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8 Beständige Kopplungen.
NaturenKulturen aktueller
Rassizierungen
Tino Plümecke1, Katharina Schramm
“[R]ace is neither fact nor ction, but rather a matter of doing.”
(M’charek 2 0 05, 161)
«‹Rassen› gibt es nicht!» Diesen Satz haben wohl alle, die sich mit Rassismus
beschäftigen, so oder ähnlich bereits einmal gehört oder gelesen, und viele
dürften ihn auch schon selbst einmal geäussert haben, um sich damit gegen
ein biologisches Verständnis zur Einteilung von Menschen nach Herkunft
und Hautfarbe abzugrenzen. Oft wird dabei auf die Autorität naturwissen-
schaftlicher Expertise rekurriert, wenn beispielsweise angeführt wird, dass
«es keine ‹Rassen› gibt» (Arndt 2011, 660), dass «Rassen […] keine biologi-
schen Tatsachen» seien, es «keine wissenschaftliche Basis für die Einteilung
der Menschheit in Rassen» gebe (Degele 2008, 96) bzw. dass «‹Rassen› […]
keine biologische Realität» hätten (El-Tayeb 2005, 7).2 Solche Aussagen sind
wichtig, um gegen Versuche vorzugehen, soziale Ungleichheit, Ausbeutung
und Rassismus mit biologischen Dierenzierungen zu rechtfertigen. «Rasse»
erscheint in derlei Äusserungen aber über wiegend als anachronist ische Fiktion
sowie als Produkt pseudowissenschaftlicher Verirrungen, denen in aufkläre-
rischer Manier– so die Honung– die Faktizität neuester wissenschaftlicher
Erkenntnisse entgegenzusetzen sei. Doch die häuge Wiederholung dieser
Aussagen hat bis heute weder biologische Rassizierungen abgeschat,
1 Der Beitrag entstand im Rahmen des vom deutschen Bundesministerium für
Bildung und Forschung geförderten Projekts “Human Diversity in the New Life
Sciences: Social and Scientic Eects of Biological Dierentiations” (Förderkenn-
zeichen 01GP1790). Die Forschung von Kat harina Schra mm wurde im Rahmen des
Exzel lenzclusters «A frica Multiple» an der Universität Bayreuth durch die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert – EXC 2052/1 – 390713894.
2 Die hier gewählten Zitate sind lediglich beispielgebend und nden sich so oder
ähnlich in einer Vielzahl von Publikationen.
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noch Rassismus beendet. Zudem wird zumeist übersehen, dass dadurch die
Biologie und insbesondere die Bedingungen und Praktiken biologischer
Wissensproduktion der kritischen Betrachtung entzogen werden, wodurch
wichtige Aspekte des Problems Rasse3 aus dem Blick geraten.
Um aber dem Ziel einer Bekämpfung von Rassismus näher zu kommen,
ist es unseres Erachtens erforderlich, gerade die Beharrlichkeit und stetige
Erneuerung rassizierender Konstrukte in den Blick zu nehmen. Hierzu
genügt es nicht, Rasse als Fiktion herauszustellen, sondern es gilt zu zeigen,
wie Rassizierungen und damit auch die Dierenzkategorie Rasse selbst in
heterogenen Praktiken überhaupt hervorgebracht und wirkmächtig werden.
Eine Analyse dieser Prozesse muss deshalb historische und gegenwärtige
Formen der biologischen Wissensproduktion ebenso berücksichtigen wie die
Spezika der Herstellung, Darstellung und Produktivität von rassizierter
Dierenz in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen.
In diesem Beitrag richten wir besondere Aufmerksamkeit auf biologische
Aspekte von Rassizierungen, wie sie in gegenwärtigen naturwissenschaftli-
chen Diskursen um mensch liche Diversität auch in der Schweiz relevant sind.
Dabei plädieren wir nicht lediglich dafür, «das Biologische» wieder stärker
ins Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken, sondern gehen überdies von
einer prinzipiell unentwirrbaren und beständigen Verkopplung zwischen
Sozialem und Biologischem in zeitgenössischen Rassizierungen aus. Rasse
kann, so argumentieren wir, weder allein durch Bezugnahmen auf Kultur
noch mit solchen auf Natur verstanden werden.
Wir begreifen Rassizierungen also grundsätzlich als Verschränkung,
die wir mit Referenz an Donna Haraway (2000) und Bruno Latour (2008)
als «NaturenKulturen» fassen. Damit geht die heuristische Herausforderung
einher, Essentialismen nicht zu reproduzieren oder gar neu zu erschaen.
Hierfür schlagen wir einen topologischen Ansatz vor, der berücksichtigt, wie
zeitliche und räuml iche Bezüge, materielle und epistemische Objekte in jewei-
ligen Praktiken und Prozessen von Rassizierungen zusammenwirken. Eine
topologische Analyse vermag, über die Intention einzelner Protagonist:innen
hinauszu gehen, indem sie Rasse nicht a ls gegeben voraussetzt, sondern auf die
je spez ischen R elationen z wischen Technologien, Diskurse n und Hand lungen
der beteiligten Akteure fokussiert (M’charek et al. 2014; Schramm 2014).
3 Wir haben uns bewusst gegen die Verwendung von Anführungsstrichen entschie-
den, da diese die Probleme der Konstitution von Rasse als NaturenKulturen von
sich wegschieben, statt in den analytischen Blick zu nehmen. Es geht uns also auch
darum, die Irritationen und Problematiken, die mit dem Rasse-Begri verbunden
sind, akut zu halten (vgl. Einleitung in diesem Sammelband).
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Im Folgenden zeichnen wir die Auseinandersetzung um Rasse als
«biologisches» versus «kulturelles» Phänomen nach und erläutern, welche
Analysepotentiale der hier gewählte Fokus auf NaturenKulturen bietet.
Darauf auf bauend erörtern wir anhand von kommerziellen genetischen
Herkunftstests der Schweizer Firma iGenea sowie der Debatte um erweiterte
DNA-Analysemethoden für die Strafverfolgung in der Schweiz, wie Rassi-
zierungen in diesen Feldern hervorgebracht und wirkmächtig werden. Im
Fazit diskutieren wir, wie eine weitere kritische Reexion des Biologischen
im Sozialen sowie des Sozialen im Biologischen vorangetrieben werden kann.
«‹Rassen› gibt es nicht!» – Problem gelöst?
Menschenrassen sind «reine Konstrukte des menschlichen Geistes», konsta-
tierten zuletzt im September 2019 vier führende deutsche Zoologen und
Evolutionsforscher in der Jenaer Erklärung, um deutlich zu machen, dass es
«keine biologische Begründung» für das «Konzept von Rassen/Unterarten»
gebe (Fischer et al. 2019). Solche Aussagen scheinen geboten, um gegen die
Verwendung des Rassebegris zur Kategorisierung von Menschen sowie den
durch «rechtsradikale und fremdenfeindliche Milieus» wieder vermehrt auf-
kommenden biologischen Rechtferti gungen von Rassi smus entgegenzut reten.
