines Drehbuchs ihre Rollen
als »Scharfmacher« (Dmitrij Medwedew), als Außenmi-
nister (Sergej Lawrow), der die Diplomatie gänzlich zur
Farce machte, spielen zu lassen. Er muss es als seinen
Triumph empfunden haben, der Welt zu zeigen, dass
er sich weder durch Angebote, durch Warnungen oder
die in Aussicht gestellten »Kosten« von seiner Aggres-
sion abhalten ließ. Es hat sogar den Anschein, als gehe
es ihm weniger um die Anerkennung von Russlands
Größe als vielmehr die seiner eigenen »Größe« als Füh-
rer. Durch welche Bedingungen und welche Qualitäten
erlangte er diesen Rang?
Bereitschaft zum R isiko hatte Putin als seine Chara k-
tereigenschaft in einem Selbstporträt ganz am Anfang
seiner Präsidentenkariere herausgestellt. Das zeichnet
die »großen Führer« des 20. Jahrhunderts aus, macht
sie in entscheidenden Momenten aber zum »Spieler«,
der alles auf eine Karte setzt. Auch diese Rolle demons-
triert Putin. Dabei verfolgt er seine Politik mit größ-
ter Zielstrebigkeit. Er hat seit mindestens einem Jahr
systematisch die Diplomatie in den Beziehungen zur
Ukraine, zur EU und schließlich zu den USA ad absur-
dum geführt und zerstört. Ein Vierteljahr vor dem mili-
tärischen Großangriff begann er, die Brücken hinter sich
abzubrechen, indem er im Bewusstsein, die Ukraine
als Geisel in seiner Faust zu haben, dem Westen Ulti-
maten stellte. »Größe« sollte sich darin zeigen, dass er
»konsequent« handelt ohne Rücksicht auf Bedenken
und Verluste.
Ist Putin hochintelligent oder wahnsinnig, fragt man
sich verschiedentlich. Wahn im nicht-klinischen Sinne,
Größenwahn muss man ihm auf jeden Fall zuschreiben.
Ausschlaggebend ist, dass er mit einer radikalen Konse-
quenz, die jedem »gesunden Menschenverstand« wider-
spricht, eine Politik exekutiert, die nicht wahrscheinlich,
nicht erwartbar war und ist. Unberechenbar zu sein ist
sein Erfolgsrezept wie das seiner Vorgänger im Muster
»großer Führer«: Er realisiert seine Politik »unter völ-
liger Nichtachtung aller berechenbaren und äußeren
Konsequenzen«, wie Hannah Arendt es über die tota-
litären Führer geschrieben hat. Das verbindet sich mit
dem dreisten Lügen als System, das weiter über verein-
zelte »fake news« hinausgeht. Er muss den Gesamtzu-
sammenhang des Krieges gegen die Ukraine umlügen,
um einen neuen Wirklichkeitszusammenhang zu bieten.
So wird aus dem Eroberungskrieg gegen die Ukraine
eine »Befreiungsmission«, die Russland mit seiner »mili-
tärischen Spezialoperation« zum Zweck der »Entnazi-
fizierung« und »Entmilitarisierung« erfülle. Unbe-
rechenbarkeit, Lüge als System. Putin hat sich diese
»Polittechnologien« der »großen Führer« des 20. Jahr-
hundert angeeignet.
Der unaufhaltsame Aufstieg des Wladimir
Putin
Die brutale Bombardierung ukrainischer Städte erinnert
uns daran, dass Putin – damals a ls Premierminister – erst
durch Krieg, nämlich die brutale Führung des verbre-
cherischen zweiten Tschetschenien-Krieges ab August
1999, die unbarmherzige Bombardierung der Haupt-
stadt Grosnyj, »groß« wurde. Erst damit erlangte er die
Statur des künftigen Präsidenten. Vorangegangen war
allerdings, dass im Allgemeinen wirtschaftlichen, sozia-
len und moralischen Niedergang Russlands Demokratie
wie Liberalismus im Laufe der 1990er Jahre weitgehend
ihre Anziehungskraft verloren hatten. Zugleich waren
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 3
alle Versuche, die überkommenen sowjetischen KGB-
Strukturen einer demokratischen Reform zu unterziehen,
gescheitert. Deren Umbenennung und Aufgliederung –
mit dem FSB als der wichtigsten Nachfolgeorganisa-
tion – verdeckte nur, dass sie jeglicher ziviler Kontrolle
enthoben blieben, wenn sie auch zunächst erhebliche
Personalreduzierungen erlitten. Letzteres vermehrte nur
das Heer jener »Offiziere der aktiven Reserve«, die in
Politik, Wirtschaft und Verwaltung auf Führungsposten
eine Rolle übernahmen und gleichzeitig ihren früheren
Dienstherren verpflichtet blieben. Einer von ihnen war
der ehemalige KGB-Oberst Wladimir Putin, der sei-
nen Weg von der Position als Vize-Bürgermeister unter
dem St. Petersburger Bürgermeister Anatolij Sobtschak
(1992 – 1996) in die Präsidentenadministration (1996 –
1998) des ersten Präsidenten der Russischen Föderation
Boris Jelzin nahm und bald Chef des Geheimdienstes
FSB (1998 – 1999) wurde.
Putins Stunde der Machtübernahme – zunächst mit
der Ernennung zum Premierminister (August 1999),
dann im Amt des Präsidenten der Russländischen Föde-
ration (seit Januar 2000) – schlug, als sich die politischen
Eliten mit den tonangebenden Oligarchen einig wur-
den, ihre Macht im Staat und ihren Reichtum durch den
Ruf nach den »Silowiki« (Repräsentanten der Militär-
und Geheimdienste) zu retten. Nach dem finanziellen
und wirtschaftlichen Zusammenbruch von 1998 hatte
Präsident Boris Jelzin mit Ewgenij Primakow, Sergei
Stepaschin und schließlich Wladimir Putin nur noch
führende Leute aus den Geheimdiensten zu Premier-
ministern ernannt.
Wladimir Putin wurde von seinen Förderern für
manipulierbar gehalten und als Prätendent für die Prä-
sidentschaft auserkoren. Solche Unterschätzung der Per-
son durch die bisherigen Eliten ist mit den Aufstiegsbe-
dingungen historischer Vorgänger als »großer Führer«
wie Stalin und Hitler vergleichbar. Zudem glaubten
viele, bei der von Putin verbreiteten Losung der »Dik-
tatur des Gesetzes« ginge es »nur« um die Durchset-
zung einer Politik von »Law and Order«. Es ging Putin
aber um Diktatur im vollen Sinne, nicht um »Gesetze«,
sondern um die absolute Vormacht des von ihm geführ-
ten und schließlich verkörperten Staates über das Indi-
viduum, die Menschenrechte und die Zivilgesellschaft.
Sehnsucht nach Ordnung und nach dem
»Führer«
Diese Diktatur wurde in den 1990er Jahren lange in
den Köpfen der Menschen vorbereitet. Es war der »Ruf
nach dem Führer«, der schon der Errichtung von Füh-
rer-Regimen des 20. Jahrhunderts regelmäßig voraus-
ging, eine medial erzeugte gesellschaftliche Stimmung,
die auch schon die Machtergreifung von Lenin, Stalin,
Mussolini, Hitler oder auch Franco begünstigte. Seit
dem Auflösungsprozess der Sowjetunion ist dieser Ruf
nach dem Führer in Russland recht genau in empiri-
schen Umfragen gemessen worden (siehe Grafik 1 auf
S. 8). Bereits seit Mitte der 1990er Jahre wünschten sich
mehr als 60 Prozent – und seit der Jahrtausendwende
um die 70 Prozent – der Bevölkerung eine Führung mit
»starker Hand«.
Die Sehnsucht nach Ordnung – auch um den Preis
von Demokratie und Menschenrechten – ist ein verbrei-
tetes Phänomen der politischen Kulturen postsowjeti-
scher Gesellschaften. Auf dieser Basis kann Putin als
Führerfigur seit Jahrzehnten in der Bevölkerung mit
Zustimmungswerten von mindestens 60 bis 80 Pro-
zent der Befragten rechnen (s. Grafik 2 und Tabelle 1
auf S. 8–11). Andererseits herrscht ebenso lange bei der
Frage, wessen Interessen er als Präsident vertrete, die
Auffassung, dass es vor allem die Interessen der Mili-
tär- und Geheimdienste sowie der Oligarchen sind, die
vom Präsidenten vertreten werden; die der Mittelklasse
und der »einfachen Leute«, der Arbeiter und Angestell-
ten rangieren dagegen nach diesen Meinungsumfragen
auf den hinteren Plätzen. Dies ist das Herrscherbild, das
kontinuierlich Bestand hat (s. Grafik 3 und Tabelle 2
auf S. 12/13). Somit gärt in der Bevölkerung trotz der
Popularität Putins die Überzeugung, von fremden Inte-
ressen beherrscht zu werden.
Das Paradox löst sich, wenn man fragt, welche Ver-
dienste Putin am höchsten angerechnet werden: Fast
durchgängig haben repräsentativ Befragte hierbei vor
allem auf die »Herstellung von Ordnung« hingewie-
sen. Beobachter sprachen von einem unausgesproche-
nen »Gesellschaftsvertrag«: Der Kreml sorgte für Sta-
bilität, dafür mischte sich die Gesellschaft nicht in die
Politik ein – ein Kompromiss also, mit dem man bei kla-
rem Bewusstsein darüber, wessen Interessen Putin ver-
trat, diesem doch die größte Zustimmung als Präsident
gab. Aber den Hauptantrieb bilden die Erfahrung von
Chaos und Krise des Landes in den 1990er Jahren, die
als Trauma immer neu aktiviert wird, die »charismati-
sche Situation« (M. Rainer Lepsius). Diese ist der frucht-
bare Boden, auf dem die Sehnsucht nach dem Führer
und nach Ordnung erwuchs – ganz nach dem histori-
schen Muster der Karrieren von Hitler, Franco, Musso-
lini, Lenin und Stalin.
Glaube an die Legitimität des »nationalen
Führers«
Eine der wichtigsten sozio-kulturellen Voraussetzungen
für die historische Ausbreitung des Führerkults und sei-
ner Regime im 20. Jahrhundert ist die Revolutionierung
der Massenkommunikation. Das heutige Putin-Regime
kombiniert alle bewährten medialen Techniken. Für das
postsowjetische Russland hat dabei das Fernsehen noch
bis heute eine ausschlaggebende Bedeutung. Deswegen
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 4
sorgte Präsident Putin gleich nach seinem Machtantritt
im Jahr 2000 dafür, dass die öffentlichen TV-Kanäle
unter staatliche Kontrolle gestellt wurden. Zentral für
die Informationsbeeinflussung des Publikums wurde
nun die Selbstdarstellung Putins als Herrscher in den
weiten, golden glänzenden Räumen des K reml-Palastes,
umkränzt mit den hoheitlichen Emblemen und Ritua-
len des Zaren-Imperiums.
Im autoritären Regime Putins wird seit mehr als
einem Jahrzehnt versucht, Legitimität mit Hilfe von
demokratisch verbrämten Institutionen, Wahlmanipu-
lation und verdecktem Zwang zu erreichen. Da diese
Institutionen – von Wahlen bis zu Parlamenten und
Regierung – sämtlich wenig eigene Legitimität in der
Bevölkerung besitzen, ist der politische Prozess auf die
gänzliche Personalisierung öffentlicher Angelegenheiten
im Präsidenten ausgerichtet: Nur über »Zustimmungs-
raten«, nicht die Präsidentenwahlen, ist die Unterstüt-
zung in der Bevölkerung für das Regime zu maximie-
ren. Abgelesen und gewährleistet wird sie in den Monat
für Monat fixierten empirischen Umfragewerte für den
»nationalen Führer«. Ein ganzes Heer von sogenannten
Polit-Technologen arbeitet im Kreml oder in dessen Auf-
trag mit modernen sozialwissenschaftlichen Methoden,
um die »Stimmung im Volk« zu manipulieren. Insofern
hat Putins Führer-Regime des 21. Jahrhunderts die neu-
esten politischen Technologien für sich nutzbar gemacht,
die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Mei-
nungsforschung zur »hegemonialen Diskursform der
Öffentlichkeit« aufwerteten. Die mangelnde Legitimität
der Institutionen verlangt umso mehr, dass die Zustim-
mungsraten für den Präsidenten auf überdimensionalem
Niveau gehalten werden. Eben dies macht in autoritä-
ren Regimen, die sich auf »demokratische Legitimität«
berufen, die Qualität des »Führers« aus. Der Ausschluss
jeglicher politischer Alternative ist das Grundprinzip
und die politische Methode auch des »Systems Putin«.
Es reagiert mit äußerster Härte, gewaltsamer Unterdrü-
ckung und Eliminierung, sobald sich eine solche Alter-
native – wie in den oppositionellen Straßen-Demons-
trationen vom Winter 2011/2012 oder in der Person des
angesehenen und erfahrenen Demokraten Boris Nem-
zow, der im Jahr 2015 in Kremlnähe ermordet wurde –
auch nur am Horizont zeigt.
Autoritäre und totalitäre Führer leben von einem
ständig propagierten konstitutiven Feindbild. Hiernach
ist das Land von einer »Welt von Feinden« umringt.
Diese Sicht, die stalinistische Tradition hat, verbreitet
Putin bald nach den Anfangsjahren seiner Präsident-
schaft immer schriller und in den krudesten Zusam-
menhängen. Besonders seitdem das »System Putin« im
Winter 2011/12 durch landesweite Demonstrationen in
die Defensive geriet, wurde das Konzept des Feindbildes
aktualisiert: Zum einen ist es in der repressiven Gesetz-
gebung über die Registrierung und das Verbot »auslän-
discher Agenten« seit 2012 verkörpert, und zum anderen
durch die propagandistische Befeuerung der Konfron-
tationspolitik mit dem Westen. Davon war Putins Prä-
sidentenwahlka mpf seit Anfang 2012 bestimmt, ebenso
wie seine ersten programmatischen Ukase zur Außenpo-
litik. Binnen weniger Monate wurde diese Konfrontati-
onspolitik in umfassender Weise mit dem Projekt ideo-
logisiert, Russland eine einzigartige kulturelle Identität
durch »konservative Werte« zuzuschreiben, polemisch
abgesetzt gegen die nach einem älteren Stereotyp ausge-
malte »Dekadenz«, die der Westen repräsentiere.
Aber erst Monate später wirkte die Konfrontations-
politik zugunsten von Putins »Legitimitätshaushalt«
schlagartig, als infolge der Majdan-Revolution in Kyjiw
und der daraufhin anschwellenden Hetze aller russi-
schen Staatsmedien, diese Kehrtwendung als bedrohli-
ches Machwerk des Westens gegen Russland hingestellt
wurde. Die Mentalität der »belagerten Festung« – aus der
langen Periode der kommunistischen Herrschaft über-
liefert – stellt ein festes Massenvorurteil dar, das dieses
Regime immer wieder propagandistisch auszubeuten
versteht. Ebenso wurde mit der »Wiedergewinnung der
Krim als historischem Bodens Russlands« offiziell jener
»Irredentismus« vitalisiert, mit dem national-imperialis-
tische Politikern seit der Auflösung der Sowjetunion die
Zusammenführung der im »Nahen Ausland« befindli-
chen Russen und schließlich der postsowjetischen Staa-
ten selbst in einem großen Imperium propagiert hatten.
Wenn der Präsident am 25. April 2005 vor der Staats-
duma formulierte, der Fall der Sowjetunion sei »die
größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhundert
gewesen, so war dies die deutliche Ankündigung des
außenpolitischen Revisionismus, den er wenige Jahre
darauf mit dem Einmarsch in Georgien 2008 und der
Krim-Annexion 2014 umzusetzen begann.
Ein Führer mit »historischer Mission«?
Wieweit solche Ideologeme wie das der »konservativen«
Identität Russland für sich genommen dauerhaft wir-
ken, ist fraglich. Selbst das gegen den Westen gerich-
tete Feind-Stereotyp hat laut empirischen Umfragen
(Lewada-Zentrum) seit 2019 bis Ende letzten Jahres
keine Mehrheit mehr überzeugen können (siehe Gra-
fik 4 und Tabelle 3 auf S. 13–15). Tiefer gehende Wir-
kung für die Bindung der Bevölkerung an den expan-
sionistischen Staat Putins dürfte dagegen die religiös
unterlegte Ideologie des neuen Imperialismus haben,
wie sie von der Führung der Russisch-Orthodoxen Kir-
che vertreten wird: Kirill, Patriarch von Moskau und
ganz Russland sowie andere russische Geistliche, pro-
pagieren einen Reichsgedanken, mit dem die Ukraine
neben Belarus als Teil der von ihnen propagierten »Rus-
sischen Welt« (Russkij Mir) bestimmt werden. Wenn
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 5
Kirill anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten
2012 Gott zur Quelle von dessen Macht erhob und
Putin selbst sich zudem auf die gleich lautende Welt-
sicht des 2008 verstorbenen Alexandr Solshenizyn als
ihren »Propheten« berufen kann, so verfügt dieser über
eine ideale Symbiose einer »imperialen eologie« mit
der Heiligung seines Führerregimes. Allerdings ist die
innere Bindung Putins an diese Ideen wie auch das sla-
wophile Geschichtsbild nicht zu überschätzen. Für ihn
scheinen sie eher taktisch eingesetzte Surrogate in einer
sonst entleerten Welt nach der »geopolitischen Kata-
strophe« zu sein.
Zum Führer und zum Führerkult zählt, wie das 20.
Jahrhundert gezeigt hat, die »Historische Tat« des Füh-
rers als »Wendepunkte der Geschichte«. Noch vor der
Krim-Annexion hatte sich Putin von imperialistischen
Nationalisten als Führer und künftiger »Sammler der
russischen Erde« (Russland, Belarus und Ukraine) feiern
lassen (https://zatulin.ru/chtoby-pravilno-zadat-vopros-
nado-znat-bolshuyu-chast-otveta/). Aus Anlass der »Sie-
gesfeier« auf der Krim wollte ihn der (kürzlich verstor-
bene) rechtsradikale und antisemitische Parlamentarier
Wladimir Shirinowskij vorlaut zum »Imperator« aus-
rufen. Belarus ist seit mehr als einem Jahr definitiv in
Putins Herrschaftsorbit. Unter dessen Oberhoheit flüch-
tete sich der Diktator Aljaksandr Lukaschenka, um die
demütige Position des Vasallen einzunehmen und mit
Beginn des Ukraine-Krieges dem Aggressor die Sou-
veränität seines Landes (Neutralität und atomwaffen-
freie Zone) als Tribut zu entrichten. Mit der Eroberung
und Unterwerfung der Ukraine – wie terroristisch auch
immer – will Putin endlich die »Historische Tat« voll-
bringen, derer jeder große Führer bedarf, und mit der er
die imperiale Nation »erlöst«: durch Rückführung der
Ukraine in den Reichsverband zusammen mit Belarus,
in welcher Form auch immer. Dass der Expansionsdrang
des Imperiums an den Grenzen seiner einstigen »Größe«
nicht Halt machen, sondern nach Hegemonie über den
gesamten postsowjetischen Raum, Europa und Eura-
sien streben wird, stellte am 5. April der schon erwähnte
Dmitrij Medwedew außer jeden Zweifel: Der Ukraine-
Krieg solle vor allem »die Möglichkeit (schaffen), end-
lich ein offenes Eurasien aufzubauen – von Lissabon
bis Wladiwostok« (https://t.me/medvedev_telegram/34).
