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Simon Schmidbauer, M.A.; Ricarda Rohrer, B.A.; Prof. Dr. Sonja Haug, 2021
Politische Beteiligungsmöglichkeiten von Migrant*innen in
Deutschland
- Handreichung für Multiplikator*innen
Simon Schmidbauer, Ricarda Rohrer, Sonja Haug
Begleittext zum Poster
Der Grundgedanke der Demokratie als Staatsform besteht darin, dass alle Macht vom Volk aus-
geht. Es darf also keinen einzelnen Herrscher oder eine kleine Gruppe von Menschen geben, die
uneingeschränkte Macht haben. Man kann aber nicht von „der einen“ Demokratie sprechen. In der
Politikwissenschaft werden unterschiedliche Ideale einer Demokratie beschrieben, wie auch
verschiedene Staaten und Systeme diese sehr unterschiedlich ausgestalten.
Politische Beteiligung ist in Deutschland verfassungsrechtlich durch das Grundgesetz (GG) ge-
schützt. Das Poster stellt verschiedene Optionen vor und zeigt auf, wie sich Migrant*innen am
politischen Willensbildungsprozess der Gesellschaft beteiligen können. Die hierbei vorgestellten
Aktivitäten decken dabei nicht alle möglichen Formen politischer Partizipation ab.
Wahl
Wahlen sind in demokratischen Systemen von zentraler Bedeutung. Durch sie werden politische
Ämter besetzt und damit der politische Kurs langfristig beeinflusst. Das Wahlrecht in Deutsch-
land ist aber von der Staatsangehörigkeit abhängig. Personen mit Migrationshintergrund, welche
die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen (z.B. Eingebürgerte1 oder (Spät-)Aussiedler*innen2),
haben sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht. Sie dürfen also sowohl ihre Stimme ab-
geben als auch sich selbst für eine Wahl aufstellen lassen. Dies gilt für Bundestags-, Landtags-
und Kommunalwahlen als auch für Wahlen der Europäischen Union. Ausländer*innen sind dem-
gegenüber grundsätzlich nicht wahlberechtigt. Eine Ausnahme bilden hierbei Staatsbürger*in-
nen der Europäischen Union, die einen Anteil von etwa zwei Drittel der Personen mit Migrations-
hintergrund in Deutschland ausmachen.3 Sie dürfen an Kommunalwahlen und den Wahlen für das
Europaparlament teilnehmen – also sowohl wählen als auch sich zur Wahl aufstellen lassen (Art.
28 Abs. 1 GG).
Parteien
Bei Wahlen spielen Parteien eine zentrale Rolle. Hierbei handelt es sich um Organisationen mit
politischem Programm, in der sich Menschen mit ähnlichen politischen Überzeugungen zusam-
1 Durch die Einbürgerung können Ausländer*innen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Einen An-
spruch auf Einbürgerung haben Personen, die seit acht Jahren dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland
leben und weitere Voraussetzungen erfüllen. Hierzu zählen insbesondere Sprachkenntnisse und das Ab-
solvieren eines Einbürgerungstests. Durch die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft muss in der
Regel die bisherige Staatsbürgerschaft aufgegeben werden.
2 Spätaussiedler*innen (vor 1992 sogenannte Aussiedler*innen) sind deutschstämmige Zugewanderte aus
Osteuropa, die auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Ihnen
wird die Einwanderung nach Deutschland zugesichert, auch wenn sie seit mehreren Generationen außer-
halb der deutschen Staatsgrenzen leben.
3 Quelle: Ausländerzentralregister, Stand 31.12.2019
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menschließen. Innerhalb eines Mehrparteiensystems, wie dem deutschen, konkurrieren politi-
sche Parteien um die Besetzung politischer Entscheidungspositionen. In und durch Parteien wird
der politische Willensbildungsprozess aber auch abseits der Wahlen stark beeinflusst.
