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Re-membering Hawai‘i: Provenienzforschung und Restitution als (post)koloniale Erinnerungsarbeit

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Re-membering Hawai‘i
Provenienzforschung und Restitution als (post)koloniale Erinnerungsarbeit
von Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch1
Nach über 150Jahren kamen 2010 in der Ausstellung „E Kū Ana Ka Paia: Unication,
Responsibility and the Kū Images“ die drei letzten noch existierenden Tempelguren
der vielgestaltigen Gottheit Kū im Bernice Pauahi Bishop Museum in Honolulu,
Hawai‘i, wieder zusammen.2 Schon 2008 hatte Noelle M. K. Y. Kahanu, die spätere
Kuratorin der Ausstellung, berührt durch die Präsenz einer dieser Figuren während eines
Symposiums im Musée du Quai Branly in Paris, die Hoffnung geäußert, „[that] they
will once again stand together and that which is separated by oceans shall be united“.3
Die Figuren des Kū hatten als einzige die Tempelzerstörungen überstanden, die nach
dem Bruch des hawaiischen Königshauses mit den bestehenden religiösen Traditionen
im Jahr 1819 einsetzten. Nach der Vereinigung des Archipels zum Königreich unter
Kamehameha I., neun Jahre zuvor, kam es zu tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwäl-
zungen und politischen Transformationen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte
sich Hawai‘i zu einer konstitutionellen Monarchie nationalstaatlicher Prägung. Trotz
internationaler Anerkennung als souveräner Staat wurde das Königreich 1898 von den
USA annektiert und schließlich 1959 als 50. Bundesstaat einverleibt.4 Vor dem Hinter-
grund der daraus resultierenden politischen und kulturellen Fremdbestimmung, die bis
heute fortbesteht, wurde die vier Monate währende Wiedervereinigung der Figuren im
Bishop Museum für mehr als 70.000 BesucherInnen zu einem wichtigen Bestätigungs-
moment ihrer kulturellen Identität. Die Ausstellung mobilisierte das Zusammenkom-
men der hawaiischen Öffentlichkeit und bot Inspiration für die Auseinandersetzung
mit dem Verlust von kulturellen Praktiken, aber auch mit deren Wiedergewinnung.
1 Die dem Artikel zugrundeliegende Forschung wurde durch den ERC Starting Grant no. 803302
Indigeneities in the 21st Century ermöglicht.
2 Ty P. Kāwika Tengan, The Mana of Kū. Indigenous Nationhood, Masculinity and Authority in
Hawai‘i, in: Matt Tomlinson/ders. (Hg.), New Mana. Transformations of a Classic Concept in Pacic
Languages and Cultures, Canberra 2016, 55–75; ders., The Return of Kū? Re-membering Hawaiian
Masculinity, Warriorhood, and Nation, in: Laura R. Graham/H. Glenn Penny (Hg.), Performing Ins-
digeneity. Global Histories and Contemporary Experiences, Lincoln – London 2014, 206–246; ders.,
The Return of Kū, in: ders., E Kū Ana Ka Paia. Unication, Responsibility and the Kū Images, Hono-
lulu 2010.
3 Zit. nach Tengan, The Mana of Kū, 56.
4 Lorenz Gonschor, A Power in the World. The Hawaiian Kingdom in Oceania, Honolulu 2019;
Stacy L. Kamehiro, The Arts of Kingship. Hawaiian Art and National Culture of the Kalākaua Era,
Honolulu 2009.
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34 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
Figuren und deren Bezugsgruppe erlebten so ein umfassendes re-membering ihrer
kulturellen Zusammenhänge.5
Mit dem re-membering im Kontext des hawaiischen Ringens um politische Selbst-
bestimmung und kulturelle Selbstbehauptung beschäftigt sich auch unser Artikel. Wir
wollen im Folgenden das Potenzial des (Wieder-)Zusammenfügens von materiellen
und immateriellen Kulturzusammenhängen anhand von Provenienzforschung und
Restitution aufzeigen und argumentieren dafür, beide Vorgänge als zukunftsorientierte
Erinnerungsarbeit zu verstehen. Im musealen Kontext wird der Begriff Restitution meist
für die Rückgabe von Objekten verwendet, während die Rückführung von mensch-
lichen Überresten oft als Repatriierung bezeichnet wird.6 In vielen Lebenswelten
überschneiden sich allerdings die Konzeptualisierungen von (menschlichem) Subjekt
und (ethnographischem) Objekt. Da sich unser Text mit einer solchen Lebenswelt, der
hawaiischen, und ihrem ontologischen Fundament auseinandersetzt, plädieren wie hier
für die einheitliche Verwendung von Restitution.
Im 19.Jahrhundert entstanden zwischen Hawai‘i und den deutschen Staaten auf poli-
tischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene zahlreiche Verbindungen. Durch
materielle Erzeugnisse und sterbliche Überreste hawaiischer Ahnen (iwi kūpuna), die
zu dieser Zeit in deutsche Sammlungen und Museen gelangten und hier bis heute
verwahrt werden, reichen diese Verechtungen bis in die Gegenwart. Der Frage, wie
aus diesen materiellen Entitäten ethnographische und anthropologische ‚Museums-
objekte‘ wurden,
7
geht Gesa Grimme am Beispiel der Provenienzforschung zu den
Sammlungen des Mediziners Eduard Arning nach, der sich zwischen 1883 und 1886
in Hawai‘i aufhielt. Offengelegt wird damit, wie die heutigen ‚Museumsobjekte‘ aus
ihren kulturellen Kontexten herausgelöst und damit genealogische Zusammenhänge,
gesellschaftliche Beziehungen sowie kulturelle Praktiken dis-membered wurden. Die
Auseinandersetzung mit diesen Prozessen der Trennung und Zerstückelung erlaubt
eine Annäherung an die Wiedereinbettung von Dingen und Menschen in hawaiische
Bedeutungs- und Erinnerungszusammenhänge. Auf das Potenzial des re-membering
blickt anschließend Philipp Schorch anhand der Restitution von iwi kūpuna aus den
Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsens, die nach 26Jahren andauernder
5 Philipp Schorch/Noelle M. K. Y. Kahanu, I Kū Mau Mau. Restoring Hawaiian Intent, Presence
and Authority, in: Philipp Schorch/u. a. (Hg.), Refocusing Ethnographic Museums through Oceanic
Lenses, Honolulu 2020, 21–42; Tengan, The Mana of Kū; ders., The Return of Kū?
6 Vgl. Larissa Förster, Plea for a More Systematic, Comparative, International and Long-Term
Approach to Restitution, Provenance Research and the Historiography of Collections, in: Museums-
kunde 81 (2016) H. 1, 49–54; Andreas Winkelmann, Repatriations of Human Remains from Germany,
1911–2019, in: Museum & Society 18 (2020) H. 1, 40–51.
7 Die physische Anthropologie etablierte sich im deutschen Kontext in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts als wissenschaftliche Disziplin. Durch die Vermessung des menschlichen Körpers und
einzelner Körperteile wie zum Beispiel des Schädels sollten ‚Rassetypen‘ ermittelt und Rückschlüsse
auf Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften des Menschen ermöglicht werden. Durch ihre Ak-
teure und ihren Gegenstand – die Entwicklung des menschlichen Wesens – war sie eng mit der sich
zeitgleich etablierenden Völkerkunde verbunden. Anja Laukötter geht den engen Verbindungen beider
Tätigkeitsfelder in der Institution des Völkerkundemuseums in ihrem 2007 erschienenen Buch Von der
„Kultur“ zur „Rasse“ – vom Objekt zum Körper nach. Anja Laukötter, Von der „Kultur“ zur „Rasse“ –
vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts, Bielefeld 2007.
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Bemühungen hawaiischer Organisationen 2017 in Dresden erfolgte. Thematisiert wird
dabei nicht allein die (Wieder-)Zusammenführung von Menschen und ihren Vorfahren,
sondern auch die dafür notwendige Beziehungsarbeit. Herausgearbeitet wird so nicht
zuletzt die Verantwortung, die sich für Museen und andere Sammlungsinstitutionen
aus dem ‚Besitz‘ dieser Zeugnisse der deutsch-hawaiischen Verechtungsgeschichte
ergeben. Nach einem zusammenfassenden Fazit kommentiert Noelle Kahanu, die heute
an der Universität von Hawaiʻi in Mānoa tätig ist, zum Abschluss diese longue durée
der hawaiischen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen kolonialer Fremdbestim
-
mung und -herrschaft und verdeutlicht aus hawaiischer Perspektive die Bedeutung der
Rückgabe von Kulturgütern und menschlichen Überresten.