Die Autoren machen die Intention ihrer Erklärung deutlich: «Sorgen wir
also dafür, dass nie wieder mit scheinbar biologischen Begründungen Men-
schen diskriminiert werden» (Fischer et al. 2019). Gerade als Interventionen
in gesellschaftliche Debatten sind derart dezidierte Positionierungen von
Wissenschaftler:innen sehr wichtig, da ihnen ein besonderer Wahrheitswert
zugesprochen wird. Die vorgebrachten Argumente sind jedoch beileibe nicht
neu. Schon Ende des 18. Jahrhunderts äusserte sich der Schriftsteller und
Philosoph Johann Gottfried Herder gegen die esen seines akademischen
Lehrers Immanuel Kant zu den «Verschiedenen Racen der Menschen» (Kant
1905a [1775]) und zur «Bestimmung des Begris einer Menschenrace» (Kant
1905b [1785]). Herder lehnt diese mit klaren Worten ab: «(W)eder vier oder
fünf Racen, noch ausschließende Varietäten giebt es auf der Erde» (Herder
1887 [1784/85], 258).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der im Entstehen begrienen Sozi-
ologie, verstärkte sich diese Kritik. So wandte sich etwa der französische
Soziologe Jean Finot in dem Band «Le préjugé des races» (Finot 1921 [1906])
gegen den Begri Rasse. Die Bezeichnung sei ein «produit de notre gymnas-
tique mentale, des opérations de notre intellect, en dehors de toute réalité»,
ein Erzeugnis unserer Geistesgymnastik, der Tätigkeit unseres Intellekts
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ausserhalb der Wirklichkeit. Ähnlich schrieb 1915 der US-amerikanische
Bürgerrechtler und Soziologe W. E. B. Du Bois (1915, 7): “In fact it is gener-
ally recognized to-day that no scientic denition of race is possible.” Kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg veröentlichte die gerade neu gegründete
Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und
Kultur (UNESCO) im Angesicht der nationalsozialistischen Verbrechen
ein “Statement by Experts on Race Problems” (UNESCO 1950). Darin
betonten führende Wissenschaftler die biologische und geistige Einheit der
Menschheit, um «Rassendiskriminierung» nachhaltig zu bekämpfen. Im
Statement heisst es: “For all practical social purposes ‘race’ is not so much
a biological phenomenon as a social myth” (UNESCO 1950, 393)4. Der
Einwand, dass es sich bei Rassekategorien um ein Konstrukt, eine Ern-
dung handelt, begleitet also die Rassekonzeptionen seit deren Entstehung.
Dennoch kann mit dieser Art der Kritik die Persistenz und Wandelbarkeit
von Rasse nicht erklärt werden.
Neuer kultureller Rassismus?
1988 veröentlichte der französische Philosoph Étienne Balibar seinen Text
«Y a-t-il un ‹neo-racisme›?» [Gibt es einen «Neo-Rassismus»?] Damit leitete
er einen Paradigmenwechsel in der Rassismustheorie insbesondere in Konti-
nentaleuropa ein. Unter dem Begri «Rassismus ohne Rassen» (Balibar 1990,
28) nahm Balibar eine für die Rassismusforschung wichtige konzeptuelle
Erweiterung vor: Erstens konnte Rassismus nunmehr als ein allgemeines
Phänomen moderner Gesellschaften analysiert werden und nicht mehr nur
als historisches Phänomen, etwa der Rassenanthropologie, als Teil der natio-
nalsozia listischen Staatsdoktrin oder a ls Hintergrund der Rassentrennung in
den USA und in Südafrika. Zweitens stellt Balibar heraus, dass Rassismen
keinesfalls nur auf biologische Dierenzierungen rekurrieren, sondern sich
ebenso auf kulturelle Unterscheidungen stützen, die als quasi-natürlich
imaginiert werden.
Ganz neu war die ematisierung von Kultur im Kontext von Rassis-
musanalysen nicht, was sich auch schon in Balibars Bezugnahmen auf das
Buch “e New Racism” (1981) des britischen Kultu rwissenscha ftlers Martin
Barker ausdrückt. Aber mit Balibars «Rassismus ohne Rassen», Pierre-André
Taguies «dierentialistischem Rassismus» (Taguie 1991) und Stuart Halls
4 Innerhalb der Expertenrunde (es waren ausschliesslich Männer) der UNESCO gab
es jedoch kontroverse Debatten zur Frage biologischer Dierenz, die sich auch in
den Folgeerklärungen 1952, 1964 und 1967 spiegelt (UNESCO 1969). Vgl. auch
Germann sowie die Einleitung in diesem Sammelband.
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«kult urellem R assismus » (Hall 1989) entst anden heuri stisch not wendige und
viel rezipierte konzeptionelle Erweiterungen zur Analyse und zum Verständ-
nis von Rassismen. Allerdings führte die Berücksichtigung kulturalistischer
Rassizierungen bei einigen Interpret:innen von Balibar, Taguie, Hall und
anderen auch zu einer Schliessung der kritischen Perspektive, wodurch die
biologische Wissensproduktion aus dem Blick zu geraten droht. Manche
Rassismusforschende legen immer wieder nahe, dass Rassismen gegenwärtig
vorrangig als kulturelle Abgrenzung zu erfassen seien oder sie sehen biolo-
gische Rassizierungen als blosses historisches Überbleibsel oder als rechte
Randerscheinungen.
Paradoxerweise wiederholt eine solche Argumentation, was von der Ras-
sismustheorie seit Jahrzehnten kritisch gegen den hegemonialen Diskurs zu
«Fremdenfeindlichkeit» und «Vorurteilen» vorgebracht wird: nämlich, dass
Rassismus häug ausschliesslich entweder als historisches Phänomen oder
als Problem von Rechtsextremisten und white supremacists gefasst wird. Die
Kritik an einer solchen historischen und politischen Externalisierung von
Rassismus müsste aber ebenso für die Untersuchung aktueller biologischer
Rassizierungen gelten. Auch diese sind nicht lediglich als historisches
Phänomen oder am rechten Rand verortete Ausnahme verstehbar. Zudem
zeigt ein Blick auf die Geschichte der Rassizierungen, dass es kaum je rein
biologisch konzipierte Rassekonzepte gab. Vielmehr mündeten Kultur und
Natur schon in der Entstehung des modernen Rassebegris in den spani-
schen Königreichen des 15. Jahrhunderts gleichursprünglich ein, sodass die
Erndung von Rasse in ihren Ursprüngen gerade auf der Verschränkung
von kulturellen mit präbiologischen Zuschreibungen beruht. So wurden
Personen, die Jüd:innen zu ihren Vorfahren zählten, gleichzeitig sowohl
negative kulturelle Eigenheiten wie «Judaisierung» sowie Raub, Unterdrü-
ckung und Zerstörung des «Altchristentums» vorgeworfen, als auch eine
vererbbare «Unreinheit des Blutes» angedichtet (Hering 2006; Einleitung
in diesem Sammelband). Selbst in seinen extremen Ausprägungen, etwa im
Staatsrassismus des Nationalsozialismus, wurde Rasse nicht ausschliesslich
biologisch konzipiert, sondern stets an kulturelle Zuschreibungen geknüpft,
wie etwa zeitgenössische Darstellungen einer «jüdischen Weltverschwörung»
oder des «Jüdischen Bolschewismus» deutlich machen.