Ausländer*innen können grundsätzlich Mitglieder in Parteien werden und in diesen mitbestim-
men und -arbeiten, wenn die Parteien dies zulassen. Der Großteil der Arbeit von Parteien vor Ort
wird von ehrenamtlich aktiven Mitgliedern getragen – nur die wenigsten Parteimitglieder üben
Politik als Beruf aus. Das Parteiengesetz macht lediglich die Vorgabe, dass Ausländer*innen nicht
die Mehrheit der Parteimitglieder oder des Vorstandes ausmachen dürfen. Von den derzeit im
Bundestag vertretenen Parteien schließt zwar keine Ausländer*innen völlig aus, jedoch machen
einige (CDU, CSU, FDP) eine gewisse Aufenthaltsdauer zur Bedingung.4
Direktdemokratische Verfahren
Machtvolle Beteiligungsformen sind direktdemokratische Verfahren5, sogenannte Begehren und
Entscheide, die an die Wahlberechtigung gekoppelt sind. Auf kommunaler Ebene nennt man
diese Bürger- und auf Landesebene Volksbegehren. Sie ähneln einer Unterschriftensammlung,
wobei jede*r unterschreiben darf, letztendlich aber nur diejenigen Personen gezählt werden, die
auf der jeweiligen Ebene wahlberechtigt sind. Haben ausreichend viele Personen das Begehren
unterzeichnet, folgt zumeist ein Bürger- oder Volksentscheid, wenn die Forderungen nicht von
der Politik umgesetzt werden. Hierbei handelt es sich dann um eine Abstimmung, an der aus-
schließlich diejenigen teilnehmen dürfen, die auch auf dieser Ebene wahlberechtigt sind. Geht
ein solcher Entscheid von der Regierung aus, nenn man dies auch Referendum.
Kontaktieren von Politiker*innen/ Petition
Aufgrund der Dauer der Legislaturperioden6 kann man argumentieren, dass der Einfluss auf po-
litische Entscheidungen abseits von Wahlen ebenso wichtig ist wie die Stimmabgabe selbst.
Grundsätzlich hat jede*r das Recht, die eigene Meinung kundzutun. Man spricht hierbei von der
sogenannten Meinungsfreiheit, unter die auch die Freiheit der Presse und der Berichterstattung
fällt (Art. 5 Abs. 1 GG). Politiker*innen dürfen daher direkt kontaktiert werden, um auf politische
Entscheidungsprozesse einzuwirken. Die Kontaktdaten von politischen Amtspersonen sind öf-
fentlich zugänglich. Um der eigenen Stimme mehr Nachdruck zu verleihen, können beispiels-
weise Unterschriften von Befürworter*innen gesammelt werden. Wird eine Bitte oder Be-
schwerde von Einzelpersonen oder in Gemeinschaft schriftlich an eine Behörde oder die Volks-
vertretung herangetragen, so spricht man von einer sogenannten Petition (Art. 17 GG). Jede*r hat
das Recht, dass diese entgegengenommen und beantwortet wird.
Demonstration/ Streik
Ein besonders öffentlichkeitswirksames Mittel der Meinungsbekundung sind Demonstrationen,
die durch die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) geschützt sind, auf die sich ebenfalls jede*r beru-
fen kann. Diese müssen lediglich bei der zuständigen Behörde angemeldet werden und sind nicht
genehmigungspflichtig (§14 Versammlungsgesetz). Von einem Streik spricht man dann, wenn Ar-
beitnehmer*innen gemeinsam die Arbeit niederlegen, um ein gemeinsames Ziel bezüglich ihrer
Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zu erreichen. Der sogenannte „Arbeitskampf“ ist ge-
sondert geschützt (Art. 9 Abs. 3 GG). Eine wichtige Rolle spielen dabei Gewerkschaften. Diese
sind Vereinigungen von und für Arbeitnehmer*innen mit dem Ziel, deren wirtschaftliche, soziale,
4 Quelle: Eigene Recherche in den Statuten der im Bundestag vertretenen Parteien.
5 Von direktdemokratischen Verfahren spricht man, da diese direkt politische Entscheidungen beeinflussen. An-
ders als bei der Wahl wird hier also nicht über die Besetzung von politischen Ämtern, sondern über Sachfragen
entschieden. In Deutschland sind diese grundsätzlich nur auf kommunaler und Landesebene vorgesehen. Auf
Bundesebene sieht das Grundgesetz einen Volksentscheid nur bei einer Neugliederung der Bundesländer vor.
6 Die
Legislaturperiode
ist der Zeitraum, wie lang die gewählte Volksvertretung regieren kann. Ist das deutsche
Parlament einmal gewählt, sind die Abgeordneten vier Jahre im Amt. Die Landesparlamente werden in der Regel
für einen Zeitraum von fünf Jahren gewählt.
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gesellschaftliche und politische Interessen zu vertreten. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Re-
gulierung von Arbeitsbedingungen (Lohn, Arbeitszeit, Urlaub) über gemeinsame Vereinbarungen
(Tarifverträge) mit Arbeitgeber*innen. Gewerkschaften sind vom Staat und von Parteien unab-
hängig und richten sich auch an politische Institutionen, um auf politische Entscheidungen Ein-
fluss zu nehmen.