1. „Making us whole again“: Re-membering als Praxis (post)kolonialen Erinnerns
Einen Aspekt, den Aimé Césaire, Theoretiker der antikolonialen Bewegung in der Mitte
des 20.Jahrhunderts, als wesentlich für die Aneignungspraktiken des europäischen
Kolonialismus sah, war deren Wirkung als forgetting machine, durch die die Vergangen-
heit der kolonialisierten Regionen und Gesellschaften umgedeutet und umgeschrieben
wurde. In der Folge schien deren Geschichte erst mit der Ankunft der europäischen
Kolonialmächte zu beginnen. Césaire zufolge sind damit Auseinandersetzungen über
die Deutung historischer Ereignisse und Entwicklungen bereits in den Strukturen des
Kolonialismus angelegt. Erinnerungs- und Geschichtspolitiken wie auch Praktiken des
Erinnerns stellen so zentrale Austragungsorte des Kampfes gegen koloniale Fremd-
bestimmung und -herrschaft dar.8
Auch in der Pazikregion spielt die Erinnerung an vergangene Ereignisse und
Praktiken im Ringen um kulturelle Selbstbehauptung und politische Autonomie eine
zentrale Rolle. Im Streben nach politischer und kultureller Anerkennung wird Vergan-
genheit zu einer wichtigen Ressource für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft
sowie für die Artikulation kultureller Identität.9 Auch das Bemühen um die Rückgabe
von kulturellen Gütern und menschlichen Überresten, die sich heute noch in Museen
und Sammlungen benden, ist Teil dieser Auseinandersetzung mit einer durch– ver-
gangene und fortbestehende– koloniale Machtverhältnisse geprägten Gegenwart.
10
8 Michael Rothberg, Remembering Back. Cultural Memory, Colonial Legacies, and Postcolonial
Studies, in: Graham Huggan (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Oxford 2013, 359–
379, 365 f. Rothenberg bezieht sich auf Aimé Césaires bekanntes Essay Discours sur le colonialisme,
das 1950 erstmals erschien. Eine erweiterte Version wurde 1955 veröffentlicht. Die erste Übersetzung
ins Deutsche erfolgte 1968; Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, übersetzt und kommentiert von
Heribert Becker, Berlin 2017.
9 Philipp Schorch, Introduction, in: ders./u. a. (Hg.), Refocusing Ethnographic Museums through
Oceanic Lenses, Honolulu 2020, 1–17; ders./Conal McCarthy/Arapata Hakiwai, Globalizing Māori
Museology. Reconceptualizing Engagement, Knowledge and Virtuality through Mana Taonga, in:
Museum Anthropology 39 (2016) H. 1, 48–69; Jeannette Mageo (Hg.), Cultural Memory. Recon-
guring History and Identity in the Pacic, Honolulu 2001; Robert Borofsky (Hg.), Remembrance of
Pacic Pasts. An Invitation to Remake History, Honolulu [2000] 2020.
10 Edward Halealoha Ayau/Ty P. Kāwika Tengan, Ka Huakaʻi O NaʻOiwi. The Journey Home, in:
Cressida Fforde/Jane Hubert/Paul Turnbull (Hg.), The Dead and Their Possessions. Repatriation in
Principle, Policy and Practice, New York 2002, 171–189, 179; Edward Halealoha Ayau/Honor Keeler,
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Besonders in Hawaiʻi, Aotearoa Neuseeland und Australien kommt der (Wieder-)
Zusammenführung dieser materiellen Zeugnisse und ihrer kulturellen Zusammen-
hänge– ihrem re-membering– eine zentrale Bedeutung zu. Dabei geht es nicht allein
um eine physische Wiedervereinigung: Die Rück- und Zusammenführung bedeutet
vielmehr auch die Möglichkeit zur Wiederherstellung von Bedeutungs-, Beziehungs-
und Wissenskontexten, die durch die Abwesenheit dieser Entitäten unterbrochen und
fragmentiert wurden.11
Heutige ‚Museumsobjekte‘, die von den Gesellschaften der pazischen Inselwelt
einst hergestellt, verwendet und getauscht wurden, gelangten zumeist im Zuge der
zunehmenden kolonialen Durchdringung der Region im Laufe des 19.Jahrhunderts in
die Sammlungen und Museen der kolonialen Metropolen.
12
Hier wurden aus materiellen
Erzeugnissen und sterblichen Überresten menschlicher Ahnen Belegexemplare und
Untersuchungsgegenstände für die zeitgenössische Völkerkunde und Anthropologie.
Barbara Kirshenblatt-Gimblett hat diesen Prozess als detachment und fragmentation
beschrieben: „Such objects become ethnographic by virtue of being dened, segmented,
detached, and carried away by ethnographers. They are ethnographic […] by virtue of
the manner in which they have been detached, for disciplines make their objects and in
the process make themselves.“
13
Mit dem dauerhaften Herauslösen aus Bedeutungs- und
Wissenszusammenhängen sowie aus Beziehungsnetzwerken ging auch eine Zerstücklung
der genealogischen Zusammenhänge, spirituellen Verbindungen und kulturellen Prakti-
ken einher: Die ontologische Einheit von Dingen und Personen wurde dis-membered. Als
ethnographisches und anthropologisches ‚Sammlungsgut‘ verharren sie so größtenteils
bis heute, „disconnected from their ecology, that is to say the cultural environments of
their indigenous producers and their customary sources of knowledge“.14
In welcher Art und Weise sich dieses dis-membering in Institutionen wie Museen
und Archiven durch Aufbewahrungspraktiken und Zugänglichkeitsbeschränkungen
fortsetzt, zeigt Amy Ku‘uleialoha Stillman am Beispiel des hawaiischen Hula, einer
performativen Erinnerungs- und Überlieferungstechnik bestehend aus Musik, Gesang
und Tanz.15 Jahrzehntelang wurden Bücher und Manuskripte mit Textmaterial für den
Hula-Gesang mehr oder weniger unbeachtet in der Bibliothek des Bishop Museums
Injustice, Human Rights, and Intellectual Savagery. A Review, in: H-Soz-Kult, 14.04.2017, www.
hsozkult.de/debate/id/diskussionen-3987 (28.06.2021).
11 Siehe hierzu z. B. Schorch/McCarthy/Hakiwai, Globalizing Māori Museology; Arapata Haki-
wai, He Mana Taonga, He Mana Tangata. Maori Taonga and the Politics of Maori Tribal Identity and
Development, Dissertation, Victoria University of Wellington, Wellington 2014; Sean Mallon/u. a.,
The ‘Ahu ‘Ula and Mahiole of Kalani‘ōpu‘u. A Journey of Chiey Adornments, in: Tuhinga 28
(2017), 4–23; Paul Turnbull/Michael Pickering (Hg.), The Long Way Home. The Meaning and Values
of Repatriation, New York 2010.
12 Siehe ausführlich hierzu Rainer Buschmann, Anthropology’s Global Histories. The Ethno graphic
Frontier in German New Guinea, 1870–1935, Honolulu 2008; Michael O’Hanlon/Robert Welsch,
Hunting the Gatherers. Ethnographic Collectors, Agents, and Agency in Melanesia 1870s–1930s, New
York 2001; Nicholas Thomas, Entangled Objects. Exchange, Material Culture and Colonialism in the
Pacic, Cambridge/Mass. 1991.
13 Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Objects of Ethnography, in: Ivan Karp/Stephen D. Lavine (Hg.),
Exhibiting Cultures. The Poetics and Politics of Museum Display, Washington 1992, 386–443, 387.
14 Schorch/McCarthy/Hakiwai, Globalizing Māori Museology, 49.
15 Amy Kuʻuleialoha Stillman, Re-Membering the History of the Hawaiian Hula, in: Jeannette Ma-
geo (Hg.), Cultural Memory, 187–204.
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verwahrt. Da es nur unzureichend dokumentiert und erschlossen war, wurde es nicht
an jene Interessierte weitergegeben, die sich seit den 1970er Jahren um die Wieder-
belebung des Hula als kulturelle Praktik bemühten. Das Repertoire des wiederbelebten
Hula bestand so nur aus einem kleinen Teil der eigentlichen Überlieferung. Erst als
historische und aktuelle Texte zusammengeführt– re-membered– wurden, ließen sich
die Diskontinuitäten im Repertoire erkennen. Im Anschluss konnte eine umfassende
(Wieder-)Herstellung der fragmentierten Zusammenhänge erfolgen.16
Als „bits and pieces all over the place“ beschrieb Linda Tuhiwai Smith, Angehörige
der Ngāti Porou, in einem Treffen zum Umgang mit deren Kulturerbe in neusee-
ländischen Sammlungsinstitutionen im Jahr 2010 solch fragmentiertes Kulturerbe. Sie
verwies darauf, dass die (Wieder-)Zusammenführung mit den materiellen Zeugnissen
ihrer Geschichte und Gesellschaft für Māori-Gemeinschaften eine Vervollständigung
ihrer selbst bedeutet: „making us whole again“.17 Diese Kostbarkeiten (taonga) sind
oftmals integrale Bestandteile genealogischer Zusammenhänge und aufgeladen mit
kultureller und spiritueller Energie (mana). Eine klare Trennung von Subjekt und
Objekt, wie oft in europäischen Vorstellungswelten postuliert, lässt sich in vielen
ozeanischen Lebenswelten ontologisch nicht aufrechterhalten.18 So sind zum Beispiel
im hawaiischen Kontext Grabbeigaben (moepū) Teil der Verstorbenen, mit denen
sie bestattet wurden: „moepū belong to the iwi kūpuna and both belong to kulāiwi
(homeland) where they were originally placed.“
19
Anzuerkennen, dass es sich bei ihnen
nicht um ‚Museumsobjekte‘ handelt, bedeutet laut Edward Halealoha Ayau und TyP.