NaturenKulturen von Rassizierungen
Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich nicht als Entbiologisie-
rung ra ssizierender Zuschreibungen beschreiben. Herauszustel len ist jedoch,
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dass seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer mehr Biowissenschaftler:innen
Rassekonzepte massiv kritisierten und grundsätzlich deren Wissenschaftlich-
keit in Zweifel zogen (z. B. Livingstone 1962; Lewontin 1972; Gould 1988;
Marks 1996). Gleichzeitig nahmen jedoch andere Forscher:innen weiterhin
biologische Dierenzieru ngen von Menschengruppen vor, arbeiteten an neuen
Einteilungsmethoden oder argumentierten für die Weiterverwendung und
-entwicklung rassizierender Zuordnungskonzepte, wie auch Pascal Ger-
mann es in seinem Beitrag in diesem Band für die Schweizer Anthropologie
und Humangenetik zeigt (zur kritischen Betrachtung vgl. Plümecke 2013;
Germann 2016; Lipphardt 2018). Mit dem Erstarken der Molekulargene-
tik seit den 1980er Jahren wurden zwar explizite Bezüge auf Rasse massiv
zurück gedrängt, zugleich entstanden aber in einigen Bereichen der Medizin,
der Pharmakologie, der Humanevolutionsforschung, der Psychologie, der
Humangenetik und der Forensik im Kontext der molekulargenetischen
Methoden neue kategoriale Einteilungen, die oft deutliche Bezüge zu älteren
Modellen aufweisen (für ei nen Überblick siehe Plümecke 2013). Solche neuen
Rassizierungen und Kontinuitäten in Form einer “new racial biology”, von
“new biopolitics”, “molecularization” oder einer “medicalization of race”
wurden bereits in zahlreichen Studien vor allem aus dem US-amerika nischen
Raum herausgearbeitet (z. B. Reardon 2005; Epstein 2007; Fullwiley 2007;
Roberts 2011). Darüber hinaus beschäftigten sich in den letzten Jahren auch
in Kontinentaleuropa mehrere Studien mit gegenwärtigen Rassizierun-
gen in den Lebenswissenschaften (z. B. M’charek et al. 2014; M’charek &
Schramm 2020; Sommer 2012; Bauer 2015; Plümecke 2013; Lipphardt et
al. im Erscheinen). All diese Studien machen deutlich, dass es falsch wäre,
eine Analyse von Rassizierungen und Rassismus allein aus der Perspektive
von Kulturalisierungen vorzunehmen. Sie zeigen darüber hinaus, dass die
Abgrenzung zwischen Sozialem und Biologischem selbst kritisch analysiert
werden muss, da Rassizierungen nur äusserst selten allein auf biologische
oder kulturelle Zuweisungen rekurrieren.5
Für eine solche Analyse hilft ein Blick in die kritische eorie, die femi-
nistische Naturwissenschaftskritik sowie die Science and Technology Studies,
die sich seit Jahrzehnten intensiv mit modernen Dualismen beschäftigten–
etwa mit der Trennung zwischen Natur und Kultur. Insbesondere Donna
Haraway (z. B. 1991) problematisiert in ihren Arbeiten die Grenzziehun-
gen zwischen Mensch/Maschine, Geist/Körper, Tier/Mensch, Männern/
Frauen sowie Natur/Kultur bzw. Natur/Gesellschaft und zeigt auf, wie
diese Dierenzierungen mit kolonialer Unterdrückung und kapitalistischer
5 In ihrem Beitrag zur Herausbildung der Figur der «alpinen Rasse» zeigt Viviane
Cretton in diesem Band, wie diese Verschränkung historisch artikuliert wurde.
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Herrschaftssicherung gekoppelt sind. Bruno Latour (2008) argumentiert in
seinen Analysen der Entstehung der Wissenschaften ähnlich. Er fragt, ob die
Moderne nicht gerade aus dem Paradox geboren wurde, dass uns Hybride
aus Natur und Kultur umgeben, diese aber mittels allerhand Praktiken der
Unterscheidung auseinandergehalten werden. Dem hält Latour entgegen:
«Wir sind nie modern gewesen.» Nach seiner Ansicht sei der Begri Kultur
ein Artef akt, das erst durch die Ausk lammerung der Natur produziert w urde:
«Es gibt ebenso wenig Kulturen– unterschiedliche oder universelle –, wie
es eine universelle Natur gibt» (Latour 2008, 138).
Mit Haraways Begri «naturecultures» (2000) und Latours «natures-
cultures» (2008) lassen sich unserer Ansicht nach die Probleme von Rasse
und Rassizierung viel besser fassen, als in der gängigen Abgrenzung von
biologischen und kulturellen Rassismen. Der Begri NaturKultur bzw. der
doppelte Plural NaturenKulturen6 ermöglicht es, sich einer ausschliesslichen
Zuweisung des untersuchten Phänomens auf eine Seite der Dichotomie
zu entziehen. Wir können Rassizierungen so besser als Verschränkung
kulturalisierter und biologisierter Dierenzkonstruktionen betrachten und
damit als materiell-semiotische Konguration begreifen. Das bedeutet,
dass Rassizierungen das Ergebnis eines Ineinanderwirkens von Materie,
Vorstellungen und Praktiken sind, die zugleich auf Konzepte über Natur
bzw. Biologie und auf Vorstellungen über handlungsrelevante kulturelle
Eigenheiten rekurrieren. Indem wir die Prozesse der Grenzziehung und ge-
genseitigen Kopplungen zwischen NaturenKulturen in den Blick nehmen,
verabschieden wir uns von einer Logik des «Entweder-Oder» und betonen
stattdessen das «Sowohl-Als-Auch« (vgl. Stoler 2016). Wie solche materiell-
semiotischen Gefüge er zeugt werden, erörtern wir im Folgenden mittels einer
topologischen Ana lyseperspektive an den B eispielen genetischer Herkunftste st
sowie erweiterten DNA-Analysemethoden in der Forensik.
Genetische Herkunftstests: Individuen, Gruppen,
DNA
Im Oktober 2008 brachte der Westschweizer Grünen-Politiker Luc Recor-
don eine Interpellation in den Ständerat, die kleine Kammer des Schweizer
Parlaments, ein. Darin kritisierte er die «Verwendung von DNS-Tests für
6 Zur Diskussion der beiden Begrisvarianten vgl. den Sammelband von Gesing
et al. 2018, in dem wichtige Positionen der Diskussion um NaturenKulturen zu-
sammengefasst und neue Forschungsperspektiven aufgezeigt werden (jedoch ohne
Rassizierungen zu berücksichtigen).
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rassistische Zwecke» und mahnte ein Verbot genetischer Herkunftstests an.