Unter der expansionistischen Ägide der heutigen »Geo-
politik« Putins dürfte mit Letzterem kaum jene Fiktion
einer Freihandelszone gemeint sein, die dieser 2010 in
die Welt setzte.
Wladimir Putin – Diktator und Kriegsherr
in der Hybris seiner Macht
Dass die Konturen von Putins Spitzenelite unscharf sind
und sich nicht nach Verfassungsinstitutionen bemes-
sen, gehört zur informellen Herrschaftsweise des per-
sonalisierten Regimes. An der »Krim«-Entscheidung
des Jahres 2014 waren z. B. nur vier bis fünf Vertraute
beteiligt, wie Putin ein Jahr nach dem Ereignis noch in
der Euphorie des Eroberers verkündete. Bereits damals
spielten wirtschaftliche Risikoabwägungen keine
Rolle. Der Kreis um den Führer, bestehend aus weni-
gen Männern »mit Einfluss«, ist schon seit Jahren auf
ein paar Wenige zusammengeschmolzen, und darin
haben die Repräsentanten der Sicherheitsstrukturen
(Militär und Geheimdienst) schon länger das Überge-
wicht. Darin sind sich die bekannten russischen Poli-
tologen Nikolaj Petrow (https://www.vedomosti.ru/
opinion/articles/2019/08/21/809260-transformatsiya-
eliti), Kirill Rogow (https://liberal.ru/lm-ekspertiza/
vremya-yanychar-izolyacziya-kak-strategiya) und Tat-
jana Stanowaja (https://www.institutmontaigne.org/
node/8418) in ihren Eliten-Analysen weitgehend einig.
Die Auswahl seiner »Vertrauten« ist jetzt auf ein sol-
ches Minimum reduziert, dass sie kaum mehr sichtbar
sind. Als Entscheidungsträger für den Krieg gegen die
Ukraine stehe er allein da, sagte Sabine Fischer, eine
Russland-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Poli-
tik, kürzlich (https://www.spiegel.de/ausland/podcast-
wer-hat-noch-einfluss-auf-wladimir-putin-a-286b7806-
7d86-4aa6-a15e-360dcb984c58). Was gilt schon jene
Aufsehen erregende Sitzung des russischen Sicherheits-
rates vom 21. Februar 2022: Hinter der Zustimmung
dieses Gremiums zur Anerkennung der separatistischen
»Volksrepubliken« von Luhansk und Donezk stand in
Wirklichkeit der längst gefasste hoheitliche Beschluss
zum umfassenden Krieg gegen die Ukraine. Das Eine
war es, das Gremium kollektiv in das Verbrechen des
Angriffskrieges einzubinden. Zum anderen demons-
trierte Wladimir Putin vor aller Welt seine Oberho-
heit als »Führer« gegenüber seinen verunsicherten, vor
der Kamera gegängelten nächsten Spitzenleuten. Dass
er dem kurz darauf seine eigene öffentliche Kriegser-
klärung nachschickte, war nicht nur Formsache. Nach
machtvollkommener Willkür deutete er das Ziel der
Aggression um: Nicht die NATO-Eindämmung, son-
dern die gewaltsame Unterwerfung der Ukraine und
ein Regimewechsel in Kyjiw, getarnt mit den verloge-
nen Begriffen »Entmilitarisierung« und »Entnazifizie-
rung« sowie Verteidigung der Russen gegen einen her-
beiphantasierten »Genozid« durch die Ukrainer ist das
Ziel. Letzterer war erst kurz vor seinem Angriffsbefehl
auf die öffentliche Agenda gesetzt worden. Es ist die
Parole, unter der imperialistische Ideologen seit den
neunziger Jahren zum »Schutz« der Russen im »Nahen
Ausland« aufgerufen haben (siehe Grafiken 5a, 5b, 6a,
6b, 7a und 7b auf S. 16–18).
Putin mag hoffen, damit einen erneuten vertika-
len Aufstieg seiner Führer-Popularität zu erringen, wie
dies mit der sogenannten »Krim-Euphorie« zwischen
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 6
2014 und 2017 gelang. Eine solche Wiederholung dürf te
kaum nachhaltig sein: In der Bevölkerungsstimmung
ist bis Ende letzten Jahres keine dominierende Gegner-
schaft gegen den Westen und keine Kriegsbereitschaft,
sondern eher Kriegsangst gemessen worden. In welchem
Maße die Popularität Putins zusammengeschmolzen
war, lässt sich an den Antworten auf die Frage ablesen,
ob man Wladimir Putin auch nach 2024 auf dem Pos-
ten des Präsidenten sehen möchte: Seit 2020 bis ein-
schließlich September 2021 befürworten dies im Schnitt
gerade noch 47 Prozent, während sich 42 Prozent dage-
gen aussprechen. Um seine Mehrheit steht es so schlecht
aus wie ehemals 2012/2013 (siehe Grafik 8 auf S. 19)
Die im Mai 2022 erneute gleiche Umfrage zeitigt aller-
dings das kriegsbedingte euphorische Ergebnis.
In den zurückliegenden Jahren wurde die russische
Zivilgesellschaft durch das Regime mit Verfolgung, Ver-
boten und Attentaten weitgehend zunichte gemacht: 74
Nichtregierungsorganisationen stehen derzeit auf der
Liste der »ausländischen Agenten« (http://unro.minjust.
ru/NKOForeignAgent.aspx). Von den über 200 NROs,
die seit 2013 in das Verzeichnis der »ausländischen Agen-
ten« aufgenommen worden waren, sind Dutzende bereits
aufgelöst, der Druck auf die restlichen wird stetig größer.
Öffentliche Demonstrationen gegen den Krieg werden
generell verboten und ihre Teilnehmer zu Tausenden ver-
haftet. Wie schon bei den Nawalnyj-Demonstrationen
des letzten Jahres wird auch in diesen Wochen deutlich,
dass der Führer Russlands die jüngere Generation zum
großen Teil bereits verloren hat. Die prominentesten
Oppositionspolitiker wurden mit verbrecherischer Skru-
pellosigkeit verfolgt, ermordet wie Boris Nemzow 2015,
oder wie Alexej Nawalnyj – eben noch einem Giftan-
schlag entkommen – 2021 ins Lager verbannt. Verfolgt
werden regierungskritische Journalisten schon lange,
besonders solche der Ende März 2022 geschlossenen
Zeitung »Nowaja Gaseta«. Die gegenwärtig gesteigerte
Repressions-Maschinerie, die Schließung der letzten
unabhängigen Medien, der Erlass immer neuer Gesetze,
mit denen willkürlich oppositionelle oder auch nur kriti-
sche Meinungen und Handlungen gegenüber dem Staat
und besonders der Armee strafrechtlich verfolgt werden,
die immer strenger werdende Zensur – dies alles lässt
das Land auf eine veritable Führer-Diktatur totalitärer
Art zusteuern. Lehrer und Schüler sowie Eltern werden
in gesonderten Kursen indoktriniert, um die lügnerische
Sprache des Regimes zu übernehmen, in der sein Krieg
gegen die Ukraine als »militärische Sonderoperation«
zwecks »Entnazifizierung« zu verstehen ist.
Die früher benutzten Begriffe der Regimeklassi-
fizierung »defekte Demokratie«, »gelenkte Demokra-
tie« oder »hybrides Regime« erscheinen längst veraltet.
Der von vielen Intellektuellen bei Putins Machtüber-
nahme befürchtete Übergang zum Autoritarismus
begann bereits seit den ersten Jahren mit der Einrich-
tung des strikten Zentralismus (»Machtvertikale«), also
der Abschaffung des Föderalismus in einem Prozess
sukzessiver Entmachtung der föderalen Institutionen
zugunsten der Präsidialadministration sowie der Perso-
nalisierung der politischen Macht auf Wladimir Putin.
Die Unterwerfung der wichtigsten gesellschaftlichen
Machtpotentiale erfolgte gleichzeitig unter dem Signum
des »Kampfes gegen die Oligarchen« und der Unter-
stellung des öffentlichen Fernsehens unter die Staats-
kontrolle und bald auch der wesentlichen Wirtschafts-
konzerne unter Staatskontrolle durch Delegierung der
Repräsentanten der Sicherheitsdienste in ihre Leitun-
gen, wodurch die Wirtschaftselite konsequent ausge-
tauscht wurde. Die ständige Manipulation von Wahlen
und die Einschränkung der parlamentarischen Reprä-
sentation auf sogenannte »System-Parteien« wurden bis
etwa 2012 perfektioniert. Zu diesem Zeitpunkt erklärte
Putin seine Loslösung von den postsowjetischen Ver-
sprechen einer Entwicklung zu Freiheit, Demokratie
und Marktwirtschaft: »Wir haben nun die postsowje-
tische Periode abgeschlossen. Ein neues Entwicklungs-
stadium Russlands steht vor uns.« (http://sputniknews.
com/voiceofrussia/2012_04_14/71750194/?print=1).
So bereiteten seit Beginn seiner dritten Präsidentschaft
konsequente Maßnahmen auf mehreren Ebenen den
Weg zur Errichtung der Führerdiktatur: die Verein-
heitlichung der politischen Elite (»Nationalisierung der
Eliten«), die Bildung der riesigen Prätorianergarde des
Präsidenten (Nationalgarde) im Jahr 2016, die großdi-
mensionale Militarisierung von Staat und Gesellschaft,
die immer umfassender werdende Repressionspolitik
gegen die Zivilgesellschaft, schließlich die zunehmende
Beherrschung der sozialen Medien und die Zensur sowie
die auf die fortgesetzte Präsidentschaft Putins zuge-
schnittenen Verfassungsänderungen. Es könnte sein,
dass die historische Empirie dieses neuen Systems die
politologischen Modelle des Totalitarismus (von Carl
Joachim Friedrich und Zbigniew Brzeziński sowie ande
-
ren Autoren) neu herausfordert.
Ausblick
Wenn die freie Kommunikation einer Gesellschaft der-
art zerstört worden ist, dass die Menschen keine Mög-
lichkeit mehr haben, sich zu verständigen, wenn der
Terror zur Verhinderung jeglicher selbständiger sozia-
ler Handlung schließlich a llgemein wird, kann man von
einer sich anbahnenden »totalitären Herrschaft« spre-
chen (Hannah Arendt). Die entscheidenden Schritte
in diese Richtung werden jetzt gegangen. Mit Putins
pogromartigen Aufrufen gegen »Nationalverräter«, die
»Fünfte Kolonne«, hat er die Perspektive auf ein Mobi-
lisierungsregime eröffnet, dessen Führer nun als Kriegs-
herr seine Legitimität in immer neuen Siegen suchen
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 7
muss. Bar aller Korrektive scheint seine Hybris auch im
Äußeren keine Grenzen mehr zu kennen. Seine Dro-
hung mit dem Atomkrieg gegen jeden, der sich ihm
in den Weg stellt und der Kriegsterror, mit dem er die
ukrainische Bevölkerung überzieht, hat ihn aus dem
menschlich-zivilisatorischen Zusammenhang gewor-
fen. Die Brutalitäten und Gräuel gegen die Zivilbevöl-
kerung werden unterdessen in offiziellen Medien als not-
wendige »Umerziehung« des ukrainischen Volkes und
»unvermeidlichen Härten eines gerechten Krieges gegen
das Nazisystem« legitimiert (https://ria.ru/20220403/
ukraina-1781469605.html). »Die Einsätze der russi-
schen Elite sind hoch. Für sie ist es ein existenzieller
Krieg«, erklärte vor einigen Wochen der langjährige
Berater des Präsidenten und graue Eminenz unter den
Außenpolitik-Experten des Landes Sergei Karaganow
im Interview (https://www.newstatesman.com/world/
europe/ukraine/2022/04/russia-cannot-afford-to-lose-
so-we-need-a-kind-of-a-victory-sergey-karaganov-on-
what-putin-wants). Existenzgefährdend wäre gewiss für
Putin und seine Diktatur ein Scheitern in der Ukraine.
Es wird sich zeigen, ob die selbst gewählte solitäre Posi-
tion als Diktator, die Leere und der tausendfache Tod,
die er um sich verbreitet, von dem Land mitgetragen
wird, von dessen Eliten er weiter geduldet wird, denen
er zumutet, den völligen Niedergang sowie weltweite
Isolation und Ächtung mit ihm zu teilen.
Über den Autor
Dr. Benno Ennker war Mitarbeiter am Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübin-
gen und Dozent für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen, Schweiz. Historische For-
schungen zum Lenin- und zum Stalinkult sowie zur Stalinistischen Staatsbildung, Stalin-Verfassung und »Sowjet-
volk«. Letzte Publikationen zum ema: Russlands außenpolitische Wende. Innere Voraussetzungen 2011–2013. In:
Osteuropa 9/10 (2017), S. 89–108; Russische nationale Identität und imperiale Ambition als Elemente postsowjeti-
scher Außenpolitik. In: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Nationsbildung und Außenpolitik im Osten Europas. Nati-
onsbildungsprozesse, Konstruktionen nationaler Identität und außenpolitische Positionierungen im 20. und 21. Jahr-
hundert. Osnabrück 2022 (im Erscheinen).
Lesetipps
Chiozza, Giacomo und Stoyanov, Dragomir: e Myth of the Strong Leader in Russian Public Opinion. In: Pro-
blems of Post-Communism, Band 65, Nr. 6 (2017), S. 419–433.
Ennker, Benno: Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion. In: Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Band
22 (1997). Köln, Wien.
Ennker, Benno: Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts – eine Synthese. In: Ennker, Benno und Hein-Kir-
cher, Heidi (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts. Forschungen zu Kult und Herrschaft der Füh-
rer-Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Analysen, Konzepte und Vergleiche (2010), Marburg, S. 347–378.
Schneider, Irmela: Tele-Dialog und das Stimmrecht des Mediennutzers. In: Schneider, Irmela und Eppinger-
Jäger, Cornelia (Hg.): Formationen der Mediennutzung III: Dispositive Ordnungen im Umbau (2015), Bielefeld,
S. 147–169.
Brown, Archie: e Myth of the Strong Leader: Political Leadership in the Modern Age (2014).
Fischer, Sabine: Russland auf dem Weg in die Diktatur. In: SWP-Aktuell, Nr. 31 (2022), Stiftung Wissenschaft
und Politik (SWP). https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A31_Russland_Diktatur.pdf
García Doell, David Ernesto: Moscow sociologist Greg Yudin on Putin’s unleashed power apparatus and the poli-
tical motives behind the attack on Ukraine. In: Analyse und Kritik (1.4.2022). https://www.akweb.de/politik/
putin-war-in-ukraine-a-fascist-regime-looms-in-russia/
Goode, Paul: How Russian Television Prepared the Public for War. In: PONARS Eurasia Policy Memo No. 761
(2022). https://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war
Lepsius, M. Rainer: Das Modell der charismatischen Herrschaft und die Anwendbarkeit auf den »Führerstaat«
Adolf Hitlers. In: Lepsius, M. Rainer: Demokratie in Deutschland (1993), Göttingen, S. 95–118.
Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1986), München.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 8
Russland auf dem Weg zur Führerdiktatur
UMFR AGEN
Grak 1: Gibt es nach Ihrer Meinung im Dasein des Landes Situaonen, in denen das Volk einen starken,
mächgen Führer, eine »starke Hand« braucht? (in %)
25
34
37
42
45
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3
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November1989
August1995
September1996
März2006
März2007
Juli2008
Oktober2009
Juli2010
September2011
März2012
März2013
März2014
November2015
November2016
November2017
November2018
Januar2020
UnserVolkbrauchtimmereine»starkeHand«
EsgibtSituationen(z.B.gegenwärtig),indenenmanalleMachtindieHändeeinerPersonlegenmuss
InkeinemFallistzuzulassen,dassalleMachtindieHändeeinerPersongelegtwird
Schwerzusagen
Quelle: Gosudarstwennyj paternalism (Staatspaternalismus), Lewada-Zentrum, 25.02.2020, hps://www.levada.ru/2020/02/25/
gosudarstvennyj-paternalizm/.
Grak 2: Smmen Sie insgesamt der Tägkeit von Wladimir Pun als Präsident (bzw. Premierminister) von
Russland zu? (August 1999 – Mai 2022, in %)
Quelle: Odobrenie dejatelnos Wladimira Puna (Zusmmung zu r Tägkeit von Wladi mir Pun), Mai 2022, hps://www.levada.ru/indikatory/
odobrenie-organov-vlas/.