Kāwika Tengan für die hawaiische Bevölkerung, sich neu mit eigenen Werten und
Praktiken bezüglich Tod und Bestattung auseinandersetzen und zu deren Fortführung
und Aktualisierung in der Gegenwart beizutragen.20 Wie die Zusammensetzung des
Hula-Repertoires ist auch die Rückholung von moepū und iwi kūpuna nach Hawaiʻi,
deren re-membering, eine Form aktiver Erinnerungsarbeit, die heute zentraler Teil
des Strebens nach politischer Autonomie und selbstbestimmter gesellschaftlicher
Entwicklung im Kontext fortbestehender Fremdbestimmung ist.
2. Die longue durée hawaiisch-deutscher Verechtungen
Das Königreich Hawaiʻi, seit 1839 eine konstitutionelle Monarchie, baute im Laufe
des 19.Jahrhunderts seine diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu ande-
ren Staaten fortwährend aus. Von Großbritannien und Frankreich wurde es 1843 als
souveräner Staat anerkannt. Zudem erreichte Hawai‘i mittels der Unterzeichnung
16 Ebd., 195–202.
17 Zit. nach Hakiwai, He Mana Taonga, He Mana Tangata, 2.
18 Philipp Schorch/u. a. (Hg.), Refocusing Ethnographic Museums through Oceanic Lenses, Hono-
lulu 2020; Schorch/McCarthy/Hakiwai, Globalizing Māori Museology; zu taonga siehe Paul Tapsell,
The Flight of Pareraututu. An Investigation of Taonga from a Tribal Perspective, in: The Journal of
the Polynesian Society 106 (1997) H. 4, 323–374; Amiria Henare [Salmond], Taonga Maori. Encom-
passing Rights and Property in New Zealand, in: dies./Martin Holbraad/Sari Wastell (Hg.), Thinking
through Things. Theorising Artefacts in Ethnographic Perspective, London 2007, 47–67.
19 Ayau/Tengan, Ka Huakaʻi O NaʻOiwi, 184.
20 Ebd., 184 f.
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außenpolitischer Verträge eine Gleichstellung mit den ‚westlichen‘ Ländern. Die Ver-
träge sicherten die Unabhängigkeit des Archipels und boten in der zweiten Hälfte des
19.Jahrhunderts zunächst ein Gegengewicht zum wachsenden wirtschaftlichen und
militärischen Einuss der USA. Das Königreich etablierte sich so als fester Bestandteil
der damaligen internationalen Staatengemeinschaft.
21
Auch zu deutschen Stadtstaaten,
Herzogtümern und Königreichen nahm Hawai‘i in der Mitte des 19.Jahrhunderts
diplomatische Beziehungen auf. 1853 wurde der in Hamburg ansässige Kaufmann
Johann Heinrich Gossler zum Generalkonsul für das Königreich Preußen bestellt. Im
gleichen Zeitraum wurden auch Verträge mit den Hansestädten Hamburg (1848) und
Bremen (1854) geschlossen.22 Auch nach der Gründung des Deutschen Reich im Jahr
1871 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern fortgeführt.
Die Unterzeichnung eines Vertrags erfolgte 1879.23
Besonders mit Bremen entstanden durch den Handelsunternehmer Johann Hinrich
Hackfeld und seine GeschäftspartnerInnen enge Verbindungen. Innerhalb weniger
Jahrzehnte war Hawai‘i zu einer zentralen Versorgungsstation für die im pazischen
Raum verkehrenden Handels- und Walfangschiffe geworden. Hackfelds Unternehmen
betätige sich zunächst als Zulieferer im Walfang und später verstärkt im Import und
Export von Handelsgütern. Ab den 1870er Jahren erfuhr auch der Betrieb von Zucker-
rohrplantagen zunehmend an Bedeutung. In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts
stieg die Firma zu einem der größten Unternehmen in Hawaiʻi auf. Für die Zucker-
plantagen erhielten Hackfeld und seine GeschäftspartnerInnen auch die Erlaubnis vom
Hawaiian Board of Immigration, ArbeiterInnen in Norddeutschland anzuwerben.24
EinwanderInnen aus den deutschen Staaten und später dem Deutschen Reich waren
aber nicht nur im Handel oder der Plantagenwirtschaft aktiv. Die hawaiische Regierung
bestand im Laufe des 19.Jahrhunderts zunehmend aus einussreichen ZuwanderInnen
aus den USA und Europa. So stammte unter anderem der langjährige Innenminister
Hawai‘is, Hermann A. Widemann, aus der Nähe von Hannover.25
Zum Aufbau und zur Festigung der Beziehungen zu den europäischen National-
staaten weilten Mitglieder der hawaiischen Königsfamilie regelmäßig in Europa. So
besuchte unter anderem David Kalākaua, von 1874 bis 1891 König von Hawaiʻi, wäh-
rend seiner Weltreise im Jahr 1881 den Kontinent. Auch dem Deutschen Reich stattete
er bei dieser Gelegenheit einen Besuch ab. In Berlin besuchte der ethnographisch und
historisch interessierte Monarch, dessen Regierungszeit als First Hawaiian Renais-
sance gilt,26 auch das Königliche Museum für Völkerkunde und begutachtete dort die
Sammlung zu den hawaiischen Inseln. Den Direktor des Museums, Adolf Bastian, hatte
21 Gonschor, A Power in the World, 27f, 35–37.
22 Eberhard Fritz, Das Königreich Hawai‘i und die Länder im deutschen Südwesten, in: Ulrich
Menter/Inés de Castro/Stephanie Walda-Mandel (Hg.), Hawai‘i. Königliche Inseln im Pazik, Dres-
den – Stuttgart 2017, 32–39, 34 f.
23 Gonschor, A Power in the World, 36 f.
24 Richard A. Hawkins, Hackfeld, Heinrich, German Historical Institute, 13.02.2017, http://www.
immigrantentrepreneurship.org/entries/hackfeld-heinrich/ (28.06.2021).
25 Ulrich Menter, Geschenk, Kuriosität, Objekt. Hawaiische Dinge und ihre Erwerber, in: ders./Inés
de Castro/Stephanie Walda-Mandel (Hg.), Hawai‘i, Königliche Inseln im Pazik, Dresden – Stuttgart
2017, 114–117, 115.
26 Kamehiro, The Arts of Kingship, 1 f.
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er während dessen Besuches in Hawaiʻi im Jahr 1880 persönlich kennengelernt.27 Für
die gerade entstehenden deutschen Völkerkundemuseen und die sich aus ihnen heraus
entwickelnde Völkerkunde war Bastian von zentraler Bedeutung. Seiner Vorstellung
nach sollten Völkerkundemuseen ein „universal archive of humanity“ darstellen.
28
Hier-
für war das Anlegen ausgedehnter Objektsammlungen von grundlegender Bedeutung:
Um theoretische Aussagen zum menschlichen Wesen und dessen Entwicklung treffen
zu können, müssten zunächst genügend empirische Daten in Form ethnographischer
Objekte vorliegen. Verbunden mit der Vorstellung, dass unter dem Einuss der europäi-
schen Expansion Gesellschaften ihre kulturellen Eigenheiten verlieren und besonders
jene als ‚Naturvölker‘ bezeichneten Gemeinschaften allmählich verschwinden würden,
wurde das Anhäufen der materiellen Kultur dieser Gesellschaften zum Kernanliegen
der Museen.29 In der gesellschaftlichen Entwicklung Hawai‘is sahen die Völkerkund-
lerInnen jener Zeit ihr Paradigma der Salvage Anthropology bestätigt.
30
In diesem
verbanden sich zunehmend evolutionistische Entwicklungs- und Kulturvorstellungen
mit der Idee der kulturellen Überlegenheit Europas.31
Als der Mediziner Eduard Arning sich in der Mitte der 1880er Jahre in Hawai‘i zu
Forschungszwecken aufhielt, galten das Königreich und seine ‚Kultur‘ aufgrund der
sich dort rasant vollziehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse als „für die
Ethnographie verloren“.32 Finanziert durch die Humboldt-Stiftung der Preußischen
Akademie der Wissenschaften und dem Board of Health der hawaiischen Regierung
erhielt der auf dermatologische Erkrankungen spezialisierte Arzt die Möglichkeit,
dort zwischen 1883 und 1886 Ursachen und Übertragungswege der damals als Lepra
bezeichneten Hansen’schen Krankheit zu erforschen.
33
Auf Anraten Bastians, mit
27 Markus Schindlbeck, The Collection of Eduard Arning. An Aspect of the Berlin/Hawaiian Rela-
tions in the 19th and 20th Century, in: Adrienne Kaeppler/ders./Gisela Speidel (Hg.), Old Hawai‘i. An
Ethnography of Hawai‘i in the 1880s. Based on the Research and Collections of Eduard Arning in the
Museum für Völkerkunde Berlin, Berlin 2008, 13–31, 21 f.
