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Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens

Authors:

Abstract

In diesem autobiografischen Beitrag werden einige Szenen, Entscheidungen und Gegebenheiten dargestellt, die für meinen Lebensweg als Psychotherapeut, Wissenschaftler und Hochschullehrer essenziell waren. Statt einer linearen Abfolge von Begebenheiten entlang einer historischen Zeitachse wird die Metapher eines Spiegel-Kaleidoskops gewählt. Damit ist möglich, wichtige Begebenheiten szenisch-narrativ zu betrachten. Solche Szenen beziehen sich auf Aspekte wie Kairos, fördernde Menschen, was ich als Psychotherapeut und als Wissenschaftler gelernt habe und was mir wichtig ist – Letzteres auch in Bezug auf meinen eigenen Ansatz, die »Personzentrierte Systemtheorie«. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf eine wünschenswerte Psychotherapie und deren Forschung.
Jürgen Kriz
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
35045
Psychotherapie
27. Jahrgang, Nr. 1, 2022, Seite 7794
Psychosozial-Verlag
DOI: 10.30820/2364-1517-2022-1-77
ZEITSCHRIFTENARCHIV
Psychotherapie
2022 | 27. Jg. | Heft 1
Psychotherapeutische Persönlichkeiten
Herausgegeben von Serge K. D. Sulz
Wissenschaftlicher Beirat
Prof. Dr. med. Matthias Berger, Freiburg
Prof. Dr. med. Peter Buchheim, München
Prof. Dr. med. Gerd Buchkremer, Tübingen
Prof. Dr. phil. Josef Duss-von-Werdt, Luzern
Prof. Dr. med. Hinderk Emrich, Hannover
Prof. Dr. med. Manfred Fichter, Dipl.-Psych.,
Prien
Prof. Dr. med. Erdmuthe Fikentscher, Halle
Prof. Dr. Toni Forster, Dipl.-Psych., Dachau
Prof. Dr. med. Michael Geyer, Leipzig
Dr. med. Siegfried Gröninger, Dipl.-Psych.,
München
Prof. Dr. phil. Monika Hasenbring, Bochum
Prof. Dr. phil. Siegfried Höfling, Dipl.-Psych.,
Karlsfeld
Prof. Dr. phil. Renate de Jong, Dipl.-Psych.,
Münster
Prof. Dr. med. Rudolf Klußmann, München
Prof. Dr. phil. Armin Kuhr, Dipl.-Psych., Hanno-
ver
Prof. Dr. med. Michael Linden, Dipl.-Psych.,
Berlin
Prof. Dr. phil. Jürgen Margraf, Dipl.-Psych.,
Basel
Prof. Dr. med. Rolf Meermann, Dipl. Psych.,
Pyrmont
Prof. Dr. phil. Wolfgang Mertens, Dipl.-Psych.,
München
Priv.-Doz. Dr. phil. Mechthild Papousek,
München
Prof. Dr. phil. Franz Petermann, Dipl.-Psych.,
Bremen
Prof. Dr. phil. Eibe-Rudolf Rey, Dipl.-Psych.,
Mannheim
Prof. Dr. phil. Armin Schmidtke, Würzburg
Psychotherapie 2022, 27 (1) 3
Psychotherapie 2022, 27 (1)
Inhalt
Editorial 5
Psychotherapeutische Persönlichkeiten
Rückblicke, Blick in den Spiegel und Botschaften
Serge K. D. Sulz
Wie und warum aus mir
eine Ärztin und Psychoanalytikerin geworden ist 9
Regine Scherer-Renner
Von Sigmund Freud zur Verhalte nsth erapie mit Körper und Ge fühl 27
Gudrun Görlitz
Mein Leben als Ärztin und Psychotherapeutin 51
Luise Reddemann
Gestalten als Therapie 63
Ein Arbeits-Lebensrückblick
Ingrid Riedel
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens 77
Jürgen Kriz
Mein psychotherapeutischer Weg:
Von der Kond itio nierung zu Ke tami n 95
Dirk Revenstorf
Von Einfachheit zu Komplexität:
Die Entwicklung meines Denkens über Psychotherapie 109
Rainer Sachse
Psychotherapie als Lebensweg 119
Hans-Joachim Maaz
Therapeutendämmerung auf dem Weg durch das Felsentor 131
Willi Butollo
© Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG, Gießen | www.psychosozial-verlag.de 77
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
Jürgen Kriz
Psychotherapie 2022, 27(1), 77–94
https://doi.org/10.30820/2364-1517-2022-1-77
www.psychosozial-verlag.de/psychotherapie
Zusammenfassung: In diesem autobiograschen Beitrag werden einige Szenen, Entscheidungen
und Gegebenheiten dargestellt, die für meinen Lebensweg als Psychotherapeut, Wissenschaler
und Hochschullehrer essenziell waren. Statt einer linearen Abfolge von Begebenheiten entlang
einer historischen Zeitachse wird die Metapher eines Spiegel-Kaleidoskops gewählt. Damit ist
möglich, wichtige Begebenheiten szenisch-narrativ zu betrachten. Solche Szenen beziehen sich
auf Aspekte wie Kairos, fördernde Menschen, was ich als Psychotherapeut und als Wissenscha-
ler gelernt habe und was mir wichtig istLetzteres auch in Bezug auf meinen eigenen Ansatz,
die »Personzentrierte Systemtheorie«. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf eine wün-
schenswerte Psychotherapie und deren Forschung.
Schlüsselwörter: Autobiograe, Kairos, Psychotherapieforschung, Relativität, Diskursivität, Ver-
antwortung, Synergetik, Personzentrierte Systemtheorie
»Was ist die Vergangenheit? Könnte es sein, dass die Unverrückbarkeit der
Vergangenheit nur eine Täuschung ist? Könnte es sein, dass die Vergangen-
heit ein Kaleidoskop ist, ein Bildermuster, das sich bei jeder Störung durch
einen plötzlichen Windhauch, durch ein Lachen, einen Gedanken verän-
dert?«
Alan Lightman1
Rahmung: Zur Bedeutung
eines Spiegel-Kaleidoskops
Für seine Rede zu meiner Emeritierung, im
Februar 2010, wählte Arist von Schlippe
den Titel: »Blick ins Kaleidoskop, oder:
ein virtueller ›Diavortrag‹«. Von Schlippe,
der über zwei Jahrzehnte mein Mitarbeiter
war und inzwischen längst Kollege (Univer-
sität Witten) und guter Freund geworden
ist, überreichte mir dazu ein Kaleidoskop in
physischer Form– so wie man es in guten
1 Alan Lightman (1994). …und immer wieder die Zeit.
Einsteins Dreams. München: Droemer, S.197.
Spielzeugläden kaufen kann. Das Symbol
des Kaleidoskops verwendete er, um statt
irgendeiner zeitlich und logisch durch-
strukturierten Erzählung einzelne Bilder
zu entfalten, die er aufgrund unserer langen
gemeinsamen Zeit als typisch für mein
Wirken ansah. Ein Kaleidoskop ermöglicht
es ja, immer wieder auf »dasselb– eine
Menge kleiner bunter Glassplitter aus
unterschiedlichen Betrachtungswinkeln zu
blicken. Dabei ordnen sich diese Teile je
nach Drehung des Kaleidoskops zu einer
erstaunlichen Anzahl von o überraschen-
den Bildern.
Daher eignet sich ein Kaleidoskop
78 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
sehr gut als Metapher, um auf die Vergan-
genheit, besonders die Lebensgeschichte
eines Menschen, zu blicken. Denn eine
solche »Geschichte« lässt sich nur unter
Anwendung recht künstlich-historischer
Ordnungseingrie mit Verweis auf äußere
»Fakten « un d Aufz eichnun gen vom de-
klarativen Gedächtnis konstruieren und er-
zählen. Innerlich ist für das, was wir unsere
eigene Vergangenheit nennen, sowie für
das, was wir über die gemeinsamen Erleb-
nisse mit anderen erinnern, weit mehr das
episodische Gedächtnis zuständig : Es han-
delt sich um sinnvolle Inseln im Zeitstrom,
die wir gegebenenfalls narrativ zu einer
Landscha verbinden. Da aber diese Nar-
rationen je nach Stimmung, Fragestellung,
Anliegen, Intention usw. andere Inseln aus-
wählen und einbeziehen, gibt es prinzipiell
viele narrative Archipele, die wir dann in
Worte kleiden und als »Vergangenheit«
bezeichnen– ganz so, wie es auch das obige
Zitat von Lightman ausdrückt.
Als ein solches Kaleidoskop von Sinn-
Bildern und -Inseln im Zeitstrom meines
Lebens ist dieser Beitrag zu verstehen.
Dabei ist freilich ein bedeutsamer Unter-
schied zu beachten: Das Kaleidoskop, das
mein Freund Arist von Schlippe auf mein
Leben richtete, war ja durch seinen Blick
auf mich und die entsprechenden Bilder
bestimmt. Bei einer autobiograschen Per-
spektive hingegen handelt es sich quasi um
Spiegelbilder. Es geht also um Betrachtun-
gen in einem Spiegel-Kaleidoskop. Das
erscheint mir einerseits als besonders he-
rausfordernd; wissen wir doch, dass sich
beispielsweise eine ematik wie »Scham«
nur dadurch ergibt, dass ein Mensch er-
kennt, wie andere Menschen ihn und sein
Handeln sehen und er sich dadurch ent-
deckt fühlt. Andererseits hat dies auch
etwas Beruhigendes: erblicke ich doch in
diesem Spiegel gleichzeitig mit mir die
vielen Menschen, die mir zur Seite standen
und stehen, sowie jene hinter mir, die mir
den Rücken gestärkt haben und stärken.