0
10
20
30
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Aug1999
Apr2000
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Aug2001
Apr2002
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Aug2003
Apr2004
Dez2004
Aug2005
Apr2006
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Apr2010
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Apr2012
Dez2012
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Dez2020
Aug2021
Apr2022
Ichstimmezu Ichstimmenichtzu KeineAntwort
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 9
Tabelle 1: Smmen Sie insgesamt der Tägkeit von Wladimir Pun als Präsident (bzw. Premierminister) von
Russland zu? (August 1999 – Mai 2022, in %)
Ich smme zu Ich smme
nicht zu
Keine An twort
Aug. 1999 31 33 37
Sep. 1999 53 27 20
Okt. 1999 65 20 15
Nov. 1999 80 12 8
Dez. 1999 79 13 8
Jan. 2000 84 10 7
Feb. 200 0 75 17 8
Mrz. 20 00 70 21 9
Apr. 2000 77 15 8
Mai 200 0 72 17 11
Jun. 2000 61 26 13
Jul. 2000 72 17 10
Aug. 2000 65 26 10
Sep. 2000 65 27 8
Okt. 2000 64 26 11
Nov. 2000 70 22 8
Dez. 20 00 68 23 10
Jan. 2001 76 18 6
Feb. 2001 69 21 10
Mrz. 20 01 75 19 6
Apr. 2001 70 25 6
Mai 2001 71 22 8
Jun. 2001 72 22 6
Jul. 2001 72 22 7
Aug. 2001 74 19 7
Sep. 2001 73 21 7
Okt. 2001 75 19 6
Nov. 2001 80 18 2
Dez. 20 01 73 19 9
Jan. 2002 75 19 6
Feb. 2002 75 20 5
Mrz. 20 02 72 24 5
Apr. 2002 71 22 8
Mai 2002 75 20 5
Jun. 2002 75 20 4
Jul. 2002 73 20 7
Aug. 2002 76 20 5
Sep. 2002 77 20 3
Okt. 2002 77 19 4
Nov. 2002 83 15 2
Dez. 20 02 82 16 2
Jan. 2003 75 22 3
Feb. 2003 76 22 2
Mrz. 20 03 75 21 4
Apr. 2003 73 24 3
Mai 2003 70 27 3
Jun. 2003 77 22 2
Jul. 2003 78 19 2
Aug. 2003 74 23 3
Sep. 2003 75 22 3
Ich smme zu Ich smme
nicht zu
Keine An twort
Okt. 2003 73 24 3
Nov. 2003 81 18 1
Dez. 20 03 86 13 1
Jan. 2004 79 20 2
Feb. 200 4 82 17 1
Mrz. 20 04 81 16 3
Apr. 2004 79 19 2
Mai 200 4 76 21 2
Jun. 2004 72 25 3
Jul. 2004 72 25 2
Aug. 2004 68 30 3
Sep. 2004 72 26 2
Okt. 2004 72 26 2
Nov. 2004 69 29 2
Dez. 20 04 69 28 2
Jan. 2005 65 32 3
Feb. 2005 66 32 3
Mrz. 20 05 66 26 9
Apr. 2005 66 31 3
Mai 2005 69 29 2
Jun. 2005 66 32 2
Jul. 2005 67 31 2
Aug. 2005 70 27 3
Sep. 2005 70 28 2
Okt. 2005 71 26 3
Nov. 2005 76 23 1
Dez. 20 05 73 25 2
Jan. 2006 71 27 2
Feb. 2006 75 23 2
Mrz. 20 06 72 26 2
Apr. 2006 72 26 1
Mai 2006 76 23 1
Jun. 2006 77 21 2
Jul. 2006 79 19 2
Aug. 2006 78 21 1
Sep. 2006 75 22 3
Okt. 2006 77 22 1
Nov. 2006 81 18 2
Dez. 20 06 78 21 1
Jan. 2007 80 19 1
Feb. 2007 81 18 1
Mrz. 20 07 81 18 1
Apr. 2007 79 19 1
Mai 2007 80 18 2
Jun. 2007 81 18 1
Jul. 2007 85 14 1
Aug. 2007 82 16 1
Sep. 2007 79 20 1
Okt. 2007 82 16 2
Nov. 2007 84 15 1
Fortsetzung auf der nächsten Seite
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 10
Tabelle 1: Smmen Sie insgesamt der Tägkeit von Wladimir Pun als Präsident (bzw. Premierminister) von
Russland zu? (August 1999 – Mai 2022, in %) (Fortsetzung)
Ich smme zu Ich smme
nicht zu
Keine An twort
Dez. 20 07 87 12 1
Jan. 2008 86 13 1
Feb. 200 8 85 13 2
Mrz. 20 08 85 13 2
Apr. 2008 86 12 1
Mai 200 8 80 15 5
Jun. 2008 83 13 5
Jul. 2008 80 17 3
Aug. 2008 83 15 2
Sep. 2008 88 10 2
Okt. 2008 83 14 4
Nov. 2008 86 12 2
Dez. 20 08 83 15 2
Jan. 2009 83 14 3
Feb. 2009 78 20 2
Mrz. 20 09 78 20 2
Apr. 2009 76 21 3
Mai 2009 78 18 4
Jun. 2009 79 19 2
Jul. 2009 78 19 3
Aug. 2009 82 16 2
Sep. 2009 81 18 1
Okt. 2009 78 20 2
Nov. 2009 79 19 3
Dez. 20 09 83 15 2
Jan. 2010 78 21 2
Feb. 2010 80 19 1
Mrz. 2010 78 20 2
Apr. 2010 78 20 2
Mai 2010 80 19 1
Jun. 2010 78 20 2
Jul. 2010 77 21 2
Aug. 2010 78 20 2
Sep. 2010 77 21 2
Okt. 2010 77 20 3
Nov. 2010 78 19 2
Dez. 2010 79 19 2
Jan. 2011 72 25 3
Feb. 2011 73 25 2
Mrz. 2011 69 29 2
Apr. 2011 71 27 2
Mai 2011 69 29 1
Jun. 2011 69 30 2
Jul. 2011 68 31 1
Aug. 2011 68 30 2
Sep. 2011 68 31 2
Okt. 2011 66 31 3
Nov. 2011 67 32 1
Dez. 2011 63 36 1
Jan. 2012 64 34 2
Ich smme zu Ich smme
nicht zu
Keine An twort
Feb. 2012 65 34 1
Mrz. 2012 68 31 1
Apr. 2012 67 32 1
Mai 2012 69 30 1
Jun. 2012 64 34 2
Jul. 2012 67 32 1
Aug. 2012 63 35 2
Sep. 2012 67 31 2
Okt. 2012 67 32 1
Nov. 2012 63 36 1
Dez. 2012 65 35 1
Jan. 2013 62 37 1
Feb. 2013 65 34 1
Mrz. 2013 63 36 1
Apr. 2013 63 37 1
Mai 2013 64 35 1
Jun. 2013 63 35 1
Jul. 2013 65 35 1
Aug. 2013 63 36 1
Sep. 2013 64 35 1
Okt. 2013 64 35 1
Nov. 2013 61 37 2
Dez. 2013 65 34 2
Jan. 2014 65 34 1
Feb. 2014 69 30 1
Mrz. 2014 80 18 2
Apr. 2014 82 17 1
Mai 2014 83 16 1
Jun. 2014 86 13 1
Jul. 2014 85 14 1
Aug. 2014 84 15 1
Sep. 2014 86 14 1
Okt. 2014 88 11 1
Nov. 2014 85 14 2
Dez. 2014 85 14 1
Jan. 2015 85 15 1
Feb. 2015 86 13 1
Mrz. 2015 85 14 1
Apr. 2015 86 13 1
Mai 2015 86 13 1
Jun. 2015 89 10 1
Jul. 2015 87 12 1
Aug. 2015 83 17 1
Sep. 2015 84 15 1
Okt. 2015 88 12 1
Nov. 2015 85 14 1
Dez. 2015 85 14 1
Jan. 2016 82 18 1
Feb. 2016 81 19 1
Mrz. 2016 82 17 1
Fortsetzung auf der nächsten Seite
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 11
Tabelle 1: Smmen Sie insgesamt der Tägkeit von Wladimir Pun als Präsident (bzw. Premierminister) von
Russland zu? (August 1999 – Mai 2022, in %) (Fortsetzung)
Ich smme zu Ich smme
nicht zu
Keine An twort
Apr. 2016 82 17 1
Mai 2016 80 19 1
Jun. 2016 81 18 1
Jul. 2016 82 17 1
Aug. 2016 82 18 1
Sep. 2016 82 18 1
Okt. 2016 84 16 1
Nov. 2016 86 14 1
Dez. 2016 84 15 1
Jan. 2017 85 14 1
Feb. 2017 84 15 1
Mrz. 2017 82 17 1
Apr. 2017 82 18 1
Mai 2017 81 18 1
Jun. 2017 81 18 1
Jul. 2017 83 15 2
Aug. 2017 83 15 1
Sep. 2017 83 17 1
Okt. 2017 82 17 1
Nov. 2017 81 18 1
Dez. 2017 82 17 1
Jan. 2018 80 18 2
Feb. 2018 76 22 2
Mrz. 2018 80 19 1
Apr. 2018 82 17 1
Mai 2018 79 20 1
Jul. 2018 67 32 1
Aug. 2018 70 30 1
Sep. 2018 67 33 1
Okt. 2018 66 33 1
Nov. 2018 66 33 1
Dez. 2018 66 33 1
Jan. 2019 64 34 1
Feb. 2019 64 35 1
Mrz. 2019 64 34 2
Apr. 2019 66 33 1
Ich smme zu Ich smme
nicht zu
Keine An twort
Mai 2019 66 32 2
Jun. 2019 68 31 1
Jul. 2019 68 31 1
Aug. 2019 67 31 1
Sep. 2019 68 31 1
Okt. 2019 70 29 1
Nov. 2019 68 31 1
Dez. 2019 68 31 1
Jan. 2020 68 31 1
Feb. 2020 69 30 1
Mrz. 2020 63 36 2
Apr. 2020 59 33 8
Mai 2020 59 34 7
Jun. 2020 60 35 6
Jul. 2020 60 33 6
Aug. 2020 66 33 1
Sep. 2020 69 30 1
Okt. 2020 68 31 1
Nov. 2020 65 34 1
Jan. 2021 64 34 2
Feb. 2021 65 34 2
Mrz. 2021 63 35 2
Apr. 2021 65 33 2
Mai 2021 67 32 2
Jun. 2021 66 32 2
Jul. 2021 64 35 1
Aug. 2021 61 37 2
Sep. 2021 64 34 2
Okt. 2021 67 33 1
Nov. 2021 63 35 2
Dez. 2021 65 34 1
Jan. 2022 69 29 2
Feb. 2022 71 27 1
Mrz. 2022 83 15 2
Apr. 2022 82 17 1
Mai 2022 83 15 2
Quelle: Odobrenie dejatelnos Wladimira Puna (Zusmmung zu r Tägkeit von Wladi mir Pun), Mai 2022, hps://www.levada.ru/indikatory/
odobrenie-organov-vlas/.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 12
Grak 3: Die Interessen welcher Schichten der Bevölkerung vertri Ihrer Meinung nach Wladimir Pun?
(September 2000 – August 2021, in %)
0
5
10
15
20
25
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35
40
45
Sep2000
Mai2001
Jan2002
Sep2002
Mai2003
Jan2004
Sep2004
Mai2005
Jan2006
Sep2006
Mai2007
Jan2008
Sep2008
Mai2009
Jan2010
Sep2010
Mai2011
Jan2012
Sep2012
Mai2013
Jan2014
Sep2014
Mai2015
Jan2016
Sep2016
Mai2017
Jan2018
Sep2018
Mai2019
Jan2020
Sep2020
Mai2021
Silowiki,AngehörigevonMilitär,Geheimdiensten,Innenministerium
Oligarchen,Bankiers,Großunternehmer
Staatsbeamte,Bürokraten
GewöhnlicheMenschen:Staatsangestellte,Arbeiter,Landarbeiter
Die»Mittelschicht«:MenschenmitüberdurchschnittlichemEinkommen
Das»Direktorenkorps«:ChefsvonGroßunternehmen
JelzinsinnererKreis,die»Familie«
DiekulturelleundwissenschaftlicheElite
DieIntelligenzija
Alle,ohneAusnahmen
»Lumpenproletarier«:Bettler,Schmarotzer
Schwerzubeantworten
Quelle: Wladimir Pun, Lewada-Zentr um, 11.10.2021, hps://www.levada.ru/2021/10/11/vladimir-pun-10/.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 13
Tabelle 2: Die Interessen welcher Schichten der Bevölkerung vertri Ihrer Meinung nach Wladimir Pun?
(September 2000 – August 2021, in %)
Sep.
2000
Sep.
2001
Dez.
2003
Dez.
2005
Okt.
2010
Okt.
2011
Jul.
2013
Aug.
2014
Aug.
2016
Okt.
2017
Mrz.
2020
Aug.
2021
Tre nd
Silowiki, Angehörige
von Militär,
Geheimdiensten,
Innenministerium
39 39 33 41 34 38 41 39 35 41 37 40

Oligarchen, Bankiers,
Großunternehmer 16 17 14 23 26 35 35 30 28 31 38 40

Staatsbeamte,
Bürokraten 14 16 15 22 24 25 30 24 22 31 28 29

Gewöhnliche
Menschen: Staats-
angestellte, Arbeiter,
Landarbeiter
18 17 23 18 20 17 11 13 14 17 16 17

Die »Mielschicht«:
Menschen mit über-
durchschnilichem
Einkommen
19 19 24 21 27 25 24 22 20 23 18 16

Das »Direktoren-
korps«: Chefs von
Großunternehmen
13 13 10 13 18 27 23 19 19 25 17 14

Jelzins innerer Kreis,
die »Familie« 19 18 13 14 11 13 14 9 8 10 8 12

Die kulturelle und
wissenschaliche Elite 6 7 9 8 10 9 9 10 9 15 8 10

Die Intelligenzija 9 6 11 6 10 9 8 9 8 12 7 9

Alle, ohne Ausnahmen 9 11 15 10 7 10 12 14 17 17 9 6

»Lumpenproletarier«:
Beler, Schmarotzer 31111<1111112

Schwer zu
beantworten 16 18 12 11 13 11 10 15 14 12 13 11

Quelle: Wladimir Pun, Lewada-Zentr um, 11.10.2021, hps://www.levada.ru/2021/10/11/vladimir-pun-10/.
Grak 4: Einstellung gegenüber der EU und den USA in Russland (April 1990 – Mai 2022, Angaben in %)
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
Apr1990
Mrz1997
Mai1999
Dez1999
Feb2001
Nov2001
Apr2002
Aug2002
Jan2003
Mai2003
Aug2003
Dez2003
Apr2004
Aug2004
Dez2004
Apr2005
Aug2005
Dez2005
Apr2006
Aug2006
Dez2006
Apr2007
Aug2007
Jan2008
Jul2008
Mrz2009
Jan2010
Sep2010
Mai2011
Jan2012
Sep2012
Mai2013
Jan2014
Jul2014
Mrz2015
Nov2015
Jul2016
Mrz2017
Dez2017
Jul2018
Mai2019
Aug2020
Mai2021
Mrz2022
MonatundJahrderUmfrage
USA:gut USA:schlecht EU:gut EU:schlecht
Anmerk ung: Wortlaut der Frage: Wie ist derzeit insgesamt ihre Einstellun g gegenüber den USA/der EU? Antwortmöglichkeite n: Gut, schlecht, schwer
zu sagen. Quelle: Meshdunarodnye Otnoschenija (Internaonale Beziehungen), Lewada-Zentrum, 15.06.2022, hps://www.levada.ru/2022/06/15/
mezhdunarodnye-otnosheniya-7/.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 14
Tabelle 3: Einstellung gegenüber der EU und den USA in Russland (April 1990 – Mai 2022, Angaben in %)
USA: gut USA:
schlecht
EU: gut EU:
schlecht
Apr. 1990 75 7
Nov. 1991 80 6
Aug. 1992 74 8
Apr. 1993 72 7
Mrz. 1997 72 18
Dez. 1998 67 23
Mrz. 1999 38 49
Apr. 1999 33 53
Mai 1999 32 54
Aug. 1999 49 33
Sep. 1999 60 25
Nov. 1999 54 31
Dez. 1999 60 28
Feb. 200 0 67 22
Mai 200 0 68 21
Jul. 2000 69 23
Feb. 2001 59 27
Mai 2001 69 22
Sep. 2001 70 20
Okt. 2001 60 27
Nov. 2001 68 22
Dez. 20 01 65 24
Jan. 2002 68 20
Mrz. 20 02 48 41
Apr. 2002 59 34
Mai 2002 61 28
Jun. 2002 65 26
Jul. 2002 69 19
Aug. 2002 67 22
Sep. 2002 60 29
Okt. 2002 69 24
Nov. 2002 61 29
Jan. 2003 53 38
Mrz. 20 03 48 40
Mrz. 20 03 38 55
Apr. 2003 27 66
Mai 2003 45 43
Mai 2003 46 44
Jun. 2003 46 42
Jul. 2003 56 38
Aug. 2003 59 30
Sep. 2003 47 43
Okt. 2003 64 28
Nov. 2003 59 33
Dez. 20 03 59 30 72 11
Jan. 2004 54 36 67 17
Feb. 200 4 65 29 76 13
Mrz. 20 04 56 36
Apr. 2004 53 36
Mai 200 4 53 37
Jun. 2004 56 35
USA: gut USA:
schlecht
EU: gut EU:
schlecht
Jul. 2004 57 35
Aug. 2004 67 26 77 13
Sep. 2004 62 31
Okt. 2004 62 31
Nov. 2004 66 29
Dez. 20 04 58 34
Jan. 2005 61 32 74 14
Feb. 2005 60 31 69 18
Mrz. 20 05 60 32 77 14
Apr. 2005 63 29 73 15
Mai 2005 60 31 71 15
Jun. 2005 63 29 73 13
Jul. 2005 66 26 73 15
Aug. 2005 63 26 69 13
Sep. 2005 59 30 66 16
Okt. 2005 61 30 70 15
Nov. 2005 63 30 73 13
Dez. 20 05 57 32 68 17
Jan. 2006 57 32 66 15
Feb. 2006 52 37 61 20
Mrz. 20 06 50 39 66 17
Apr. 2006 53 39 67 18
Mai 2006 45 44 62 20
Jun. 2006 51 39 70 14
Jul. 2006 54 36 68 16
Aug. 2006 55 34 69 14
Sep. 2006 58 33 69 17
Okt. 2006 50 39 69 16
Nov. 2006 56 32 71 12
Dez. 20 06 50 36 67 15
Jan. 2007 55 35 73 15
Feb. 2007 45 45 64 19
Mrz. 20 07 44 47 65 20
Apr. 2007 43 48 64 19
Mai 2007 45 43 61 20
Jun. 2007 48 41 66 19
Jul. 2007 52 38 66 20
Aug. 2007 47 39 60 21
Okt. 2007 48 41 61 22
Nov. 2007 54 35 67 16
Dez. 20 07 47 42 64 21
Jan. 2008 51 39 70 17
Feb. 200 8 49 37 60 20
Mrz. 20 08 48 40
Mai 200 8 51 37
Jul. 2008 43 46 60 25
Sep. 2008 23 67 45 39
Nov. 2008 33 51 53 27
Jan. 2009 38 49 55 27
Mrz. 20 09 46 40 62 20
Mai 2009 36 50 57 23
Fortsetzung auf der nächsten Seite
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 15
Tabelle 3: Einstellung gegenüber der EU und den USA in Russland (April 1990 – Mai 2022, Angaben in %)
(Fortsetzung)
USA: gut USA:
schlecht
EU: gut EU:
schlecht
Jul. 2009 47 40 61 22
Sep. 2009 53 33 63 19
Jan. 2010 54 31 64 19
Mrz. 2010 53 34 62 21
Mai 2010 60 27 68 16
Jul. 2010 60 27 66 17
Sep. 2010 56 29 67 16
Nov. 2010 62 26 72 14
Jan. 2011 60 27 69 16
Mrz. 2011 54 33 62 22
Mai 2011 63 21
Jul. 2011 59 29 66 19
Sep. 2011 60 27 67 18
Nov. 2011 64 23 71 14
Jan. 2012 45 40 56 25
Mrz. 2012 51 35 60 20
Mai 2012 54 32 64 18
Jul. 2012 56 32 65 20
Sep. 2012 46 38 64 18
Nov. 2012 53 34 60 23
Jan. 2013 55 25 64 21
Mrz. 2013 48 39 59 25
Mai 2013 51 38 61 23
Jul. 2013 53 36 64 24
Sep. 2013 41 49 56 29
Dez. 2013 48 37 54 28
Jan. 2014 43 44 51 34
Mai 2014 18 71 45 41
Apr. 2014 33 53
Mai 2014 25 60
Jul. 2014 17 74 27 60
Sep. 2014 17 73 19 68
Nov. 2014 18 73 25 63
Jan. 2015 12 81 20 71
Mrz. 2015 19 73 25 64
Mai 2015 16 73 26 59
USA: gut USA:
schlecht
EU: gut EU:
schlecht
Jul. 2015 19 70 26 62
Sep. 2015 21 68 25 60
Nov. 2015 21 70 29 60
Jan. 2016 23 65 27 58
Mrz. 2016 25 64 28 60
Mai 2016 19 70 25 62
Jul. 2016 25 65 29 61
Sep. 2016 23 65 27 58
Nov. 2016 28 56 30 53
Jan. 2017 37 49 40 47
Mrz. 2017 37 51 35 53
Mai 2017 24 61 27 55
Aug. 2017 35 51 38 47
Sep. 2017 31 59 34 54
Dez. 2017 24 60 28 54
Jan. 2018 26 52 32 46
Mrz. 2018 25 56 26 53
Mai 2018 20 69 27 55
Jul. 2018 42 40 42 38
Sep. 2018 33 55 39 45
Nov. 2018 31 57 36 49
Feb. 2019 34 56 42 45
Mai 2019 31 43 38 44
Aug. 2019 42 44 49 34
Nov. 2019 47 40 52 33
Jan. 2020 42 46 49 36
Aug. 2020 42 46 48 39
Nov. 2020 35 51 47 37
Jan. 2021 40 43 45 37
Mrz. 2021 40 42
Mai 2021 31 54 38 45
Aug. 2021 39 47 46 39
Nov. 2021 45 42 48 38
Feb. 2022 31 55 37 48
Mrz. 2022 17 72 21 67
Mai 2022 14 75 16 69
Anmerk ung: Wortlaut der Frage: Wie ist derzeit insgesamt ihre Einstellun g gegenüber den USA/der EU? Antwortmöglichkeite n: Gut, schlecht, schwer
zu sagen. Quelle: Meshdunarodnye Otnoschenija (Internaonale Beziehungen), Lewada-Zentrum, 15.06.2022, hps://www.levada.ru/2022/06/15/
mezhdunarodnye-otnosheniya-7/.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 16
Erwähnungen der Wörter »Genozid«, »USA« und »NATO« im russischen
Fernsehen 03.12.2021 – 13.03.2022
STAT I STIK
Grak 5a: Summe der Erwähnungen von Genozid im russischen Fernsehen 03.12.2021 – 13.03.2022
0
100
Dez13–
19
Dez20–
26
Dez27–
Jan2
Jan3–9 Jan10–
16
Jan17–
23
Jan24–
30
Jan31–
Feb6
Feb7–
13
Feb14–
20
Feb21–
27
Feb28–
Mrz6
Mrz7–
13
Quelle: Paul Goode, How Russian Television Prepared the Public for War (Wie das russische Fernsehen die Bevölkerung auf den Krieg vorbereitete), PONARS
Eurasia Policy Memo No. 761, hps://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war/. Die Redakon der Russland-Ana-
lysen bed ankt sich bei Paul Goode für die Bereitstellung der Roh daten, die den Gra ken zugrunde liegen.
