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Kultur und Migration IX
Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und
Diskurslinien
Martina Hörmann & Emily Engelhardt
Zusammenfassung
Blended Counseling – die systematische, konzeptio-
nell fundierte Kombination von digitalen und analo-
gen Kommunikationssettings im Beratungsprozess –
boomt derzeit. Zugleich ist zu beobachten, dass eine
große Spanne an Vorstellungen existiert, was Blended
Counseling sei und wie es umgesetzt werden könne,
sodass ein Blick auf die konzeptionellen Grundlagen
sowie aktuelle Diskurslinien und Forschungsergebnis-
se nötig ist, um den fachlichen und wissenschaftlichen
Diskurs konstruktiv voranzutreiben.
Einführung
Unter dem Suchbegriff Blended Counseling finden
sich im Januar 2022 bei Google knapp 6,5 Millionen
Einträge. Nachdem dieser Begriff erstmals von Frank
Nestmann (2008) verwendet worden war, wurden am
E-Beratungsinstitut der TH Nürnberg in einigen Zeit-
schriftenbeiträgen sowie in einer inzwischen veröf-
fentlichten Masterarbeit aus dem Jahr 2011 (Weiß &
Engelhardt 2012, Weiß 2013) verschiedene Überlegun-
gen zur Konzeption von Blended Counseling als mög-
lichem „Beratungsformat der Zukunft“ (Engelhardt &
Reindl 2016) vorgelegt. 2015 wurden in einer Schwei-
zer Studie erstmals mögliche Potenziale von Blended
Counseling in unterschiedlichen beraterischen Hand-
lungsfeldern wie der Suchtberatung, der Schulsozial-
arbeit und der Beratung im Sozialdienst untersucht
(Hörmann 2018). Ab 2017 wurde im Rahmen eines For-
schungsprojektes ein dreidimensionales Modell für
Blended Counseling entwickelt und durch zwölf Blen-
ded-Counseling-Szenarien konzeptionell fundiert,
darunter auch drei Szenarien für ein Blended-Online-
Counseling1 für die Suchtberatungsplattform SafeZo-
ne. Die Szenarienentwicklung erfolgte gemeinsam mit
Fachkräften aus der Suchtberatung und dem Online-
beratungsportal SafeZone und mündete in eine an-
schließende Erprobung von Blended Counseling in der
Beratungspraxis, welche begleitend evaluiert wurde
(Hörmann et al. 2019). Diese Erkenntnisse wurden ab
Mai 2020 in einem weiteren Forschungs- und Entwick-
lungsprojekt in der Mütter- und Väter-Beratung weiter
ausdifferenziert und vertieft (Camenzind et al. 2021).
Dabei standen insbesondere der Einbezug von unter-
schiedlichen Videoformaten in den Blended Counse-
ling-Prozess und die notwendigen Kompetenzen von
Beratenden für ein professionelles Blended Counse-
ling im Fokus (Camenzind et al. in Vorb.).
Neben dieser zentralen Diskurslinie hat sich auch im
Zuge der Pandemie ein fachlicher Diskurs entspon-
nen, dessen Fokus auf der Frage lag, welche (digitalen)
Kommunikationssettings auch nach bzw. ohne die ak-
tuellen Einschränkungen der Pandemie weiterhin zum
Einsatz kommen sollen und wie digitale und analoge
Kommunikationssettings sinnvoll miteinander kombi-
niert werden können. Und eben in diesen Diskussi-
onen taucht immer häufiger das Stichwort „Blended
Counseling“ auf. Dabei wird bei genauerer Betrach-
tung deutlich, dass aktuell teilweise sehr unscharfe
Vorstellungen darüber existieren, was Blended Coun-
seling sei und der Begriff hierbei manchmal als Über-
schrift für Praktiken genutzt wird, die jedoch nicht die
Konzeption von Blended Counseling beschreiben.