Nur die ses Bew usstsein von Unterstüt zung
und Solidarität, das für mein Leben tragend
ist, hat es mir ermöglicht, nicht einfach
im »Mainstream« mitzuschwimmen. Die
vielen Bilder, die in mir zum ema »So-
lidarität« auauchen, erfüllen mich mit
großer Dankbarkeit auch wenn ich die
Personen und Szenen hier nur vereinzelt
und vieles implizit wiedergebe.
Entsprechend dem therapeutischen
Leitsatz »so persönlich wie möglich, aber
nichts Privates« werde ich dabei private
und familiäre Teileauch wenn sie in fast
jedem Bild des Kaleidoskops mit enthal-
ten sindweitgehend für mich behalten.
Vieles hätte sich ohne den Rückhalt und
die Unterstützung in der Familie gar nicht
so ergeben können. Es gab andere Kontexte,
meine tiefe Dankbarkeit auch dafür auszu-
drücken und es wird hoentlich noch
weitere geben. In diesem Text wäre dies in
angemessenem Umfang nicht möglich.
Kairos
Wenn ich das Spiegel-Kaleidoskop unter
der Fragestellung drehe, was mich eigent-
lich zur Psychotherapie gebracht hat, so
lässt sich die Vielfalt der Bilder am besten
mit dem Begriff »Kairos« beschreiben:
Ein Zusammentreen günstiger Umstände
und innerer Bereitscha, diese zu erkennen
und zu nutzen, sodass es zu einer glückli-
chen Fügung kommt. Es sei nur am Rande
vermerkt, dass ich die Sensibilität für solche
möglichen Konstellationen sowohl bei
Menschen, die erapie anbieten, als auch
bei Menschen, die diese erfahren– für sehr
wichtig und daher für unterstützens- und
förderungswert erachte.
Zum Kairos meiner psychotherapeuti-
schen Erfahrungen gehört das Glück, dass
Psychotherapie 2022, 27 (1) 79
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
eine meiner ersten Patientinnen ein angeb-
lich »schwerer Fall« war: Ihr war von Psy-
chiatern eine »endogene Depression« diag-
nostiziert worden und dementsprechend war
sie in Kliniken in Göttingen und zwei Jahre
später Hamburg mit Elektroschocks »be-
handelt« worden. Als sie zu mir kam, ging
es ihr so schlecht, dass sie trotz der negativen
Erfahrungen in diesen Kliniken überlegte,
sich ein weiteres Mal einweisen zu lassen.
Aber irgendwie hatte sie über eine Bekannte
von mir gehört und wollte es einfach mal
versuchen, ob das etwas bringt. Die era-
pie dauerte rund 30Sitzungen. Dann ging es
ihr so viel besser, dass sie ihren weiteren Weg
allein gehen wollte. Viele Jahre später habe
ich sie zufällig getroen: Sie konnte mit
den Belastungen des Alltags gut umgehen
und hatte keine einzige weitere depressive
Episode gehabt. Natürlich war »endogene
Depression« eine Fehldiagnose und die
zweimalige Behandlung mit Elektroschocks
(fachlich verharmlosend »Elektrokrampf-
therapie (EKT)« genannt) mindestens als
»fragwürdig« zu bezeichnen. Aber mich
hat die Erinnerung an diesen Erfolg immer
wieder gegen Selbstzweifel unterstützt,
wenn erapien weit länger dauerten und
keineswegs so klar erfolgreich verliefen.
Allerdings taucht in meinem Lebenslauf
das ema »Psychotherapie« in den ersten
drei Lebensjahrzehnten gar nicht auf. Als
jüngstes von drei Kindern einer Krieger-
witwe aus der Arbeiterschicht, ausgebombt
und ohne familiäre Unterstützung, war ich
(neben Musik) eher an technisch-naturwis-
senschalichen Fragen interessiert.2 Es war
2 Genauere biografische Daten sind in diesem Bei-
trag eher spärlich vorhanden, da diesbezüglich
einige ausführlichere Darstellungen/Interviews
publiziert sind, u. a.: Die theoretische Ausrichtung
und der zugrunde liegende Lebensweg. In: Otto
F. Kernberg, Birger Dulz& Jochen Eckert (Hrsg.):
WIR– Psychotherapeuten über sich und ihren »un-
möglichen« Beruf. Stuttgart: Schattauer, 2004,
bereits eher ungewöhnlich, das Gymnasium
zu besuchen: Von den rund 100Kindern
meines Jahrgangs an der von mir besuch-
ten Volksschule schaen nur vier diesen
Sprungund ich war der Einzige, der bis
zum Abitur kam. Immerhin hatte aber
mein sieben Jahre älterer Bruder ebenfalls
das Abitur gescha. Psychologie hlte
ich eher zufällig als Studienfach. Ich hatte
irgendwo gelesen, dass man damit »Dozent
an pädagogischen Hochschulen« werden
konnte, was ich irgendwie attraktiv fand. Es
gab damals weder bei mir noch in der Be-
völkerung ein klares Bild darüber, was ein
Psychologe ist und was er macht. Aus heu-
tiger Sicht würde ich aber rekonstruieren,
dass die geistes- und sozialwissenschali-
chen Fächer mir (schichtbedingt) absolut
nichts sagten und die naturwissenscha-
lichen Fächer im engeren Sinne (Physik,
Chemie etc.) mir zu menschenfern waren.
Psychologie war selbst in meiner naiven
Vorstellung damals– so etwas wie eine Ver-
bindung bzw. ein Kompromiss zwischen
beiden Welten.
In Hamburg, wo ich das Psychologiestu-
dium im April 1964 begann, gab es (noch)
keine Psychotherapie; ebenso in Wien,
wohin ich nach drei Semestern wechselte.
An beiden Psychologischen Instituten
herrschte eine naturwissenschalich-expe-
rimentelle Orientierung vor, die mir sehr
zusagte. Da ich nur eine winzige Waisen-
rente bekam, musste ich ständig nebenbei
Geld verdienen. In Wien hörte ich 1966
vom »Institute for Advanced Studies«, das
einen der ersten Computer in Österreich
hatte (noch Jahre vor der Universität Wien),
S.426–431; Wenn Sterne langweilig werden. Inter-
view mit Jürgen Kriz. DIGK-Journal 2012, S.8–16;
»Das Wichtigste ist, zu denken, nicht so sehr Fak-
ten zu lernen« Jürgen Kriz im Gespräch mit Tom
Levold. KONTEXT 50, 4, 2019, S.391–414; siehe
auch den Eintrag in Wikipedia.
80 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
und fragte nach, ob ich dort programmie-
ren lernen könne. Nach zwei Wochen bot
mir das Institut eine Stipendiaten-Stelle im
Rechenzentrum an, auf der ich (umgewan-
delt in eine Forschungsassistentenstelle)
bis zu meinem Wechsel an die Universität
Hamburg im April 1970 blieb. Eigentlich
hatte mir Peter R.Hofstätter eine Dozen-
tenstelle in Hamburg angeboten; ich hatte
sogar bereits »meine« Räume besichtigt
und mir zugedachte Mitarbeiter getroen.
Kurz vor der Vertragsunterzeichnung gab
es aber einen Eklat wegen Hofstätters Ver-
gangenheit im Dritten Reich als Psycho-
loge beim Militär. Die Stelle, auf die ich
kommen sollte, wurde ihm gestrichen– al-
lerdings meinten die Soziologen (die mit
den Psychologen im selben Fachbereich
waren) auf derselben Sitzung: »Ach, dann
nehmen wir den doch Ich hatte Jahre
zuvor in Hamburg neben der Psychologie
auch Veranstaltungen im »sozialpädago-
gischen Zusatzstudium« absolviert und
einige der Soziologen hatten mich oenbar
in guter Erinnerung.
Schon diese skizzierten Etappen waren
von sehr vielen Zufällen und großem Glück
getragen: Die Wahl des Faches Psycho-
logie, der Wechsel nach Wien, die Stelle
im »Institute for Advanced Studies«,
Hofstätters Stellenangebot (weil er mich
auf einem Kongress gehört hatte) und die
»Üb erna hme « dur ch d ie S oz iol og en al l
dies waren schlicht Glücksfälle, zu denen
ich wenig beigetragen hatte. Als sie sich so
konstellierten, habe ich sie einfach ergrif-
fen. Ähnlich war es auch mit den weiteren
Weichenstellungen: Dass 1972 eine Profes-
sur für Statistik an der kurz zuvor gegrün-
deten Universität Bielefeld ausgeschrieben
wurde und zwei Jahre später ein Lehrstuhl
für Forschungsmethoden, Statistik und
Wissenschaftstheorie an der Universität
Osnabrück, sind ebenso glückliche Zufälle
wie viele Umstände, die jeweils zum Erfolg
der Bewerbungen führten, deren Details
den Rahmen dieses Beitrags sprengen
würden. Förderlich war zweifellos, dass in
den 1970er Jahren etliche neue Universi-
täten gegründet wurden und viele Profes-
sorenstellen entstanden. Es war jedenfalls
alles andere als eine geplante Karriere. Und
ich glaube nicht, dass unter den heutigen
Bedingungen an Universitäten so etwas
möglich wäre.
In Osnabrück, ab 1974, begann nun
meine Beschäigung mit Psychotherapie.
Ich war 29Jahre alt, hatte einen Lehr-
stuhl und weit mehr als mein bisheriges
Leben vor mir. Es lag somit nahe, gründ-
lich nachzudenken, was in meinem Leben
fortan mehr und was weniger wichtig
werden sollte. Es wurde mir deutlich, dass
ich eigentlich schon immer an helfenden
Kontakten zu Menschen Interesse hatte,
nur bisher keine Gelegenheit, dem profes-
sionell nachzugehen. Zudem war ich auch
zunehmend an Fragen interessiert, was die
»Re ali tät« ein es Men sch en ausmac ht, wie
sich diese verändert, was das soziale Umfeld
und die Gesellscha dazu beiträgt und wie
sich Veränderungsprozesse fördern lassen.