Auslöser hierfür war die Vermarktungsstrategie des 200 6 gestarteten Schwei-
zer Unternehmens iGenea7, das u. a. die Möglichkeit bewarb, eine «jüdische
Abstam mung» genetisc h bestimmen zu lassen. Der Bundesrat wies ein Verbot
jedoch mit dem Hinweis zurück, dass «individuelle Nachforschungen über
die eigene Herkunft oder die eigenen genetischen Eigenschaften […] in der
Schweiz unter Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen erlaubt sein» soll-
ten. Zudem sei die Gesetzeslage ausreichend, um «Missbräuche auch bei der
hier zur Diskussion stehenden Anwendung von genetischen Untersuchungen
zu verhindern» (Recordon 2008).8
Recordons Anfrage zielte vor allem darauf ab, dass «Jüdischsein» in den
Tests zu einer Frage der Biologie erklärt wurde, was Reminiszenzen an die
rassenk undliche und eugenische Praxis de s Nationalsozi alismus wecke. iGenea
selbst beschreibt auf seiner Webseite die genetische Herkunftsbestimmung
als stochastisches Verfahren, das auf Varianzen in der DNA und deren sta-
tistische Häuf ung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen gründe. Keine der
resultierenden DNA-Varianten (sogenannte Haplogruppen) sei exklusiv für
eine bestimmte Population. Auf der Basis genetischer Analysen liessen sich
jedoch Rückschlüsse auf genealogische Beziehungen ziehen.9 Der Rassebegri
selbst ndet in den medialen Selbstdarstellungen und den Hauptseiten der
Homepage des Unternehmens keinerlei Verwendung– allerdings operiert
iGenea mit problematischen Begrien wie «Urvölkern», zu denen sie neben
«Juden» auch «Germanen, Kelten, Wikinger oder Basken» auch so verschie-
denartige Bezeichnungen wie «Araber, Kurden, Roma, Slawen, Phönizier,
Indogermanen» und ca. drei Dutzend weitere zählen.10 Recordons Kritik
zielte in erster Linie auf die Biologisierung von Zugehörigkeit ab. Sie wurde
allerdings mit dem Hinweis auf den Freizeitcharakter, die Harmlosigkeit
und die Freiwilligkeit der angebotenen Tests abgewiesen. Die angewandten
molekulargenet ische Ver fahren, ihrer Dar stellung und Interpretation blieben
7 iGenea ist Partner des US-amerikanischen Unternehmens FamilyTreeDNA.
8 Unternehmen wie iGenea agieren nach wie vor in einer rechtlichen Grauzone. So
regelt das Bu ndesgesetz übe r genetische Untersuchungen bei m Menschen nur Gentests
im medizinischen Bereich sowie in sehr begrenzten Bereichen des Arbeitsschutzes
und des Versicherungsbereiches, wo jeweils ein Arztvorbehalt gilt.
9 Damit rekurriert iGenea auf die Methoden und Ergebnisse populationsgenetischer
Forschungen. Zur Diskussion dieser Arbeiten vgl. El-Haj 2012; TallBear 2013;
Plümecke 2013. Mittlerweile ist die Sequenzierungstechnologie auch innerhalb der
Populationsgenetik auf vollständige Genomanalysen ausgerichtet– diese spielen
jedoch für die hier diskutierten Herkunftstests nach wie vor kaum eine Rolle.
10 https://www.igenea.ch/de/urvoelker (20.10.2021). Zur Kritik a m Konzept genetisc her
«Ur»-Bevölkerungen vgl. Sommer 2008.
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in der gesamten Diskussion aussen vor. Gerade in ihnen zeigt sich aber, wie
Rassizierungen als biologisch-kulturelle Kopplungen hervorgebracht und
wirkmächtig werden.
iGenea ist keineswegs das einzige Unternehmen, das kommerzielle
genetische Herkunftstests anbietet. Seit der Sequenzierung des menschli-
chen Genoms in den frühen 2000er Jahren haben mehr als zwei Dutzend
Unternehmen sogenannte genetic ancestry tests auf den Markt gebracht.
Einige dieser Unternehmen sind global aktiv, andere, wie iGenea, bedienen
eher einen lokalen Markt. Das Angebot umfasst genetische Analysen von
Schleim hautabstrichen oder Speichelproben zur Best immung der «genetischen
Abstam mung», der «ethn ischen Herkunf t» oder «aus welchen Regionen deine
DNA stammt». Zudem werben die Unternehmen damit, ermitteln zu kön-
nen, mit welchen «geschichtsträchtigen Genies» Probengeber:innen verwandt
seien oder wie viel «Neandertaler Herkunft» in den eigenen Genen stecke.11
Auch Informationen über Krankheitsrisiken, Empfehlungen zu Ernährung,
Fitness und Lebensstil im Zusammenhang mit der jeweiligen genetischen
Ausstattung, das Vorhandenseins eines «Krieger-Gens» oder Auskünfte über
die Blutgruppe, die Haarf arbe oder die Konsistenz des Ohrenschma lzes zählen
zum Programm verschiedener Anbieter. Einige Unternehmen sprechen spe-
zische Zielgruppen an, wie African Americans, Native Americans/Peoples
of the First Nations, Asiat:innen oder Europäer:innen.12
iGenea war 2006 das erste Unternehmen, das ein speziell für den euro-
päischen Markt zugeschnittenes A ngebot genetischer Herkunftstests heraus-
brachte (vgl. Sommer 2010; Sommer 2012).13 Seitdem bietet die Schweizer
Firma verschiedene Tests zu Preisen zwischen 165 und 1.499 Schweizer
Franken an. Mit diesen lasse sich laut Eigendarstellung die «Herkunft in
drei verschiedenen Epochen» herauslesen: Erstens die «Haplogruppe» (diese
repräsentiere die «verschiedenen Stämme des Homo sapiens» und zeige «den
Ursprung und die Wanderungen unserer Vorfahren»), zweitens das bereits
erwähnte «Urvolk» («zwischen 900 v. Chr. und 900 n. Chr.») und drittens
die «Ursprungsregion» («ca. 500 n. Chr. bis 1.500 n. Chr.»).14 Zudem lasse
11 Zitate der Reihe nach von rootsforreal.com; myheritage.ch; 23andme.com; natio-
nalgeographic.com; 23andme.com (07.10.2019) (unsere Übersetzung).
12 Siehe u. a. africanancestry.com, familytreedna.com, 23mofang.com, yoogene.com,
oxfordancestors.com, igenea.com (07.10.2019).
13 Alle Angaben zu iGenea entst ammen einer Dokumentenanaly se der Selbstdarstellun-
gen, den Foren- und Medienbeiträ ge und Interview s, die Vertreter:i nnen von iGenea
in der Presse gegeben haben, sowie einer E-Mail-Korrespondenz der Autor:innen
mit dem Unternehmen.
14 www.igenea.com/de/juden, www.igenea.ch/de/urvoelker, www.igenea.ch/de/
adoptiert (20.10.2021).
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sich mit dem Test auch eine mögliche Verwandtschaft mit Ötzi, Napoleon
oder dem altägyptischen Pharao Tutanchamun ermitteln.
Derartige Testangebote wurden in den letzten Jahren vielfach kritisch
untersucht– insbesondere in Hinblick auf die Ungenauigkeit des Verfahrens
und die Unzulässig keit der vermeintlichen Schlussfolgerung en, aber auch mit
Bezug auf Probleme der Rassizierung, Essentialisierungen von Identitäten
sowie auf datenschutzrechtliche Fragen (z. B. Bolnick et al. 2007; Abu El-Haj
2012; TallBear 2013; Nelson 2016). Dessen ungeachtet hält die Begeisterung
für diese Form der Ahnenforschung nach wie vor an. Weltweit haben in den
letzten 20 Jahren mehrere Millionen Menschen einen solchen Test gekauft
und damit ihre DNA den Unternehmen zur Verfügung gestellt. Ein Grund
für ihren Erfolg ist sicher, dass die Unternehmen mit der Autorität natur-
wissenschaftlicher Faktizität argumentieren. Trotz aller Ungenauigkeiten
und Begrenzungen vermögen sie ihre Analysen als wissenschaftlich exakt
darzustellen. So konstatierte etwa die Genetikerin und Geschäftsführerin
von iGenea, Joëlle Apter, in einem Interview im jüdischen Wochenmagazin
Tachles: «Das Ergebnis ist absolut sicher und korrekt und bedarf keiner
Interpretation durch einen Historiker oder einen Archivar» (Zafran 2008).