28 Manuela Fischer/Peter Bolz/Susan Kamel, Adolf Bastian and His Universal Archive of Human-
ity. The Origins of German Anthropology, Hildesheim 2007; H. Glenn Penny, Bastian’s Museum. On
the Limits of Empiricism and the Transformation of German Ethnology, in: ders./Matti Bunzl (Hg,),
Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor 2003, 86–126; ders.,
Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie, München 2019.
29 Siehe hierzu insbesondere H. Glenn Penny, Objects of Culture. Ethnology and Ethnographic
Museums in Imperial Germany, Chapel Hill 2002; Andrew Zimmerman, Anthropology and Antihuma-
nism in Imperial Germany, Chicago 2001.
30 Zur Bedeutung des Salvage Paradigm für die Entwicklung ethnographischer Museumbestände
im Deutschen Reich siehe Penny, Objects of Culture; Zimmerman, Anthropology and Antihumanism.
Entsprechende Einschätzungen zu Hawai‘i nden sich u. a. in den für unsere Argumentation zentralen
Publikationen: Eduard Arning, Ethnographie von Hawaii, in: Zeitschrift für Ethnologie 19 (1887),
129–138; ders., Ethnographische Notizen aus Hawaii. 1883–86, Hamburg 1931; August Eichhorn,
Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte, in: Baessler-Archiv 13 (1929), 1–30; ders., Hawaiische
Baststoffe (Kapa) und Werkzeuge zu ihrer Herstellung, in: Baessler-Archiv 6 (1922), 176–203.
31 Siehe insbesondere Zimmerman, Anthropology and Antihumanism, aber auch Penny, Objects of
Culture.
32 Arning, Ethnographie von Hawaii, 130.
33 Zwar setzte sich Arning für eine verbesserte Versorgung der Erkrankten ein, sah aber gleichzeitig
die bewusste Inzierung eines Menschen als die entscheidende Möglichkeit, den Beleg für seine An-
nahme einer Übertragbarkeit der Krankheit zu erbringen. Hierzu panzte er mit Erlaubnis der hawai-
ischen Regierung am 28. September 1884 dem zum Tode verurteilten taubstummen Keanu inziertes
Gewebe ein. Innerhalb von zwei Jahren entwickelte Keanu alle Symptome der Krankheit und wurde
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dem er in regelmäßigem Austausch stand, begann er in dieser Zeit eine ethnographi-
sche Sammlung anzulegen. In seiner ersten Nachricht aus Hawai‘i bestätigte auch er
zunächst die Annahme, dass „[…] für den Sammler von ethnographischen Gegen-
ständen […] jene Inseln ein sehr unfruchtbares Land […]“
34
seien. Über Emil du Bois-
Reymond ließ er Bastian mitteilen: „[…] das wenige alte bendet sich in den Händen
der alten Häuptlingsfamilien, die sich nicht davon trennen und kommt einmal etwas
zum Verkauf, so sichert sich die Regierung den Besitz für ihr Museum.“
35
Letztlich war
es Arning im Laufe seines fast dreijährigen Aufenthalts in Hawai‘i dennoch möglich,
eine umfangreiche ethnographische Sammlung anzulegen. Ausschlaggebend hierfür
war nicht zuletzt seine gute Beziehung zu König David Kalākaua, der sich ebenfalls
als ethnographischer Sammler betätigte. Regelmäßig tauschten beide sich über ihre
Sammlungen und Sammelaktivitäten aus.36
Daneben legte Arning noch weitere Sammlungen an: Für anthropologische Zwecke
entnahm er vollständige Skelette, einzelne Knochen und Schädel aus Grabhöhlen und
anderen Begräbnisplätzen. Im Rahmen seiner Forschungen sammelte er anatomisches
Material und fertigte Moulagen sowie Photographien von Körperregionen an, die von
Ausschlägen und Geschwüren befallen waren.37 Er erstellte zudem anthropometrische
Aufnahmen und trug eine Sammlung von Haarproben zusammen.38 Darüber hinaus
hielt er seine Reisen und Ausüge auf den Inseln photographisch fest.
39
All diese
Sammlungen ließ Arning am Ende seines Aufenthalts nach Deutschland verschiffen.
Nicht alle sind jedoch heute noch aufndbar. Während sein photographisches Mate-
rial in das damalige Hamburgische Museum für Völkerkunde gelangte, blieben seine
ethnographische Sammlung wie auch seine Schädelsammlung in Berlin. Sie werden
dort heute im Ethnologischen Museum und dem Museum für Vor- und Frühgeschichte
verwahrt. Anhand der Auseinandersetzung mit diesen beiden Konvoluten wird im Fol-
genden aufgezeigt, wie aus historischen und kulturellen Zeugnissen der hawaiischen
Gesellschaft, die zugleich auch von den deutsch-hawaiischen Verechtungen zeugen,
ethnographische und anthropologische ‚Museumsobjekte‘ wurden.
Anfang 1889 in die damalige Leprasiedlung Kalawao auf Molokaʻi gebracht, wo er 1892 verstarb. Sie-
he hierzu Anna Bergmann, Tödliche Menschenexperimente in Kolonialgebieten. Die Lepraforschung
des Arztes Eduard Arning auf Hawaii 1883–1886, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.),
„… Macht und Anteil an der Weltherrschaft.“ Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005,
141–148; Omer P. Steeno, Eduard Arning (1855–1936). Leben und Lepraforschung eines großen Der-
matologen, in: Folia Dermatologica 1 (2002), 39 f. Zu Arnings Forschung in Hawai‘i allgemein siehe
auch Oswald Andrew Bushnell, Dr. Edward Arning. The First Microbiologist in Hawai‘i, in: The Ha-
waiian Journal of History 1 (1967), 3–30; Sabine Kammandel, Eduard Christian Arning (1855–1936):
Leben und wissenschaftliches Werk, insbesondere seine Reise zu den Hawaii-Inseln von 1883–1886
zum Studium der Lepra, Dissertation, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover 1994.
34 Eichhorn, Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte, 1.
35 Staatliche Museen Berlin - Zentralarchiv (SMB-ZA), Museum für Völkerkunde (I/MV) 0509, du
Bois-Reymond an Bastian, 18.04.1884, Bl. 2.
36 Arning, Ethnographie von Hawaii, 137.
37 Bergmann, Tödliche Menschenexperimente, 145.
38 Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Nachlass (NL) Virchow, Nr. 55,
Arning am 16.01.1885, Bl. 17.
39 Zu Arnings photographischer Sammlung siehe Adrienne Kaeppler, Eduard Arning: Hawai‘is
ethnograscher Fotograf, in: Wulf Köpke/Bernd Schmelz (Hg.), Blick ins Paradies. Historische Foto-
graen aus Polynesien, Hamburg 2014, 87–103.
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41Re-membering Hawai‘i
3. Die Aufdeckung der Zerstücklung: Provenienzforschung als re-membering
In den letzten Jahren erfolgte die Beschäftigung mit den kolonialen Hintergründen
ethnographischer und anthropologischer Sammlungsbestände zunehmend unter dem
Schlagwort der Provenienzforschung zu Sammlungen aus kolonialen Kontexten.40 Im
Unterschied zum kunsthistorischen Verständnis von Provenienzforschung geht es
dabei nicht allein um die Ermittlung von Besitzverhältnissen und die Überprüfung
ihrer Rechtmäßigkeit. Ziel ist vielmehr eine möglichst dichte Kontextualisierung der
Bestände, die ihre Eingebundenheit in vielschichtige gesellschaftliche und politische
Aushandlungsprozesse in Vergangenheit und Gegenwart erfasst und die divergierenden
(post)kolonialen Erfahrungen der involvierten Gesellschaften berücksichtigt.
41
Gleich-
zeitig müssen im europäischen Kontext verwendete Kategorien wie Besitz und Eigen-
tum, Kopie, Fälschung und Original, Subjekt und Objekt reektiert und hinterfragt
werden. Grundsätzlicher ist aber die Frage, wie materielle Erzeugnisse und menschliche
Überreste dis-membered und zu ‚Museumsobjekten‘ wurden.42 Dieser Frage soll im
Folgenden anhand der ethnographischen und der anthropologischen Sammlung von
Eduard Arning sowie der zu beiden Sammlungen durchgeführten Provenienzforschung
nachgegangen werden.
Für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz beschäftigte sich Gesa Grimme 2018 im
Rahmen eines Forschungsauftrags mit den Erwerbskontexten von Arnings Sammlun-
gen. Die etwa 500 Objekte umfassende ethnographische Sammlung wurde 1887 vom
Königlichen Museum für Völkerkunde Berlin angekauft. Im selben Jahr übergab Arning
auch die anthropologische Sammlung, bestehend aus mindestens 23 Schädeln, der
Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU). Im
Unterschied zu anderen ethnographischen Beständen dieser Zeit ist Arnings Sammlung
überaus gut dokumentiert. Neben einem Sammlungskatalog führte er ein Ausgaben-
buch, in dem er Ankaufsarten, VerkäuferInnen und VorbesitzerInnen sowie Preise
vermerkte. Darüber hinaus liegen insgesamt vier Veröffentlichungen von Arning und
August Eichhorn, Leiter der Ozeanien-Abteilung am Berliner Völkerkundemuseum
zwischen 1916 und 1930, vor.43 Dieses Material sowie die Korrespondenzen von und
zu Arning im heutigen Ethnologischen Museum Berlin, im Museum am Rothenbaum,
Kulturen und Künste der Welt in Hamburg und in der Berlin-Brandenburgischen
Akademie der Wissenschaften bildeten dabei die Grundlage der Recherche. Diese
Quellen beschäftigen sich vorrangig mit der ethnographischen Sammlung und ihrem
40 Larissa Förster, Der Umgang mit der Kolonialzeit: Provenienz und Rückgabe, in: Iris Edenhei-
ser/dies. (Hg.), Museumsethnologie. Eine Einführung. Theorien. Debatten. Praktiken, Berlin 2019,
78–103; dies., Plea for a More Systematic, 49–54; dies./u. a. (Hg.), Provenienzforschung zu ethno-
graphischen Sammlungen der Kolonialzeit, Berlin 2018.