Ein E-Mail-Kontakt, der eher zufällig zwischen Prä-
senzsitzungen stattfindet, beschreibt keinen Blended
Counseling-Prozess. Ebenso wenig ist Blended Coun-
seling „ein Beratungssetting“ (Kreller & Thiery 2021,
S. 1), da es sich eben dadurch auszeichnet, unter-
1 Was zunächst wie ein begrifflicher Widerspruch klingt, ist
die gezielte Kombination von synchronen und asynchronen
Kommunikationssettings im digitalen Raum, also z. B. die
Kombination von asynchroner Mailberatung und synchroner
Chatberatung in einem Onlineberatungsprozess (vgl. Hörmann
et al. 2019, Bachmann 2021)
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Kultur und Migration IX Martina Hörmann & Emily Engelhardt: Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien
schiedliche Kommunikationssettings zur Gestaltung
eines Beratungsprozesses zu nutzen. Und es ist auch
nicht die Beschreibung einer Beratungsmethode, da
im Blended Counseling unterschiedliche Methoden zu
Einsatz kommen, die an die jeweiligen Kommunikati-
onssettings angepasst werden bzw. für diese geeig-
net sind.
Grundlagen und aktuelle Forschungsergeb-
nisse
Professionelles Blended Counseling erfordert einen
dreidimensionalen Blick: auf die KlientInnen, den Be-
ratungsprozess im engeren Sinne und auf die Organi-
sation (Hörmann et al. 2019). In der Konzeption von
Blended Counseling spielen mögliche Impactfakto-
ren eine wesentliche Rolle: Aus welchem Grund wird
Blended Counseling realisiert? Was ist der erhoffte
Nutzen? In mehreren Forschungsprojekten konnten
erste Impactfaktoren identifiziert werden. Dies wa-
ren sowohl feldunspezifische, wie beispielsweise die
Vervielfältigung der insbesondere als niedrigschwellig
beschriebenen Kontaktmöglichkeiten, als auch hand-
lungsfeldspezifische Faktoren, wie die Reduzierung
von Kontaktabbrüchen durch eine Stabilisierung der
Beratungsbeziehung in der Suchtberatung (vgl. Hör-
mann et al. 2019). In eher fachberaterisch ausgerich-
teten Beratungsfeldern können digitale Kurzkontak-
te per Messenger dazu genutzt werden, zeitnah und
unkompliziert auf kurzfristig auftretende Situationen
zu reagieren, wenn beispielsweise das Anliegen bzw.
die Frage über den ergänzenden Versand von Doku-
menten oder Fotos direkt veranschaulicht werden
kann (Camenzind et al. 2021). Die empirische Über-
prüfung dieser Impactfaktoren wird Thema weiterer
Forschungsprojekte sein.
Parallel zu den angeführten größeren Forschungs- und
Entwicklungsprojekten wurden Überlegungen zu Blen-
ded Counseling in kleineren Einzelprojekten auf wei-
tere Beratungsfelder wie beispielsweise die Berufsbe-
ratung (Silfverberg 2020) und die Migrationsberatung
für Erwachsene (Der Paritätische i. E.) und die betrieb-
liche Sozialberatung2 übertragen.
Neben der praktischen Umsetzung unterschiedlicher
Blended Counseling Projekte, hat sich auch das em-
pirische Wissen weiter vergrößert: So lieferten die
qualitativen Analysen von dokumentierten Blended
Counseling-Fallverläufen zwischenzeitlich zahlrei-
2 Für die betriebliche Sozialberatung einer Schweizer Super-
marktkette wurden im Rahmen eines Projektes mit Unterstüt-
zung des Blended Counseling-Teams der HSA FHNW 2021 einige
Blended Counseling-Szenarien entwickelt, die ausschließlich
zur internen Nutzung vorgesehen sind.
che Erkenntnisse über die faktische Nutzung der ver-
schiedenen kommunikativen Settings, die Nutzung
verschiedener Tools3 und die beraterische Begrün-
dung bzw. den Einfluss der KlientInnen auf den Set-
tingwechsel im Blended Counseling-Prozessverlauf
(Camenzind et al 2021, Hörmann et al. 2019).