Grak 5b: Erwähnungen von Genozid im russischen Fernsehen nach Sendern 03.12.2021 – 13.03.2022
0
30
Dez13–
19
Dez20–
26
Dez27–
Jan2
Jan3–9 Jan10–
16
Jan17–
23
Jan24–
30
Jan31–
Feb6
Feb7–
13
Feb14–
20
Feb21–
27
Feb28–
Mrz6
Mrz7–
13
Doshd(TVRain,unabhängig) NTV(GazpromMedia,kremlkontrolliert)
1tv(staatlich) Rossija1(staatlich)
TVZentr(MoskauerStadtregierung)
Quelle: Paul Go ode, How Russian Television Prepared the Public for War (Wie das ru ssische Fernsehen die Bevölkerung auf den Krieg vorbereitete), PONARS
Eurasia Policy Memo No. 761, hps://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war/. Die Redakon der Russland-Ana-
lysen bed ankt sich bei Paul Goode für die Bereitstellung der Roh daten, die den Gra ken zugrunde liegen.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 17
Grak 6a: Summe der Erwähnungen der NATO im russischen Fernsehen 03.12.2021 – 13.03.2022
0
300
Dez13–
19
Dez20–
26
Dez27–
Jan2
Jan3–9 Jan10–
16
Jan17–
23
Jan24–
30
Jan31–
Feb6
Feb7–
13
Feb14–
20
Feb21–
27
Feb28–
Mrz6
Mrz7–
13
Quelle: Paul Go ode, How Russian Television Prepared the Public for War (Wie das ru ssische Fernsehen die Bevölkerung auf den Krieg vorbereitete), PONARS
Eurasia Policy Memo No. 761, hps://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war/. Die Redakon der Russland-Ana-
lysen bed ankt sich bei Paul Goode für die Bereitstellung der Roh daten, die den Gra ken zugrunde liegen.
Grak 6b: Erwähnungen der NATO im russischen Fernsehen nach Sendern 03.12.2021 13.03.2022
0
100
Dez13–
19
Dez20–
26
Dez27–
Jan2
Jan3–9 Jan10–
16
Jan17–
23
Jan24–
30
Jan31–
Feb6
Feb7–
13
Feb14–
20
Feb21–
27
Feb28–
Mrz6
Mrz7–
13
Doshd(TVRain,unabhängig) NTV(GazpromMedia,kremlkontrolliert)
1tv(staatlich) Rossija1(staatlich)
TVZentr(MoskauerStadtregierung)
Quelle: Paul Go ode, How Russian Television Prepared the Public for War (Wie das ru ssische Fernsehen die Bevölkerung auf den Krieg vorbereitete), PONARS
Eurasia Policy Memo No. 761, hps://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war/. Die Redakon der Russland-Ana-
lysen bed ankt sich bei Paul Goode für die Bereitstellung der Roh daten, die den Gra ken zugrunde liegen.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 18
Grak 7a: Summe der Erwähnungen der USA im russischen Fernsehen 03.12.2021 – 13.03.2022
0
500
Dez13–
19
Dez20–
26
Dez27–
Jan2
Jan3–9 Jan10–
16
Jan17–
23
Jan24–
30
Jan31–
Feb6
Feb7–
13
Feb14–
20
Feb21–
27
Feb28–
Mrz6
Mrz7–
13
Quelle: Paul Go ode, How Russian Television Prepared the Public for War (Wie das ru ssische Fernsehen die Bevölkerung auf den Krieg vorbereitete), PONARS
Eurasia Policy Memo No. 761, hps://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war/. Die Redakon der Russland-Ana-
lysen bed ankt sich bei Paul Goode für die Bereitstellung der Roh daten, die den Gra ken zugrunde liegen.
Grak 7b: Erwähnungen der USA im russischen Fernsehen nach Sendern 03.12.2021 – 13.03.2022
0
200
Dez13–
19
Dez20–
26
Dez27–
Jan2
Jan3–9 Jan10–
16
Jan17–
23
Jan24–
30
Jan31–
Feb6
Feb7–
13
Feb14–
20
Feb21–
27
Feb28–
Mrz6
Mrz7–
13
Doshd(TVRain,unabhängig) NTV(GazpromMedia,kremlkontrolliert)
1tv(staatlich) Rossija1(staatlich)
TVZentr(MoskauerStadtregierung)
Quelle: Paul Go ode, How Russian Television Prepared the Public for War (Wie das ru ssische Fernsehen die Bevölkerung auf den Krieg vorbereitete), PONARS
Eurasia Policy Memo No. 761, hps://www.ponarseurasia.org/how-russian-television-prepared-the-public-for-war/. Die Redakon der Russland-Ana-
lysen bed ankt sich bei Paul Goode für die Bereitstellung der Roh daten, die den Gra ken zugrunde liegen.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 19
Russland auf dem Weg zur Führerdiktatur – 2
UMFR AGEN
Grak 8: Möchten Sie gerne Wladimir Pun nach Ablauf seiner jetzigen Amtszeit nach dem Jahr 2024 im Amt
des Präsidenten der Russischen Föderaon sehen oder nicht? (Oktober 2012 – Mai 2022, in %)
34
33
58
60
63
66
67
51
54
46
48
47
72
40
45
19
21
19
20
18
27
38
40
41
42
19
26
23
22
19
19
14
16
22
8
14
11
11
9
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%
Oktober2012
Oktober2013
November2014
Mai2016
Oktober2016
Mai2017
August2017
Mai2018
Juli2019
März2020
Februar2021
September2021
Mai2022
Ja,dasmöchteich. Nein,dasmöchteichnicht. Schwerzusagen
Quelle: Otnoschenie k Wladimiru Punu [Einstellung zu Wladimir Pun], Lewada-Zentrum, 10.06.2022, hps://www.levada.ru/2022/06/10/
otnoshenie-k-vladimiru-punu-5/.
Krieg, Protest und Regimestabilität
Jan Matti Dollbaum (Universität Bremen)
DOI: 10.31205/R A .421.02
Zusammenfassung
Nach mehr als drei Monaten Krieg gegen die Ukraine hat sich gezeigt, dass kurzfristig keine Gefahr von
Antikriegsprotesten für das russische autoritäre Regime und seine Kriegspläne ausgeht. Lange im Voraus
angelegte Repressionskampagnen haben die ohnehin geringe Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit
der Nicht-System-Opposition zerstört. Die noch einmal drastisch verschärften Repressionen seit Beginn des
Krieges verhindern zudem wirkungsvoll, dass sich neue organisierte Protestgruppen bilden. So bleibt der Pro-
test anonym, unorganisiert, und schwach. Das bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre; aber unmittelbare
Auswirkungen auf die großen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg sind von möglichen Protesten nicht
zu erwarten. Doch mit seiner imperialistischen Propaganda läuft das Regime Gefahr, von radikalen Kriegs-
befürwortern unter Druck zu geraten. Aus diesem Grund geht der Kreml genauso kompromisslos gegen
Nationalisten vor wie gegen jede andere Form der gesellschaftlichen Selbstorganisation.
Einleitung
Die Erfahrung von Revolutionen in modernen, mit hoch-
effektiven Repressionsapparaten ausgestatteten Staaten
zeigt, dass ein autoritäres Regime nur dann ins Wanken
und zum Sturz gebracht werden kann, wenn die Kohä-
sion der Eliten schwindet oder signifikante Teile von Poli-
zei und Armee sich weigern, Befehle auszuführen. Steht
das Regime zusammen, so ist ihm wenig anzuhaben.
ANALYSE
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 20
Aus diesem Grund richteten sich nach dem Beginn von
Russlands Krieg gegen die Ukraine alle Augen auf die
undurchsichtigen Kremlmauern, um mögliche Bruchli-
nien in Putins Machtzirkel auszumachen. Hochrangige
Offizielle und kremlfreu ndliche »Oligarchen« stehen auf
den Sanktionslisten, es werden weltweit Yachten festge-
setzt und Konten eingefroren. Doch trotz Rücktritten
einzelner Randfiguren wissen wir mittlerweile – etwa
aus den Analysen von Farida Rustamova –, dass Sank-
tionen die russische Elite zumindest im Moment eher
zusammenschweißen als Keile hineinzutreiben.
Hier kann Protest ins Spiel kommen. Denn zwar
stürzen friedliche Demonstrationen kein Regime – das
war im Jahr 2020 in Belarus deutlich zu beobachten,
als zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung auf die
Straße gingen, ohne dass Lukaschenka in ernste Gefahr
geriet. Doch Protest kann in autoritären Regimen dazu
beitragen, Elitenspaltungen zu erzeugen, die ihrerseits
dann ursächlich für einen Regimewechsel sein können.
Dies kann über mindestens zwei Wege geschehen: Ers-
tens können große Proteste den Eindruck erzeugen, dass
der Staatsführung jegliche Legitimität in der Bevölke-
rung fehlt und sich deshalb für Eliten die Loyalität nicht
mehr lohnt – vor allem wenn, zum Beispiel durch Amts-
zeitbeschränkungen, ohnehin ein baldiger Machtwech-
sel ansteht. Auf diese Weise trugen Proteste zum Regime-
wechsel bei mehreren Revolutionen im postsowjetischen
Raum bei. Ein zweiter Weg führt über Disruption – also
friedlicher ziviler Ungehorsam etwa in Form von Beset-
zungen und Blockaden: Wenn Protestierende das Funk-
tionieren des Staates und/oder der Wirtschaft ernsthaft
in Gefahr bringen, kann das zur Uneinigkeit innerhalb
des Regimes beitragen. Denn derartige Proteste stellen
das Regime vor die Entscheidung, diesen mit Kompro-
missvorschlägen oder Repressionen zu begegnen, was
wiederum Abspaltungen und Befehlsverweigerung oder
zumindest Kompromisse zur Folge haben kann. Pro-
test kann also ein Regime durchaus in Gefahr bringen,
dieser sollte aber für beide Szenarien bestimmte Eigen-
schaften aufweisen: Im ersten Fall müssen Proteste groß
und repräsentativ sein, im zweiten zumindest gut orga-
nisiert und diszipliniert. Beides liegt in Russland zur-
zeit in weiter Ferne.
Die Ausmerzung des Widerstands
Das russische autoritäre Regime befindet sich schon seit
vielen Jahren in einer Eskalationsspirale, in der Repres-
sion verstärkt und formal demokratische Institutionen
ausgehöhlt werden. Lange Zeit nutzten Oppositionelle
die schrumpfenden, aber dennoch weiterhin vorhande-
nen Spielräume und Gelegenheiten: Die lokalen Opposi
-
tionskoalitionen in Nowosibirsk und Moskau und auch
Alexej Nawalnyjs »Smart Voting«-Strategie entsprin-
gen dieser Periode. Die Ökonomen Sergej Guriew und
Daniel Treisman sahen Russland gar als Beispiel des
»informationalen Autoritarismus«, der anstatt durch
Repression vor allem durch die Kontrolle von Informa-
tion Stabilität erzeugt. Doch spätestens mit Nawalnyjs
Verurteilung im Frühjahr 2021, der Einstufung seiner
Organisationen als »extremistisch« und der Unterdrü-
ckung von Protest und unabhängigen Medien in einer
noch nie dagewesenen Härte bewegte sich Russland
deutlich in Richtung eines klassischen, vor allem auf
Repression setzenden autoritären Regimes.
Noch im Jahr 2021 stellen sich viele Beobachter die
Frage, warum das russische Regime mit einer derarti-
gen Vehemenz gegen jeglichen Dissens vorging. Weder
von Nawalnyj noch anderen Oppositionsakteuren ging
eine ernsthafte Gefahr für Putin aus. Eine halbwegs
plausible Antwort lautete deshalb: Die Repressionen
sollen präventiv wirken. Zwar ist Nawalnyj deutlich
zu unbeliebt, um zurzeit Wahlen gewinnen zu können.
Aber sollte Putins Unterstützung in der Bevölkerung
schwinden – zum Beispiel durch eine ausgedehnte Wirt-
schaftskrise – so könnte Nawalnyjs Organisation in der
Lage sein, Proteste zu organisieren, damit den Wider-
stand zu kanalisieren und sich als potenzielle Gegeneli-
ten anzubieten.
Mittlerweile kennen wir die Antwort. Die Präven-
tionsthese war korrekt, nur ging es dabei nicht um eine
vage Zukunftsabsicherung gegen eventuell drohende
Legitimationskrisen. Die Ausschaltung der organi-
sierten Opposition, die der Bevölkerung unter Rück-
griff auf die bewährte Formel verkauft wurde, dass sich
Russland gegen Einmischung in innere Angelegenhei-
ten aus dem Ausland wehren müsse, war vielmehr Teil
der Kriegsvorbereitung. Einer möglichen Antikriegsbe-
wegung sollte im Vorfeld des Krieges jegliche Grund-
lage entzogen werden.
Der Protest geht in den Untergrund
Unmittelbar zu Beginn des Krieges fragten sich viele, ob
nicht trotzdem eine Protestbewegung entstehen könnte.
Immerhin gingen in den ersten Wochen immer wie-
der Menschen im ganzen Land auf die Straße. Leonid
Drabkin von OWD-Info, einer Organisation, die politi-
sche Repression dokumentiert und ihre Opfer juristisch
unterstützt, berichtete zwei Wochen nach Kriegsaus-
bruch, dass viele Protestierende auf den spontanen Anti-
kriegsdemos kaum Erfahrung mit Repressionen gehabt
hätten. Dies zeige, dass längst nicht nur die »üblichen
Verdächtigen«, die schon seit Jahren regelmäßig protes-
tieren, an den Protestaktionen teilnähmen. Diese Beob-
achtungen ließen viele darauf hoffen, dass sich eine ganz
neue Klientel dem Protest anschließen und ihn dadurch
entscheidend stärken könnte.
Doch diese Hoffnung entpuppte sich schnell als Illu-
sion. Zunächst wurde der Protest unmittelbar durch
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 21
eine enorme Abwanderungswelle (https://www.laender-
analysen.de/russland-analysen/420/) geschwächt: Seit
Kriegsbeginn verließen mehrere Hunderttausend Men-
schen Russland in die EU, die USA (über Mexiko), die
Türkei, nach Israel, A rmenien, Georgien und zahlreiche
andere Länder. Auch wenn die Beweggründe bei vielen
wirtschaftlicher Natur waren, so kam auf diese Weise
einer potentiellen Protestbewegung doch auch poten-
tielle Unterstützung abhanden. Viele politisch Aktive
hatten sich sogar schon vorher ins Ausland abgesetzt:
Allein aus dem lange als liberal geltenden Jekaterinburg
verließen 2021 und 2022 vier von Nawalnyjs ehemaligen
lokalen Koordinatoren das Land. Es waren also nicht
nur systematisch die Organisationsstrukturen zerstört
worden. Es fehlte zunehmend auch an Personen, die sie
mit Leben füllen und diese Strukturen zur Protestmo-
bilisierung nutzbar machen könnten.
Zudem signalisierte das Regime jenen, die in Russland
zu verbleiben gedachten, unmissverständlich, dass jed-
wede Form des Widerstands einen horrenden Preis haben
würde. Zum einen gilt dies für Straßenprotest. Bis Ende
März 2022 gab es über 15.000 Festnahmen, mehr noch
als bei den weit größeren Protesten gegen die Verhaftung
Nawalnyjs Anfang 2021. Für den 2. April 2022 rief die
anonyme Protestgruppe Wesna (»Frühling«, s. ihren Tele-
gram-Kanal https://t.me/vesna_democrat) zu la ndesweiten
Sitzstreik s auf, was angesichts der starken Abneigung vieler
Liberaler in Russland gegen jede Form disruptiver Aktion
ein beachtliches Novum darstellt. Wesna musste allerdings
schnell feststellen, dass derzeit keine nennenswerten Zah-
len für Straßenproteste mobilisiert werden können.