Ich begann daher eine Psychotherapieaus-
bildung. Rückwirkend gesehen war dies
ein erster Schritt, in die Psychologie zu-
rückzukommen. Das war mir damals aber
nicht klar: Ich hätte mir nicht vorstellen
können und es war schon gar nicht ge-
plant einige Jahre später tatsächlich auf
eine Psychologie-Professur zu wechseln.
Auch die erapierichtung für meine
Ausbildung war keine sorgfältige Auswahl,
sondern eher davon bestimmt, dass diese
Möglichkeit bestand, einen großen Teil
der Ausbildung vor Ort, in Osnabrück,
zu absolvieren. So kam ich zur Gesprächs-
psychotherapie, was sich bald als weitere
glückliche Fügung herausstellte. Denn der
Ansatz von Carl Rogersund auch seine
Person insgesamt entsprachen und ent-
Psychotherapie 2022, 27 (1) 81
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
sprechen einem (Vor-)Bild, mit dem ich
mich voll identizieren kann. Dazu gehört
auch, dass dieser Ansatz nicht aus Verbots-
schildern besteht oder aus Vorgekautem,
das einfach zu schlucken wäre, sondern aus
zentralen Grundprinzipien, die selbst ent-
faltet und weiterentwickelt werden dürfen
und müssen. Ich bin jedenfalls recht sicher,
dass Rogers mit Wohlwollen auf meine
»Per son zentrie rte Syst emth eor ie« blicken
würde, auch wenn orthodoxe »Rogeria-
ner« manches nicht auf eine Exegese seiner
Schrien zurückführen können.
Die letzte bedeutsame Weichenstellung,
die ich dem Kairos verdanke, war die Grün-
dung eines Fachbereichs Psychologie an der
Universität Osnabrück im Jahr 1980. Es
gab bis dahin nur eine Anzahl von Professo-
ren und Lehrenden in Psychologie an dieser
Uni ver si tät im Rahmen de r Lehrer aus bil-
dung. Ich selbst war ja an einer Fakultät für
Sozialwissenschaen. Aber an einer (damals
noch) überschaubaren Universität »kannte
man sich« aus diversen Zusammenhängen.
So wurde ich gefragt, ob ich nicht bei der
Gründung der Fakultät mitmachen wolle.
Eigentlich enthielt diese Einladung die
Vorstellung, dass ich dort eine Professur im
Rahmen von Forschungsmethoden/Statis-
tik übernehmen sollte. Ich hingegen nutzte
das Angebot, um deutlich zu machen, dass
ich nur kommen würde, wenn man mir
eine Professur für Psychotherapie und Kli-
nische Psychologie anbieten würde. Dem
wurde letztlich von allen Seiten (inklusive
Uni ve rsi tät sl eit ung un d M in ist eri um) z ug e-
stimmtich hatte inzwischen auch etliches
auf diesem Gebiet publiziert. Der Fachbe-
reich Sozialwissenschaen wollte mich zwar
nur unter der Bedingung gehen lassen, dass
ich weiterhin die zentralen Veranstaltun-
gen in Statistik, Forschungsmethoden und
ihren wissenschastheoretischen Grundla-
gen abhielt, sodass ich formal mit je halber
Stelle an beiden Fachbereichen war. Real
allerdings war die Lehre in diesen Fächern
eher unterfordernd ganz im Gegensatz
zum Aufbau und Betrieb einer psycholo-
gischen Fakultät (ich war zweimal Dekan)
und besonders einer psychotherapeutisch-
klinischen Abteilung (noch dazu in Ge-
bäuden eines Landeskrankenhauses mit
damals über 1.000 psychiatrischen Betten).
Daher lag die konkrete Arbeitsverteilung
bei rund 85 % zu 15 % zugunsten der Psy-
chotherapie. Da eine Erweiterung meiner
bisherigen oziellen Denomination »Em-
pirische Sozialforschung und Statistik und
ihre wissenschastheoretischen Grundla-
gen« um »sowie Psychotherapie und Kli-
nische Psychologie« mir denn doch etwas
zu demonstrativ-großspurig erschien, ließ
ich es einfach dabei bewenden: Jeder wusste
und konnte ja sehen, was ich mache. Erst ab
1999 ließ ich meine Denomination oziell
in »Psychotherapie und Klinische Psycho-
logie« ändern und schied damit auch aus
dem Fachbereich Sozialwissenschaen aus.
Mit Karl-Heinz Wiedl beriefen wir
wenig später einen zweiten klinischen
Lehrstuhl, in dessen Denomination ein-
fach die beiden Begrie umgedreht waren,
nämlich »Klinische Psychologie und Psy-
chotherapie« (die heute an den meisten
Universitäten auch übliche Bezeichnung),
was meinem Interesse hauptsächlich an
der Psychotherapie auch sehr entgegen-
kam. Mit weiteren Professoren, wie unter
anderem Peter Machemer, die sich in der
»klinischen« Lehre engagierten, etlichen
Mitarbeitern und vielen Lehrbeauragten
schufen wir das »Osnabrücker Modell«.
Dies sah nach zwei (Hauptstudium-)Semes-
tern mit übergreifenden therapeutischen
Lehrveranstaltungen die Möglichkeit einer
mehrsemestrigen Vertiefung und Praxis in
einem der vier Bereiche Verhaltenstherapie,
Psychodynamische erapie, Humanisti-
sche Psychotherapie (fokussiert auf Person-
zentrierte Psychotherapie) und Systemische
82 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
erapie vor. Für die letzteren beiden war
ich verantwortlich, wobei mir– als weiterer
großer Glücksfall– vor allem der eingangs
bereits zitierte Arist von Schlippe mit seiner
besonderen systemischen Kompetenz zur
Seite stand (der dann auch bei mir promo-
vierte und habilitierte). Diese umfangreiche
Lehre in Psychotherapie, verbunden mit
hohen Praxisanteilen durch Kooperation
mit Kliniken, Beratungsstellen und Praxen
und zahlreichen entsprechenden Projekten,
machte das »Osnabrücker Modell« so at-
traktiv, dass am schwarzen Brett viele Zettel
hingen: »Suche Studienplatz in Osnabrück
zum Tausch gegen X«– wobei für »X« et-
liche der »berühmten« Universitäten ein-
zusetzen wären. Da ich sehr viele Jahre das
Prüfungsamt in Psychologie leitete, weiß
ich, dass erstaunlich viele Studierende gut
bezahlte Plätze in Kliniken und Institutio-
nen fanden, längst bevor sie ihre Diplom-
arbeit abgegeben hatten. Es mussten zahl-
reiche Bescheinigungen ausgestellt werden,
dass alle Prüfungen absolviert waren und
nur noch die Diplomarbeit geschrieben
werden musste, deren positives Ergebnis
aufgrund der bisherigen Leistungen sehr
wahrscheinlich wäre.
Rückblickend war es eine sehr arbeitsrei-
che, aber auch erfüllende Zeit bestimmt
von einer Aufbruchstimmung in Psycho-
therapie und ihrer universitären Lehre. Wie
mir noch heute bisweilen ehemalige Stu-
dierende schreiben, haben es auch etliche
von ihnen ähnlich empfunden. Noch gut
zehn Jahre vor meiner Emeritierungdas
heißt Ende der 1990er Jahrehätte ich
mir nicht vorstellen können, mich freiwil-
lig eher als nötig entpichten zu lassen (als
Ordinarius, der emeritiert wird, darf man
diesen Zeitpunkt in bestimmtem Rahmen
ja selbst bestimmen). Die Umstellung des
Diplomstudiums auf ein verschultes Bache-
lor-/Master-System, in dem die unkritische
Wiedergabe vermeintlicher »Fakten« und
das Ankreuzen vorgefertigter Antworten
weit mehr gefördert wird als die Motiva-
tion, selbst zu denken und Vorgegebenes
kritisch zu hinterfragen, erleichterten mir
allerdings die Entscheidung, mich dann
doch recht frühzeitig emeritieren zu lassen.
Im Bereich der Psychotherapie wurde
dies noch besonders dadurch unterstützt,
dass die institutionellen Vorteile des Psy-
chotherapeutengesetzes von 1999 und
damit die formelle Aufwertung der Psy-
chotherapeutinnen im Gesundheitssystem
um den Preis erreicht wurde, sich in ein
medizinisches System zu begeben, das von
technisch-medikalisierter Ideologie und
fragwürdiger Ezienz geleitet ist. Zu viel
We s e n t l i c h e s v o n d e m , w a s i c h u n t e r P s y -
chotherapie verstehe, bleibt hier auf der
Strecke bzw. wird einem vordergründigen
Ezienzdenken untergeordnet. Aber wie
bei jedem großen Systemwechsel gibt es na-
türlich auch Menschen, denen eine solche
neue Sichtweise liegt und die es an die
Schaltstellen von Macht und Funktionen
treibt. Das wäre für Entwicklungen und
Erneuerungen auch gut sowenn solche
Macht nicht zum Missbrauch verleiten
würde, allen anderen die eigene Ideologie
überstülpen zu wollen und alles, was der
eigenen »Wahrheit« nicht entspricht, als
»unwissenschaftlich« zu diskreditieren
oder gar als »feindlich« zu betrachten, was
es zu eliminieren gilt. Als jemand, der stets
für die Vielfalt an Perspektiven und die Plu-
ralität von Therapieansätzen eingetreten
ist– in der Überzeugung, dass nur dies der
Heterogenität an Werten und Biograen
in unserer Multikulti-Gesellscha gerecht
wird–, fühle ich mich zunehmend ausge-
laugt, gegen die Verengung von Sichtweisen
und das Propagieren einer einzigen »Wahr-
heit« ins Feld zu ziehen.