Im Nutzer:innenforum auf der Website des Unternehmens ergänzte die
Mitarbeiterin von iGenea, Inma Pazos: «Im Gegensatz zu Dokumenten sind
genetische Informationen fehlerfrei»15, und in einem Erläuterungstext von
iGenea wird ausgeführt, dass «nur noch unsere einzig wahre und richtige
Akte bleibt, nämlich unsere DNA.»16
Die Behauptung, dass die Einordnung der DNA-Daten keiner Interpre-
tation bedürfe, ist aus dreierlei Gründen falsch. Erstens erhält eine einzelne
DNA-Sequenz erst im Vergleich mit anderen Datenbeständen Bedeutung.
Für sich genommen ist sie lediglich eine Abfolge von Nukleinbasen. Zwei-
tens operieren genetische Samplings innerhalb einer Populationslogik, die
Gruppenzugehörigkeiten nicht einfach abbildet, sondern selektiv erzeugt
und in den Datenbanken spiegelt. Hierbei verschmelzen kulturelle, soziale
und politische Vorstellungen über Gruppenzugehörigkeiten mit statistischen
Zuordnungen biologischer Marker. Drittens beziehen sich genetische Ab-
stammungstests in der Praxis beständig auf historische Assoziationen (z. B.
über Populationen, Wanderungsbewegungen und Ereignisse). Diese werden
dann den Konsument:innen als «genetische Zugehörigkeit» verkauft. Die
«Akte» ist also nicht, wie von iGenea behauptet, einfach im Körper ange-
legt, sondern muss erst aktiv hergestellt werden. Hierzu erfolgen beständig
15 www.igenea.com/de/forum/d/ist-der-test-fur-genealogen-auch-geeignet/12
(20.10.2021).
16 www.igenea.com/docs/dna_genealogie_igenea_de.pdf (31.10.2010).
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Zuordnungen von Gleichheit und Dierenz. Zunächst werden aus einigen
Bereiche der DNA, in denen es relativ häug zu Veränderungen kommt,
spezische Muster herausgelesen und diese zu «Haplogruppen» verknüpft.17
Um die individuelle DNA als historisches Dokument inszenieren zu kön-
nen, muss sie zudem mit Referenzdaten verglichen werden. Hierzu dienen
DNA-Analysen aus Forschungsprojekten der Populationsgenetik sowie
jene Daten, die bisherigen Kund:innen iGenea und anderen Anbietern zur
Verfügung stellten. Die Verknüpfung individueller DNA-Muster mit den
konstruierten «Populationen», «Haplogruppen» und «Herkunft» erfolgt
dabei in mehreren Schritten. Sie beginnt mit der Auswahl der untersuchten
Genombestandteile und den Sampling-Verfahren der Referenzdatensätze.
Diese gehen mit bestimmten Vorannahmen über Gruppenzugehörigkeiten
und geographi sche Verort ung einher. Dabei werden auch Wissensgenea logien
und Kla ssikationen mobilisiert, die aus der Zeit rassek undlicher Forschungen
stammen. Über die Verknüpfung von DNA-Mustern, Referenzpopulationen
und Herkunftsannahmen rufen auch Begrie wie «Urvolk», «Ursprungs-
region», «Stämme» und die Zuordnung von DNA-Daten zu «Wikingern»,
«Germanen» oder «Juden», Vorstellungen einer biologischen Essenz sowie
der klaren Abgrenzung zwischen Gruppen auf. Dieser problematischen
Essentialisierung ist sich oenbar auch iGenea bewusst. Zumindest weisen
die Verantwortlichen jegliche Rassezuordnungen der Testergebnisse zurück
und formulieren zum Begri des «Urvolkes» rechtfertigend, dass sie «zwar
Urvölker genetisch dierenzieren» könnten, damit jedoch «keine ‹Rassen›
oder genetisch homogene Herkünfte bestimmt» würden.18
iGenea weist also oene Rassismen, in denen Gruppen mit bestimmten
Eigenschaften versehen und hierarchisch geordnet werden, zurück. Im
Nutzer:innenforu m des Unternehmens rea gieren Ver treter:innen von iGenea
auf das gelegentliche Auftauchen des Rassebegris wie folgt: «Der Begri
der Ethnie oder der Rasse ist falsch» oder: «Rassismuslehren sind lächerlich
und absurd, denn diese reine Rasse gibt es nicht.»19 Ausserdem führe die
«DNA-Genealogie» laut iGenea «alle Rassentheorie ad absurdum», da jede
Person über verschiedene Herkünfte verfüge: «Eine homogene Herkunft hat
niemand.»20 Mitarbeiter:innen von iGenea grenzen sich also dezidiert von
«Rassentheorie» ab, indem sie auf die heutige Vielfalt und grundsätzliche
Vermischung von Menschen unterschied licher Herkünfte verwei sen. Gleich-
17 Siehe zur Erläuteru ng der verwendeten Technologien Sommer 2012; Plümecke 2013.
18 www.igenea.ch/de/urvoelker (20.10.2021).
19 www.igenea.com/de/forum/d/hellenen-griechen/201 (20.10.2021); www.igenea.
com/de/forum/d/haplogruppe-h-und-v/30 (20.10.2021).
20 www.igenea.com/de/forum/d/haplogruppe-h-und-v/30 (20.10.2021).
190
zeitig projizieren sie aber Vorstellungen über die vermeintliche Homogenität
von Gruppen sowie über deren angebliche völkische Herkünfte in die Ver-
gangenheit. Dadurch erscheinen diese «Urvölker» erst recht als homogene
Gruppen und Quelle heutiger genetischer Dierenz.
Wie kurz die Abgrenzung zu «Ra ssentheorie» letztl ich greift, z eigen einige
Äusserungen zum Gebrauch des Rassebegris an anderer Stelle. So schrieb
die iGenea-Mitarbeiterin Inma Pazos im Nutzer:innenforum in Rea ktion auf
einen Kunden, Rasse sei «auch ein biologischer Ausd ruck» und man müsse «es
immer noch objektiv betrachten», denn «viele Personen benutzen das Wort
Rasse gar nicht so, wie wir heute das als negative Denition verstehen».21
Die Mitarbeiterin unterscheidet hier zwischen einem durch historische
«Rassenlehren» belasteten und daher zu verwerfenden Rassebegri sowie
einem biologischen und daher objektiven Rassebegri.22 Aus ihrer Sicht ist
Rassi smus also eine sozi ale bzw. politische Verzerrung biologischer Tatsachen.
Das steht quasi in umgekehrter Logik zur Argumentation des Parlamenta-
riers Recordon: Für diesen resultierte der Rassismus gerade aus einer solchen
biologischen Verortung von Zugehörigkeit. Gemein ist beiden Positionen
jedoch, dass sie auf eine Dichotomie zwischen Kultur und Natur rekurrieren,
auch wenn sie jeweils die entgegengesetzte Seite zur Ursache des Rassismus
erklären. Dadurch bleibt das Verständnis von Prozessen der Rassizierung
notwendigerweise verkürzt. Denn Biologie lässt sich nicht als unabhängiges
Gelde verstehen, das mittels naturwissenschaftlicher Methoden objektiv
erfasst werden könnte und dam it ausserhalb gese llschaftl icher Prozesse stü nde.