Zweitens gilt dies aber auch für weit subtilere Pro-
testformen. Am 4. März 2022 verabschiedete das rus-
sische Parlament im Eilverfahren eine Änderung des
Strafgesetzbuchs, die die Verbreitung von »Falschin-
formationen« über die »Spezialoperation« und die Dis-
kreditierung der russischen Armee mit bis zu 15 Jahren
Haft bestraft. Diese Änderung wurde auch prompt in
die Tat umgesetzt. Die Musikerin Alexandra Skotschi-
lenko aus St. Petersburg et wa, die Preisschilder an Super-
marktregalen gegen kleine Zettel mit Botschaften über
zivile Kriegsopfer ausgetauscht hat, steht dafür zurzeit
vor Gericht. Ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft, und
damit steht sie bei weitem nicht allein da. Insgesamt
zählt OWD-Info 128 Strafverfahren (Stand 11.05.2022)
(https://ovd.news/news/2022/03/05/antivoennoe-delo-
gid-ovd-info), die im direkten Zusammenhang mit Anti-
kriegsaktionen stehen, darunter 23, die sich auf das neue
Gesetz berufen, sowie zahlreiche Anklagen zu bereits
existierenden Straftatbeständen wie »Vandalismus« für
an Hauswände gesprühte Antikriegsgraffiti.
Dies macht zweierlei deutlich: Erstens zeigen die Ver-
fahren, wie sich der Protest verändert hat. Demonstratio-
nen sind zu gefährlich geworden, unabhängige Medien
mussten ihre Berichterstattung einstellen, viele soziale
Medien sind blockiert, und die Repressionen gegen zen-
trale A ktivistinnen und A ktivisten erschweren die Koor-
dination erheblich. Aus diesem Grund ist der Protest
in den Untergrund gegangen, wird vollständig dezen-
tral und äußert sich fast nur noch durch anonyme Bot-
schaften im Alltag. Zweitens wird aber sichtbar, dass das
Regime selbst auf diese subtileren Formen des Protests
mit Repressionen reagiert. Noch vor einiger Zeit dien-
ten repressive Gesetze vor allem als Drohkulisse und
kamen kaum zur Anwendung, Jetzt geht das Regime
dazu über, diese Drohungen wahrzumachen. Wesna ver-
breitete kürzlich im Messengerdienst Telegram die fol-
gende Handreichung: »Vermeidet Überwachungskame-
ras und verdeckt euer Gesicht so weit wie möglich […],
tragt neutrale, unauffällige Kleidung, […] schaltet euer
Telefon aus, benutzt kein Auto«. Auf den ersten Blick
lesen sich diese Empfehlungen als Verhaltensregeln für
den Guerillakampf, doch waren sie für Aktivistinnen
und Aktivisten bestimmt, die Peace-Zeichen auf Bus-
haltestellen malen. Auch wenn noch immer die meis-
ten Festnahmen ohne Strafverfahren enden und es bis
zu Massenrepressionen, die wir aus tota litären Regimen
kennen, noch einigen Spielraum gibt, dreht sich die Spi-
rale der Unterdrückung unaufhaltsam weiter.
Sozialprotest
All dies zeigt, dass der zeit von einer Protestbewegung, die
sich explizit gegen den Krieg positioniert, keine Aktio-
nen zu erwarten sind, die kurzfristige Wirkung entfalten.
Schon gar nicht ist ein derartiger Protest in der Lage, eine
Spaltung der Elite zu provozieren. Das Regime unterbin-
det sowohl die Mobilisierung als auch die Koordination
effektiv, deswegen ist es derzeit wenig realistisch, dass
ein Massenprotest entsteht oder dass der Protest politi-
sche Turbulenzen generieren kann. Etwas größer ist die
Wahrscheinlichkeit von Sozialprotest. Die Wirtschafts-
sanktionen lassen schon jetzt die Preise spürbar steigen
und werden auch die Arbeitslosigkeit befördern, sodass
soziale Nöte in einem seit den 1990er Jahren nicht mehr
dagewesenen Ausmaß drohen. Trotz ersten Streiks – etwa
bei einer Baufirma in Nishnekamsk und einem Kurier-
dienstleister in Moskau – ist allerdings längst nicht sicher,
dass dies breiten Protest zur Folge haben wird, insbeson-
dere wenn das Regime die Schuld für die Not erfolgreich
dem Westen zuschieben und sich die verbliebene Opposi
-
tion weigern sollte, sozialen Forderungen eine politische
Stimme zu geben. Allen voran gilt dies für die Kommu-
nistische Partei, die zurzeit vor allem darum bemüht ist,
dem Regime gegenüber ihre Loyalität kundzutun. Und
selbst wenn es zu Protesten kommen sollte, so kann
das Regime diese wahrscheinlich mit einer Mischung
aus Repressionen und Zugeständnissen abfedern, bevor
sie so groß oder disruptiv werden, dass sie Elitenspal-
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 22
tungen provozieren. Mögliche Zugeständnisse werden
dann wohl nicht direkt den Krieg betreffen, denn es ist
weder klar, dass sein Ende zur Aufhebung der Sanktio-
nen führen würde, noch ist es ersichtlich, dass ein Ende
der Sanktionen unmittelbare wirtschaftliche Verbesse-
rungen mit sich brächte. Stattdessen könnten Sozialpro-
teste größere Transferzahlungen oder weitere Maßnah-
men erwirken, die Preissteigerungen verhindern sollen.
Dies würde zwar das Regime finanziell belasten und
damit strukturell schwächen, aber nicht zu einer unmit-
telbaren Bedrohung der Regimestabilität führen.
Probleme von der anderen Seite
Zurzeit ist also weder von einer Antikriegsbewegung
noch von wirtschaftlich motivierten Protesten eine akute
Gefährdung zu erwarten. Eine dritte potenzielle Gefah-
renquelle sollte dabei allerdings nicht vergessen werden:
eine radikale Minderheit, der die derzeitigen Kriegsan-
strengungen nicht weit genug gehen. Die Propaganda hat
in einem Teil der Bevölkerung und der Elite die Erwar-
tung genä hrt, die Zeit sei gekommen, offene Rechnungen
mit dem Westen zu begleichen und zumindest die Ukraine,
wenn nicht weitere Teile Osteuropas, einzunehmen. Nach-
dem der russische Verhandlungsführer Wladimir Medin-
skij am 29. März 2022 den Rückzug aus den Regionen
um Kyjiw und Tschernihiw angekündigt hatte, zeigte
sich der Moderator und Propagandist Wladimir Solo-
wjow, ansonsten ein laustarker Unterstützer der »Spezial-
operation«, erbost über die Entscheidung. Und auch der
tschetschenische Diktator Ramsan Kadyrow widersprach
Medinskij und erklärte, Russland werde keine Zugeständ-
nisse machen. Die einzige von Eliten und Medien vor-
getragene Kritik am Krieg kommt damit von Akteuren,
denen er nicht weit genug geht. Die beiden Genannten
spielen zuverlässig ihre Rollen als imperialistische Hard-
liner. Sollte sich diese Stimmung in der Elite jedoch ver-
breiten und zudem noch Widerhall in der Bevölkerung
finden, könnten von militärischen Rückschlägen diktierte
Kompromisse eher Protest und Elitenspaltung auslösen als
dies Sanktionen oder Antikriegsproteste können.
Dem Kreml scheint diese Gefahr bewusst zu sein. Zwar
sind staatlich organisierte, öffentliche Loyalitätsbekun-
dungen in Form sogenannter »Flashmobs« allgegenwär-
tig. Dabei gruppieren sich zum Beispiel Schülerinnen und
Schüler zu einem Z (dem Propagandasymbol des Krieges)
und posten das Foto in sozialen Medien. Doch die Behör-
den vermeiden es dabei sorgfältig, unabhängige Stru kturen
entstehen zu lassen und drohen sogar denjenigen, die im
Moment die staatliche Linie uneingeschränkt unterstützen.
Anfang April dieses Jahres stürmte die Polizei eine rechts-
radikale Buchhandlung in St. Petersburg auf der Suche
nach »extremistischer« Literatur und beschlagnahmte
unter anderem die Schriften des im Jahr 2020 verstor-
benen nationalbolschewistischen Schriftstellers Eduard
Limonow. Diese Aktion war möglicherweise kein Zufall,
sendet sie doch das Signal, dass die Behörden bereit sind,
auch gegen eine nationalistische Bewegung, die Züge von
Eigenständigkeit aufweist, Repressionen anzuwenden.
Fazit
Es spricht zurzeit wenig dafür, dass dem Regime unmit-
telbare Gefahr durch abtrünnige Eliten droht. Proteste
könnten solche Abspaltungen theoretisch provozieren
oder befördern, müssten dafür aber groß und reprä-
sentativ oder schlagkräftig und disruptiv sein. Derzeit
zeichnet sich aber keine dieser Entwicklungen ab. Orga-
nisatoren sind größtenteils außer Landes, die Repressio-
nen haben die persönlichen Risiken des Protests für die
allermeisten in untragbare Höhen geschraubt; die Anti-
kriegsbewegung ist fast vollständig anonymisiert und
atomisiert. Auch soziale Proteste sind noch nicht vorher-
zusehen und könnten wahrscheinlich durch Zugeständ-
nisse seitens der Politik zunächst aufgefangen werden,
selbst wenn eine Wirtschaftskrise das Regime mittel-
und langfristig stark unter Druck bringen könnte. Im
Blick behalten sollte man jedoch die mögliche Gefahr
durch den Geist, den das Regime selbst aus der Fla-
sche ließ: Kriegsbegeisterte, die von Kompromissen
enttäuscht sind und nicht davor zurückschrecken, die
politische oder militärische Führung infrage zu stel-
len. Der Kreml wird allerdings nicht zögern, auch der
Kriegs-Fraktion so zu begegnen wie jeder anderen Form
der gesellschaftlichen Selbstorganisation, wenn es der
Machterhalt Putins erfordert: mit Repressionen.
Über den Autor
Jan Matti Dollbaum ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Zentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik
der Universität Bremen. Er forscht zu Protest, sozialen Bewegungen und Parteien im postsowjetischen Osteuropa.
Zusammen mit Morvan Lallouet und Ben Noble hat er kürzlich ein Buch über den russischen Oppositionspolitiker
Alexej Nawalnyj und seine politische Organisation veröffentlicht (auf Deutsch erschienen bei Hoffmann & Campe).
Lesetipps
Burkhardt, Fabian: e Fog of War and Power Dynamics in Russia’s Elite: Defections and Purges, or Simply
Wishful inking? In: Russian Analytical Digest Nr. 281, 29.03.2022.
Guriev, Sergei, und Daniel Treisman: Spin Dictators: e Changing Face of Tyranny in the 21st Century. Princeton:
Princeton University Press, 2022.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 23
Hale, Henry E.: Patronal Politics: Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective. Problems of Internatio-
nal Politics. Cambridge: Cambridge University Press, 2014.
Rustamova, Farida: «Мы Теперь Будем Их Всех Е***ь». Что Происходит в Российских Элита х Через Месяц
После Начала Войны. [»Jetzt werden wir sie alle f*cken«. Die russische Elite einen Monat nach Kriegsbeginn.]
Substack newsletter Faridaily, 31.03.2022, https://faridaily.substack.com/p/--3c3?s=r.
ANALYSE
Die politische Ökonomie der Abfallwirtschaft in Russland
Olga Masyutina und Ekaterina Paustyan (Universität Bremen)
DOI: 10.31205/R A .421.03
Zusammenfassung
Die Entsorgung von Hausmüll ist eine der zahlreichen ökologischen Herausforderungen, vor denen Russ-
land heute steht. Die landesweite Reform der Abfallwirtschaft im Jahr 2019 soll diesem Problem durch die
Förderung von Recycling entgegenwirken. Diese geriet jedoch landesweit ins Stocken, was auf einige Beson-
derheiten der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Russland zurückzuführen ist. Der Mangel an
Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen und die Bedeutung persönlicher Beziehungen zwischen den
Unternehmen und den föderalen bzw. regionalen Behörden behindern die Umsetzung der Reform und füh-
ren zu suboptimalen Ergebnissen bei der Bekämpfung des Abfallproblems.
Einleitung
Bei Umweltfragen wie Luftverschmutzung oder Wald-
sterben stehen bedeutende politische und wirtscha ftliche
Interessen auf dem Spiel. Hierzu gehören die Interessen
der Industrielobby, die sich für niedrigere Umweltsteu-
ern einsetzt, oder die Interessen der grünen Parteien,
die genau das Gegenteil erreichen wollen. Die russi-
sche Abfallwirtschaft ist hier keine Ausnahme. Viele
Akteure sind involviert, und das Politikfeld ist insge-
samt höchst umstritten. Auf kommunaler Ebene ist die
Lage bei der Entsorgung fester Abfälle erbärmlich, denn
mehr als 90 Prozent des Haushaltsmülls werden ohne
Weiterverarbeitung auf schlecht betriebene Deponien
gebracht. Die Kapazitäten von Deponien sind in Dut-
zenden Regionen fast erschöpft. Dadurch ist der Haus-
haltsmüll zu einem besonders akuten Problem gewor-
den. Die föderale Regierung erkannte 2019 endlich den
Ernst der Lage und brachte eine landesweite Abfall-
wirtschaftsreform auf den Weg. Das Ziel der Reform
ist, die Nutzung von Deponien zu begrenzen und den
Anteil des recycelten Abfalls durch den Einsatz moder-
ner umweltfreund licher Technologien zu erhöhen. A ller-
dings blieben sowohl der Entwurf als auch die Umset-
zung der Reform bisher hinter den Erwartungen zurück,
wie dies so oft in Russland der Fall ist (https://ach.gov.
ru/statements/byulleten-schetnoy-palaty-9-274-2020-g).
Einige Probleme, die im Zuge dieser Reform auftreten,
liegen in der Natur der Beziehungen zwischen Staat und
Wirtschaft in Russland begründet.
Russlands Abfallwirtschaft seit 2019
Das System der Abfallwirtschaft blieb nach dem Ende
der Sowjetunion jahrzehntelang unreformiert. In den
2010er Jahren wurde überdeutlich, dass das System
höchst ineffizient und dringend reformbedürftig war.
Das Auf kommen an Haushaltsabfällen ist im Laufe der
Jahre stetig gewachsen (336.000 Kubikmeter Hausha lts-
abfälle im Jahr 2020 im Vergleich zu 210.000 Kubikme-
ter im Jahr 2007), was auf den gestiegenen Verbrauch
und die Urbanisierung zurückzuführen ist. Überfüllte
Deponien, fehlendes Abfallrecycling und wiederkeh-
rende Probleme bei der Abfallsammlung und -entsor
-
gung in mehreren russischen Städten machten deutlich,
dass die Abfallwirtschaft von Behörden und Entsor-
gungsunternehmen schlecht gemana gt wurde. Dutzende
von Umweltprotesten in ganz Russland brachten die
Besorgnis der russischen Bevölkerung über den Miss-
stand in der Abfallentsorgung zum Ausdruck.
Die Reform der Abfallwirtschaft begann offiziell im
Jahr 2019. Um diese auf den Weg zu bringen, mussten
alle russischen Regionen einen oder mehrere regionale
Entsorgungsbetriebe bestimmen, die für den gesam-
ten Ablauf von der Sammlung bis zur Entsorgung von
Hausmüll in der Region verantwortlich sind. Im Mai
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 24
2021 gab es 189 Entsorgungsunternehmen in 83 Regio-
nen Russlands (ohne die Krim und die Stadt Sewasto-
pol, die international als ukrainisches Staatsterritorium
anerkannt sind). Die Entsorgungsbetriebe werden über
ein öffentliches Ausschreibungsverfahren ausgewählt,
und die siegreichen Bieter erhalten einen langfristigen
Vertrag (in der Regel für 10 Jahre) im Wert von vielen
Hundert Millionen Rubel. In der russischen Abfall-
wirtschaft geht es um viel Geld. Bis Mitte 2020 belie-
fen sich die Verträge, die mit regionalen Entsorgungs-
unternehmen unterzeichnet wurden, auf 2 Billionen
Rubel (https://istories.media/reportages/2020/06/18/
musornaya-reforma-v-tsifrakh-i-grafikakh/). Es ist
jedoch allgemein bekannt, dass das öffentliche Beschaf-
fungswesen in Russland aufgrund von Korruption und
fehlender Transparenz mit vielen Mängeln behaftet ist.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere die
Zivilgesellschaft Bedenken hat hinsichtlich der Qua-
lität und Effizienz von Unternehmen, die öffentliche
Ausschreibungen gewinnen, um die regionale Abfall-
entsorgung zu übernehmen. Es ist offensichtlich, dass
es bei den Ausschreibungen an offenem Wettbewerb
mangelt: Bis November 2020 hatten nur 15 Prozent
der 227 öffentlichen Ausschreibungen in 80 Regionen
mehr als einen Bewerber (https://ac.gov.ru/news/page/
sistema-obrasenia-s-tbo-ostaetsa-neprozracnoj-26777).
Darüber hinaus hatten diejenigen Unternehmen, die
die Ausschreibung gewonnen haben, in mindestens
11 Regionen keine vorherige Erfahrung in der Abfall-
wirtschaft (https://istories.media/investigations/2020/
06/18/v-11-regionakh-rossii-musornimi-operatorami-
stali-firmi-bez-opita-obrashcheniya-s-otkhodami/).
Zum Beispiel erhielt der Archangelsker Entsorgungs-
betrieb »Ekointegrator« im Jahr 2019 von der Regio-
nalregierung einen Vertrag für zehn Jahre über eine
Summe von 28,3 Milliarden Rubel, obwohl das Unter-
nehmen erst neu gegründet worden war und nur vier
Mitarbeitende hatte. Infolgedessen kommt es in ver-
schiedenen russischen Regionen immer wieder zu Abfall-
krisen, wenn Entsorgungsbetriebe ihren vertraglichen
Verpflichtungen zur regelmäßigen Sammlung und Ver-
arbeitung von Hausmüll nicht nachkommen.
Dieser Mangel an Wettbewerb spiegelt sich auch in
den von den regionalen Entsorgungsunternehmen fest-
gesetzten Tarifen für die Sammlung von Hausmüll wider.
Diese sind meist höher, als sie es bei öffentlichen Aus-
schreibungen wären, die unter wettbewerblichen Bedin-
gungen abgehalten werden. Seit Beginn der Reform der
regionalen Abfallwirtschaftssysteme müssen die Bür-
ger:innen viel mehr für die Entsorgung von Hausmüll
bezahlen als noch davor. Dabei gibt es sehr große regio-
nale Unterschiede, wie hoch die Gebühren sind, die die
Bevölkerung an die regionalen Entsorgungsbetriebe ent-
richten muss. Je nach Region wurde im Jahr 2019 zwi-
schen 244 und 1411 Rubel für einen Kubikmeter Haus-
müll berechnet. Die höchsten Gebühren sind derzeit in
Moskau, in der Oblast Leningrad sowie im Autonomen
Kreis der Jamal-Nenzen zu verzeichnen. 2021 stiegen
die Gebühren um durchschnittlich vier Prozent. Wäh-
rend in einer Reihe von Regionen die Tarife gesenkt
wurde (etwa um 9,2 Prozent in der Oblast Magadan),
mussten andere Regionen erhebliche Preissteigerun-
gen hinnehmen. In der Oblast Nowosibirsk mussten
die Bürger:innen 39,2 Prozent mehr Gebühren als im
Vorjahr verrichten, in der Republik Tatarstan waren es
24,8 Prozent mehr (https://www.rbc.ru/society/03/03/
2021/603cb7cb9a79475c8729c21e). Außerdem bleibt es
für die Bevölkerung in den Regionen undurchsichtig, wie
die Gebühren zustande kommen und warum auf einma l
für die gleiche Leistung mehr als bisher verlangt wird,
während es oft keine Anzeichen für eine Verbesserung
der Abfallsituation gibt. Infolgedessen weigerte sich 2019
ein Viertel der Bevölkerung, die Gebühren zu bezahlen.