Die Zukun wird zeigen, ob dieser Sys-
temwechsel in der Psychotherapie, für den
das Psychotherapeutengesetz von 1999 als
Psychotherapie 2022, 27 (1) 83
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
Katalysator wirkte, den Menschen langfris-
tig mehr nützt als schadet und ob destruk-
tive Auswüchse wieder verschwinden. Ich
gebe zu, hier recht skeptisch zu sein.
Fördernde Menschen
Lehrmeister, Kolleginnen
Viele der inneren Bilder haben mit den
Menschen zu tun, die ich im Spiegel-Kalei-
doskop meiner autobiograschen Szenen
vor allem an ihrem Einuss auf mein Selbst-
verständnis erkennen kann. Ich hatte das
Glück, zu einer Zeit zu studieren, als es an
vielen Universitäten nur sehr wenige Pro-
fessoren gab und die daher »die Psycho-
logie« jeweils in einer beträchtlichen Breite
vertraten. Wahrscheinlich waren sie an De-
tailwissen derartiger Fülle heutigen Spezi-
alisten unterlegen. Aber sie waren bemüht
und in der Lage, vielfältige Verbindungen
herzustellen und zu vermitteln und konn-
ten so Begeisterung für das Fach wecken.
Meine beiden großen Vorbilder in dieser
Hinsicht waren schon als Student Peter
R. Hofstätter in Hamburg und Hubert
Rohracher in Wien. Mein Bild von einem
»guten« Professor als Leitbild dafür,
wie ich anderen Menschen in Studium,
Ausbildung und Super vision etwas vermit-
teln möchtestammt fraglos von diesen
beiden Persönlichkeiten. Dieses Leitbild
führte mit dazu, dass mein erstes Lehrbuch
über PsychotherapieGrundkonzepte der
Psychotherapie, 1983, und heute in siebter,
deutlich aktualisierter Auage– derart um-
fassend und gründlich ausgefallen ist. Da
ich zu dieser Zeit als Ordinarius ja unter
keinem Karrieredruck mehr stand, konnte
ich es mir leisten, überaus viel Zeit zu in-
vestieren und mich mit jedem der darin
beschriebenen rund 20 psychotherapeu-
tischen Ansätze so lange auseinanderzu-
setzen, bis ich von dem jeweiligen Ansatz
überzeugt war. Mein Ziel war primär, den
Studierenden etwas an die Hand zu geben,
in dem sie die Zusammenhänge leichter
erkennen konnten als in den vielen weit
ausführlicheren, aber insgesamt fragmen-
tierten Einzeldarstellungen der vielen Ver-
fahren. Ich war dann sehr erfreut darüber,
dass auch deren Vertreter überwiegend po-
sitive Rückmeldungen gaben. Denn es war
für mich keineswegs vorherzusehen, dass
beispielsweise die Psychodynamiker mit
ihren recht detailliert-präzisen Konzepten
meine vergleichsweise eher kurzen und
damit selektiven Darstellungen wertschät-
zen würden. Andererseits bot die Ausein-
andersetzung mit den psychodynamischen
Ansätzen auch die meisten positiven Über-
raschungen für michda ich ja die huma-
nistischen und systemisch-familienthera-
peutischen Ansätze bereits vor der Arbeit
am Buch recht gut kannte. So ist mir Wil-
helm Reich schon deswegen im Gedächtnis
geblieben, weil ich seine Argumentations-
weise überaus klar und präzise empfand
was ganz im Kontrast zu den Geschichten
über seine spätere Geisteskrankheit stand.
Besonders eindrucksvoll war für mich frei-
lich die Begegnung mit den Schrien von
C. G. Jung. Sie sind, besonders in ihren sys-
temtheoretischen Aspekten, die er in den
gemeinsamen Arbeiten mit Wolfgang Pauli
formuliert hat, auch heute noch ein we-
sentlicher Aspekt meines Denkens. Das am
Rande einer Tagung mit Verena Kast ange-
dachte gemeinsame Werk über Archetypen
aus interdisziplinärer Sicht konnte wegen
diverser anderer Verpichtungen leider nie
realisiert werden. Das bedaure ich sehr.
Die Arbeit an den »Grundkonzepten«
blieb natürlich nicht ohne erhebliche Rück-
wirkung auf mich selbst. Denn indem ich
nun weit mehr als ein Dutzend Beschrei-
bungsmodelle für das »im Kopf« hatte,
was Menschen in Psychotherapie führt und
wie wir ihnen professionell helfen können,
84 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
stellte sich unweigerlich die Frage: »Wie
passt denn das alles zusammen?« Denn
bei aller Wertschätzung für die vielen Per-
sonen, denen es jeweils gelungen war, ihre
lebenslangen Erfahrungen im Bereich der
Psychotherapie in ein mehr oder weniger
zusammenhängendes Erklärungssystem
zu bringen, wurde doch auch der jeweilige
Fokus aus deren Biograe und der damit je-
weils gewählten Frageperspektive deutlich.
Gerade im Vergleich dieser Ansätze und der
ihnen zugrunde liegenden Menschen- und
Wirkbilder untereinander wurden für mich
auch die jeweiligen »Auslassungen« deut-
lich.
So war und bin ich dankbar für die große
Fülle an Einsichten, die mir diese vielfälti-
gen Ansätze vermittelt hatten. Aber recht
zufriedenstellen konnte mich keines dieser
Erklärungssysteme. Wobeidas sei auch
betont ich gleichzeitig überzeugt bin,
dass viele der Ansätze in der konkreten the-
rapeutischen Arbeit den Menschen, die um
Psychotherapie (und auch Beratung oder
Coaching ) nachsuchen, helfen können.
Und dies besonders dann, wenn dabei
nicht Lehrbuch- oder gar Erklärungswis-
sen an diesen Menschen »vollstreckt«
wird (wozu vor allem schlecht ausgebil-
dete Anfänger neigen mögen), sondern die
Konzepte als Heuristiken dienen. Letztlich
geht es doch bei der professionellen thera-
peutischen Begegnung zwischen Klientin-
nen und erapeutinnen darum, in einem
überaus komplexen gemeinsamen Ringen
die Hindernisse zu überwinden, welche
die Nutzung von Ressourcen behindern.
Gerade die Komplexität realer psychothe-
rapeutischer Prozesse jenseits künstlich
beschränkter Forschungslaborsituationen
oder der Anwendung von verfertigten Pro-
grammen im Rahmen beschränkter Zeit-
fenster (wie etwa in Kliniken) macht es
erforderlich, möglichst wenige Aspekte der
real wirkenden Dynamiken auszublenden.
Das war und ist das Anliegen der »Person-
zentrierten Systemtheorie«, an der ich seit
etwa Mitte der 1980er Jahre bis heute ar-
beite (siehe unten).
Ein solches Unterfangen ist freilich
auch ein Wagnis. Gerade im Spiegel-Ka-
leidoskop tauchen meine Befürchtungen
hinsichtlich der Aufnahme durch andere
aufdurch die sogenannte scientic oder
professionelle »community«. Das betri
weniger den Umstand, dass sich die »Per-
sonzentrierte Systemtheorie« außerhalb
des Mainstreams bzw. quer dazu bewegt.
Vielmehr habe ich befürchtet, es könnte
als anmaßend erscheinen und dahingehend
missverstanden werden, dass ich versu-
chen würde, die einzelnen erapieansätze
»richtige oder »grundlegender« als
deren Vertreter selbst zu verstehen und zu
erklären. Wo es mir doch stattdessen primär
darum geht, die Anschlussfähigkeit der ver-
fahrensspezischen Perspektiven an die der
jeweils anderen Sichtweisen zu fördern.
Daher bin ich sehr dankbar, im Spiegel-
Kaleidoskop auch viele wohlwollende und
unterstützende Menschen zu erblicken.
Vo n d e n v i e l e n » S y s t e m i k e rn « u n d »H u -
manisten«, mit denen ich teilweise über
Jahrzehnte in engen und freundschalichen
Diskursen stehe, habe ich das erwartet;
dazu gesellten sich aber auch Menschen,
die beispielsweise aus dem psychodynami-
schen Lager kommen oder einfach nur an
psychotherapeutischen Fragen interessiert
sind und mir mitteilten, dass sie sich von
den Sichtweisen und deren Darstellung an-
gesprochen und angeregt fühlen.
Für mich war solche »diskursive Unter-
stützung« stets wichtig. Schon in den drei
Semestern an der Universität Hamburg
entstand eine kleine Arbeitsgruppe, die ge-
meinsam lernte und Prüfungen machte und
deren Mitglieder noch heute miteinander
in Kontakt sind. Wesentlich wichtiger
aber war diese Gruppenerfahrung in den
Psychotherapie 2022, 27 (1) 85
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
Wiener Jahren. Angesichts eines Massen-
ansturms an Psychologiestudierenden, der
von nur sehr wenigen Lehrpersonen bewäl-
tigt werden musste, fand ich schnell den
Anschluss an eine kleine Gruppe Gleich-
gesinnter, die selbstorganisiert Seminare
abhielten und interessante Personen dazu
einluden. Die Teilnahme war oen; aber es
kamen selten mehr als 30 Personen zu den
Vo r t r ä g e n u nd Ve r a n s t a l t u n g e n d e s » S t u -
denten-Seminars« (von weit über 1.000
oziellen Psychologiestudierenden). Der
»harte Kern« derjenigen, die regelmäßig
teilnahmen, bestand aus rund 15Personen.