Es zeigte sich beispielsweise bei der Beratung von jun-
gen Elternpaaren im großstädtischen Umfeld auf ei-
ner eher beratungsorganisatorischen Ebene, dass der
Einbezug von beiden Elternteilen in die Beratung, ins-
besondere durch die Nutzung von Videokommunika-
tion, einfacher als bisher möglich war. Ebenso stand
diese Zielgruppe der Verwendung des datenschutz-
konformen Messengers „Threema“ im Prozessverlauf
sehr offen gegenüber, da Threema teilweise bereits
privat genutzt wurde. Zugleich zeigte sich bei Klien-
tInnen mit eher geringer Schriftsprachkompetenz eine
für die Beratenden teilweise unerwartete Kompetenz
in der Nutzung von asynchronen Sprachnachrichten.
Erst durch diesen Impuls von Seiten der KlientInnen
wurden zahlreiche Beraterinnen für diese zusätzliche
Möglichkeit im Blended Counseling-Prozess sensibili-
siert (vgl. Camenzind et al. 2021).
Welche Kompetenzen BeraterInnen für ein professio-
nelles Blended Counseling benötigen, wurde 2021 in
einem Entwicklungsprozess skizziert und in einen ers-
ten Modellentwurf überführt. Identifiziert wurden zu-
nächst die nachfolgenden sieben Kompetenzbereiche:
(1) Motivation und Bewusstsein4, (2) Tools und Tech-
nik, (3) Kommunikative Settings und Konzeption, (4)
Datenschutz und Vertraulichkeit, (5) Beratungsbezie-
hung und Beratungssystem, (6) Reflexion und Evalu-
ation sowie (7) Förderung der Medienkompetenz der
KlientInnen.
Diese Kompetenzbereiche wurden jeweils mit drei bis
sechs Kompetenzformulierungen operationalisiert. So
lautet beispielsweise eine Konkretisierung im zentra-
len Kompetenzbereich „Kommunikative Settings und
Konzeption“: BeraterInnen „sind in der Lage, aus ver-
schiedenen kommunikativen Settings jene zu wählen,
die zur Bedürfnislage der KlientInnen sowie zur Ziel-
setzung des Prozesses passen“ (vgl. Camenzind et al.
in Vorb.).
3 So wurden beispielsweise für das Blended Counseling in der
Mütter- und Väterberatung (MVB) zwei verschiedene Tools für
die Videokommunikation angeboten, ELVI für geplante längere
Beratungsgespräche und Threema für die mobile Kurzberatung.
Dies knüpfte daran an, dass die MVB über drei verschiedene ko-
präsente Face-to-Face-Formate verfügte: den Hausbesuch, das
geplante Beratungsgespräch und das Kurzgespräch im Rahmen
der Quartierberatung (vgl. Camenzind et al. 2021).
4 Motivation und Bewusstsein sind eher eine Voraussetzung, es
geht jedoch um die Kompetenz diese wahrzunehmen und zu
reflektieren.
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ThemaMartina Hörmann & Emily Engelhardt
Blended Counseling als Pandemiegewinner?
Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie sind in
den letzten zwei Jahren zahlreiche Artikel erschienen,
die sich mit deren Auswirkungen auf die Soziale Arbeit
und den Besonderheiten der Onlineberatung bzw. de-
ren Anforderungen an die Praxis befasst haben (z. B.