Dies war eine der Ursachen für die prekäre finanzielle
Situation einiger regionaler Entsorgungsunternehmen, da
diese Gebühren die Haupteinnahmequelle der Betriebe
sind (https://ach.gov.ru/statements/byulleten-schetnoy-
palaty-9-274-2020-g). Daraus entsteht ein Teufelskreis:
Die Haushalte weigern sich, die gestiegenen Gebühren
zu entrichten, und dem regionalen Unternehmen fehlen
Finanzmittel, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Dies
führt bei der lokalen Bevölkerung zu erheblicher Frus-
tration über den Zustand der Müllabfuhr in ihrer Umge-
bung. Diese Unzufriedenheit ist einer der Gründe, die
Gebührenzahlungen schlicht zu verweigern.
Probleme bei der Finanzierung von
Recycling-Infrastruktur
Das erklärte Ziel der Reform von 2019 war es, den Rec y-
clinganteil zu erhöhen. Allerdings stellt sich die Frage,
wer die dazu benötigte Infrastruktur wie zum Beispiel
Abfallsortier- und Recyclinganlagen bauen und finan-
zieren soll. Regionale Entsorgungsbetriebe sind nicht
am Recycling interessiert, da dieses keinen zusätzli-
chen Profit bringt. Deswegen sind die Anreize gering,
in den Bau von Recyling-Einrichtungen zu investie-
ren. Firmen, die Wertstoffe aus dem Recycling nut-
zen, sind üblicherweise kleine und mittelständische
Unternehmen, die keine Ressourcen für Investitionen
haben, während die regionalen Budgets schon strapa-
ziert sind (https://expert.ru/expert/2020/46/musornoj-
reforme-ne-hvataet-privlekatelnosti/). Auch wenn
private Investitionen eine wichtige Rolle in der Abfall-
wirtschaft spielen, so ist es doch klar, dass es öffentli-
che Förderung für Investoren geben muss. Schon bei
der Organisation der ersten Stufe des Recycling-Pro-
zesses – der Müllsortierung – tun sich große Schwie-
rigkeiten auf. Weder die regionalen Behörden noch
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 25
die Abfallwirtschaftsunternehmen bemühen sich aus-
reichend, ein öffentliches Bewusstsein für die Vorteile
der Mülltrennung und des Abfallrecyclings zu erzeu-
gen. Eine Analyse regionaler Abfallwirtschaftskonzepte
ergab, dass die Hälfte keine Maßnahmen zur Müll-
trennung vorsahen (https://ach.gov.ru/statements/
byulleten-schetnoy-palaty-9-274-2020-g). Viele Haus-
halte können den Haushaltsmüll nur mit sehr großem
Aufwand trennen, da oft Mülltonnen fehlen, die eine
Trennung des Abfalls erlauben. Diesbezüglich gibt es
regional sehr große Unterschiede: 2019 hatten etwa 60
Prozent der Bürger:innen in Pensa Recycling-Tonnen
in der Nähe ihrer Wohnungen verfügbar, während es
in Chabarowsk (einer gleich großen Stadt) nur elf Pro-
zent waren (https://greenpeace.ru/blogs/2020/03/12/
rejting-greenpeace-kazhdyj-tretij-zhitel-krupnogo-
goroda-rossii-imeet-dostup-k-razdelnomu-sboru/). Aus
einer Meinungsumfrage des Lewada-Zentrums aus
dem Jahr 2020 wird ersichtlich, aus welchen Gründen
Russ:innen ihren Hausmüll nicht sortieren. Während
einige keine Zeit oder keinen Platz in ihrer Wohnung
haben, um den Hausmüll zu sortieren, ist der eigentli-
che Hauptgrund, dass viele es als sinnlos empfinden. 29
Prozent der Befragten gehen davon aus, dass der Haus-
müll sowieso auf einer Deponie landen und nicht dem
Recycling zugeführt werden würde (https://www.levada.
ru/2020/05/13/razdelnyj-sbor-othodov/).
Ein weiterer Stolperstein auf dem Weg zu einer
höheren Recycling-Quote ist die Müllverbrennung
als vermeintliche Lösung für das Abfallproblem, die
aktiv sowohl von Unternehmen als auch von der föde-
ralen Regierung unterstützt wird. Ursprünglich sah
die Reform vor, das Recycling mithilfe von Hochtech-
nologien voranzutreiben. Allerdings wurde schon im
Dezember 2019 deutlich, dass der Müllverbrennung
zentrale Bedeutung zukommen würde, als Wladimir
Putin ein Gesetz unterzeichnete, das die Müllverbren-
nung rechtlich dem Recycling gleichstellte (https://www.
kommersant.ru/doc/4349953). Eine Erklärung dafür ist,
dass die föderale Regierung feststellte, dass sie ansons-
ten das erklärte Ziel des Nationalprojekts »Ökologie« für
die Jahre 2018–2024 nicht erreichen würde, 36 Prozent
des Haushaltsmülls zu recyceln. Außerdem gibt es eine
mächtige Industrielobby, der auch RT-Invest angehört,
ein teilweise von der Staatsholding Rostec kontrolliertes
Unternehmen. RT-Invest baut derzeit fünf Müllverbren-
nungsanlagen in der Oblast Moskau und in der Republik
Tatarstan und plant mit den staatlichen Unternehmen
Rosatom und VEB.RF 25 weitere Verbrennungsanlagen
in den russi schen Regionen. Die Entscheidung wurde von
Umweltschütz er:innen und Wissenschaf tler:innen hef tig
kritisiert, da die Müllverbrennung gegenüber dem Recy-
cling zahlreiche Nachteile aufweist (https://www.rbc.
ru/society/08/04/2021/606f18899a7947348f112b50).
Informelle Verbindungen zwischen Staat
und Unternehmen in der Abfallwirtschaft
Informelle Verbindungen zwischen Staat und Unterneh-
men, etwa zwischen regionalen Entsorgungsbetrieben
sowie der Abfallwirtschaft insgesamt und den Verwaltun-
gen, geraten immer wieder ans Licht der Öffentlichkeit.
Investigative Journalisten stellten fest, dass die Abfallwirt-
schaftsreform insbesondere zu solchen Geschäftsabschlüs-
sen geführt hat, die aufgrund von persönlichen Verbin-
dungen zu föderalen oder regionalen Eliten zustande
gekommen sind. Im Mai 2021 haben wir eine Daten-
bank aller regionalen Abfallentsorgungsbetrieben in
Russland mit den wichtigsten grundlegenden Informa-
tionen zu den Unternehmen zusammengestellt. Wir haben
außerdem verschiedene Internetquellen (wie z. B. lokale
Medien) nach Informationen über ihre Eigentumsform
und Verbindungen zu kommunalen, regionalen oder föde-
ralen Behörden durchsucht. Obwohl es in einer Reihe
von Fällen unmöglich war, relevante Informationen zu
finden, konnten wir dennoch ein umfassendes Gesamt-
bild der Eigentumsstrukturen und der informellen Netz-
werke regionaler Abfallunternehmen erstellen. Auch wenn
die Maßnahme, Entsorgungsunternehmen ins Leben zu
rufen, von »oben« – also vom föderalen Zentrum in Mos-
kau – ausging, so konnten wir dennoch selbst innerhalb
einer Region verschiedene Eigentumskonstellationen aus-
machen. Wie Tabelle 1 zeigt, sind einige Entsorgungsun-
ternehmen ganz oder teilweise im öffentlichen Besitz. In
den Oblasten Smolensk und Tambow gehören die regiona-
len Entsorgungsbetriebe zum Beispiel zu 100 Prozent der
regionalen Regierung. In der Oblast Leningrad gehören
25 Prozent des Entsorgungsunternehmens dem regiona-
len Komitee für die Verwaltung des Staatseigentums, der
Rest wird vom privaten Investor »AneksFinans« gehalten.
In rund 30 Regionen gehören die Abfallentsorgungs-
unternehmen Geschäftsleuten mit persönlichen Verbin-
dungen zu kommunalen oder regionalen Verwaltungen.
35
10
31
27
86
VollständigimBesitzvon
kommunalenundregionalen
Behörden
TeilweiseimBesitzvon
kommunalenundregionalen
Behörden
InPrivatbesitz,
Verbindungenzuföderalen
Eliten
InPrivatbesitz,
Verbindungenzuregionalen
Eliten
Unklar
Quelle: Datensatz von Olga Masyuna und Ekaterina Paustyan
Grak 1: Eigentümerstruktur regionaler
Entsorgungsbetriebe
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 26
So sind in der Republik Komi beispielsweise die beiden
ehemaligen regionalen Abgeordneten Witalij Gabujew
und Jewgenij Ljadow Mitgründer des einzigen regiona-
len Abfallentsorgungsunternehmens »Uchtashilfond«.
In der Oblast Orenburg ist Anatolij Kilanow einer der
Direktoren des kommunalen Entsorgungsunternehmens
»Priroda«. Zuvor war er Leiter der regionalen Strafvoll-
zugsbehörde und dann stellvertretender Bürgermeister
von Orenburg. Es wird auch vermutet, dass Anatolij
Tschernjawskij eine:r der Besitzer:innen des Unterneh-
mens ist, der Schwiegersohn des Orenburger Vizegou-
verneurs Oleg Dimow. Darüber hinaus haben einige der
großen Unternehmen im Geschäft mit Feststoff-Abfäl-
len gute Verbindungen zu den föderalen Eliten. So ist
»Chartija«, ein regionaler Entsorger in verschiedenen rus-
sischen Regionen, einer der größten Akteure im Abfall-
geschäft in Russland. Das Unternehmen gehört Igor
Tschajka, einem Sohn von Jurij Tschajka, der aktuell Prä-
sidialvertreter im Föderationsk reis Nordkaukasus ist und
zwischen 2006 und 2020 russischer Generalstaatsan-
walt war (https://thebell.io/dengi-ne-pahnut-kto-pode-
lil-rynok-musora-v-200-mlrd-rublej). In Moskau betreibt
»Chartija« die Abfallsammlung und -entsorgung in zwei
der 12 Bezirke. Die russische Hauptstadt ist ein großer
Erzeuger von Haushaltsabfällen und einer der wichtigs-
ten »Abfallmärkte« in Russland. Zwei weitere Moskauer
Bezirke werden von »Ecoline« betreut, einem Unterneh-
men, das angeblich Arkadij Rotenberg gehört, einem
russischen Oligarchen und engen Freund von Wladimir
Putin (https://istories.media/investigations/2020/06/18/
lyudi-iz-okruzheniya-prezidenta-rossii-podelili-mezhdu-
soboi-musornii-rinok-na-2-trilliona-rublei/). Diese engen
Verbindungen zwischen Abfa llwirtschaft und den födera-
len und regionalen Verwaltungen führen oft zu Konflik-
ten in den Regionen, die dann Unterbrechungen in der
Abfallsammlung und -verwertung nach sich ziehen, wie
etwa in der Obla st Kirow in den vergangenen zwei Jahren.
Schlussfolgerungen
Auch wenn die föderale Abfallreform mit der guten
Absicht begonnen wurde, die Regionen vom Haushalts-
müll zu entlasten, sind bisher nur wenige positive Ent-
wicklungen zu verzeichnen. Ohne systematische statis-
tische Analysen lässt es sich nur schwer nachweisen, dass
Unternehmen, die enge Verbindungen zu den Behörden
haben oder Ausschreibungen ohne Wettbewerb gewinnen,
bessere oder schlechtere Leistungen erbringen als andere
Entsorgungsunternehmen. Trotzdem ist die Abfallentsor-
gung ein anschauliches Beispiel, wie die Wirtschaft in
Russland tatsächlich funktioniert. Es zeigt eindrücklich,
wie Korruption, hartnäckige informelle Praktiken und
das Bestreben von Eliten, Renten abzuschöpfen, auch
für die Abfallwirtschaft charakteristisch sind und jene
Phänomene illustrieren, die in der Wissenschaft als »bad
governance« (in etwa »schlechte Regierungsführung«)
und »limited access order« (politökonomische Systeme,
in denen Konkurrenten von privilegierten Eliten nur
beschränkten Zugang zu Ressourcen haben) bezeichnet
werden. Ein derartiges (Miss-)Management in der Abfall-
wirtschaft zieht viele negative Konsequenzen nach sich:
Die Haushalte müssen höhere finanzielle Belastungen
stemmen, weil sie gezwungen sind, mehr für die Müll-
entsorgung zu zahlen. Außerdem kommt es zu einer Ver-
schwendung von Geldern für den Bau von neuen Anlan-
gen für das Recycling von Haushaltsmüll, während Städte
buchstäblich im Abfall versinken.
Der Krieg in der Ukraine wird da s Abfallproblem in
Russland nur noch verschärfen. Einerseits werden Inves-
titionen in Hochtechnologie-Recyclinganlagen zusam-
mengestrichen werden. Andererseits wird es nur wenige
Möglichkeiten geben, ausländische Recyclinganlagen
oder Abfallsammelfahrzeuge zu erwerben. Die Men-
schen werden zunehmend Schwierigkeiten haben, die
Gebühren für die Müllabfuhr zu bezahlen, weil ihr Ein-
kommen sinkt. Dadurch werden Umweltthemen für die
Politik immer weniger wichtig werden. Dies wird sich
negativ auf den Umweltschutz, die Lebensqualität und
die Gesundheit der Russ:innen auswirken.
Übersetzung aus dem Englischen: Yana Lysenko
Über die Autorinnen
Olga Masyutina ist Doktorandin im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Bremen. Ihre Dissertation
konzentriert sich auf die Erforschung von Wirkungen autoritärer Institutionen in Russland auf verschiedene sozioöko-
nomische Ergebnisse. Vor ihrer Promotion arbeitete Olga Masyutina am International Center for the Study of Insti-
tutions and Development an der Higher School of Economics in Moskau.
Dr. Ekaterina Paustyan ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Bre-
men. Sie promovierte 2020 im Fach Politikwissenschaft an der Central European University. Ihre Forschungsinteressen
liegen in den Bereichen der politischen Ökonomie, der Regionalpolitik, der autoritären Regime und der Elitennetzwerke.
Eine ausführlichere Analyse des Abfallwirtschaftssystems in Russland ist im IERP-Diskussionspapier der Autorinnen »Envi-
ronmental Politics in Authorita rian Regimes: Waste Mana gement in the Russian Regions« (https://media.suub.uni-bremen.de/
handle/elib/5929) zu lesen. Die Autorinnen bedanken sich bei Grigory Yakovlev f ür seine Unterstützung bei der Datenerhebung.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 27
»Fast noch mehr von der Realität abgekoppelt als Putin selbst«
Andrej Nekrassow (Moskau)
Wirtschaftswissenschaftler und Oppositionspolitiker Andrej Nekrassow ist in einem Post auf Facebook
wenig optimistisch, was ein Umdenken in Elite oder Gesellschaft angeht. Er argumentiert, dass die russi-
sche Armee immer noch bei weitem überlegen sei, und dass die russische Gesellschaft aufgrund der Propa-
ganda größtenteils fest hinter dem Präsidenten stehe. Außerdem habe Putin vor dem Krieg massive Geld-
reserven angehäuft. Insgesamt sei das russische Regime daher viel besser aufgestellt als etwa das von Kuba
oder Venezuela – die schon seit Jahren Sanktionen und Wirtschaftskrisen trotzen. »Wenn man das Tabakdo-
sen-Szenario ausschließt« [der russische Kaiser Paul wurde angeblich mit einer Tabakdose erschlagen], dann
gibt es für Nekrassow »nur schlechte oder ganz schlechte Szenarien«:
Ich sehe völlig unbegründete Euphorie und Siegesge-
wissheit. Angesichts der taktischen Fehler der russi-
schen Armee, des gescheiterten Blitzkriegs und der west-
lichen Sanktionen ist die Öffentlichkeit, die sich mit der
Ukraine solidarisiert (ob im Westen, in der russischen
Opposition oder in der Ukraine selbst), in Illusionen
versunken und hat sich fast noch mehr von der Reali-
tät abgekoppelt als Putin selbst.
Ich werde versuchen, ein wenig Realismus
einzustreuen.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Wirt
-
schaf tssanktionen in den nächsten Jahren in keiner Weise
die Stabilität des Putin-Regimes beeinflussen werden:
Den Russen wird es schlechter gehen. Die Wirtschaft
wird einbrechen. Aber das kümmert Putin nicht. Er hat
genug Geld für die Gehälter der Silowiki und für die
Waffenproduktion, um ein weiteres Jahrzehnt zu über-
stehen. Sogar für Ärzte und Lehrer wird etwas übrigblei-
ben. Für die Regimestabilität reichen jedoch die Silowik i.
Die Sanktionen wirken ausschließlich langfristig. Es
geht um Jahre und Jahrzehnte. Mittelfristig haben die
Sanktionen keine Auswirkungen auf die Fähigkeit Russ-
lands, eine aggressive Außenpolitik zu betreiben. […]
So oder so – Selensky wird kapitulieren. Wie diese
Kapitulation aussehen wird, spielt keine große Rolle,
wichtig ist, dass Putin sie als seinen Sieg darstellen wird
und dass das Regime sich dadurch nur stabilisiert. Ich
glaube, Putins [wirkliche] Forderungen sind ein neutraler
Status sowie die Anerkennung der LNR/DNR und der
Krim. Ich w ürde diesem Szenario 70 bis 80 Prozent geben.
Ich will niemanden zu irgendetwas auffordern, aber
wenn Selensky sich ohnehin für die eine oder andere Vari-
ante der Kapitulation entscheiden muss, dann besser frü-
her als später. Es würden weniger Menschen sterben. Die
Siegesgewissheit der Bevölkerung wird aber nicht zulassen,
dies frü her zu tun. Eine Kapitulation zu einem Zeitpunkt,
an dem die meisten Ukrainer glauben, sie würden gewin-
nen, würde aus Selensky eine politische Leiche machen.
Am Ende kommt es höchstwahrscheinlich zum selben
Ergebnis, allerdings mit viel mehr Toten auf beiden Seiten.
[…]
Die Realität hat gezeigt, dass die russische Wirtschaft
in den Jahren, in denen sie unter »schrecklichen Sank-
tionen« stand, nicht nur nicht zusammengebrochen ist,
sondern ihre Reserven um 250 Milliarden [US-Dollar]
erhöht, gleichzeitig ihre Auslandsverschuldung um mehr
als 250 Milliarden gesenkt hat und so weiter. Den Men-
schen ging es schlechter, das Wirtschaftswachstum lag
bei Null, es gab aber nicht mal annähernd eine Katastro-
phe, das System wurde nur stabiler. Heute ist eine Kata-
strophe noch unwahrscheinlicher. Die Konstruktion ist
zu stabil. Und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob
die Veränderung der äußeren Umstände zwischen 2021
und 2022 bedeutender ist als die zwischen 2013 und 2016.