Wir begreifen deshalb Körper, DNA, Kategorisierungen und Deutungen im
Kontext der iGenea-Tests als eine topologische Assemblage, die nicht statisch
ist, sondern immer wieder aufs Neue hergestellt wird. Dabei müssen sich
unterschiedliche und teils widersprüchliche Rassizierungen keineswegs
gegenseitig ausschliessen. Vielmehr wirken sie zumeist zusammen, stützen
und stärken sich wechselseitig.
Erweiterte forensische DNA-Analysen
Ein weiteres Feld, an dem die Verschrä nkung soziokultureller und biologischer
Aspekte bei Rassizierungen aktuell gut sichtbar werden, sind die Debatten
um die erweiterten DNA-Analysemethoden für Ermittlungsbehörden und
21 https://www.igenea.com/de/forum/d/ex-jugoslawien-mazedonien-serbien-kroatien-
albanien-montenegro-bosnien/25, (20.10.2021).
22 I n dieser Argumentation scheinen Para llelen zu den objektivierenden Rasse-Disku rsen
der internationalen und Schweizer Anthropologie und Humangenetik der Nach-
kriegszeit auf, wie sie Pascal Germann in seinem Beitrag in diesem Band diskutiert.
191
gerichtsmedizinische Gutachten. Bei diesen erweiterten Analysen geht es
darum, aus DNA-Spuren an Tatorten äusserlich sichtbare Merkmale einer
Person, wie Augen-, Haar- und Hautfarbe (in der Fachsprache meist Phä-
notypisierung genannt) und die ethnische, kontinentale oder auch regionale
Herkunft (meist biogeographische Herkunft genannt) abzuschätzen.23 Als
«erweitert» werden diese Methoden bezeichnet, weil sie weit über die bisher
üblichen DNA-Analy sen, wie dem sogenannten «genetischen Fingerab druck»
hinausgehen, bei dem lediglich ein individueller Abgleich, also die Identi-
zierung einer– und nur einer– Person mit einer in der Regel 99,99-prozen-
tigen Sicherheit erfolgt. Die erweiterten Analysen basieren demgegenüber
auf Wahrscheinlichkeitszuordnungen von DNA-Markern zu kontinentalen
oder regionalen sowie ethnischen Herkünften von Bevölkerungsgruppen
sowie zu deren vermeintlichen sichtbaren Merkmalen. Derartige Methoden
sind Ermittlungsbehörden in den meisten Ländern Europas zurzeit nicht
erlaubt bzw. von den geltenden Gesetzen nicht abgedeckt. In der Schweiz
ist die Verwendung von DNA als Instrument der Strafverfolgung im DNA-
Prole-Gesetz von 2003 geregelt. Dieses verbietet explizit eine erweiterte
Analyse. Wörtlich heisst es: «Bei der DNA-Analyse darf weder nach dem
Gesundheitszustand noch nach anderen persönlichen Eigenschaften mit
Ausnahme des Geschlechtes der betroenen Person geforscht werden» (Art.2
Abs. 2 DNA-Prol-Gesetz vom 20. Juni 2003).24
Beim Gesetzgebungsverfahren zu der 2003 in Kraft getretenen Regelung
teilten alle politischen Fraktionen im Grundsatz die Auassung, dass es
notwendig sei, hohe Hürden gegen einen möglichen Eingri in Persönlich-
keitsrechte zu errichten. Beispielhaft für die Argumente in der damaligen
Parlamentsdebatte sind die Äusserungen des Sozialdemokraten Jean-Nils de
Dardel. Er verw ies darau f, dass «avec l ’évolution de la science on peut craindre
que les prols non codés qui seront enregistrés puissent révéler des données
hautement sensibles de la personne». Insbesondere sorgte er sich, «qu’à terme
23 Zu den erweiterten DNA-Analysemethoden zählen auch Tests, mit denen aus der
DNA das wahrscheinliche Lebensalter bestimmt wird. Weitere Tests benden sich
in der Entwicklung, die etwa auf Gesichtsstrukturen und Körpergrösse abzielen.
24 In Deutschland stand bis zu einer Gesetzesrevision im Dezember 2019 eine analoge
Formulierung in § 81e Abs. 1 Satz 2 der Strafprozessordnung. In Frankreich besteht
dagege n kein derart ex plizites Verbot. Dort werden einerseits die Vorschri ften des Code
Civil und des Code de Santé Publique so interpretiert, dass DNA-Phänotypisierung
und genetische Herkunftstests in der Regel verboten sind (mit Ausnahmen für
wissenschaftliche oder medizinische Zwecke. Andererseits hat das höchste Gericht
Frankreichs, der Cour de cassation u. a. 2014 in einem Straall ein Gutachten über
die «caractère morphologique apparent du suspect», über die augenscheinliche
morphologische Beschaenheit des Verdächtigen angeordnet.
192
soient enregistrées des données sur l’origine ethnique des personnes ou sur
leur état de santé» erfasst würden und es zur «stigmatisation publique de
communautés entières dénies par leur identité culturelle ou ethnique ou
encore raciale» kommen könne (de Dardel 2002).25
Im Dezember 2015 stellte der wirtschaftsliberale FDP-Nationalrat Albert
Vitali die geltende gesetzliche Re gelung jedoch durch einen parla mentarischen
Vorstoss in Frage. In diesem votierten er und 36 weiteren Politiker:innen für
eine Gesetzesrevision zur Zulassung von erweiterten DNA-Untersuchungs-
methoden und begründete dies mit einem Fall schwerer Körperverletzung
und Vergewaltigung in Emmen, unweit von Luzern. Dort war im Juli 2015
eine 26-jährige Frau vergewaltigt und derart brutal misshandelt worden,
dass sie seither querschnittsgelähmt ist.
In der Begründung zu der aus seiner Sicht notwendigen Gesetzesrevision
wählte Vitali einen überzogenen Tonfall. Er wertete die bestehende recht-
liche Reglung als «Täterschutz für Mörder und Vergewaltiger» und pries
die erweiterten DNA-Analysen als Segen für die Ermittlungsarbeit (Vitali
2015). Doch nicht nur sein Tonfall war unangemessen, auch der als Auslöser
angeführte Fall selbst ist bei näherer Betrachtung denkbar ungeeignet, um
die Zulassung phänotypischer und biogeographischer DNA-Analysen zu
rechtfertigen. Denn die Geschädigte hatte Angaben zum Täter gemacht,
die so konkret waren, dass eine erweiterte DNA-Analyse dem kaum etwas
hätte hinzufügen können. Sie sagte unter anderem aus, der Täter habe
schwarzbraune, gek rauste Haare gehabt, gebrochen Deutsch gesprochen und
sich selbst Aaron genannt (SDA & SRF 2015; SDA & NZZ 2017).26 Daher
stellt sich die Frage, ob es Vitali etal. tatsächlich um die Aufklärung dieses
schweren Verbrechens ging oder ob sie nicht vielmehr die öentliche Em-
pörung über die Straftat und die Angaben zum Täter zum Anlass nahmen,
um Bilder über «kriminelle Andere» aufzugreifen und diese mit Honungen
auf die Möglichkeit einer biologischen bzw. genetischen Kategorisierung von
Menschengruppen zu verknüpfen. Für Letzteres spricht die Einbettung der
Debatte in einen öentlich agierten rassistischen Diskurs zum Fall. Zum
25 Übersetzung: … «mit der Entwicklung der Wissenschaft zu befürchten ist, dass
mit nichtkodierenden DNA-Sequenzen, hochsensible Daten über die Person
preisgegeben»; «dass in Zukunft Angaben über die ethnische Herkunft und den
Gesundheitsstatus»; «zur öentlichen Stigmatisierung ganzer Communities, die
durch ihre kulturelle, ethnische oder auch rassische Identität charakterisiert sind».