Wir verbrachten wöchentlich viele Stun-
den miteinander, fuhren gemeinsam an
die Donau zum Baden oder feierten viele
gemeinsame Partys. Trotz der vielfältigen
Möglichkeiten, das Leben zu genießen,
kreisten unsere Gespräche bevorzugt um
Psychologie (zumal rund 30 Prüfungen
zu bewältigen waren). Etliche Jahre später
waren von den 15Personen mindestens
zehn auf Lehrstühlenund zwar, soweit
ich das beurteilen kann, ohne jegliche
»Seilschaften«-Förderung, sondern ein-
fach deshalb, weil diese Semester intensiver
gemeinsamer Diskussion uns mit der Kom-
bination von Lebensfreude und Lernen
fachlich recht t gemacht hatten. Die Er-
innerungsbilder dieser gemeinsamen Zeit
sind ebenso angenehm wie wehmütiggibt
es solche intensiven Gruppenerfahrungen
doch wohl eher nur in jungen Jahren, zwi-
schen Menschen, die recht ungebunden
einen großen Teil ihrer Zeit einbringen.
Einen wichtigen Einfluss auf mein
Denken hatten auch sehr viele Menschen,
denen ich im Rahmen von mehrtägigen
oder -wöchentlichen Seminaren begegnen
dure. Das war schon am »Institute for
Advanced Studies« in Wien so, zu dessen
Philosophie es gehörte, Spitzenwissen-
schaler aus aller Welt für wenige Wochen
als Gastprofessoren einzuladen. In den
1970er und 1980er Jahren gab es als Be-
gleiterscheinung des Aufbruchs der 68er-
Bewegung ein großes Angebot von Semi-
naren führender »Querdenker« (das war
bis vor Kurzem noch ein positiv besetzter
Begri), wie Capra, Maturana, Varela, Pri-
bram und viele andere.
Bedeutsam war auch die Einladung von
Hermann Haken zu einer seiner legendären
Tagungen zur Synergetik 1989 auf Schloss
Elmau. Für mich war dies eine wesentliche
Förderung meiner systemtheoretischen
Arbeit; gleichzeitig war dies der Anstoß der
sogenannten »Herbstakademien«, die als
eine Art Weiterführung der Synergetik-Ta-
gung im Bereich Psychologie durch Brun-
ner, Schiepek und Tschacher für viele Jahre
weiterwirkten und die ich oft besuchte.
Auch meine zahlreichen Gastprofessuren
gehen natürlich auf Menschen zurück, die
mich an ihre Universitäten einluden– und
aus vielen dieser Verbindungen entstanden
freundschaliche Beziehungen. Besonders
erwähnen möchte ich hier Raivis Bičevskis,
Philosophie-Professor an der Universität
Riga, der über die Einladungen zu Gast-
professuren hinaus einiges von mir ins
Lettische übersetzte und zu zwei Büchern
zusammenstellte. Er förderte und verstärkte
die philosophischen Anteile in meinem
Werk. Mehr und ausführlicher über diese
zahllosen Begegnungen und ihren Einuss
auf mein Denken zu berichten, würde dieses
Textformat sprengen. Viele Erinnerungen
sind mir aber nicht nur im Kopf als Wissen,
sondern auch im »Herzen« als Gefühl ge-
schenkter Bereicherung geblieben.
Bei der Einstellung des Spiegel-Kalei-
doskops auf Lehrer, Förderer, Freunde er-
scheinen bei einer nur leichten Drehung
schnell auch alle jene Menschen, deren
wohlwollend-unterstützende Einüsse sich
in etlichen meiner Auszeichnungen mani-
festieren. Wobei ich mir stets bewusst war,
dass ich damit quasi nur im Vordergrund
86 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
einer solchen »ausgezeichneten« Dyna-
mik stehe und diese somit eigentlich nur
stellvertretend für alle Mitwirkenden in
Empfang nehme. Dies hervorzuheben,
ist keine dokumentierte Bescheidenheit,
sondern das Wissen darum, dass selbst die
Auszeichnung mit Nobelpreisen letztlich
nur die Köpfe von sehr großen Teams und
Netzwerken hervorhebt und es zudem
Menschen braucht, die einen überhaupt
nominieren. So sehe ich mit meinen Eh-
rungen viele Menschen ausgezeichnet,
die für die Öentlichkeit (teilweise sogar
für mich) im Hintergrund blieben. Mein
Dank gilt ihnen aber besonders, weil mir
das die innere Freiheit verschae, in dem
unerfreulichen Gerangel um die Verteilung
von institutionellen Ressourcen für die vier
Grundorientierungen mutiger für huma-
nistische und systemische Belange einzutre-
ten: Ich hatte stets das Gefühl, nicht allein
zu sein. Selbst wenn es im jeweils aktuellen
Gremium, in dem ich war, keine erkennbare
Unt ers tüt zung g ab , s tär kten m ir di e G e-
wissheit, dass es meine Position erforderlich
macht, mich für viele andere einzusetzen,
und das Gefühl, von diesen mitgetragen zu
sein, den Rücken.
In den folgenden kaleidoskopischen Bil-
dern tritt das Historisch-Biograsche etwas
zurück und in den Vordergrund kommt,
was mir im Laufe meines Lebens wichtig
geworden ist. Es ist aber das Essenzielle
meiner Lebenserfahrung und im Gegensatz
zu den Inhalten irgendwelcher Fachartikel
höchst persönlich.
Was ich als Psychotherapeut
gelernt habe und was mir wichtig ist
Der Mensch, der mir in der Psychothe-
rapie gegenübersitzt, wird in unserem Ge-
sundheitssystem in der Regel durch dia-
gnostische Kategorien beschrieben. Diese
Diagnosen können zwar für eine Kassen-
nanzierung, für Berichte, für Forschung und
andere Kontexte wichtig sein. Für die era-
pie aber sind sie unwesentlich. Die Komple-
xität und Vielfältigkeit seiner Erfahrungen
auf dem bisherigen Lebensweg und das, was
sich davon gegenwärtig ausdrücktauch
in Form von Symptomen–, übersteigt bei
We i t e m a l l e n o r m i e r t e n K a t e g o r i e n s y s -
teme. Als wesentlich erachte ich vielmehr
die Frage, was dazu beigetragen hat, dass
aus einem süßen kleinen Baby ein Mensch
geworden ist, der unter sich, anderen und/
oder der Welt leidet und gegebenenfalls
anderen Leid zufügt. Das weiß er selbst
nicht so genau. Und noch unklarer sind
die Wirkkräe, die ihn daran hindern, sich
allein und aus eigener Kra zu verändern.
Dass dieser Mensch aber überhaupt um Psy-
chotherapie nachsucht, ist ein großer, wich-
tiger und honungsvoller Schritt, der an-
zeigt, »dass es so nicht weitergehen soll«.
Als erapeut sehe ich es daher als meine
Aufgabe, diesen Menschen so in Kontakt
mit den ihn bestimmenden Wirkkräen zu
bringen, dass er über die wichtigsten dieser
Kräfte zumindest hinreichend souverän
verfügen kann, statt ihnen unterworfen
zu sein (wofür das, was wir »Symptome«
nennen, als ein Ausdruck zu verstehen ist).
Es geht darum, dass sich sein Raum an Ent-
scheidungs- und Handlungsmöglichkeiten
bedeutsam vergrößert. Auch körperliche
Symptome verändern oder verlieren ihre
behindernde Bedeutung– oder verschwin-
den bisweilen ganz–, wenn den zugrunde
liegenden Wirkken durch eine Ände-
rung des Lebens und des eigenen Verständ-
nisses davon der beeinträchtigende Ansatz-
punkt entzogen wird.
Im Laufe der letzten Jahr zehnte hat sich
mein Blick sowohl auf die Vielfalt dieser
Wirkkräe als auch auf deren komplex ver-
netze Zusammenhänge erheblich geweitet
und zu einem mich leitenden Verständnis
Psychotherapie 2022, 27 (1) 87
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
geführt, das ich unter der Bezeichnung »Per-
sonzentrierte Systemtheorie« zu formulieren
versucht habe (siehe unten). Ein wesentlicher
Aspekt darin ist der »Ordnungs-Ordnungs-
Übergang« von einer leidvollen (er-)
lebensdynamischen Struktur in eine den ak-
tuell gestellten Entwicklungsaufgaben besser
entsprechende und daher weniger leidvolle
Struktur. Dies wird in Weisheitslehren un-
terschiedlicher Zeiten und Kulturen oft
mit dem »Stirb und Werde!« umschrieben
oder entspricht dem »Wachstum« bzw. der
»Selbstaktualisierung« in den Ansätzen
der Humanistischen Psychotherapie. Dieses
»Stirb und Werde!« ist allerdings selbst in
begrenztem Ausmaß mit erheblichen Unsi-
cherheiten und Ängsten verbundendenn
das Neue ist noch nicht wirklich erreicht,
o nicht einmal klar sichtbar, und das Alte
trägt nicht mehr. Daher ist eine Vertrauen
und Halt gebende, sichere und gleichzeitig
nicht einengende therapeutische Beziehung,
wie sie vor allem Carl Rogers erforscht und
beschrieben hat, essenziell wichtig. Diese
je nach Möglichkeiten– in hohem Ausm
zu gewährleisten, liegt in meiner therapeuti-
schen Verantwortung.
Die konkreten Vorgehensweisen, Men-
schen in einen besseren Kontakt mit ihren
Wirkkräen zu bringen, gehört zum thera-
peutischen »Handwerkszeug«. Das darf,
so nde ich, ruhig reichhaltig sein und sollte
nicht von Schulen-Grenzen und Schubla-
den bestimmt werden. Die genaue Auswahl
und Zusammenstellung ist aber letztlich
weniger wichtig. Denn es gibt nicht nur
Patienten-, sondern auch Therapeuten-
Biograen. Und nicht jedem liegt »alles«,
um eine gute Passung zu einer bestimmten
Patienten- und erapiedynamik herzustel-
len– schon gar nicht das, was Lehrbücher
vorhersagen können. Als überaus hilfreich
habe ich erfahren, meine Kreativität dahin-
gehend zu nutzen, möglichst neue Erfah-
rungen dieser Wirkkräe zu generieren, da
diese im Gegensatz zu reinen Sprachhand-
lungen und Sprachbildern besser auch die
verkörperlichten Aspekte des Menschen
erreichen. Aber selbst Ausmaß und Art der
Erfahrungsgenerierung sollten aus der Situ-
ation entspringen und nicht als Prinzip ge-
handhabt oder unabhängig vom konkreten
Menschen nach Lehrbuch geplant werden.