Stand: 03.03.2022
Über den Autor
Andrej Nekrassow absolvierte das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) und erwarb
2008 einen MBA an der Higher School of Management der Higher School of Economics. Zudem arbeitete er 2009
in der Präsidialverwaltung der Russischen Föderation.
Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als lang fristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege
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tere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder für die Erlaubnis zum Nachdruck.
DEKODER
[RUSSLAND ENTSCHLÜSSELN]
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 28
DEKODER
Bystro #34: Können Sanktionen Putin stoppen?
Janis Kluge (Berlin)
Kein einziger Staat weltweit ist derzeit mit so vielen Sanktionen belegt wie Russland. Über 6.000 einzelne
Strafmaßnahmen – das sind mehr als gegenüber Iran und Nordkorea zusammen. Nun droht Russland der
Bankrott, für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist er nur eine Frage der Zeit.
Damit werden in Russland Erinnerungen an den Default des Jahres 1998 wach. Doch was bedeutet ein
Staatsbankrott wirklich? Könnte er den Krieg stoppen, Russland in die Knie zwingen? Oder würden die
Sanktionen dem System Putin womöglich gar in die Hände spielen? Ein Bystro mit Janis Kluge – in sieben
Fragen und Antworten.
1. Russland steht vor dem Bankrott. Was bedeutet das?
Russland wird seine Verpflichtungen aus Staatsschulden und Anleihen nicht erfüllen – das hat allerdings weniger mit
Russlands Zahlungsunfähigkeit, sondern vielmehr mit seiner Zahlungsunwilligkeit zu tun. Die russische Regierung
hat unilateral Regeln beschlossen, auf welche Weise sie diesen Verpflichtungen nachkommt: Sie will die zu entrich-
tenden Zinsen zunächst auf eine Art Sperrkonto zahlen – und zwar in Rubel und nicht, wie vereinbart, in US-Dollar.
Die vertragsgemäße Rückzahlung knüpft Russland an die Aufhebung von bestimmten Sanktionen: Die vom Westen
teilweise eingefrorenen russischen Zentralbankreserven in Fremdwährungen sollen wieder aufgetaut werden. Russ-
land verstößt also gegen die eigentlichen Vertragsgrundlagen und nimmt damit bewusst einen Default in Kauf: Einer-
seits will es damit politischen Druck aufbauen, damit seine eingefrorenen Finanzreserven (laut Finanzminister Anton
Siluanow geht es um etwa 300 Milliarden von insgesamt 640 Milliarden US-Dollar) wieder aufgetaut werden, ande-
rerseits will der Kreml den Abfluss von Devisen reduzieren. Insgesamt wäre Russland mit seinen Exporten von Ener-
gieträgern (die in US-Dollar gehandelt werden) aber bestens in der Lage, die Zinszahlungen zu bedienen.
Dass der Staat als zahlungsunfä hig eingestuft wird, hat aber zur Folge, dass auch russische Konzerne unter Umständen
als zahlungsunfähig gelten werden. Westliche Banken etwa, die russischen Unternehmen Kredite vergaben, müssten diese
Werte wegen des Defaults abschreiben oder Wertberichtigungen durchführen. Einzelne westliche Institute können dadurch
Probleme bekommen. Deshalb richten derzeit viele den Blick auf westliche Banken, die sich in Russland engagiert hatten.
2. Warum hat der Kreml seine Reserven eigentlich nicht vor dem Zugriff des Westens geschützt?
Ist es ein Hinweis darauf, dass der Krieg nicht von langer Hand geplant war?
Russland hat schon 2018 begonnen, seine Reserven zu diversifizieren. Die Dollar-Abhängigkeit sollte reduziert wer-
den: Was zuvor in US-Währung da war, wurde größtenteils in Euro, Yen oder das chinesische Renminbi umgeschich-
tet. Damals hat man aber offenbar nicht damit gerechnet, dass auch die Vermögenswerte in Yen und Euro eines Tage
eingefroren werden könnten. Vermutlich ist der Kreml auch zunächst nicht davon ausgegangen, dass der Krieg so blu-
tig und so umfassend werden würde und dass der Westen mit solch massiven Mitteln auf die Invasion reagiert. Aus
heutiger Sicht scheint es absurd, dass Russland viele Jahre lang gespart und etwa eine Rentenreform durchgeführt
hat, die politisch viel Kapital gekostet hat – all das, um eine Reserve aufzubauen, an die es heute nur teilweise dran-
kommt: Geld, das für Krisenzeiten da sein sollte, ist jetzt schlicht nutzlos. Die Zentralbank hat sich da also eindeutig
verkalkuliert. Da die wirtschafts- und finanzpolitische Elite des Landes offensichtlich nicht in die Kriegspläne einge-
weiht war, ist es aber schwierig, ihr die Schuld dafür zuzuschieben.
3. Einige Beobachter sagen, dass die Reserven noch hoch genug seien, um mittelfristig auch den
bisherigen Sanktionen gegen Russland trotzen zu können. Andere betonen, dass gegen Russ-
land weitaus mehr Sanktionen verhängt worden sind als gegen den Iran, Nordkorea oder
Venezuela. Das System Putin stehe also vor dem Kollaps. Was ist richtig?
Die Anzahl der Sanktionen sagt nicht viel über deren Härte aus. Der Iran ist heute immer noch härter sanktioniert
als Russland. Bei der Verhängung von Sanktionen geht es um die Fragen, wie schnell sie wirken und wie viel Angriffs-
fläche es gibt. Wegen der enormen Abhängigkeit von der westlichen Technologie bietet Russland in der Tat sehr viel
Angriffsfläche. Auch in Finanzfragen bietet Russland viel Angriffsfläche, weil es so gut in das globale Finanzsystem
integriert war. Die Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage verhängt. Deshalb ist es eine historische Situation:
Noch nie wurde ein so großes Land innerhalb so kurzer Zeit so massiv mit Sanktionen belegt. Bei dieser Konstella-
tion gibt es viele Variablen, weshalb nicht klar ist, wie es weitergeht.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 29
Solange Russland allerdings Öl und Gas exportieren kann, wird es immer genügend Deviseneinnahmen haben.
Hinzu kommt, dass die russische Zentralbank den Devisenabfluss aus dem Land massiv eingeschränkt hat: Ausländi-
sche Investoren etwa dürfen ihre Vermögenswerte in Russland derzeit nicht verkaufen. Außerdem importiert Russland
nun kaum noch etwas und Menschen aus Russland können derzeit fast keinen Urlaub im Ausland machen. Der Devi-
senabfluss ist somit vermutlich relativ gering, genaue Zahlen dazu gibt es noch nicht. Der Devisenzufluss dürfte aber
immer noch hoch sein, angesichts hoher Gas- und Ölpreise. Aus diesen Gründen kann man Russland nur bedingt mit
dem Iran oder Nordkorea vergleichen. Es wird zwar eine massive Wirtschaftskrise in Russland geben, diese wird aber
einen ganz anderen Charakter haben als in den Staaten, die man an den Rand der Zahlungsunfähigkeit schubsen kann.
Nur eine massive Reduzierung der Deviseneinnahmen aus dem Energieexport kann Russland ernsthaft gefährden.
4. Der Rubel ist im Zuge der Sanktionen abgestürzt, der Ölpreis ist gestiegen. Da der Staats-
haushalt in Rubel gerechnet wird, der Ölpreis aber in US-Dollar, hat der Staat derzeit mehr
Einnahmen. Einnahmen, mit denen er auch den Krieg finanzieren kann. Wäre es allein aus
diesem Grund nicht naheliegend, ein Öl- und Gasembargo gegen Russland zu verhängen, um
den Krieg zu beenden?
Die derzeit im Krieg eingesetzte Militärtechnik ist ja schon etwas älter. Wenn man so will, haben wir diese Technik –
und diesen Krieg – in den vergangenen Jahren vorfinanziert, als wir Öl und Gas aus Russland kauften. Der föderale
russische Staatshaushalt, der für das Militär verantwortlich ist, speist sich zu einem großen Teil direkt und indirekt
aus den Exporten von Energieträgern.
Alles, was wir jetzt in diese Richtung tun würden, würde Russlands Fähigkeit, diesen Krieg weiterzuführen, nicht
signifikant einschränken. Mit Sanktionen können wir den russischen Vormarsch in der Ukraine nicht stoppen. Wir
können damit nur den Druck auf das System Putin erhöhen, damit es den Krieg selber stoppt. Mittel- bis langfristig
können wir durch Sanktionen außerdem die militärischen Möglichkeiten Russlands in künftig denkbaren Kriegen
oder militärischen Konflikten einschränken.
5. Laut Zentralbank soll die Inflation 2022 auf 20 Prozent klettern. Manche Analysten prognos-
tizieren Schlimmeres: Sanktionen, so heißt es, können Massenarmut hervorrufen, Menschen
auf die Straße treiben und zum Umsturz animieren. Können Sanktionen in solcher Weise die
Regimestabilität gefährden?
Das Kalkül hinter so einem Denkschema ist ja, dass man durch Sanktionen eine zweite Front aufmacht – eine innen-
politische. Da gibt es zwei Argumente: »Rally ‘round the flag« – das Volk stellt sich hinter den Präsidenten – oder die
Menschen beschuldigen die Machthaber für die wirtschaftlichen Probleme. Ich bin ein Anhänger der zweiten ese.
Die Erfahrung aus den Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 zeigen, dass es für die Machthaber opportun schien,
die Wirkungen der Strafmaßnahmen kleinzureden. Putin muss aus der Position der Stärke reden, wesentliche Wir-
kungen von Sanktionen auf die Wirtschaft zuzugeben hieße da ein Eingeständnis von Schwäche. In der Staatspro-
paganda wird berichtet werden, dass die Sanktionen zwar lästig sind, aber eigentlich kein großes Problem. Vor die-
sem Hintergrund dürfte sich aber bei den Menschen in Russland eine Diskrepanz auftun: Das Realeinkommen fällt
ja schon kontinuierlich seit 2014, 2022 droht aber noch eine weitaus höhere Inflation als bei der optimistischen Prog-
nose der Zentralbank. Eine hohe Arbeitslosenquote ist zudem nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wie in vergan-
genen Jahren. Und damit auch fortschreitende Armut. Wenn den Menschen dann im Fernsehen etwas von der Wir-
kungslosigkeit westlicher Sanktionen erzählt wird, könnte sie das durchaus verärgern. Im berüchtigten russischen
Bild vom Kampf des Fernsehens gegen den Kühlschrank könnte die Schere noch größer werden. Dass die Menschen
ihre Verarmung aber nicht mit Sanktionen in Kausalzusammenhang stellen, sondern eher mit »denen da oben« – das
könnte den Effekt der »Rally 'round the flag« reduzieren und für die Machthaber langfristig zum Problem werden.
6. Oft heißt es, dass die westlichen Sanktionen vor allem die Ärmsten in Russland treffen: durch
Inflation würden sie noch ärmer. Ist das so, treffen Sanktionen am Ende die Falschen?
Nein, die Sanktionen werden in erster Linie die Menschen treffen, die westliche Güter kaufen und mehr ins Ausland
verreisen. Diese Menschen erfahren die höchsten Einbußen in puncto Lebensstandard. Im Gegensatz zu den voran-
gegangenen sanktionsbedingten Krisen kann es diesmal aber zu mehr Arbeitslosigkeit kommen: Da der Westen nun
den Export von Technologiegütern größtenteils gesperrt hat, können einige russische Fabriken nicht mehr produzie-
ren. Eine Zeit lang kann es zwar funktionieren, dass der Staat etwa die Lohnausfälle kompensiert, wie lange er das aber
im großen Stil machen kann, ist fraglich. Die Sozialleistungen werden derzeit zwar erhöht, sie bringen aber wohl nur
den Ärmeren in kleineren Städten und Dörfern etwas. Die urbane Mittelschicht dürfte damit zu den größten Opfern
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 30
der Wirtschaftskrise werden. Dabei waren Konsum westlicher Produkte und Reisen in den Westen eine Art integra-
ler Bestandteil des Systems Putin. Derzeit ist noch nicht klar, ob es sich von nun an nur noch auf Repressionen stützt,
in der bisherigen Form ist das Modell heute allerdings nicht mehr denkbar.
7. Sanktionen würden Russland nur stärker machen, behauptet Putin. Sein Kalkül: Die Importe
sollen substituiert werden, durch Autarkie (und niedrigen Rubelkurs) könne sich Russland
selbst mit allem versorgen, die russische Wirtschaft könne gar international konkurrenzfähi-
ger werden. Ist an dieser ese etwas dran?
Keine Volkswirtschaft kann heute Güter auf dem Stand der Technik alleine produzieren, nicht einmal die USA. Das
sieht man beispielsweise am Flugzeugbau und in der IT-Branche: Die Einzelteile und das Knowhow kommen hier
aus der ganzen Welt zusammen. Ohne Spezialisierung und Arbeitsteilung auf internationaler Ebene lassen sich auch
solche Dinge wie Mikrochips nicht produzieren. Das heißt: Russland kann diese Dinge gar nicht replizieren, weil es
eine kleine Volkswirtschaft ist und keine Erfahrung darin hat. Vor diesem Hintergrund haben die verhängten Sank-
tionen zur Folge, dass Russlands Wirtschaft schlicht primitiver wird und sich mehr und mehr in Richtung Petrostaat
entwickeln wird.
Seit dem 2014 proklamierten Kurs der Importsubstitution gab es in den russischen Staatsmedien häufig Erfolgs-
meldungen: Russland, so hieß es, habe bei dem und dem Produkt 80, 90, 95 Prozent der Importe substituiert. Wenn
aber auch nur ein Prozent des Produkts importiert werden muss, es durch Sanktionen aber nicht geht, dann wird es
dieses Produkt in Russland schlicht nicht geben.
Ich bin überzeugt, dass Putin die russische Wirtschaft für viel autarker hält als sie eigentlich ist. Er unterschätzt
die Abhängigkeit vom Ausland. Aus diesem Grund glaube ich, dass die russische Führung es derzeit überhaupt nicht
überblickt, wie tiefgreifend die kommende Wirtschaftskrise sein wird.
Stand: 17.03.2022
Über den Autor
Janis Kluge ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er arbeitet in der For-
schungsgruppe Osteuropa und Eurasien zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands und den angrenzenden Nach-
barstaaten, zur Innenpolitik Russlands und zu Wirtschaftssanktionen. Zuvor promovierte er an der Wirtschaftsfakul-
tät der Universität Witten/Herdecke über politische Risiken für ausländische Investoren, die informelle Wirtschaft in
Russland und die Nutzung westlicher Rechtssysteme durch russische Unternehmen.
Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als lang fristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege
möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine brei-
tere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder für die Erlaubnis zum Nachdruck.
[RUSSLAND ENTSCHLÜSSELN]
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 31
CHRONIK
23. – 29. Mai 2022
23.05.2022 Das Bezirksgericht Solomjanskij in Kyjiw verurteilt den 21-jährigen russischen Soldaten Wadim Schischimarin
wegen Mordes an einem ukrainischen 62-jährigen Zivilisten in der ukrainischen Region Sumy zu lebenslanger
Haft. Der Kriegsverbrecherprozess ist der erste seiner Art im russischen Krieg gegen die Ukraine. Der Soldat
hatte die Tat vor Gericht eingeräumt. Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin,
teilt darauf mit, man werde versuchen, ihm zu helfen und dass man »besorgt« sei um das Schicksal des Mannes.
23.05.2022 Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor geht gegen das Internetmedium »e New Times« und
deren Chefredakteurin Jewgenija Albaz vor. Grund sei die Verbreitung falscher Informationen über Russlands
Vorgehen in der Ukra ine, teilt die staat liche Nachrichtenagentur Interf ax mit, es seien mehrere Protokol le erstellt
worden, eine Geldstrafe könne drohen. Schon früher war gegen das Medium eine Strafe verhängt worden.
23.05.2022
Der russische Präsident Wladimir Putin trifft sich in der südrussischen Stadt Sotschi am Schwarzen Meer
knapp fünf Stunden lang mit dem belarusischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka. Putin erklärt darauf-
hin, Russland gehe mit den aktuellen Sanktionen souverän um. Unter anderem sei man im Handel zu natio-
nalen Währungen übergegangen. Lukaschenka bezichtigt den Westen, die West-Ukraine abtrennen zu wollen
und ähnliche Pläne auch für Belarus zu verfolgen.
23.05.2022 Polen kündigt das Erdgas-Abkommen mit Russland über die Leitung »Jamal-Europa«. Als Grund nennt die
polnische Klimaministerin Anna Moskwa auf Twitter den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Anfang Mai
hatte die Russische Föderation Sanktionen gegen das polnische Unternehmen »EuRoPol GAZ« verhängt, das
den polnischen Teil der Pipeline betreibt. Das litau ische Energieministerium teilt ebenfalls mit, dass der Import
von russischem Strom gestoppt sei. Dies gelte seit dem 22. Mai 2022. Litauen strebt demnach wegen des K riegs
in der Ukraine wirtschaftliche Unabhängig von Russland an.
23.05.2022
Der US-amerika nische Kaffe ekonzern Starbuck s zieht sich vollends aus Rus sland zurück und kündig t an, 2.000
Mitarbeiter:innen für sechs Monate bei der Arbeitssuche und finanziell zu unterstützen. Das Unternehmen
hatte im März den Betrieb in Russland eingestellt und als Grund den Krieg in der Ukraine genannt. Starbucks
betrieb zuletzt 130 Filialen in Russland. Auch der US-amerikanische Bekleidungshersteller Levi’s & Strauss
kündigt an, nach einem früheren Investitionsstopp vollständig Russland zu verlassen.
23.05.2022
Die deutsche »Heinrich-Böll-Stiftung« wird in Russland als »unerwünscht« erklärt. Die russische General-
staatsanwaltschaft begründet die Entscheidung damit, dass die Nichtregierungsorganisation »eine Bedrohung«
für die Ordnung und Sicherheit in Russland darstelle. Die Stiftung engagiert sich in Projekten der Zivilgesell-
schaft und politischen Bildung.
23.05.2022
Der Gouverneur der westr ussischen Oblast B elgorod Wjatscheslaw Gl adkow teilt mit, das s mehr als 130 Gebäude
in den Orten Netschaewka und Shurawljowka nach ukrainischen Angriffen wieder aufgebaut werden müssten.
23.05.2022 Das Twerskoj-Gericht in Moskau weist eine Klage des Fernsehsenders »Doshd« ab. Der Sender, der als »auslän-
discher Agent« eingestuft worden war, hatte die Entscheidung der russischen Generalstaatsanwaltschaft ange-
fochten, den Zugang zum Sender einzuschränken.
23.05.2022 Das russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor verschärft wegen auftretender Fälle der Affenpo-
cken die Grenzkontrollen und teilt mit, dass in Russland jedoch noch keine Fälle bekannt geworden seien.
