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Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie – das Leben mit verknüpften Sinnen. 3. komplett überarbeitete und neu gestaltete Auflage, Hirzel Verlag, Stuttgart.

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Abstract

Blauer Wein oder Buchstaben, zu denen bestimmte Farben gehören, farbige Himmelsrichtungen oder Musik, die hörend auch in Formen und Strukturen erlebt wird. Wer solche Wahrnehmungen hat, gehört zu den Synästhetikern. Lange wurde dieses Phänomen von der Wissenschaft wenig beachtet. Das ist heute anders, auch dank Psychiatern wie Hinderk Emrich. Dieses Buch präsentiert nicht nur den Standpunkt der modernen Neurowissenschaft zum Rätsel Synästhesie; es wagt sich auch in philosophische Randgebiete. Wie sieht das Leben eines Synästhetikers aus und wie funktioniert unsere Wahrnehmung überhaupt? Das Autorenteam von der Medizinischen Hochschule Hannover erklärt sehr anschaulich, was Synästhesie bedeutet und was die Forschung bisher herausgefunden hat. www.zdf.de
Aus: Emrich H.M., Schneider U., Zedler M., Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie Das
Leben mit verknüpften Sinnen, Hirzel Verlag, Stuttgart, S. 21-24 (2022)
1.2 Forschung in Hannover
Seit Anfang der 80er-Jahre nimmt das Interesse an der Erforschung der Synästhesie wieder zu. Den
Impuls dazu gab insbesondere Richard E. Cytowic, nachdem er auf einer Party einen Synästhetiker
kennen gelernt hatte und durch ihn auf das Phänomen aufmerksam geworden war. Ein Buch, das der
Neuropsychologe über seine Arbeit schrieb, erschien auch in deutscher Sprache (Cytowic 1996). Der
Journalist Volker Lange drehte einen Film über Richard E. Cytowic und das Phänomen Synästhesie
und bat Professor Dr. Dr. Hinderk M. Emrich, es aus deutscher Sicht zu diskutieren und zu
kommentieren. Dabei wurde auch deutlich, welche interessanten Aspekte das Phänomen für
Neurobiologie und Psychiatrie beinhaltet.
In der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
bildete sich 1996 eine Arbeitsgruppe von wissenschaftlichen Mitarbeitern, die sich dafür
interessierte, denn in den Medien (Fernsehen, Rundfunk, Presse) wurde immer häufiger über
Synästhesie berichtet. So entstand ein regelrechter „Boom“ im Blick auf dieses Thema, das eine
besondere subjektive Wirklichkeitserfahrung darstellt. Immer mehr Menschen erfuhren von diesem
Phänomen und wurden auf ihre eigenen synästhetischen Eigenschaften aufmerksam. Dabei zeigte
sich immer deutlicher, dass es sich bei der Synästhesie keinesfalls um irgendeine Art von „Einbildung“
handelt, sondern um einen „wissenschaftlichen Glücksfall“, der es erlaubt, durch dieses Phänomen
mehr über grundlegende Prozesse der Informationsverarbeitung im Gehirn einzelner Personen und
damit über das Bewusstsein zu erfahren.
Da sich immer mehr Menschen mit synästhetischen Erfahrungen an die Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie der MHH wandten, wurde schon bald ein „Synästhesie-Cafe“ eingerichtet. In
regelmäßigen Abständen trafen sich Synästhetiker in der Hochschule, um miteinander und im Dialog
mit Wissenschaftlern über das Phänomen Synästhesie zu diskutieren. Durch diese Treffen hatten
Menschen mit synästhetischen Eigenschaften die Möglichkeit, sich über ihre verschiedenen
„Eigentümlichkeiten“ auszutauschen und zu erfahren, dass sie damit nicht alleine sind. Zugleich
konnten sie moderne Erkenntnisse der Neurobiologie zur Synästhesie erfahren und diskutieren.
Andere Menschen mit Synästhesie kennenzulernen, ist für viele Synästhetiker sehr wichtig. Aus der
MHH wurde daher auch ein Verein gegründet, der heute als Deutsche Synästhesiegesellschaft e.V.
Synästhetiker verbindet, regelmäßige Treffen veranstaltet und die Aufklärung über das Thema
fördert.
Begegnungen unter Synästhetikern, Forschern und Künstlern begannen 2003 in Hannover mit der
DFG-geförderten ersten internationalen Fachkonferenz zur Synästhesieforschung, deren Tradition
zunächst in Hannover und bald auch in vielen anderen Ländern fortgeführt wurde. So veranstaltet
mittlerweile ein Forschungsverbund (artecittà) andalusischer Universitäten regelmäßige
interdisziplinäre Weltkongresse zur Synästhesie in Spanien, an deren Organisation sich die MHH
beteiligt. Die Präsidentin Professorin Maria José de Cordoba Serrano lehrt an der Fakultät der
Schönen Künste der Universität Granada (Spanien) und hat selbst Methoden entwickelt, Synästhesie
für alle Menschen in der Pädagogik zu nutzen. Auch in Großbritannien, USA und Rußland treffen sich
Wissenschaften, Kunst und Synästhetiker aus aller Welt auf regelmäßigen Tagungen. Nicht selten
kann die Kunst auch dort weitermachen, wo die Naturwissenschaften zunächst nicht weiterkommen.