Extrem wichtig nde ich das, was ein
Bonmot mit »Hauptsache, dem Thera-
peuten geht’s gutausdrückt: Wenn ich
nicht dafür sorge, dass ich aktuell möglichst
wenig beeinträchtigt und eingeschränkt
bines mir also »gut« geht–, kann ich
eben auch nur 80 % oder 70 % oder weni-
ger meiner Möglichkeiten bereitstellen.
Wenn man, wie in sozialen Berufen typisch,
dazu neigt, über seine Belastungsgrenzen
zu gehen, ist dieses Bonmot ein gutes Hilfs-
mittel, die Selbstfürsorge nicht aus dem
Auge zu verlieren.
Allein schon aus Platzgründen gehe ich
hier nicht auf die Besonderheiten der Arbeit
mit Paaren und Familien ein. Ich folge hier
zwar denselben eben skizzierten zentralen
Grundprinzipien, aber die Interaktion ist
deutlich anders, da die Eskalationsdynamik
des sozialen Systems häug auch im era-
pieraum fortgesetzt und aktuell inszeniert
wird. Ohne sehr klare und explizite Regeln,
deren Einhaltung auch autoritär durchge-
setzt wird (zum Beispiel »keine körperli-
chen oder sonst verletzenden Angrie!«),
hätte ich die Befürchtung , in dieser Eskala-
tionsdynamik »unterzugehen«.
Was mir an der »Personzentrierten
Systemtheorie« wichtig ist
Für mich ist die »Personzentrierte Sys-
temtheorie« kein Abstraktum, das wie ein
scholastischer Begrisdom erbaut wurde.
Es handelt sich vielmehr um den exis-
tenziellen Ausdruck meines Ringens, die
88 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
Welt, die anderen und mich selbst besser
zu verstehen. Eigentlich alle Bilder meines
Spiegelkaleidoskops sind daher von diesem
Verständnis durchdrungen– auf jeden Fall
dahingehend, wie sie in Worte gefasst und
beschrieben werden können.
Ausgangspunkt dafür, wie ich das Erleben
und Handeln eines Menschen im »Hier und
Jetzt« verstehe, ist die Berücksichtigung der
Vielfalt von Wirkkräen und deren kom-
plex vernetzten Zusammenhängen. Wobei
»Hier und Jetzt« auch den Aspekt umfasst,
wie »hier und jetz die Vergangenheit
verstanden und genutzt sowie die Zukun
entworfen und konkret gestaltet wird. Für
die Behandlung dieser Fragen steht seit An-
beginn der Psychotherapie die Bedeutsam-
keit psychisch-kognitiver und emotionaler
Prozesse im Zentrum der unterschiedli-
chen Konzepte. Ebenso ist zumindest seit
einigen Jahrzehnten die Wirkung der »fa-
miliären« Interaktionsstrukturen auf das
psychische Geschehen des Einzelnen sowie
dessen Rückwirkung auf die mikro-sozialen
Interaktion sstru kturen bekannt und wird in-
zwischen in den meisten Psychotherapiean-
sätzen mit berücksichtigt. Beides muss hier
also nicht weiter erwähnt werden. Für mich
ist darüber hinaus aber auch die Einbettung
dieser psychischen und interpersonalen Pro-
zesse in ein umfassenderes Geschehen be-
deutsam, das zum einen durch »kulturelle
Prozesse« und zum anderen durch »orga-
nismische Prozesse« gekennzeichnet ist.
Die Wirkungen von diesen beiden Ebenen
bestimmen in jedem Moment das Gesche-
hen mitin der Lebenswelt des Menschen
wie auch im therapeutischen Raum.
So ist der verstehende oder gar erklä-
rende Zugang zum »inneren Bezugsrah-
men« und zum »unmittelbaren sub-
jektiven Erleben« immer schon an die
Verwendung von »Kulturwerkzeugen« ge-
bunden– also von Sprache. Damit sind wir
aber nicht nur von den Formen dieser Spra-
che, also den Begrien und der Grammatik,
abhängig– was sich in unserer Kultur in der
Priorisierung von Dingen (Substantiven)
gegenüber Prozessen (Verben) manifestiert
und womit dann ein bestimmtes prozessua-
les Geschehen sprachlich zu einer »Depres-
sion« wird. Mit der Sprache verbunden
sind Metaphern, Erklärungs- und Verste-
hensprinzipien, Narrationen, Wertorien-
tierungen usw. der Kultur, aber auch der
jeweiligen Subkultur und Familie mit ihrer
Geschichte und den Geschichten darüber.
Auf der anderen Seite der Einbettung
sind die Wirkkräe aus dem Organismus
nicht nur in Form von »Trieben«, »Af-
fekten« oder »Gefühlen« in einer Weise
aktiv, wie dies die Psychotherapie seit Freud
mit bedacht hat. Sondern wir haben ein-
sehen müssen, dass unsere Lebensprozesse
schon in frühester Kindheit von allgemei-
nen Strukturierungsprinzipien beeinusst
werden, die im Laufe der Evolution erwor-
ben und nun relativ zur Sozialgemeinscha
und biograschen Erfahrung konkretisiert
werden. »Bindung«die Strukturierung
von Teilen der sozialen Lebenswelt auf-
grund der frühen Erfahrung hinsichtlich
der Verlässlichkeit von Bindungspersonen
in Stresssituationenist nur eine solche,
inzwischen weit akzeptierte, strukturie-
rende Wirkkra auf das aktuelle Gesche-
hen. In aktuellen Diskursen und Befunden
wird dies umfassender unter dem Stichwort
»social brain« thematisiert.
Es entspricht nicht dem Charakter dieses
Beitrags, die »Personzentrierte System-
theori als solche darzustellen; dies ist
an anderen Stellen geschehen.
3
Aber diese
grobe Skizzierung lässt vielleicht verstehen,
warum es mir ein Anliegen ist, bei Erklä-
rungen über psychotherapeutisches Ge-
3
Kriz, J. (2017). Subjekt und Lebenswelt. Personzen-
trierte Systemtheorie für Psychotherapie, Beratung
und Coaching. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht.
Psychotherapie 2022, 27 (1) 89
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
schehen nicht systematisch eine dieser vier
Prozessebenen– die organismische, die psy-
chische, die interpersonelle und die kultu-
relle– auszublenden (wobei je nach genauer
Frage weitere Ebenen dierenziert werden
müssen). Hinzu kommt noch, dass es nicht
bei der Aufzählung und Beschreibung der
Ebenen bleiben kann. Vielmehr generie-
ren erst systemtheoretische Konzepte über
deren spezisches Zusammenwirken eine
»e o r ie « . F ü r m ic h b i e t e t h i er d i e » S y-
nergetik«, ein Konzept des Physikers Her-
mann Haken, ein hervorragendes Erklä-
rungssystem. Dessen Fruchtbarkeit wurde
in dem interdisziplinären Projekt der Syner-
getik, das viele tausend Forschungsarbeiten
umfasst, zwar ganz überwiegend in den Na-
turwissenschaen gezeigt. Mit der »Person-
zentrierten Systemtheorie« liegt allerdings
eine Ausarbeitung für humanwissenschali-
che Fragen und Diskurse vor, die auch die
Zustimmung von Haken erfahren hat. Es ist
mir eine Freude, dass ich Haken schon lange
zu meinen Freunden zählen darf.
Ein letztes zentrales Anliegen, das ich
mit der »Personzentrierten Systemtheo-
rie« verbinde, ist die Komplementarität
von sogenannten »objektiven« und »sub-
jektiven« Perspektiven. Diese wird leicht
exemplarisch am Begrispaar »Befunde«
und »Bendlichkeiten« deutlich meine
wichtigste Erkenntnis, die ich aus einem
großen, bundesweiten Projekt von Medizi-
nern und Psychologen mit schwer asthmati-
schen Jugendlichen Mitte der 1990er Jahre
mitgenommen habe: Hier zeigte sich näm-
lich, für mich überraschend, dass die objek-
tiven Befunde der Diagnostik in Form me-
dizinischer Parameter nahezu nicht mit den
Bendlichkeiten der Patienten korrelieren.4
4 Kriz, J. (1994). Psychisch-kommunikative Prozesse
als Umgebungsbedingungen für Asthma bronchi-
ale. Eine systemische Sichtweise der Interaktion
sozialer, psychischer und körperlicher Prozeßdyna-
Beide Perspektiven sind aber natürlich zum
Verständnis klinischen Geschehens bzw.
von Psychotherapie wichtig. Und sie lassen
sich auch nicht gegeneinander ausspielen,
denn eine Beschreibung der Kranken allein
aufgrund ihrer medizinischen Parameter
wäre genau so einseitig wie allein aufgrund
ihrer Bendlichkeiten. Ähnliches gilt für
viele andere Aspekte und Konzepte wie
»Stress« oder »Ressourcen«, die eben-
falls vor allem aufgrund von »objektiven«
Faktoren beschrieben werden, obwohl für
das Erleben und Handeln des Subjekts viel-
leicht andere Aspekte relevant wären.