26 Für die Erörterungen zum Fall konnten wir dankenswerterweise auf eine Mate-
rialsammlung zurückgreifen, die Sarah Weitz, Nicholas Buchanan und Veronika
Lipphardt für eine Mediena nalyse der Debatte zu erweiterten DNA-A nalysen erstellt
haben (vgl. Weitz & Buchanan 2017).
193
Kontext gehört, dass das Verbrechen in einem Ort stattfand, in dem vielen
Menschen ohne Schweizer Pass wohnen.
In lokalen Tageszeitungen sowie in sozialen Medien wurden nach der
Tat schnell rassistische Assoziationen laut. Die örtliche Polizei musste einen
Aufruf an potenzielle Zeug:innen auf ihrer Facebook-Seite bereits nach zwei
Tagen wieder entfernen, da mehrere «rassendiskriminierende» Kommentare
abgegeben worden waren (SDA & bih 2015). Nur wenige Tage später sagte
der SVP-Nationalrat Hans Fehr in einem Zeitungsinterview: «Diese Tat ist
absolut unfassbar. Desha lb müssen wir die Zuwanderung in den Gri bekom-
men» (DAG & VRO 2015). Am darauolgenden Tag klebten Plakate und
Auf kleber der rechtextremen Pa rtei National Orientierter Schweizer (PNOS)
in Emmen. Auf ihnen hiess es: «Ausländergewalt ist nicht tolerierbar! Jetzt
die PNOS unterstützen» (SAM 2015).
Die Kommentare und Plakate generalisierten die Tat einer einzelnen
Person und stellten sie in einen kausalen Zusammenhang mit Immigration
in die Schweiz. Durch die Verknüpfung verschiedener Merkmale (Wohnort,
Staatsangehörigkeit, Geschlecht und Herkunft) mit einer Straftat wird eine
ganze Bevölkerungsgruppe als abweichend markiert und zu potenziellen
Täter:innen gemacht. Auch wenn der Rassebegri nicht explizit verwendet
und eher vermittelt über Zuwanderung gesprochen wird, verweisen die
Äusserungen doch eindeutig auf das rassistische Stereotyp des «gefährlichen
und gewalttätigen Ausländers». Gerade weil Kriminalität und Immigration
dabei in eins gesetzt werden, wird es möglich, genetische Tests zur Bestim-
mung äusserer Merkmale sowie der Herkunft als vermeintliche Lösung zu
präsentieren.
Die Debatte in der Schweiz war aber keineswegs ein Einzelfall. So fand
bereits die weltweit erste forensische Anwendung eines genetischen Her-
kunftstests im Jahr 2000 in den Niederlanden im Kontext rassistisch auf-
geladener Diskurse statt. Den Hintergrund bildete hier die Vergewaltigung
und Tötung der 16-jährigen Marianne Vaatstra im Jahr 1999. Nach der
Tat wurden sofort die Bewohner eines in unmittelbarer Nähe zum Tatort
liegenden Asylbewerberheims verdächtigt. Diese wurden jedoch sämtlich
mittels eines genetischen Abgleichs mit der am Tatort aufgefundenen DNA
entlastet (vgl. M’charek & Schramm 2020). Im weiteren Verlauf avancierte
der Fall zum Anlass für eine Gesetzesrevision. Seit dieser, im Jahr 2003 in
Kraft getretenen Revision, sind bei strafrechtlichen Ermittlungen erweiterte
DNA-Analysen sowie Aussagen über da s chromosomale Geschlecht, der äus-
serlich sichtbaren persönlichen Merkmale sowie der Rasse27 legal. Aufgeklärt
27 Nach weiteren Reformen 2012 und 2017 heisst es im derzeit gültigen niederlän-
dischen Regierungsbeschluss zu DNA-Untersuchungen in Strafsachen in Art. 1 b,
194
werden konnte der Fall Vaatstra allerdings erst 2012, und zwar durch einen
herkömmlichen DNA-Identitätstest im Rahmen eines Massengentests an
etwa 8 000 Männer, die im Umkreis von fünf Kilometern um den Tatort
wohnten. Als Täter wurde schliesslich ein darunter bendlicher Bauer ermit-
telt, der in der Nähe des Tatorts lebte.
Im Vaatstra-Fall führten die erweiterten DNA-Analysen also nicht zur
Ermittlung des Täters, sondern lediglich zu einer weiteren Entlastung der
schon mittels genetischem Identitätstest vom Verdacht ausgeschlossenen
Asylsuchenden. Paradoxerweise verweisen die Protagonist:innen der Geset-
zesänderung in der Schweiz immer wieder auf diesen Fall, oenbar weil sie
darauf zu hoen scheinen, mit einer erweiterten DNA-Analyse vor allem
«Ausländer» stärker ins Visier nehmen zu können. Darauf deuten zumindest
die Argumentation in Vitalis Gesetzesinitiative sowie die darauolgen-
den Debattenbeiträge hin. Auch die SVP kommentierte die Initiative zur
Gesetzesrevision auf ihrer Website dementsprechend. Sie schrieb, dass die
«beabsichtigten Änderungen […] die Sicherheit in der Schweiz nachhaltig
verbessern» würden, insbesondere bezüglich jener Delikte, die von soge-
nannten «ausländischen Staatsangehörigen» verübt würden (SVP 2019).
DNA-Analysen werden also vor allem als Mittel vorgestellt, mit dem die
«Anderen» besser erfasst werden könnten.
Den Protagonist:innen der Gesetzesänderung geht es dabei oenbar we-
niger um die tatsächlichen Erfolgsaussichten der Technologie, als vielmehr
um die Mobilisierung von Emotionen. Statt einen oenen Diskurs um die
gesellschaftliche Abwägung der Möglichkeiten und Risiken des Einsatzes
einer hoch ambivalenten Technologie zu führen, wird ein allgemeines Unsi-
cher heitsgefühl aufgerufen und befeuert. In der Folge sind aufgrund der
emotionalen Auadung und der geschürten Honungen die Begrenzungen
und Probleme der Technologie kaum mehr vermittelbar. Einwände werden–
wie sich an Vitalis Begründung der Gesetzesinitiative zeigt– als Täterschutz
gebrandmarkt . Dabei ist gerade in Bezug auf neue Ra ssizierungen im Kontext
der erweiterten DNA-Analysemethoden eine ganze Menge zu diskutieren.
Neben dem technisch begrenzten Wert von Wahrscheinlich keitsaussagen sind
für Ermittlungsbehörden in der Regel nur Merkmale relevant, die den Kreis
potenzieller Täter:innen weiter eingrenzen. So ist etwa die Information, dass
ein Täter wahrscheinlich männlich und weiss ist, braune Haare hat und aus
Mitteleuropa kommt, kaum hilfreich, da in der Regel zu viele Personen in
Frage kämen (vgl. Lipphardt 2018).
dass folgendes aus der DNA eines Tatorts ermittelt werden dürfe: «a. het geslacht;
b. het ras; c. de oogkleur (2012); d. de haarkleur (2017).»