Buschle & Meyer 2020, Hörmann 2020, Wenzel, Jaschke
& Engelhardt 2020; Kühne & Hintenberger 2020, Engel-
hardt & Engels 2021). Durch die Kontaktbeschränkun-
gen waren viele Beratende gezwungen, die gewohnten
Arbeitsformen im klassischen Präsenzsetting bzw. der
aufsuchenden Arbeit durch Onlinesettings zu erset-
zen. Große Träger, die bereits viele Jahre zuvor neben
der Beratung vor Ort auch Onlineberatung angeboten
haben, konnten auf dieses Feld ausweichen und ledig-
lich mehr vom bereits Gewohnten machen. Dies zeigte
sich zum Beispiel bei den Onlineberatungsangeboten
der Caritas, der Telefonseelsorge sowie der Bundes-
konferenz der Erziehungsberatung durch einen gro-
ßen Anstieg der Nachfrage und zahlreiche Neuregist-
rierungen für das Angebot (vgl. Bundeskonferenz der
Erziehungsberatung 2020, Panorama 2021).
Gleichzeitig war es für viele Fachkräfte der erste Kon-
takt mit den Möglichkeiten, KlientInnen auch über di-
gitale Wege zu beraten und zu begleiten. Die Nach-
frage an entsprechenden Qualifizierungsangeboten
hat so auch stark zugenommen (z. B. Institut für E-Be-
ratung TH Nürnberg, Zertifikatskurs Onlineberatung).
Und während einige Fachkräfte zunächst eher zöger-
lich oder skeptisch bezüglich der Möglichkeiten der
Onlineberatung reagiert haben, erkannten viele auch
schnell die Potenziale dieses Formats. So ist es auch
nicht verwunderlich, dass in den Phasen zwischen den
Pandemie-Wellen, als die Präsenzberatung5 wieder
möglich wurde, dennoch viele Beratende (und auch
Ratsuchende!) die Onlineberatungsangebote weiter-
hin genutzt haben. Und auch hier hat sich eine sprach-
liche Unschärfe gezeigt: Der Begriff Onlineberatung
wird seit Beginn der Pandemie sehr häufig synonym
zur Videoberatung verwendet. Die inzwischen über
25-jährige Praxis der psychosozialen Onlineberatung
war bislang jedoch vor allem durch schriftbasierte
Kommunikationssettings wie der Mail- oder Chatbe-
ratung gekennzeichnet (vgl. Eichenberg & Kühne 2014,
Engelhardt 2021). Die Vielfalt der verschiedenen digi-
talen Kommunikationssettings ermöglicht überhaupt
erst Blended Counseling Prozesse, so dass eine Veren-
gung auf die Videoberatung vermieden werden sollte.
5 Mit Präsenzberatung oder Face-to-Face-Beratung ist im Beitrag
die kopräsente Beratung vor Ort gemeint.
Ein Blick auf den Diskurs – Diversifizierung
der Felder, aber auch Verw-Irrungen
Erfreulicherweise erfolgt derzeit eine kontinuierliche
Diversifizierung der Beratungsfelder, für die Blended
Counseling konzeptionell entwickelt und „gedacht“
wird. So sind für 2022 die Entwicklung von Blended-
Counseling-Szenarien für die Erziehungsberatung ei-
nes großen Wohlfahrtsverbandes in Deutschland, für
die Sozialberatung eines regionalen Sozialdienstes in
der Schweiz sowie für die Beratung von Menschen mit
Beeinträchtigungen geplant. Vereinzelt finden sich
auch Beiträge im Diskurs, die auf die Grundlagen von
Blended Counseling Bezug nehmen. Bereits 2020 hat-
te der Deutsche Caritasverband ein Eckpunktepapier
zu Blended Counseling veröffentlicht (DCV 2020).
Ein weiterer Beitrag zu Blended Counseling stammt
von Mundelsee in Heft 6/2021 der ZSTB. Auf den ers-
ten Blick schien es erfreulich, dass der systemische
Diskurs zu Blended Counseling und Onlineberatung
(Hörmann 2020 und 2019, Engelhardt 2020) kontinu-
ierlich (weiter-)geführt wird. Mundelsee (2021), der
Onlineberatung in seinem Beitrag als Zwangskontext6
bezeichnet, konstatiert allerdings „eine klare Definiti-
on und Abgrenzung, was unter dem Begriff „blended“
in Bezug auf Beratung zu verstehen ist, [sei] bislang
ausgeblieben“ (ebd, S. 151). Dies verwundert insofern,
als Weiß bereits 2011 den Entwurf einer ersten Defini-
tion vorlegte, der später erweitert und ausdifferen-
ziert wurde (Hörmann et al. 2019, Camenzind et al.