Problematisch ist für mich, dass bei den
Beschreibungen im Feld der klinischen Psy-
chologie und Psychotherapie ganz über-
wiegend die Befunde im Zentrum stehen,
während die Befindlichkeiten wenig bis
kaum beachtet werden. Auch wenn Men-
schen vermeintlich von und über sich selbst
sprechen, führen sie o nur Befunde an.
Es bedarf gezielter psychotherapeutischer
Aufmerksamkeit, um der Beachtung von
Bendlichkeiten überhaupt ihren Raum zu
geben. Viel grundsätzlicher formuliert gilt:
Die Welt, wie wir sie beschreiben, und die
We l t , w i e w i r s i e e r l e b e n , s i n d z w e i k o m -
plementäre Perspektiven. Diese Erkenntnis
brauchte aber bei mir viele Jahre, um zu
reifen.
Was ich als Wissenschaftler
gelernt habe und was mir wichtig ist
Blicke ich unter dieser Perspektive ins
Spiegel-Kaleidoskop, lassen sich die vielen
Bilder, die dabei aus der über 50-jährigen
Biograe als Wissenschaler auauchen,
unter drei Begrien ordnen: Relativität,
mik. In: J.Könning, R.Szczepanski& A. v.Schlippe
(Hrsg.): Betreuung asthmakranker Kinder im sozialen
Kontext. Stuttgart: Enke, S. 179–198.
90 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
Bescheidenheit und Verantwortung. Sie
sind in mehrfacher Weise miteinander
verknüp; ich kann hier nur einzelne mar-
kante Bilder aufrufen.
Relativität: Die Erfahrung von Rela
-
tivität reicht auf ein Erlebnis zurück, das
ich mit dem Buch Erkenntnis und Inter-
esse von Jürgen Habermas hatte. Als ich
1970 die Dozentenstelle an der Universität
Hamburg im Bereich der Soziologie antrat,
war dies für mich ein Kulturschock. Denn
bis dahin sah ich mich ja als Naturwissen-
schaler. Mein Bereich war zwar Statistik,
Datenverarbeitung und Forschung, aber
irgendwie wollte ich natürlich auch etwas
von dem Fachkontext verstehen, in den
dies eingebettet war. Das Buch von Haber-
mas war damals überall im Gespräch. Also
versuchte ich, es zu lesen. Aber nach weni-
gen Seiten musste ich feststellen, dass ich
nahezu nichts verstand, obwohl ich mehr-
fach ansetzte. Meine arrogante Abwehr-
reaktion ließ mich annehmen (und sogar
äußern), dass Soziologen einfach nur rum-
schwafelnim Kontrast zur »richtigen«
Wissenscha.
Einige Jahre später, längst Professor für
Statistik an der Fakultät für Soziologie in
Bielefeld, kaue ich mir am Bahnhof ein
Buch für eine längere Zugfahrt. Das las ich
mit großer Begeisterung und fand vieles
darin ebenso spannend wie treend. Plötz-
lich bemerkte ich, dass es sich um dasselbe
Buch handelte, das ich vier Jahre zuvor für
Geschwafel gehalten hatte. Das war für
mich ein sehr eindrucksvolles »Aha-Er-
lebnis«, denn ich merkte schlagartig, wie
sehr sich mein eigenes Denken verändert
hatte– und damit meine Sicht und Bewer-
tung. Seitdem habe ich nie wieder Bewer-
tungen von mir gegeben beispielsweise
bei Rezensionen, ohne möglichst meine
Voraussetzungen darzulegen, unter denen
ich einen Text beurteile und aus welchen
Gründen ich womöglich damit nichts an-
fangen kann. Die recht massive Erfahrung,
wie ich aus Verunsicherung mit innerer und
äußerer Arroganz reagierte und etliches
schlicht als »unwissenschalich« erklärte,
was nicht in den engen Horizont meines
bisherigen Weltbildes passte, war mir eine
wichtige Mahnung auf dem weiteren Weg.
Und ich habe daher durchaus Verständnis
für etliche Kollegen aus der akademischen
Psychologie, die in ähnlicher Weise auf
ihnen Fremdes reagieren. Leider, so scheint
es mir, sind solche Abwehrreaktionen be-
sonders im Bereich der Psychotherapiefor-
schung und noch mehr bei den machtvol-
len Bewertungsgremien zu nden.
Diskursivität: Unmittelb ar da mit ver-
bunden ist eine zweite Erfahrung, die mich
gelehrt hat, wie gefährlich und irreführend
der Glaube an die Objektivität von Me-
thoden und Ergebnissen sein kann. In der
Überzeugung, dass die beste Vermittlung
von Forschungsmethoden darin liegt, dass
man sich gute Forschung genauer ansieht,
habe ich bereits ab 1970 in Hamburg Se-
minare angeboten, in denen wir hinrei-
chend komplexe empirische Arbeiten in
führenden Zeitschriften analysierten. Es
zeigte sich, dass erschreckend o ziemlicher
Unsinn zutage trat: Unsinn dahingehend,
dass die gewählten Methoden den inhalt-
lichen Voraussetzungen widersprachen.
Oder dass unterschiedliche Auswertungs-
arme wechselseitig belegten, dass die ge-
wählte Methodik aufgrund der Verletzung
der Modellannahmen unbrauchbar für die
Forschungsfrage war, und so weiter. In bor-
nierter Überheblichkeit habe ich zunächst
die Leute einfach für »methodisch inkom-
petent« erklärt.
Doch im Laufe etlicher solcher Semi-
nare wurde zunehmend deutlicher, dass
es eigentlich um etwas ganz anderes ging.
Denn wenn öfter angesehene Forscher
in angesehenen Zeitschriften von an-
gesehenen Peer-Reviewern unbemerkt
Psychotherapie 2022, 27 (1) 91
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
»Erge bnisse « publizieren, die ein er m e-
thodischen Reanalyse nicht annähernd
standhalten, musste es sich um ein grund-
sätzlicheres Problem handeln. In der Tat
lässt sich zeigen,5 dass der Hauptgrund für
diese unsinnigen Forschungsergebnisse in
einem methodologischen Missverständnis
über den Stellenwert von Messdaten und
Methoden zu sehen ist. Es ist gerade der
irrtümliche Glaube, die Anwendung »rich-
tiger« Methoden würde auch tragfähige
Ergebnisse garantieren, der verhindert, sich
über die vielen Voraussetzungen und die
Abhängigkeit von scheinbar kleinen Ent-
scheidungen im Forschungsprozess Gedan-
ken zu machen und diese zur Diskussion
zu stellen. So wird verkannt, dass »Ergeb-
nisse« immer nur Beiträge zu Diskursen
sein können, die inhaltlich geführt werden
müssen, und niemals absolute Beweise für
irgendetwas sind. Vor allem führen äquiva-
lente Methoden bei denselben Daten nicht
selten zu anderen Ergebnissen, was aber gar
nicht bemerkt wird, wenn man dies nicht
hinterfragt oder an die eine »richtige« Me-
thode glaubt. Leider ist auch dieser Irrtum
gerade in der Psychotherapieforschung be-
sonders weit verbreitet.
Ve r a nt w o r t l i c h ke i t : Aus diesen ersten
beiden Themenkomplexen ergibt sich
sofort auch der dritte: der hohe Stellen-
wert von Verantwortung für die vielen Ent-
scheidungen, die im Forschungsprozess zu
fällen sind. Nur wenn ich bereit bin, den
eigenen Standpunkt stets als einen relativen
zu verstehen (wenn auch, hoentlich, expli-
zit und mit Verweis auf wissenschaliche
5 Dies habe ich ausführlich in zwei Büchern dar-
gelegt: Kriz, J. (1981). Methodenkritik empirischer
Sozialforschung. Eine Problemanalyse sozialwissen-
schaftlicher Forschungspraxis. Stuttgart: Teubner;
Kriz, J. (1988). Facts and Artefacts in Social Science.
An epistemological and methodological analysis of
social science research techniques. Hamburg/New
York: McGraw-Hill.
Diskurse begründet) und die eingesetzte
Methodik und deren Ergebnisse in einen
Diskurs einbringe, der insbesondere alter-
native Möglichkeiten reektiert, statt auf
einer »richtigen Methodik« und »wahren
Ergebnisse« zu bestehen, wird die Fülle an
getroenen bzw. zu treenden Entschei-
dungen im Forschungsprozess deutlich.
Dann allerdings kann ich mich nicht als
»Täter« aus meinen Taten ausklammern
und hinter dem Vorwand einer »korrek-
ten« Methodik verstecken. Denn für die
von mir getroenen Entscheidungen bin
ich verantwortlich. Ich bin es, der über die
Methodik und viele einzelne Schritte darin
entscheidetund dabei Alternativen ver-
wir.
Das klingt wie eine logische Ableitung
und tatsächlich könnte man so schlussfol-
gern. Für mich selbst hat sich dieses Ver-
ständnis allerdings erst in den vielen Jahren
der Auseinandersetzung mit dem für mich
als destruktiv empfundenen Wirken des
sogenannten »Wissenschalichen Beirats
Psychotherapie« (WBP) ergeben. So habe
ich frustriert gestaunt, dass ein Gremium
mit dem Attribut »wissenschaftlic
völlig unbeirrt 2017 an seiner Entschei-
dung der Nicht-Anerkennung der Huma-
nistischen Psychotherapie festhält und dass
alle Kritik– etwa ein oener Brief, in dem
40Professoren und Professorinnen dem
WBP vorwerfen, »zentrale Regeln wissen-
schalichen Arbeitens missachtet und ver-
letzt« zu haben– den WBP nicht zu einem
Diskurs über die Argumente veranlasst.
Für mich ist dies nur so verständlich, dass
der WBP glaubt, sein Vorgehen folge einer
neutralen und einzig richtigen Methodik,
für deren viele Entscheidungen man nicht
verantwortlich ist.