195
Werden aber Merkmalskombinationen ermittelt, die auf eine kleinere
Gruppe oder gar auf eine spezische Community verweisen, kan n diese leicht
zum Ziel von Racial Proling durch Ermittlungsbehörden, aber auch von ste-
reotypen Zuweisung en und Projektionen sowie Ver antwortungsübertra gung
durch die Öentlichkeit werden. Dabei kann es zu einer Wiederkehr typo-
logischer Schemata kommen– jenem Forschungsparadigma der physischen
Anthropologie im 19. Jahrhundert, bei dem zu jeder vermeintlichen Rasse die
idealtypischen Eigenschaften gesucht wurden. Die blosse statistische Wahr-
scheinlichkeit einer bestimmten Herkunft (aufgrund von DNA-Analysen)
wird dabei mit phänoty pischen Merkma len verknüpft (auf Grundlage homo-
genisierender Durchschnittswerte), die jedoch für die Fahndung nach einem
konkreten Individuum nur selten relevant sein k ann. So stellt sich zum Beispiel
die Frage, welche Hautfarbe für eine Person aus Nordafrika angenommen
werden soll. Oder welche Augenfarbe, Haarfarbe und Hautfarbe bei einer
Person mit der wahrscheinlichen Herkunft Mitteleuropa vermutet wird.
Hinter den vermeintlich neutralen Aussagen über Häugkeitsverteilungen,
statist ischen Zuordnungen und Merkmal swahrschein lichkeiten verschwindet
dabei, dass wir es mit manifesten Rassizierungen zu tun haben.
Fazit
In diesem Beitrag h aben wir dargelegt, wesha lb die gängige Dichotomisierung
von Natur und Kultur im Hinblick auf Rassizierungen problematisch ist.
Anhand zweier Beispiele– den genetischen Herkunftstests der Schweizer
Firma iGenea und den gegenwärtigen Debatten um die erweiterten DNA
Analysemethoden– arbeiteten wir heraus, wie in aktuellen Rassizierun-
gen biologische und kulturelle Bedeutungen miteinander verwoben erzeugt
werden. Deutlich wurde, dass dabei Biologie und Kultur nicht sinnvoll
voneinander zu trennen sind und Rasse nicht nur in Referenz zu dem einen
oder dem anderen entsteht.
Rassismus ist weder rein diskursiv noch erwächst er lediglich aus einem
falschen Verständnis biologischer «Tatsachen». Auch können vermeintlich
neutrale biologische Aspekte wie «Augenfarbe» oder «DNA» nicht unab-
hängig von ihrer Einbettung in historische und politische Sinnstiftungen
verstanden werden. Stattdessen entstehen Rassizierungen gerade in der
Verkopplung von biologischen und kulturellen Vorstellungen über Homo-
genität, Beständigkeit und Dierenz. Rasse ist entsprechend als Produkt von
Rassizierungen zu verstehen und somit als Ergebnis immer wieder situativ
vollzogener mater ieller, prakti scher und interpretatorischer Referenz ierungen
196
zu fassen. Dies macht eine strikte Trennung zwischen Natur und Kultur in
der Regel unmöglich. Das Eingangszitat von Amâde M’charek bringt dies
prägnant auf den Punkt: Rasse ist weder als biologisches Faktum noch als
Fiktion bestimmbar, weshalb sich diese Zuordnungskategorie auch nicht
mit der Aussage aus der Welt räumen lässt, dass es gar keine Rassen gebe.
Ausgangspunkt einer Analyse von Rassizierungen kann daher auch nicht
eine allgemeingültige Denition von Rasse oder Rassismus sein. Vielmehr
können Rassizierungen nur im Tun (doing) als je orts- und zeitspezische
Praxis erfasst werden. Eine materiell-semiotische und topologische Analyse,
die dies berücksichtigt, kann letztlich auch zur Auösung von Rassizie-
rungen (un-doing ) führen.
Die jüngere Rassismusforschung trug wesentlich dazu bei, die Verengung
des Rassismusverständnisses nach dem Zweiten Weltkrieg aufzubrechen.
Rassismus war nun nicht mehr nur Ergebnis pseudowissenschaftlicher
und staatlicher Rassekonzeptionen. Allerdings ging mit der Einsicht, dass
Rassismus über biologische bzw. staatliche Rassekonzepte hinausgeht und
dass zahlreiche Biolog:innen selbst die Wissenschaftlichkeit des Rassebe-
gris in Frage stellten, einher, dass anhaltende Rassizierungen innerhalb
der Biologie nur noch unzureichend Beachtung fanden. Zugleich gerieten
auch die Körper aus dem Blick, die in der naturwissenschaftlichen wie auch
der gesellschaftlichen Praxis weiterhin sortiert, kategorisiert und bewertet
wurden. Schliesslich entpuppte sich der Verweis auf die biologische Wider-
legtheit von Rasse als problematische Defensive: Sie unterminierte die
Stärke sozialwissenschaftlicher Kritik und überliess die Aussagemacht über
ein soziales Verhältnis weitgehend den Biowissenschaften. Mit dem Blick
auf die Verwicklungen von NaturenKulturen wird oensichtlich, dass das
Feld des Biologischen mitnichten als geklärt bezeichnet werden kann. Was
hier anhand zweier Beispiele nachvollzogen wurde, gilt auch allgemein für
aktuelle Rassizierungen. Ob im Racial Proling, in den Kontroversen über
Mohrendarstellungen im öentlichen Raum, in den politischen Kampagnen
etwa zur «Ausschaungsinitiative» bzw. «Begrenzungsinitiative» oder in
den öentlichen Darstellungen und Diskursen über die «Anderen», in allen
diesen Formen von Rassizierung und Rassismus wird auf biologische wie
kulturelle Aspekte rekurriert. Nicht nur Diskurse, sondern ebenso äussere
Merkmal, Körper und auch Gene sind dabei als Orte der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung zu begreifen.
Resümierend wollen wir festhalten, dass mit Blick auf die Rassismusfor-
schung die kritische Aufmerksamkeit auf die beständigen Kopplungen von
NaturenKulturen in dreierlei Hinsicht relevant ist: Erstens lässt sich damit
fassen, wie naturwissenschaftliches Wissen stets mit kulturellen Wissensbe-
197
ständen interagiert und als Erkenntnisgegenstand nur über gesellschaftlich
geprägte Model le und Interpretationen bestimmba r ist. Zweitens verdeutlicht
dieser Fokus, dass Neorassismen und aktuelle Rassizierungen auf eine
Assem blage kultureller und naturalisierter Zuweisungen verweisen. Drittens
schliesslich betont die gewählte analytische Perspektive, dass Rassismus
und Rassizierungen reale Auswirkungen auf die Körper der Zugeordneten
haben– etwa hinsichtlich Gewalterfahrungen, Gesundheit, (Un-)Sicht-
barkeit oder Zugehörigkeit. Die Aussage, dass es keine Rassen gebe, kann
somit nicht mehr als ein Ausgangspunkt sein. “Race does not exist. But it
does kill people” formulierte treend die Soziologin Colette Guillaumin
(1995, 107), um deutlich zu machen, dass Rassizierungen und Rassismen
überaus wirksam sind. Für die Rassismusforschung folgt daraus, dass sie
sämtliche Formen von Rassizierungen in ihren jeweiligen Situationen und
Bezugssystemen berücksichtigen muss. Nur wenn wir verstehen, wie Rasse
in unterschiedlichen Konstellationen von NaturenKulturen hervorgebracht
wird, haben wir Ansatzpunkte, um Rassismus eektiv zu bekämpfen.
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