2021): Blended Counseling wird verstanden als „syste-
matische, konzeptionell fundierte, passgenaue Kom-
bination verschiedener digitaler und analoger Kom-
munikationskanäle in der Beratung“ (Hörmann et al.
2019, S. ??), d. h., im Beratungsprozess werden gezielt
die jeweiligen Vorteile der kommunikativen Settings7
miteinander verknüpft (Hörmann 2020, S. 143). Unter
kommunikativen Settings werden Mail-, Chat-, Mes-
senger-, Telefon- und Videokommunikation sowie die
kopräsente Face-to-Face-Kommunikation verstanden.
In jedem kommunikativen Setting können verschiede-
ne Tools angewendet werden, z. B. ELVI oder Threema
Video für die Videokommunikation.
Mundelsee nimmt eine sehr kleinteilige Differenzie-
rung verschiedener Formen und Medien von Beratung
vor und präsentiert 14 mögliche Varianten (Mundelsee
2021, S. 153).
6 Eine irreführende Begrifflichkeit, da der Begriff Zwangskontext
in der Beratung deutlich anders verwendet wird.
7 Auf die Uneindeutigkeit des Kanalbegriffs ist bereits 2019 ver-
wiesen worden, weshalb seit 2020 der Begriff „kommunikative
Settings“ bevorzugt verwendet wird (Hörmann 2020).
Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien
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ThemaMartina Hörmann & Emily Engelhardt Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien
Darüber hinaus geht Mundelsee das Thema Blen-
ded Counseling vor allem methodisch an und erläu-
tert dies anhand der von ihm mit anderen zusammen
entwickelten Plattform Coachingspace. Diese kann
überzeugen, weil zentrale Methoden aus der systemi-
schen Beratung und Therapie wie beispielsweise das
Systembrett teilweise in Zusammenarbeit mit den
Erfindern in das Onlinesetting transferiert wurden.
Weshalb Coachingspace allerdings in einem Blended
Counseling-Prozess genutzt werden soll und nicht
vielmehr in einem Beratungsprozess, der ausschließ-
lich im Distanzsetting geführt wird, bleibt offen. In
einem 2020 durchgeführten Experiment mit der Coa-
chingplattform CAI zeigte sich am Beispiel von Blen-
ded Supervision, dass in einem Blended-Prozess die
beratungsspezifischen Onlinetools eine nachgeordne-
te Rolle spielten. Wichtiger waren den Beteiligten eine
funktionierende Kommunikation, sowohl auf techni-
scher Ebene als auch auf der Beziehungsebene sowie
eine professionelle Gestaltung des virtuellen Bera-
tungsraums, um sich gegenseitig gut wahrnehmen zu
können (vgl. Hörmann et al. 2020). Ein wesentlicher
Grund für die vergleichsweise geringe Nutzung der
beratungsspezifischen Tools8 war, dass im Blended
Counseling die Fülle der methodischen Möglichkeiten
bei einem Vor-Ort-Termin genutzt werden kann, so-
dass Treffen im virtuellen Setting nicht zwingend me-
thodisch angereichert sein müssen. Dies ist anders,
wenn der Beratungs- oder Supervisionsprozess aus-
schließlich im virtuellen Setting stattfindet und hier-
für bietet Coachingspace verschiedene ins Onlineset-
ting übertragene und modifizierte Methoden.