41 Gesa Grimme, Systemizing Provenance Research on Objects from Colonial Contexts, in: Mu-
seum & Society 18 (2020) H. 1, 52–65; dies., Auseinandersetzung mit einem ‚Schwierigen Erbe‘.
Provenienzforschung zu Objekten aus kolonialen Kontexten im Linden-Museum Stuttgart, in: Tribus
67 (2018), 95–129.
42 Larissa Förster, Der Umgang mit der Kolonialzeit, 82 f.; zum dis-membering ethnographischer
Objekte siehe Kirshenblatt-Gimblett, Objects of Ethnography.
43 Arning, Ethnographie von Hawaii; ders., Ethnographische Notizen aus Hawaii. 1883–86; Eich-
horn, Hawaiische Baststoffe; ders., Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte.
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42 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
Erwerb. Genaue Angaben zur Herkunft nden sich hier nur für jene Schädel, die Arning
zusammen mit Grabbeigaben den Grabstätten entnahm. Trotz verschiedener weiterer
Hinweise, wie die Nummerierung und Etikettierung der einzelnen Schädel oder dass
Arning ebenfalls ein Inventar zu seiner Schädelsammlung führte, ließ sich ein solcher
Katalog im Rahmen der Recherche nicht lokalisieren. Zudem scheinen die Schädel
auch nie Gegenstand einer Publikation gewesen zu sein. Anhand der Beschäftigung
mit dem historischen Quellenmaterial zu Arnings Sammlungen lassen sich drei– mit-
unter ineinander übergehende– Dimensionen der Prozesse des dis-membering ver-
deutlichen. Sie betreffen das ambivalente Verhältnis zwischen Ab- und Anerkennung
geschichtlicher Entwicklungen, ein Erstarren von Beziehungsnetzwerken im Zuge der
Musealisierung sowie die Rolle, die der Missachtung kultureller Wertvorstellungen
und Praktiken dabei zukommt.
3.1. „Das alte Hawaii“ oder die Ab- und Anerkennung geschichtlicher Entwicklungen
In Arnings Sammlungsdokumentation wie auch in seinen beiden Publikationen Ethno-
graphie von Hawaii (1887) und Ethnographische Notizen aus Hawaii. 1883–86 (1931)
fällt auf, wie seine Beschreibungen zum historischen und ethnographischen Kontext
zeitlich auseinanderfallen. Einerseits beschreibt er detailliert die gesellschaftliche
Situation in Hawai‘i wie auch die kulturellen Zusammenhänge, aus denen die von ihm
zusammengetragenen materiellen Zeugnisse stammen. Auch die sich während seines
Aufenthalts vollziehenden politischen Entwicklungen und Spannungen bringt er expli-
zit mit der Beschaffung seiner Sammlung in Verbindung: „Speciell den Widersachern
der jetzigen neuen Dynastie verdanke ich manchen Schatz, dessen Vorhandensein mir
verrathen wurde, damit er nicht in die Hände des Königs falle.“44 Andererseits betont
er stets, dass es sich dabei um die „letzten Reste altHawaiis [sic]“
45
handelt. Auch
Eichhorn beginnt seinen 1929 erschienenen Aufsatz „Alt-Hawaiische Kultobjekte
und Kultgeräte“ mit dem Satz „Das alte Hawaii der Entdeckungszeit lebt nur noch in
den Museen.“46 Weiter führt er unter Einbeziehung einer handschriftlichen Notiz von
Bastian aus, dass die Inseln „[…] an erster Stelle unter den Teilen Polynesiens [stehen],
‚wo der unter den Naturstämmen des Erdteils gerade am raschesten fortschreitende
Zersetzungsprozeß die ethnischen Eigentümlichkeiten verwischt hat‘.“
47
Deutlich
wird hier, wie das für die entstehenden Völkerkundemuseen konstituierende Salvage
Paradigm, dem zufolge der Kontakt mit Europa unweigerlich zum Niedergang der als
Naturvölker angesehenen Gesellschaften führe, Arnings und Eichhorns Wahrnehmung
der hawaiischen Bevölkerung prägte. Historische Entwicklungen und kulturelle Trans-
formationen werteten sie als Auösungsprozesse „Alt-Hawaiis“.48
In Arnings Dokumentation nden sich allerdings zahlreiche Belege für das Fort-
bestehen und die Aktualisierung hawaiischer „Eigentümlichkeiten“,
49
die er selbst
nicht als solche anzuerkennen scheint. In seiner Beschreibung des Brustschmucks lei
44 Arning, Ethnographie von Hawaii, 132.
45 SMB-ZA, I/MV 0509, Arning an Bastian, 31.10.1885, Bl. 4.
46 Eichhorn, Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte, 1.
47 Ebd.
48 Arning, Ethnographie von Hawaii, 130 f.
49 Eichhorn, Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte, 1.
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43Re-membering Hawai‘i
niho palaoa, von denen sich neun Exemplare in seiner Sammlung benden, berichtet
er: „In den alten Familien bewahrte man sie mit großer Sorgfalt auf, gewöhnlich in
kapa gewickelt. Bei feierlichen Gelegenheiten, z. B. bei der Beerdigung von Mrs.
Pauahi Bishop habe ich sie von Abkömmlingen der Häuptlingsfamilie noch tragen
sehen.“50 Die Gegenwart kultureller Kontinuität beschränkt sich dabei nicht nur auf
Kleidungs- und Schmuckstücke, sondern lässt sich ebenso in den Handlungen von
Arnings hawaiischen Bekannten erkennen:
„Verschiedene höchst interessante Gegenstände aus einer anderen Höhle unter
anderem eine kleine in feines Tapa eingehüllte Kalabasse mit Placenta und Nabel-
schnüre von highchiefs, sind mir leider abhanden gekommen. Ich hatte die Sachen
eingepackt, adressiert und einer Schwester des Königs, wo ich wohnte, zur Weiter-
beförderung übergeben. Sie behauptet, sie abgeschickt zu haben, aber die Sachen
sind nie hier angekommen. Ich habe erst nachträglich gehört, wie tief gerade
der Glaube an die Nothwendigkeit des sicheren Versteckens der Nabelschnüre
eingewurzelt ist. Wahrscheinlich ruht die Kiste auf dem kühlen Meeresgrund.“51
Während seines Aufenthalts auf Hawai‘i Island, der größten Insel des Archipels, hatte
Arning, laut seiner Schilderung, einer Höhle in den Berghängen oberhalb der Keala-
kekua Bucht eine Kalabasse entnommen, die der Aufbewahrung von Nabelschnüren
diente. Prinzessin Miriam Likelike, bei der er zu dieser Zeit wohnte, intervenierte dar-
aufhin und verhinderte so eine Verletzung hawaiischer Wertvorstellungen. Arning mag
seine Sammlung zwar primär als ethnographische Überreste „der auf ewig untergegan-
genen hawaiischen Cultur“
52
verstanden haben, seine Dokumentation belegt allerdings
vielmehr die gelebte Beständigkeit gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge
bei gleichzeitiger Adaptation und Veränderlichkeit. Das amibivalente temporale Verhält-
nis zwischen seinen Erfahrungen und deren Darstellung lässt sich als ein Beispiel der
zeit- und geschichtslosen Repräsentation der als ‚Naturvölker‘ kategorisierten Gesell-
schaften interpretieren, die Johannes Fabian als „denial of coevalness“ analysiert.53
Die temporale Fragmentierung, die Arnings Sammlung widerfährt, erfolgt über ihre
Einrahmung in dieses ‚ethnographische Präsens‘, das für die damalige Völkerkunde
(und später für die Ethnologie) üblich war. Gesellschaften wurde damit– trotz gegen-
teiliger Erkenntnis vor Ort– kulturelle Anpassungsfähigkeit und Dynamik abgespro-
chen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Ab- und Anerkennung geschichtlicher
Entwicklungen begleitet den Prozess, mit dem ‚Museumsobjekte‘ aus ihrem kulturellen
Leben herausgelöst und dis-membered werden.
50 Arning, Ethnographische Notizen, 11.
51 SMB-ZA, I/MV 0509, Arning an Bastian, 31.10.1885, Bl. 2.
52 Arning, Ethnographie von Hawaii, 131.
53 Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes Its Object, New York [1983]
2002.