Migrant*innenorganisationen
Grundsätzlich können sich Gleichgesinnte in Vereinigungen zusammenschließen (Art. 9 Abs. 1
GG). Handelt es sich hierbei Verbände von und für Personen mit Migrationshintergrund, so spricht
man von sogenannten Migrant*innenorganisationen. Diese können beispielsweise kulturelle, un-
ternehmerische oder soziale, aber eben auch politische Ziele verfolgen und fördern die gesell-
schaftliche Beteiligung von Migrant*innen.
Integrationsrat
Gemeinden dürfen aufgrund der sogenannten kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 28 GG)
eigenständig beratende Gremien einrichten, die sich mit kommunalen Anliegen und Bedarfen be-
schäftigen. Viele Kommunen haben daher Integrationsräte eingerichtet, die der politischen Ver-
tretung von den besonderen Belangen von Ausländer*innen und Personen mit Migrationshinter-
grund im Stadtrat dienen sollen. Viele dieser Beiräte werden von der Migrationsbevölkerung ge-
wählt, manche durch den Stadtrat bestellt. Diese können sehr unterschiedlich heißen und aus-
gestaltet sein, haben aber lediglich eine beratende Funktion. Abgesehen von diesen kommuna-
len Beiräten gibt es diese auch auf Landes- und Bundesebene sowie Zusammenschlüsse, wie die
Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrationsbeiräte Bayerns (AGABY).
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Kurzinformationen zum Poster
Beteiligungsform
Inhalt
Wahl
Europa-, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen.
Deutsche Staatsbürger*innen dürfen wählen und gewählt werden.
EU-Bürger*innen dürfen auf kommunaler und europäischer Ebene
wählen.
Partei
Über Parteien werden politische Ämter besetzt (>
Wahl
).
Parteien sind eine Form der >
politischen Vereinigung
.
Ausländer*innen dürfen Mitglieder werden und Parteiämter
besetzen. Aber: Die Mehrheit der Mitglieder und des Vorstands
müssen deutsche Staatsangehörige sein.
Direktdemokratische
Verfahren: Begehren
und Entscheide
Unterscheidung von Begehren und Entscheiden auf kommunaler
oder Landesebene.
Beteiligung ist an die Wahlberechtigung gekoppelt (
>Wahl
).
Nicht-Wahlberechtigte können Begehren unterzeichnen, um ihnen
mit ihrer Stimme Nachdruck zu verleihen. Bei der Auszählung
werden ihre Stimmen jedoch nicht berücksichtigt. Bei
Entscheiden dürfen ausschließlich die Wahlberechtigten
abstimmen.
Kontaktieren und
Petition
Jede*r darf Behörden und Amtspersonen alleine oder in
Gemeinschaft kontaktieren.
Von einer Petition spricht man dann, wenn eine Bitte oder
Beschwerde schriftlich vorgebracht wird.
Ein häufiges Mittel um dem eigenen Wort Nachdruck zu verleihen
sind Unterschriftensammlungen (>
Begehren
).
Demonstration
Öffentliche Versammlungen wie Demonstrationen sind nicht
genehmigungspflichtig. Sie müssen aber rechtzeitig (i.d.R. 48
Stunden vor Beginn) angemeldet werden. Von ihnen werden
>Streiks
abgegrenzt.
Streik
Form des Arbeitskampfs, bei dem die Arbeit niedergelegt wird.
Gewerkschaften sind >
politische Vereinigungen
, die für
Arbeitnehmer*innen-Rechte einstehen und Streikende
unterstützen.
Politische
Vereinigung
Jede*r hat das Recht Vereinigungen zu bilden. Diese
Vereinigungen können auch politische Ziele verfolgen.
Auch bei >
Parteien
oder >
Gewerkschaften
spricht man von
politischen Vereinigungen, für die aber zusätzliche
Voraussetzungen gelten.
Integrationsrat
Bund, Länder und Kommunen können Gremien einsetzen, die
Entscheidungsträger beraten. So besitzen inzwischen viele
Kommunen in Deutschland Integrationsräte, die sich für die
Belange von Migrant*innen einsetzen.
Die Integrationsräte können sehr unterschiedlich benannt werden
(z.B. Ausländerrat, Integrationsbeirat oder Migrationsrat).
Integrationsräte werden üblicherweise bestellt (ernannt) oder
direkt von der Migrationsbevölkerung gewählt.
Da Integrationsräte lediglich eine beratende Funktion haben, ist
ihr Einfluss aber oft nur gering.