Letztlich spiegelt dies aber nur ein ak-
tuelles Ereignis in einem Strom aus Tau-
senden frustrierenden Stunden kostbarer
Lebenszeit wider im Versuch, diese Ver-
92 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
antwortung für die Entscheidungen– und
die Konsequenzen daraus für deutsche Pa-
tienten und die Psychotherapie zu ver-
mitteln. Weder in den vier Jahren, wo ich
selbst Mitglied dieses Gremiums war, noch
danach ist es mir gelungen, dass mehr von
den Prinzipien, die ich über Jahrzehnte als
wichtigste Kriterien für gute Wissenscha
bei Studierenden, Doktoranden oder in-
ternationalen Forschungsgremien vertre-
ten habe, Einzug in die Erörterungen des
»WBP« gehalten hätten.
Dies zeigt, dass es neben den anfangs
geschilderten vielfältigen Momenten des
Kairos eben auch mühsame, frustrierende,
zermürbende Erfahrungen im Leben gab.
Es wäre ja auch ein unrealistisches Wunder,
wenn dies anders wäre.
Überhaupt ist mein mindestens 30-jähri-
ger Kampf für eine angemessene Pluralität
psychotherapeutischer Ansätze in Deutsch-
land– und damit insbesondere auch für die
Etablierung s ystemischer und die (Wieder-)
Anerkennung humanistischer Psychothe-
rapieeine Wanderung o am Rande des
Burn-out. Umso wichtiger war mir, die So-
lidarität vieler Menschen zu erfahren, die
mich ermunterten und mir zu verstehen
gaben, dass sie ähnlich dachten und mich
unterstützten. Auch die Auszeichnungen,
die ich über die Jahre erhielt– viele verbun-
den mit dem Hinweis auf meinen Einsatz
für die Humanistische Psychotherapie–,
waren besonders emotional wichtig für
mich: Sie ließen mich erfahren, dass bei
allem Gegenwind mein Weg und dessen
Ausrichtung nicht falsch und ich nicht
allein war. Aus denselben Motiven habe ich
weit mehr Vorträge, Seminare, Workshops
und Gastprofessuren angenommen, als
einem ruhigen Leben guttun. Die daraus
resultierenden Belastungen für meine Fa-
milie– und besonders, als die Kinder »aus
dem Haus« waren, für meine Frau– ge-
hören zu den privaten, nicht-öentlichen
Bildern dieser Zeit. Deren Existenz aber,
ebenso wie die Unterstützung in menschli-
cher und fachlicher Hinsicht, die ich durch
meine journalistisch arbeitende Frau erlebt
habe, darf und soll öffentlich erwähnt
werden.
Auch in diesem Bild des Spiegel-Kalei-
doskops wirken somit die vielen bunten
Steinchen aus Persönlichem, Psychothe-
rapie und Wissenscha kaum isolierbar zu-
sammen– und sind selbstverständlich auch
mit dem Privatleben verwoben.
Meine Wünsche
für die Psychotherapie
(…und für mich)
Das letzte Bild im Spiegel-Kaleidoskop
soll auf die Frage der Zukun gerichtet
werden. In einem Spiegel ist freilich eine
solche Perspektive immer gleichzeitig auch
ein Rück-Blick. Da fügt es sich, dass nun,
im Jahr 2021, ein 25-jähriges Jubiläums-
bild auftaucht: 1996 habe ich auf dem
ersten Kongress der Schweizer CHARTA
(Zusammenschluss von Psychotherapie-
verbänden) in Zürich einen Vortrag »Zum
Verhältnis von Forschung und Praxis in der
Psychotherapie« gehalten.6 Leider hat sich
an den kritischen Wünschen für die Zu-
kun in den vergangenen 25Jahren wenig
geändert. Ich halte es daher für angemesse-
nen, hier abschließend den Schlussteil jenes
Vortrags zu zitieren. In 25Jahren werde ich
nach menschlichem Ermessen nicht mehr
leben. Es wäre mein innigster Wunsch,
dass dann andere von einem wirklich guten
Fortschritt berichten könnten.
»Gerade wenn wir als Kliniker nach der
6 Kriz, J. (1996). Zum Verhältnis von Forschung und
Praxis in der Psychotherapie. Psychotherapie Fo-
rum, 4, 163–168 (Nachdruck in: Existenzanalyse, 15,
1, 33–37, und in systhema 1/1997, 11.Jg., 42–50).
Psychotherapie 2022, 27 (1) 93
Blicke ins Spiegel-Kaleidoskop meines Lebens
Beziehung der Psychotherapie-Forschung
zu ihrem Gegenstand fragen, ergibt sich
o ein nicht gerade schmeichelhaes Bild.
Denn es ist keineswegs zufällig, dass wir
dieselben Strukturen, die in der klassischen
abendländischen Wissenscha als ›Tugen-
den‹ einer sauberen Methodik propagiert
werden, bei unseren Patienten als Kontroll-
bedürfnisse zum Zwecke der Angstabwehr
verstehen:
möglichst weitgehende Ausschaltung
von Unvorhersehbarem und Unkon-
trollierbarem
Reduktion von Einussvariablen
möglichst weitgehende Prognose der
Ergebnisse von Handlungen
maximale Kontrolle dessen, was passie-
ren kann
Verbergen der eigenen Motive und
Emotionen hinter einer ›richtigen‹
Vorgehensweise, d. h. Methodik
Beschränkung der Erfahrungen auf
jenen Bereich, der durch sogenannte
›zulässige‹ Fragen und Vorgehenswei-
sen vorab deniert ist
Mir ist es ein Bedürfnis wofür ich auch
einen Großteil meiner Kra einsetze–, ein
möglichst umfassendes Verständnis kli-
nischer und therapeutischer Vorgänge zu
erlangen. Ich halte es sogar für erstrebens-
wert, wenn die Psychotherapie-Forschung
im Grundlagenbereich zu einem weitge-
henden einheitlichen Theoriengebäude
voranschreitet. Aber ich bete dafür, dass es
niemandem gelingen möge, eine allgemein-
gültige erapie›methode‹ durchzusetzen.
Bei den Verschiedenheiten der Menschen,
ihrer Bedürfnisse, Werte und Ziele könnte
ich mir dies nur als Zwangsjacke vorstellen.
Wir sollten nicht– aus Angst, dass unsere
bunt blühenden Therapie-Felder vom
vielbeschworenen Therapie-Dschungel‹
überwuchert werden könnten in die
Plantagen einer ›eektiven‹ Monokultur
üchten. Wenn man die Schweizer Berge
abträgt und damit die Seen auüllt, erhält
man ein Flachland, das sich vermutlich viel
eektiver bebauen lässtund das bei Be-
panzung mit einer Monokultur den noch
eektiveren Einsatz von Großmaschinen
ermöglicht. Aber die Frage ist doch auch:
Wa s i s t d e r P r e i s f ü r e i n e s o l c h e E e k t i v i -
tät‹– und: Wollen wir so leben?
Abschließend möchte ich noch eine Ein-
ladung aussprechen. Nämlich einmal die
übliche Blickrichtung auf das Verhältnis
zwischen Praxisund Forschung der Psycho-
therapie umzudrehen. Dies hat bereits vor
rund 20Jahren Maslow (1977) wie folgt
formuliert:
Warum fragen wir eig entlich immer
wieder, ob die Psychotherapie auch wis-
senschalich genug sei? Warum fragen wir
nicht lieber, ob die Wissenscha und ihre
Forschungsmethoden psychotherapeutisch
genug sind?‹
Eine Psychotherapie-Forschung, die sich
nicht angstvoll hinter der Schein-Objek-
tivität von ›Science-Fiction verbirgt,
sondern mit den systemwissenschalichen
Physikern und Chemikern darin wetteifert,
den Prinzipien der Arbeit am Lebendi-
gen‹ Rechnung zu tragen, und sich letztlich
als Erkennender nicht aus der Beschreibung
des Erkannten auszublenden versucht
eine solche Psychotherapie-Forschung
könnte endlich dieses Anliegen der Men-
schen ernstha aufgreifen.«
Viewings into the mirror kaleidoscope
of my life
Summary: is autobiographical contribution
presents some scenes, decisions, and events that
were essential to my life’s journey as a psychother-
apist, scientist, and university professor. Instead
of a linear sequence of events along a historical
time axis, the metaphor of a mirror kaleidoscope
94 Psychotherapie 2022, 27 (1)
Jürgen Kriz
is chosen. In this way it is possible to look scenic-
ally-narratively at important events. Such scenes
refer to aspects such as Kairos, facilitating people,
what I have learned as a psychotherapist and as a
scientist, and what is important to me– the latter
also in relation to my own approach, the »Per-
son-Centered Systems Theory«. The chapter
concludes with an outlook on desirable psycho-
therapy and its research.
Keywords: autobiography, kairos, psychotherapy
research, relativity, discursivity, responsibility,
synergetics, person-centered systems theory
Biografische Notiz
Jürg en Kriz , Dr. phi l., Jahr gang 1 944, is t emeri -
tierter Professor für Psychotherapie und klinische
Psychologie am Institut für Psychologie der Uni-
versität Osnabrück. Zuvor hatte er auch Professu-
ren in Statistik, Forschungsmethoden und Wissen-
schaftstheorie inne. Jürgen Kriz ist approbierter
Psychotherapeut und Ehrenmitglied mehrerer
psychotherapeutischer Verbände. Er erhielt zahl-
reiche Gastprofessuren und Auszeichnungen; ver-
öffentlicht hat er rund 300 Publikationen, davon
23Bücher. Zudem ist er Herausgeber der Buch-
reihe Basiswissen Psychologie (bisher 30Bände).
Kontakt
Prof. Dr. Jürgen Kriz
Universität Osnabrück, FB 8
Seminarstraße 20, Poststelle
49074 Osnabrück
kriz@uos.de
https://jkriz.de
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