23.05.2022 Russland zieht seine Bewerbung für die Ausstellung »Expo 2030« in Moskau zurück. Als Grund teilt das rus-
sische Außenministerium mit, dass man derzeit nicht mit einem fairen Wettbewerb rechne.
23.05.2022 Der stellvertretende russische Außenmin ister Andrej Rudenko teilt mit, Russland werde weiter mit der Ukraine
verhandeln, sobald diese auf die von Russland vorgelegten Schreiben »konstruktiv« reagiere. Der Kreml und die
ukrainische Regierung werfen einander vor, Verhandlungen zur Lage in der Ukraine zu sabotieren.
23.05.2022 Die Zahlungsausfä lle in der russischen Wirtschaft bleiben trotz der sich verschlechternden Marktbedingungen
auf dem Niveau von 2021. Das teilt die staatliche Nachrichtenagentur Interfax mit und beruft sich auf Daten
des Programms »Spark-Interfax«.
23.05.2022 Der russische Diplomat am UN-Sitz in Genf, Boris Bondarew, tritt zurück und begründet dies mit Russlands
Krieg in der Ukraine und dass er sich für sein Land »schäme«. Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsi-
denten Wladimir Putin, teilt am Tag darauf mit, Bondarew sei jetzt »nicht mehr für uns, sondern gegen uns«.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 32
24.05.2022 Um den Rubelkurs zu stabilisieren, legt das russische Finanzministerium fest, dass die Höhe des verpflichten-
den Verkaufs von Deviseneinnahmen durch russische Exporteure von 80 Prozent auf 50 Prozent gesenkt wird.
Die USA erklären eine Sonderregelung für ungültig, wonach Moskau Auslandsschulden US-amerikanischer
Investoren mit in Russland gehaltenen Mitteln zahlen kann. Russland erklärt am Tag darauf, seine Auslands-
schulden künftig in Rubel begleichen zu wollen. Zahlungen würden »in der russischen Landeswährung getä-
tigt«, erklärt das Finanzministerium per Telegram. Grund dafür sei, dass die USA eine entsprechende Ausnah-
meregelung zur Schuldenbegleichung gestrichen hätten. Das mache es »unmöglich, die Staatsschulden weiter
in Dollar zu begleichen«.
24.05.2022 Der inhaftierte russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj scheitert mit einem Berufungsersuchen gegen
seine Haf tstrafe und w ird in eine Straf kolonie mit verschärf ten Haftbedingun gen verlegt. Nawalnyj w ar im März
wegen des Vorwurfs der Veruntreuung sowie Missachtung des Gerichts zu neun Jahren Haft verurteilt worden.
24.05.2022 Russland verschärft die Offensive in der Ostukraine und greift unter anderem erneut das Gebiet um die Zwil-
lingsstädte Sjewjerodonezk und Lysytschansk im Donbass an und erobert die Kleinstadt Switlodarsk.
24.05.2022
Russland verhängt ein Einreiseverbot gegen 154 Mitglieder des britischen Oberhauses. Betroffen ist unter
anderen der frühere britische Außenminister William Hague. Laut Außenministerium in Moskau ist dies eine
Reaktion auf die Entscheidung der britischen Regierung vom März, fast alle Mitglieder des Föderationsrates,
des russischen Oberhauses, mit Sanktionen zu belegen.
24.05.2022 Der russische Bildungsminister Walerij Falkow teilt mit, dass Russland ein neues Bildungssystem bekomme
und das Bologna-System mit Bachelor- und Master-Abschlüssen schrittweise abschaffen werde. Dies diene den
nationalen Wirtschaftsinteressen sowie denen der Studierenden. Der Internetplattform Yandex zufolge ist der
Änderungsprozess bereits ema in der Duma und alle Fraktionen hätten zugestimmt.
25.05.2022 Der russische Präsident Wladimir Putin kündigt angesichts von steigenden Lebenshaltungskosten eine Steige-
rung des Mindestlohns in Russland um 10 Prozent auf 15.278 Rubel im Monat (etwa 229 Euro) an.
25.05.2022
Moskau stel lt die Durchsetzung von Bußgeldern ein, die bei Verstößen gegen Rege ln zur Bekämpf ung von Covid-
19 verhängt werden. Das kündigt Bürgermeister Sergej Sobjanin an. Das geschehe, um sinkende Einkommen
angesichts steigender Inflation und wirt schaftlicher Folgen des russischen Vorgehens in der Ukraine zu stützen.
25.05.2022 Der Krieg in der Ukraine hat für russische Oligarchen laut der Deutschen Presse-Agentur erhebliche finan-
zielle Folgen. Demnach sei inzwischen entsprechendes Vermögen im Wert von zehn Milliarden Euro in der
Europäischen Union eingefroren worden.
25.05.2022 Wladimir Putin unterzeichnet einen Erlass, wonach Menschen in den südukrainischen Gebieten Cherson und
Saporischschja im Schnellverfahren russische Pässe beantragen können. Diese Praxis war zuvor auch in den
ostukrainischen, prorussischen selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk umgesetzt worden.
25.05.2022 Drei Monate nach Kriegsbeginn ordnet der russische Präsident Wladimir Putin einen höheren Wehrsold für
in der Ukraine kämpfende russische Soldaten an. Am selben Tag besucht er erstmals Soldaten, die im Krieg
gegen die Ukraine verwundet wurden.
25.05.2022
Der Gouverneur der russischen Grenzre gion Belgorod Wjatschesl aw Gladkow wirf t der Ukraine erneut B eschuss
vor. Im Dorf Shurawljowka sei ein Mann verletzt worden, schreibt er im Nachrichtendienst Telegram.
25.05.2022
Wladimir Putin ernennt den früheren Geheimdienstoffizier Alexandr Kurenkow zum neuen Minister für
Zivilschutz. Kurenkow war zuletzt unter anderem stellvertretender Direktor der Nationalgarde »Rosgwardia«.
25.05.2022 Das russische Verteidigungsministerium teilt mit, dass der Hafen von Mariupol wieder normal arbeite – zivile
Schiffe steuerten den Hafen wieder an, die Gefahr durch Seeminen sei gebannt.
26.05.2022 115 russische Nationalgardisten im Nordkaukasus verweigern den Einsatz im Krieg gegen die Ukraine und
kehren in ihre Kasernen zurück. Darauf werden ihre Verträge gekündigt. Im südrussischen Gebiet Krasnodar
verlieren auf ähnliche Weise 15 Angehörige der Sonder-Polizeieinheit »OMON« ihre Arbeit. Sie hatten sich
nach einer Übung auf der durch Russland von der Ukraine annektierten Halbinsel Krim gegen Einsätze im
Krieg gegen die Ukraine geweigert.
26.05.2022 Die Russische Notenbank senkt erneut deutlich den Leitzins. Die Lockerung erfolgt trotz der anhaltenden
Sanktionen gegen das Land. Der Leitzins werde um 3,0 Prozentpunkte auf 11,0 Prozent reduziert, teilt die
Bank in Moskau mit. Ende Februar hatte die Notenbank den Leitzins drastisch um 10,5 Punkte auf 20 Pro-
zent angehoben. Sie reagierte damit auf die Sanktionen des Westens, die nach dem Beginn des Kriegs gegen
die Ukraine beschlossen wurden.
26.05.2022 Der russische Vize-Ministerpräsident Alexandr Nowak teilt mit, dass für 2022 mit einem Rückgang der Ölpro-
duktion um 8,4 Prozent gerechnet wird. Nach 524 Millionen Tonnen im Jahr 2021 würden 2022 480 bis
500 Millionen Tonnen produziert werden.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 33
26.05.2022 Der russische Präsident Wladimir Putin fordert erneut die Aufhebung westlicher Sanktionen. Bei einem Tele-
fonat mit dem italienischen Regierungschef Mario Draghi sagt er, dass Russland im Austausch dafür bereit sei,
dazu beizutragen, die Lebensmittelkrise zu überwinden. Kurz zuvor hatte auch Kremlsprecher Dmitrij Peskow
so argumentiert. Russland und die Ukraine sind große Getreideexporteure mit einer wichtigen Rolle für die
Welternährung. Die Ukraine hatte Russland Erpressung vorgeworfen und angegeben, Russland blockiere den
Export durch die Schwarzmeer-Häfen mit Minen und Kriegsschiffen.
26.05.2022 Der Gouverneur der westrussischen Oblast Kursk Roman Starowoit wirft der Ukraine Angriffe vor. Ein Mann
sei im Dorf Woroshba verletzt, mehrere Gebäude beschädigt worden. Am Tag darauf teilt der Gouverneur der
westrussischen Oblast Belgorod Wjatscheslaw Gladkow mit, dass eine Frau infolge von ukrainischen Angrif-
fen in der Oblast getötet worden sei.
26.05.2022 Der russische Außenminister Sergej Lawrow lehnt einen von Italien vorgelegten Friedensplan für die Ukraine
ab. Zuvor hatte sein Stellvertreter Andrej Rudenko mitgeteilt, der Vorschlag werde geprüft. Unterdessen ent-
zieht Italien dem russischen Ministerpräsidenten Michail Mischustin und drei weiteren hochrangigen Politi-
kern ihre Ehrentitel, die diese 2020 erhalten hatten. Sie verdienten sie nicht mehr, teilt der italienische Präsi-
dent Sergio Mattarella mit.
27.05.2022
Russla nd weist fünf Mitarbeiter der k roatischen Botsch aft in Moskau au s. Das russisc he Außenministerium teilt
mit, dass fünf Mitarbeitende zu Personae non gratae erklärt worden seien und erklärt dies damit, dass Kroatien
zuvor russi sche Diplomat:innen ausgew iesen und Russland der Krieg sverbrechen in der Ukr aine beschuldig t habe.
27.05.2022 Russlands Zentralbank erlaubt russischen Bürgern den Kauf von Aktien von Unternehmen aus Ländern, die
als »freundlich« eingestuft werden. Voraussetzung sei, dass die Transaktionen in Rubel stattfänden oder in der
Währung des jeweiligen Landes, teilt die Notenbank mit. Russland bezeichnet üblicherweise Länder dann als
»unfreundlich«, wenn sie Sanktionen verhängt haben.
27.05.2022 Die Slowakei verringert ihre Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Das geben der slowakische Minis-
terpräsident Eduard Heger und Wirtschaftsminister Richard Sulik bekannt. Dafür will das Land ab Juni 2022
eine mit EU-Förderungen gebaute Leitung nutzen, um Gas aus Norwegen und Übersee zu beziehen; außerdem
soll Flüssiggas mittels Tankern über die Ostsee und Polen in die Slowakei kommen.
27.05.2022 Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow bestätigt russische Angriffe auf
die ostukrainischen Gebiete Charkiw und Luhansk. Am Folgetag melden ukrainische Behörden, dass in ein-
genommenen Gebieten wie Cherson die Moskauer Zeit und Schullehrpläne eingeführt sowie russische Nach-
richten ausgestrahlt würden.
27.05.2022 Dmitrij Peskow, Sprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin, macht die Ukraine wegen unklarer Aus-
sagen für die stockenden Friedensverhandlungen verantwortlich.
27.05.2022 Der ru ssische Landwirtschaft sminister Dmitrij Patruschew teilt mit, dass Russland seine Getreideexporte deut-
lich steigern werde. In diesem Getreidejahr habe Russland mehr als 35 Millionen Tonnen ausgeführt, darunter
28,5 Millionen Tonnen Weizen, sagt er auf einer Getreidemesse. Bis Ende des Getreidejahrs Ende Juni 2022
werde das Volumen 37 Millionen Tonnen übersteigen. Im kommenden Getreidejahr auf 50 Millionen Ton-
nen wachsen.
27.05.2022 In der ostrussischen Region Primorje kritisieren Abgeordnete der Kommunistischen Partei KPRF öffentlich
den russischen Militäreinsatz in der Ukraine. Leonid Wasjukewitsch und Gennadij Tschulga fordern während
einer Sitzung des Regionalparlaments ein Ende der Offensive und verlieren darauf ihr Stimmrecht für den Sit-
zungstag. Es ist das erste Mal, dass sich Abgeordnete der Kommunistischen Partei öffentlich derart äußern.
28.05.2022 Der russische Präsident Wladimir Putin, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsi-
dent Emmanuel Macron führen ein etwa 80-minütiges Telefonat zur Situation der Ukraine. Putin warnt vor
der Lieferung schwerer Waffen aus dem Westen an die Ukraine, da dieses die Lage weiter destabilisieren könne.
Er stellt erneut in Aussicht, die Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine zu ermöglichen. Dafür müssten Sanktio-
nen gelockert werden. Scholz und Macron drängen Putin zu einem sofortigen Kriegsende. Am Tag zuvor hatte
bereits der russische Außenminister Sergej Lawrow den Westen davor gewarnt, schwere Waffen an die Ukraine
zu liefern. Unterdessen fordert der i m Exil lebende Oppositionel le Michail Chodorkowskij eine solche Lieferung.
28.05.2022 Russland meldet die Einnahme der strategisch als wichtig geltenden Kleinstadt Lyman im Osten der Ukraine.
Zuvor hatten prorussische Separatisten die Eroberung verkündet. Unterdessen geht der russische Vormarsch
in der Stadt Sjewjerodonezk weiter. Die Stadt in der Ostukraine ist die bislang letzte noch nicht von den rus-
sischen Streitkräften besetzte Stadt in der Oblast Luhansk.
28.05.2022 Das russische Verteidigungsministerium teilt mit, dass ein Hyperschallmarschflugkörper erfolgreich getestet
worden und von der Barentssee in das etwa 1.000 Kilometer entfernte Weiße Meer geflogen sei.
Russland-Analysen Nr. 421, 20.06.2022 34
28.05.2022 Der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnet einen Erlass, wonach die Altersobergrenze für Solda-
ten aufgehoben wird. Zuvor hatten das russische Parlament und der Föderationsrat das Gesetz gebilligt. Män-
ner und Frauen dürfen nun auch älter als 40 Jahre sein, wenn sie sich vertraglich für den Dienst in der Armee
verpflichten.
28.05.2022 Der russische Finanzminister Anton Siluanow teilt im russischen Staatsfernsehen mit, Russland erwarte in
diesem Jahr Mehr-Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport in Höhe von bis zu einer Billion Rubel (etwa 13,7
Milliarden Euro). Die Regierung wolle die zusätzlichen Gelder unter anderem für den – in Russland »Spezial-
operation« genannten – Krieg in der Ukraine verwenden, aber auch für Renten. Russland erzielt derzeit wegen
des sehr hohen Gaspreises Rekordeinnahmen.
29.05.2022 Der russische Präsident Wladimir Putin und der serbische Präsident A leksandar Vučić telefonieren zum ema
Energielieferungen. Demnach erhält Serbien statt für weitere Monate nun drei Jahre la ng weiter russisches Gas.
Nach Belarus erhält Serbien von Russland europaweit den zweitniedrigsten Gaspreis.
29.05.2022 Der russische Botschafter in London Andrei Kelin streitet ab, dass Angehörige der russischen Streitkräfte im
ukra inischen Dorf Butscha nahe der Hauptstadt Kyjiw Menschen getötet haben. Dort sei »nichts passiert, keine
Leichen auf den Straßen. Unserer Ansicht nach ist das eine Erfindung«, sagt er. In dem Vorort waren nach
Abzug der russischen Armee im April 2022 Hunderte Leichen gefunden worden.
29.05.2022 Der Präsident der orthodox geprägten Konferenz der Europäischen Rabbiner, Moskaus Oberrabbiner Pinchas
Goldschmidt, verurteilt den Krieg in der Ukraine als eine »Katastrophe für uns alle«.
29.05.2022 Die russische Nachrichtenagentur »Tass« meldet, dass die russische Armee ein großes Arsenal der ukrainischen
Armee im südukrainischen Kr ywyj R ih zerstört habe. Wenige Tage zuvor meldete das russische Verteidigungs-
ministerium einen ähnlichen Beschuss im Donbass.
29.05.2022 Weil der Sohn der britischen Parlamentsabgeordneten und Ex-Ministerin Helen Grant in der Ukraine gegen
das russische Militär kämpft, ermittelt die Moskauer Justiz gegen Ben Grant. Er soll mit einer Gruppe westli-
cher Söldner russische Militärtechnik in der Ukraine attackiert haben. In Russland kann Söldnertum mit bis
zu sieben Jahren Gefängnis geahndet werden.
29.05.2022 Die russische zivile Luftfahrtbehörde »Rosawiazija« teilt mit, dass wegen des K riegs in der Ukraine die Flug ver-
bote im Süden des Landes erneut verlängert werden. Elf Flughäfen bleiben bis zum 6. Juni 2022 gesperrt. Es ist
die 16. Verlängerung der Flugverbote. Wenige Tage zuvor war die 15. Verlängerung mitgeteilt worden. Betrof-
fen sind unter anderem die Millionenstädte Rostow-am-Don, Woronesch und Krasnodar sowie die Schwarz-
meer-Kurorte Anapa und Gelendschik und die westrussischen Städte Belgorod und Brjansk.
Die Chronik wird zeitnah erstellt und basiert ausschließlich auf im Internet frei zugänglichen Quellen. Die Redaktion der Russland-
Analysen kann keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben übernehmen.
Zusammengestellt von Clara Lipkowski
Sie können die gesamte Chronik seit 2003 (zusätzlich gibt es eine Kurzchronik für die Sowjetunion ab 1964 bzw. Russland ab 1992)
auch auf http://www.laender-analysen.de/russland/ unter dem Link »Chronik« lesen.
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Herausgeber:
Forschungsste lle Osteuropa an der Universität Bremen
Deutsche G esellschaft für Os teuropakunde e.V.
Deutsches Polen-Institut
Leibniz-Institut für Agrarent wicklung in Transformationsökonomien
Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung
Zentrum für Osteuropa- und inter nationale Studien (ZOiS) gGmbH
Redaktion:
Dr. Fabian Burkhardt (verantwortlich)
Assistenz: Flor ian Kübler
Chronik: Clara Lipkowski
Satz: Matt hias Neumann
Wissenschaftlicher Beirat:
Dr. Sabine Fischer, Stift ung Wissenschaft und Polit ik, Berlin
PD Dr. habil. Linde Götz, Leibniz-Institut fü r Agrarentwicklung in Transformationsökonomien
Prof. Dr. Alexander Libman, Freie Unive rsität Berlin
Prof. Dr. Jeronim Perović, Universität Zürich
Dr. Cindy Wittke, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
Die Meinungen, die in den Russland-Analysen geäußert werden, geben ausschließlich die Auassung der Autoren wieder.
Abdruck un d sonstige publiz istische Nut zung sind nach Rücks prache mit der Redak tion gestat tet.
Russland-Analysen-Layout: Cengiz Kibaroglu, Matthias Neumann und Michael Clemens
Alle Ausgaben der Russland-Analysen sind mit Themen- und Autorenindex archivier t unter www.laender-analysen.de
Die Russland- Analysen werden im Rahm en eines Lizenzver trages in das Inte rnetangebot der Bu ndeszentrale f ür politische Bildu ng (www.bpb.de) aufgenom men.
ISSN 1613-3390 © 2022 by Forschungss telle Osteuropa an de r Universität Breme n
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