Ein weiterer Beitrag stammt von Kreller und Thier-
ry (2021), die ein Thesenpapier zum Thema Blended
Counseling veröffentlicht haben, das den Anspruch
erhebt, „vernachlässigte mediale Aspekte des The-
mas“ einzubringen (ebd., S. 1). Das Papier weist inso-
fern große Mängel auf, da es weder auf die vorhan-
denen Veröffentlichungen zu den Grundlagen von
Blended Counseling in fachlich angemessener Weise
eingeht, noch stilistisch einer fairen fachlichen Ausei-
nandersetzung genügt9. Es findet deshalb hier Erwäh-
8 Dies waren beispielsweise ein Systembild, ein Ressourcen-
baum, ein Soziogramm etc.
9 Dies umfasst beispielsweise Falschbehauptungen (vgl. z. B. S.
6: „Die Lesenden werden im Dunkeln darüber gelassen, welche
Bedeutung von ,Kanal’ dem zugrunde liegt“, eine Aussage, die
die differenzierte begriffliche Auseinandersetzung mit dem
Kanalbegriff (Hörmann et al. 2019, S. 15) ignoriert. Auch Zitate,
die aus dem Zusammenhang gerissen werden, ein fehlerhafter
Quellennachweis sowie nicht belegte bilanzierende Einschät-
zungen wie „theoriefrei“, zeigen lediglich auf, dass Kreller &
Thierry die entsprechende Literatur nicht sorgfältig gelesen
haben und zudem nicht an einem konstruktiven fachlichen
Diskurs interessiert sind.
nung, da es auf der Webseite der Deutschsprachigen
Gesellschaft für psychosoziale Onlineberatung e. V.
veröffentlicht wurde. Inwieweit das Papier die Einzel-
meinung der Autoren oder die Position der DGOB als
Fachgesellschaft wiedergibt, bleibt offen.
Ausblick oder: alles eine Frage der Haltung?
Für den Großteil der Beratenden (und auch Therapeu-
tInnen) stellt das analoge Präsenzsetting nach wie vor
den „Goldstandard“ (vgl. BPtK 2020) dar, so dass auch
während der Pandemie viel darangesetzt wurde, das
Präsenzsetting zu ermöglichen oder aber schnellst-
möglich zu diesem zurückzukehren. Die Nutzung di-
gitaler Kommunikationsmedien zur Realisierung von
Beratungsgesprächen wird so oftmals auch eher als
Notlösung oder weniger wertiges Setting beschrieben
(Lehmann et al. 2021).
Was steckt hinter dieser Haltung und ist sie für die Be-
ratung im Zeitalter der digitalen Transformation noch
zeitgemäß? Wir leben in einer mediatisierten Gesell-
schaft (vgl. Hepp 2021), in der digital-vermittelte Kom-
munikation eine immer größere Bedeutung in der All-
tagskommunikation hat. Es ist insofern nötig, auch
für die Beratung über neue Kommunikationsformen
und -settings nachzudenken. Dass der Präsenzbera-
tung nach wie vor eine überlegene Rolle zugeschrie-
ben wird, liegt vor allem daran, dass viele Beratende
den direkten und unmittelbaren Kontakt mit den Rat-
suchenden für unabdingbar halten, um „gute“ Bera-
tungsgespräche führen zu können. Wenzel (2015) weist
zurecht darauf hin, dass diese Vorstellung auf einem
„Mythos der Unmittelbarkeit im Face-to-Face-Kon-
takt“ beruht. Es ist anzunehmen, dass auch eine gute
Prise Technikskepsis bei der Ablehnung von Online-
Settings eine Rolle spielt. Nassehi (2019) bemerkt in
seinem Buch „Muster – Theorie der digitalen Gesell-
schaft“ kritisch, dass es „eine typische Reaktion auf
neue Medienformen zu sein [scheint], die vergange-
nen Formen semantisch zu veredeln, um das Unge-
heure der modernen Technik und seiner Folgen in den
Blick zu bekommen“ (S. 24).
Und das manchmal angeführte Argument, dass es ja
auch KlientInnen gäbe, die über weniger Medienkom-
petenz verfügen und damit ausgeschlossen werden
könnten, ist zwar wichtig, könnte aber auch ein Hin-
weis auf ein Übertragungsphänomen sein: Wie gehen
wir in Zukunft damit um, wenn BeraterInnen über zu
wenig Medienkompetenz verfügen, um Beratungskon-
takte auch in Online-Settings zu realisieren?