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44 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
3.2. Erstarrende Netzwerke, verschwindende Verbindungen
Bei seinen Sammelaktivitäten griff Arning auf ein umfangreiches Netzwerk an Ver-
mittlerInnen zurück: Er erhielt Gegenstände über Angehörige der königlichen Familie,
darunter König Kalākaua, Prinzessin Likelike und die spätere Königin Liliʻuokalani,
und anderer hochrangiger Adelsfamilien, wie der Kustodin des Nationalmuseums
Emma Beckley,54 euro-amerikanische Geschäftsleute, zum Beispiel den Photographen
James J. Williams und den deutschen Konsul H. F. Glade, sowie über Angehörige
der hawaiischen Bevölkerung, denen er bei seiner Tätigkeit als Arzt und auf seinen
Exkursionen begegnete.55 Er betont zudem, dass ihn der Austausch mit Angehörigen
der hawaiischen Bevölkerung zu seiner Sammlung immer wieder auf die Spur weiterer
Kontakte und Gegenstände brachte. Durch das Aufstellen seiner Sammlung in einem
extra dafür hergerichteten Raum in seinem Haus in Honolulu erhielt Arning nicht nur
Informationen zu den dort zu sehenden materiellen Entitäten, sondern auch Hinweise
auf ähnliche Zeugnisse und deren Verbleib.56 Auf die Bedeutung seiner Beziehungen
weist er mehrfach in den Verhandlungen zur Übernahme seiner Sammlung mit dem
Berliner Völkerkundemuseum hin: „Selbst auf den Vorwurf hin, als exclusiv und
selbstsüchtig verschrieen zu werden, muß ich Ihnen sagen, dass es unmöglich ist,
ohne längeren Aufenthalt und Bekanntenwerden mit den Eingeborenen noch irgend-
wie lohnende Erndte hier zu halten.“57 Seine Beziehungsnetzwerke nutzte er so als
Gütesiegel und Erwerbsanreiz für das Berliner Museum.
In der außergewöhnlich guten Dokumentation zur ethnographischen Sammlung
nden sich zu nahezu allen Gegenständen Angaben zu VorbesitzerInnen (oder Herstel-
lerInnen) und/oder Hinweise zur geographischen Herkunft, wie zum Beispiel: „Einen
pololu erhielt ich aus der Familie des Eingeborenen Puni in Kolea (Kauai).“58 Deut-
lich wird zudem, dass es sich oftmals um historisch und kulturell höchst bedeutsame
Zeugnisse handelt. So wurde Arning ein Dolch
„von der aus Lahaina, Maui, stammenden und zum Clan der Königin Emma
gehörenden Ihii mit dem Bemerken gebracht, daß sie dasselbe erst nach fünfmonat-
lichem beständigen Bitten von dem Besitzer erlangt habe. Dieser ist Nachkomme
eines Kahu (retainer) des letzten Königs von Maui namens Kahekili, des Gegners
54 Zu Kalākauas kulturpolitischen Bestrebungen gehörte auch die verstärkte Förderung des 1872
gegründeten Nationalmuseum von Hawaiʻi, das 1875 eröffnet wurde. Die Sammlungen des Museums
umfassten vor allem naturkundliche und ethnographische Objekte aus Hawai‘i und der gesamten
Pazik- Region. Anfang der 1880er-Jahre rückte die weitere Entwicklung des Museums in den politi-
schen Fokus. Unter anderem wurde der Anschaffungsetat erhöht und mit Emma Metcalf Beckley eine
hochrangige Angehörige des hawaiischen Adels zur Kustodin berufen. 1887 wurde dem Museum die
Förderung entzogen und dessen Bestände gingen 1891 in das Bernice Pauahi Bishop Museum über,
das 1889 von Charles Reed Bishop gegründet worden war. Den Grundstock dieses Museums bildeten
die Nachlässe von Bernice Pauahi Bishop, der letzten legitimen Erbin von Kamehameha I., und von
Emma Kalanikaumakaʻamano Kaleleonālani Naʻea Rooke, Witwe von Kamehameha IV., die ebenfalls
aus der Kamehameha-Familie stammte. Siehe ausführlich hierzu Kamehiro, The Arts of Kingship.
55 Arning, Ethnographie von Hawaii, 131 f.
56 Ebd.
57 SMB-ZA, I/MV 0509, Arning an Bastian, 25.05.1886, Bl. 2 f.
58 Arning, Ethnographische Notizen, 55.
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45Re-membering Hawai‘i
Kamehameha I.; die heilige Waffe war in dessen Familie seit vielen Generationen,
mindestens 200Jahre […].“59
Zahlreiche der Sammlungsgegenstände sind in ähnlicher Weise eng mit der Geschichte
Hawai‘is und hochrangigen Adelsfamilien verknüpft.
Diese gut dokumentierten Beziehungsnetzwerke, in die Arnings Sammlung einge-
bunden war und durch die sie zustande kam, erstarrten nach deren Ankunft in Berlin.
Hatte Arning diese Netzwerke selbst noch aktiv genutzt, verloren sie nach der Auf-
nahme der Sammlung ins Berliner Völkerkundemuseum 1887 und der damit einher-
gehenden Umdeutung zu ‚Museumsobjekten‘ ihre Relevanz. Die materiellen Zeug-
nisse historischer und kultureller Entwicklungen gingen hier in der Masse des rasant
anwachsenden Sammlungsbestands unter. Die weitere wissenschaftliche Bearbeitung
der Sammlung erfolgte erst in den 1920er Jahren, in Vorbereitung auf Eichhorns
Artikel Hawaiische Baststoffe (Kapa) und Werkzeuge zu ihrer Herstellung (1922) und
Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte (1929). Seinen vollständigen Sammlungs-
katalog publizierte Arning letztlich erst im Jahr 1931– über vierzig Jahre nach seiner
Rückkehr aus Hawai‘i. Dort geriet seine ethnographische Sammlung im Laufe der Zeit
und in Folge ihrer Abwesenheit in Vergessenheit. Zwar waren das Nationalmuseum in
Honolulu wie auch das sich gerade formierende Bishop Museum vor Arnings Abreise
1886 überaus interessiert an einem Erwerb der Sammlung.60 Das Wissen um diesen
Bestand in Berlin verschwand aber langsam aus dem institutionellen Bewusstsein
der Museen. So berichtet Adrienne Kaeppler, dass in den 1970er Jahren kaum noch
WissenschaftlerInnen in Hawai‘i von Arnings Sammlung wussten und dass noch
weniger deren Bedeutung bekannt war.61 2008 wurde schließlich eine kommentierte
englische Übersetzung der deutschen Publikationen von Arning und Eichhorn zur
Sammlung vom Ethnologischen Museum Berlin mit dem Ziel herausgegeben,62 die
Sammlung einem größeren Publikum und besonders den „successors of the Hawaiians
of the time of Arning“ zugänglich zu machen.63 Die Publikation kann als ein erster–
zaghafter– Schritt hin zu einer (Re-)Aktivierung der Beziehungsnetzwerke und der
Wissensbestände angesehen werden, in die die Sammlung einst eingebettet war und
die im Zuge ihrer Musealisierung zunehmend erstarrten. Das weitere re-membering
von kulturellen Bedeutungszusammenhängen und genealogischen und spirituellen
Verbindungen wird allerdings noch aktive Beziehungsarbeit erfordern.
59 Eichhorn, Alt-Hawaiische Kultobjekte und Kultgeräte, 28.
60 SMB-ZA, I/MV 0509, Arning an Bastian, 25.05.1886, Bl. 2.
61 Adrienne Kaeppler, Preface, in: dies./Markus Schindlbeck/Gisela Speidel (Hg.), Old Hawai‘i.
An Ethnography of Hawai‘i in the 1880s. Based on the Research and Collections of Eduard Arning in
the Museum für Völkerkunde Berlin, Berlin 2008, 9–11, 9.
62 Kaeppler/Schindlbeck/Speidel (Hg.), Old Hawai‘i.
63 Markus Schindlbeck, Foreword, in: Adrienne Kaeppler/ders./Gisela Speidel (Hg.), Old Hawai‘i.
An Ethnography of Hawai‘i in the 1880s. Based on the Research and Collections of Eduard Arning in
the Museum für Völkerkunde Berlin, Berlin 2008, 7.
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46 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
3.3. Die Störung der Totenruhe als Missachtung kultureller Wertvorstellungen
Bereits kurz nach seiner Ankunft in Hawai‘i wurde Arning bewusst, dass die Störung
der Totenruhe gegen die religiösen und kulturellen Werte der hawaiischen Bevölke-
rung verstieß. Er hatte geplant, im Rahmen seiner Forschungstätigkeit zur Lepra ana-
tomisches Material zu sammeln, und musste schnell feststellen, dass die hawaiische
Bevölkerung eine Sezierung und Zerteilung ihrer Angehörigen strikt ablehnte:
„Ob ich im Stande sein werde, Gehirne zu erlangen, erscheint mir sehr fraglich.