Das Besondere an den fehlenden Berührungsängsten ist seit jeher, dass die Forschung auf diesem
Gebiet nicht nur auf Laboratorien beschränkt ist, sondern dass sie die zahlreichen wissenschaftlichen
Fragestellungen wie auch die künstlerische Darstellung aus den Begegnungen mit den Synästhetikern
schöpft und die Ergebnisse im Austausch aller Beteiligten genährt und validiert werden. Andererseits
erlebt man ein besonderes Bedürfnis der Synästhetiker, sich selbst mit dem Phänomen, den
Forschungsergebnissen und den Möglichkeiten der Kunst zu beschäftigen und sich in diesem
produktiven Umfeld zu begegnen und auszutauschen.
Ein weiteres Feld an der MHH sind die Kontakte mit den Synästhetikern in problematischen
Situationen. Während bei der Synästhesie eher von einer protektiven Eigenschaft gegenüber
seelischen Herausforderungen ausgegangen werden kann, werden auch Synästhetiker wenn auch
seltener manchmal psychisch krank. Die Erfahrung zeigt therapeutische Fallstricke in solchen
Situationen. Seitdem der Amerikaner Lidell Simpson auf den Kongressen mit Freude davon
berichtete, dass ihm aus der MHH ins Leben zurück geholfen worden sei, indem man ihn ermutigt
habe, keine Psychopharmaka mehr einzunehmen, weil er gar keine Psychose gehabt habe sondern
lediglich Synästhetiker sei, kommen immer noch Synästhetiker zur Sprechstunde, denen wie im Fall
von Lidell - durch Psychiater Medikamente gegen Halluzinationen verschrieben wurden, nachdem sie
von den Vermischungen ihrer Sinne erzählt hatten.
Neben diesen schlichten Behandlungsfehlern mit ernsten Folgen erscheint aber auch die Behandlung
tatsächlicher psychischer Störungen neben der Synästhesie nicht trivial. Einerseits lassen sich die
Erlebnisse im synästhetischen Bewusstsein oft nicht in etablierte Kategorien pressen, wie es in der
zunehmenden Flut standardisierter, manualisierter sog. Psychotherapieverfahren üblich zu werden
scheint, und andererseits werden einschlägige Medikamente von Synästhetikern nicht selten
schlecht vertragen oder bleiben wirkungslos. In der Psychotherapie bedeutet diese Erfahrung, dass
es wieder wichtiger wird zu zuhören, statt Ratschläge zu erteilen. Die sich durchsetzende
Fragebogendiagnostik aus der Psychologie in den psychiatrischen Fächern, in denen Diagnosen und
Therapieempfehlungen anhand von Punkten berechnet werden, die sich auf angekreuzte Antworten
der Patienten stützen und wo Neues oder Anderes keinen Platz haben, hilft einem Synästhetiker oft
nicht weiter und schadet ihm schlimmstenfalls noch mit einer Fehleinschätzung. In der
Pharmakologie lehrt sie uns, bei der Synästhesie weiterzudenken und die Berichte der Patienten
ernstzunehmen. Ähnlich verhält es sich mit den Beratungen von Synästhetikern, die Schwierigkeiten
in Institutionen bekommen, wie z.B. der Schule, der Universität oder am Arbeitsplatz. Es verwundert
nicht, dass die Synästhesie, die so oft den naturwissenschaftlichen Methoden mit ihrer Individualität
und Nicht-Reproduzierbarkeit ein Schnippchen schlägt, überall dort an Grenzen stößt, wo Normen
einzuhalten oder zu erlernen sind. Eine der wichtigsten Aufgaben, um Synästhetiker von großem
seelischem Leid zu befreien, ist deren Aufklärung, dass es sich nicht um eine Krankheit, sondern um
ein Privileg handelt, wenn sich Nervenzellen mehr miteinander verschalten als bei anderen.
In Hannover gehören zur Arbeitsgruppe Synästhesieforschung auch stets Doktoranden, die dem
Phänomen und dessen Hintergründen in wissenschaftlichen Untersuchungen auf den Grund gehen.
Viel wird davon gesprochen, daß es sich bei der Synästhesie um lediglich ein Merkmal eines
insgesamt stärker verschalteten Gehirns handeln könnte (hyperconnected brain). Zuletzt kamen viele
Synästhetiker zu Blutuntersuchungen nach Hannover, wobei derzeit ausgewertet wird, ob der
Synästhesie eine gesteigerte Neuroplastizität bzw. Synapsenbildungsrate zugrundeliegt. Im
Hinterkopf hat man hier stets im Sinne der Grundlagenforschung ihres Gründers, herauszufinden,
wie menschliches Bewußtsein funktioniert und aber auch, was Synästhetiker haben, was andere
nicht haben, und was den anderen bei psychischen Erkrankungen helfen könnte.
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