Ein erster Schritt wäre es, die neuen Formen und
Kommunikationssettings, ohne eine Abwertung und
direkte Gegenüberstellung zum Präsenzgespräch zu
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ThemaMartina Hörmann & Emily Engelhardt
diskutieren. Dass es zahlreiche KlientInnen gibt, die
das Online-Setting sehr schätzen und nicht als zwei-
te Wahl erleben, zeigt die inzwischen über 25-jährige
Praxis der Onlineberatung.
Gleichwohl geben einige BeraterInnen während der
Pandemie an, dass ihre Ratsuchenden lieber in die Be-
ratungsstelle kommen möchten. Hier wäre es interes-
sant genauer zu untersuchen, wie diese Einschätzung
zustande kommt. Es ist anzunehmen, dass BeraterIn-
nen zumindest in einigen Fällen hier einen Beitrag
leisten, indem sie selbst die Onlineberatungs-Formate
abwerten und ein Videogespräch mit den Worten „Es
wäre natürlich schöner, wir könnten uns jetzt wirklich
treffen!“ beginnen. Ebenso ist davon auszugehen,
dass gerade vor dem Hintergrund der pandemiebe-
dingten Einschränkungen viele Ratsuchende (und
Beratende) eine gewisse Online-Müdigkeit (auch als
„Zoom-Fatigue“ beschrieben, vgl. Stanford News 2021)
verspüren. Sie bewerten insofern vielleicht nicht das
Online-Setting an sich als schlechter, sondern kom-
men vor dem Hintergrund der gesamten Lebenssitua-
tion zu dieser Einschätzung.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Beratende
unter dem Stichwort „Blended Counseling“ nun eine
tolerable Lösung für das Dilemma sehen, dass es ohne
Online-Medien in Zukunft nicht möglich sein wird, Be-
ratungsangebote zu realisieren (vgl. Engel 2004). Es ist
jedoch vorsichtig anzunehmen, dass viele Beratende
die Onlinekontakte eher als Hinführung zu einem Prä-
senzgespräch betrachten und dieses Vorgehen dann
als „Blended Counseling“ beschreiben. Auch diese
Denkrichtung wird dem Konzept von Blended Coun-
seling nur unzureichend gerecht.
Ein Anliegen dieses Beitrags war es aufzuzeigen, dass
Blended Counseling im Sinne eines „Vom Entweder-
Oder zum Sowohl-als-auch“ viel mehr umfasst, und
dass die Beratungspraxis auf differenzierte Grundla-
gen und aktuelle Forschungsergebnisse zurückgreifen
kann. Zum anderen sollte deutlich werden, dass es
einen lebendigen Fachdiskurs zu Blended Counseling
braucht, dass dieser aber konstruktiv, fachlich diffe-
renziert und zukunftsweisend ausgerichtet sein sollte.
Abstract
Blended Counseling – Basics, Current Issues and the
Discourse
Blended counseling – the systematic, conceptually
sound combination of digital and analog communi-
cation settings in the counseling process - is currently
booming. At the same time, there is a wide range of
ideas as to what Blended Counseling is and how it can
be implemented. A look at the conceptual foundations
as well as current lines of discourse and research re-
sults is necessary to constructively advance the pro-
fessional and scientific discourse.
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Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien
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ThemaMartina Hörmann & Emily Engelhardt Blended Counseling – Grundlagen, Aktuelles und Diskurslinien
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Anschriften der Verfasserinnen
Martina Hörmann
Hochschule für Soziale Arbeit,
Fachhochschule Nordwestschweiz
Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement
Riggenbachstr. 16
4600 Olten
Schweiz
martina.hoermann@fhnw.ch
Emily Engelhardt
der dreh supervision
Hermann-Kesten-Ring 8
90425 Nürnberg
engelhardt@der-dreh.net
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