Bei der ersten Section habe ich die Schädelhöhle geöffnet und damit mir fast alle
übrigen entzogen und anderswo als von mir in Kakaako werden keine Sectionen
gemacht, noch geduldet. Im Queens Hospital sind die Autopsien von Eingeborenen
schon zu W. Hillebrands Zeiten aufgegeben worden.“64
Dennoch gelang es Arning, von „18 Sectionen getrennt aufbewahrte Organtheile, einige
complete Gehirne, Rückenmarke und Extremitäten“ nach Deutschland zu schaffen.65
Da kein Katalog zu Arnings anthropologischer Sammlung lokalisiert werden konnte,
bleibt unklar, ob er diese menschlichen Überreste auch seiner Sammlung zuordnete.
Zum weiteren Verbleib ließen sich im Rahmen meiner Recherche keine Hinweise
nden. Der BGAEU wurden 1887 nur die Schädel übergeben: „Unsere Sammlung
von Schädeln und Skeletten ist durch sehr werthvolle Zuwächse bereichert worden.
Grössere Sammlungen sind uns geschenkt worden durch Hrn. Arning (Schädel von
Hawaii) […].“66
Auf der Suche nach ‚Material‘ für seine anthropologische Sammlung durchsuchte
Arning während seiner Ausüge immer wieder Grabhöhlen und Begräbnisplätze, denen
er Schädel und Skelette sowie Grabbeigaben entnahm. Dass ihm dabei bewusst war,
wie sehr er mit seinem Vorgehen die kulturellen Werte der hawaiischen Bevölkerung
verletzte, lässt sich an den Beschreibungen zur Beschaffung seiner Schädelsammlung
nachvollziehen. In der Gegenwart von Angehörigen der hawaiischen Bevölkerung
verzichtete Arning auf die Mitnahme von Knochen und Schädeln sowie anscheinend
auch auf die von größeren Gegenständen, die sich nicht versteckt transportieren ließen.
In einem Fall stellt er fest, „die Nähe der von den Eingeborenen an diesem Sonntag
stark frequentierten Straße gestattete keine Entfernung der Schädel und des Speeres“.
67
Dinge, die sich leichter verbergen ließen, wie zum Beispiel mehrere kapa-Stücke, in
welche die Knochen eines Kindes eingehüllt waren, nahm er dennoch an sich:
„In der Nähe dieser Höhle befand sich eine weitere kleine, sehr ache Höhle, deren
Eingang noch vollständig verschlossen war. Sie enthielt, soweit ich sehen konnte,
64 BBAW, NL Virchow, Nr. 55, Arning am 16.01.1885, Bl. 10.
65 Eduard Arning, Bericht über eine mit Mitteln der Humboldt-Stiftung unternommene Reise nach
den Sandwich-Inseln, zur Erforschung der dort herrschenden Lepra (Vorgelegt von Herrn Virchow
am 2. December), in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu
Berlin vom 2. December 1886, Berlin 1886, 1141–1146, 1143.
66 Rudolf Virchow, Verwaltungsbericht für das Jahr 1887, in: Zeitschrift für Ethnologie 19 (1887),
713–719, 718.
67 Arning, Ethnographische Notizen, 84.
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47Re-membering Hawai‘i
fünf Päckchen von Kapa mit Resten von Kinderleichen. Die Nähe der Straße und
die Sichtbarkeit gestattete keine genaue Durchforschung dieses Grabes. Ein Stück
der umhüllenden Kapa eines Knochenpaketes konnte ich mit nehmen.“68
Die Gräber, die er öffnete und durchsuchte, waren zum Teil, wie er selbst schreibt,
bis in die neuere Zeit benutzt worden. In den Grabhöhlen im Moanalua Tal auf der
Insel O‘ahu fand er beispielsweise „eine vollständig bekleidete und noch nicht ganz
verweste Leiche“ sowie ein Neues Testament.69 Ein weiterer Hinweis darauf war „das
Gestell eines alten Regenschirms“, auf das er in einer der Höhlen zwischen Wailupe
und Niu, ebenfalls auf O‘ahu, stieß.70
In Arnings Umgang mit den Toten und ihren Grabbeigaben werden die verschie-
denen Dimensionen dieser kulturellen Enteignung deutlich: Einerseits zeigt sich, dass
er die hawaiische Bevölkerung als eine „auf ewig untergegangene […] Cultur“71 ver-
stand, was zur Folge hatte, dass er ihre religiösen und kulturellen Werte ignorierte und
missachtete. Hätte er die hawaiischen Wertvorstellungen– besonders in Bezug auf den
Umgang mit Verstorbenen– anerkannt und respektiert, hätte er wahrscheinlich auf die
Plünderung von Gräbern und die damit einhergehende Störung der Totenruhe verzichtet.
Genealogische und spirituelle Verbindungen wären dann intakt geblieben. So jedoch
erfuhren die iwi kūpuna und moepū, die im hawaiischen Kontext als Einheit galten und
noch immer gelten, nach ihrer Ankunft in Berlin im Zuge ihrer Musealisierung eine
weitere Zerstücklung: Während sich die Grabbeigaben im heutigen Ethnologischen
Museum benden, werden die Schädel im Museum für Vor- und Frühgeschichte für
die BGAEU verwahrt.
In ihrem Aufsatz zum re-membering des Hula-Repertoires verweist Amy Kuʻulei-
aloha Stillman darauf, dass das Aufdecken von Prozessen des dis-membering und der
daraus resultierenden Diskontinuitäten einen ersten Schritt hin zum „redressing the
dispossession of cultural memories from culture carriers“ bedeutet.72 Indem kulturelle
Anknüpfungspunkte und historische Verbindungslinien aufgezeigt werden, vermag die
Beschäftigung mit solchen Prozessen der Fragmentierung im Rahmen einer (histori-
schen) Provenienzrecherche ebenfalls einen Beitrag zur (Wieder-)Zusammenführung
und Re-Aktivierung von Bedeutungszusammenhängen zu leisten. Im Fall von Arnings
Sammlung ist nicht zuletzt aufgrund der zu ihr vorliegenden detaillierten Dokumentation
eine umfassende (Wieder-)Einbettung in genealogische Zusammenhänge, Beziehungs-
netzwerke und kulturelle Praktiken möglich. Auch wenn die Sammlung heute publiziert
in Deutsch und Englisch vorliegt und innerhalb von (Museums-)Fachkreisen bekannt ist,
blieb ihr volles Potenzial zum re-membering von materiellen und immateriellen Bedeu-
tungszusammenhängen bisher weitestgehend unbeachtet. Für die Fortführung der im
Rahmen der Provenienzforschung begonnenen Erinnerungsarbeit und der Etablierung
der Sammlung als lebendige Ressource für die kulturelle Identität und für Praktiken der
68 Ebd.
69 Ebd., 85.
70 Ebd., 84.
71 Arning, Ethnographie von Hawaii, 131.
72 Stillman, Re-Membering the History of the Hawaiian Hula, 190.
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48 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
hawaiischen Bevölkerung wäre es von großer Bedeutung, sie für hawaiische Museen,
WissenschaftlerInnen und andere interessierte AkteurInnen zugänglicher zu machen.
Der Praktik des re-membering als (post)kolonialer Erinnerungsarbeit verpichtet
sehen sich auch Organisationen wie Hui Mālama I Nā Kūpuna O Hawai‘i Nei (bis 2015
aktiv) und das Ofce of Hawaiian Affairs (OHA), die sich seit Jahren um die Rück-
holung und Zusammenführung auf der Welt verstreuten hawaiischen Vorfahren und
den zugehörigen Grabbeigaben bemühen.73 Dass diese bis heute von herausragender
kultureller und spiritueller Bedeutung sind, wird am folgenden Fallbeispiel deutlich,
in dessen Verlauf Provenienzforschung in Restitution mündete.
4. Restitution als zukunftsorientiertes re-membering
Restitution, abgeleitet vom Lateinischen restitutio, bedeutet Wiederherstellung. Das
Wort und dessen zugrundeliegendes Konzept erscheinen als produktive Intervention,
die einen vergangenen, oftmals beschädigten Zustand in der Gegenwart neu mani-
festiert und wiederherstellt. Auf den ersten Blick sollte es gegen solch eine positiv
erscheinende Wirkungskraft wenig einzuwenden geben. Wenn eine Intervention jedoch
in konkreten Lebenswelten ausgehandelt wird, dann erweist sich die empirische Situa-
tion unweigerlich als komplex. So hat Restitution, als gelebter Prozess, unter anderem
epistemische, ontologische, politische, ethische und rechtliche Facetten, die es zu
berücksichtigen gilt.74
In der Welt der ethnographischen Museen, speziell in Deutschland und vor allem
im Zuge momentaner (post)kolonialer Auseinandersetzungen, ist Restitution ein viel
diskutiertes Thema. (Post)koloniale Kritik und Forderungen wurden hier, vor allem
im Vergleich zu den Siedlerstaaten Nordamerikas und des Südpaziks mit den dort
jeweils präsenten indigenen Gemeinschaften, vergleichsweise spät artikuliert.75 Wie
das Beispiel des Humboldt Forums und die Diskussion um die sogenannten Benin-
Bronzen zeigen, sind Restitutionsforderungen in den letzten Jahren zum Gegenstand
journalistischer, politischer und wissenschaftlicher Aushandlungen von globaler
Tragweite geworden.76 Restitution, die Wiederherstellung, wird dabei von Seite der
Museen oft als individueller und abschließender Akt, der sogar das Fortbestehenden
von Sammlungen gefährden könnte, angesehen. Arapata Hakiwai, Kaihautū, Co-Leiter
des Museum of New Zealand Te Papa Tongarewa, betont jedoch stets, dass es sich bei
Restitutionen nicht um das Ende, sondern um ein neues Kapitel einer Beziehung han-
73 Ayau/Tengan, Ka Huakaʻi O NaʻOiwi.
74 Teile der folgenden Überlegungen erscheinen in der Conclusion von Schorch/u. a., Refocusing
Ethnographic Museums, 178–182. Diese werden hier übersetzt, erweitert und im Rahmen unseres
Artikels neu bewertet.
75 Philipp Schorch (Hg.), Sensitive Heritage. Ethnographic Museums, Provenance Research and
the Potentialities of Restitutions. Special Issue, in: Museum & Society 18 (2020) H. 1; Schorch/u. a.,
Refocusing Ethnographic Museums; ders./Conal McCarthy (Hg.), Curatopia. Museums and the Fu -
ture of Curatorship, Manchester 2019.
76 Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst, München 2021; Strugulla Anna Valeska, Ein
Ding der Unmöglichkeit, in: Tageszeitung, 12.05.2019.
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49Re-membering Hawai‘i
delt.
77
Beziehungen benötigen Arbeit und Pege. Im Kontext von Restitutionsprozessen
entfaltet eine solche Beziehungsarbeit mitunter auch eine epistemisch-produktive oder
wissens generierende Qualität, wie im Folgenden ausgeführt wird. In ethnographischen
Museen erlaubt sie beispielsweise neue Einblicke in die vielfältigen Verechtungen
von Menschen und materiellen Entitäten, zu deren Untersuchung sich die Institutionen
in ihrem Kern verpichtet sehen.78 Am folgenden Beispiel wird zudem gezeigt, dass
Restitution– verstanden als re-membering– eine Form zukunftsorientierter (post)kolo-
nialer Erinnerungsarbeit darstellt, die auf die Museumspraxis im 21.Jahrhundert wirkt.
Am 23.Oktober 2017 restituierte der Freistaat Sachsen zum ersten Mal in seiner
Geschichte iwi kūpuna an deren Nachfahren und Herkunftsorte in Hawai‘i. Die sterb-
lichen Überreste dieser hawaiischen Ahnen wurden von deutschen Schiffskapitänen
aus Grabhöhlen in Hilo, Honolulu, und Wai‘alae auf den hawaiischen Inseln zwi-
schen 1896 und 1902 entwendet und anschließend an das Königliche Zoologische und
Anthro pologisch-Ethnographische Museum in Dresden verkauft.
79
Dort wurden sie als
wissenschaftliche Exemplare der anthropologischen Sammlung einverleibt, welche im
Jahr 1957 Teil des Museums für Völkerkunde Dresden wurde. Seit 2004 gehört das
Museum zusammen mit dem Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig und dem
Völkerkundemuseum Herrnhut zu den Staatlichen Ethnographischen Sammlungen
Sachsen (SES) sowie seit 2010 zu den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD).
Als ich, Philipp Schorch, im Herbst 2014 Feldforschung zu indigenen Museologien
in Hawai‘i durchführte, wurde ich durch die oben bereits erwähnte Noelle Kahanu und
Edward Halealoha Ayau, damaliger Direktor von Hui Mālama I Nā Kūpuna O Hawai‘i
Nei, auf die zugrundeliegende Restitutionsforderung aufmerksam, die erstmals 1991
erhoben wurde.
80
Am 23.Oktober 2017, 26Jahre später, fand diese Leidensgeschichte
ein positives Ende und es kam zur Restitution.81 Im Anschluss an den politischen Akt
der Rückgabe der iwi kūpuna gab es eine öffentliche Podiumsdiskussion. Ziel war es,
den Angestellten des Museums sowie den BesucherInnen zu ermöglichen, den Prozess
zu begleiten, einander zu begegnen, zu erleben, zuzuhören, nachzufragen und zu ver-
stehen. Beide Seiten– die SES wie auch die involvierten hawaiischen Institutionen–
stimmten der Veranstaltung zu.
77 Conal McCarthy/Arapata Hakiwai/Philipp Schorch, The Figure of the Kaitiaki. Learning from
Māori Curatorship Past and Present, in: Philipp Schorch/Conal McCarthy (Hg.), Curatopia. Museums
and the Future of Curatorship, Manchester 2019, 211–226; Schorch/McCarthy/Hakiwai, Globalizing
Māori Museology; Philipp Schorch/Arapata Hakiwai, Mana Taonga and the Public Sphere. A Dialoa-
gue between Indigenous Practice and Western Theory, in: International Journal of Cultural Studies, 17
(2014) H. 2, 191–205.
78 Schorch, Introduction; ders., Sensitive Heritage, 1–5.
79 Siehe https://www.skd.museum/presse/2017/freistaat-sachsen-gibt-menschliche-gebeine-aus-
museum-fuer-voelkerkunde-dresden-an-hawaii-zurueck (28.06.2021); außerdem den unveröffentlichu-
ten Provenienzforschungsbericht verfasst von Birgit Scheps-Bretschneider im Jahr 2017 und verwahrt
im Grassi Museum für Völkerkunde zu Leipzig.
80 Schorch/u. a., Refocusing Ethnographic Museums.
81 Bevor ich mich der Institution anschloss, hatten meine Kolleginnen Nanette Snoep (Direktorin
der SES), Birgit Scheps-Bretschneider (Abteilungsleiterin Provenienzforschung und Restitution) und
Vera Marusic (Assistentin der Direktion) sich bereits monatelang mit den notwendigen bürokratischen
Schritten auseinandergesetzt. Die Angelegenheit hatte meine volle Unterstützung und ich kümmerte
mich primär um die externe Korrespondenz mit den hawaiischen PartnerInnen.
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50 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
Die Podiumsdiskussion fand statt in den Räumlichkeiten von Prolog #1–10. Ziel
dieser experimentellen Werkstattausstellung war es, globale und lokale Geschichten
über Menschen, Dinge und Orte zu erzählen. Dabei wurde das Museum als laufender
Prozess beleuchtet und BesucherInnen eingeladen, hinter dessen Kulissen zu schauen.82
Die TeilnehmerInnen waren Dr. Kamana‘opono Crabbe (Ka Pouhana/Generaldirektor
des OHA), Edward Halealoha Ayau (Kontaktperson für das OHA zu Angelegenheiten
internationaler Restitutionen), Kaleikoa Ka‘eo (Aktivist und Professor an der Univer-
sity of Hawai‘i Maui College), Kauila Keali‘ikanaka‘oleohaililani (Enkel von Pualani
und Edward L. H. Kanahele, Gründer von Hui Mālama I Nā Kūpuna O Hawai‘i Nei),
Noelle Kahanu, Birgit Scheps-Bretschneider sowie ich, Philipp Schorch. Die Dis-
kussion schloss auch die Vorführung von zwei Filmen ein, um den BesucherInnen
ein Bild von Restitutionsprozessen, die normalerweise nicht in der Öffentlichkeit
stattnden, zu vermitteln– einer über die globalen Bestrebungen von Hui Mālama I
Nā Kūpuna O Hawai‘i Nei und der zweite über die Rückführung von einem mahiole
(Federhelm) und einem ‘ahu ‘ula (Federumhang) vom Te Papa in Aoteara Neusee-
land an das Bishop Museum in Hawai‘i im Jahr 2016.83 Diese Rückführung zweier
taonga (Kostbarkeiten), die zunächst im Jahr 1779 von Chief Kalani‘ōpu’u an Kapitän
James Cook übergeben wurden und im Zuge einer komplexen Sammlungsgeschichte
schließlich im Te Papa landeten, war bahnbrechend, da es sich in diesem Fall nicht um
einen Akt (post)kolonialer Wiedergutmachung sondern vielmehr um die Pege trans-
pazischer und transindigener Beziehungen durch indigene Museumspraxis handelte.
84
Die DiskutantInnen boten Einsichten in ihre Arbeit, die auf eine Wiederherstellung der
Beziehung zwischen (zerstückelter) Vergangenheit, (zusammengeführter) Gegenwart
und (re-imaginierter) Zukunft zielt.
Es ist festzustellen, dass die hawaiische Delegation mit großer Wahrscheinlichkeit die
hochrangigste war, die seit dem Besuch von König Kalākau im Jahr 1881 Deutschland
aufsuchte. Auch der Tenor der formellen Grußworte, öffentlichen Diskussionen und pri-
vaten Gespräche ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um ein Ereignis von besonderer
Bedeutung handelte. So betonte Kaleikoa Ka‘eo während der politischen Zeremonie in
seiner Rede diese longue durée: Er verwies einerseits auf Kalākaus Weltreise und zum
anderen auf Bastians Übersetzung des kumulipo, der hawaiischen Schöpfungsgeschichte.
Wie wir bereits oben sahen, kannten sich der Monarch und der Gründungsdirektor des
Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin persönlich. Tatsächlich betont Bastian
in Die heilige Sage der Polynesier, dass „der eigentliche Schatz“, die Hauptquelle für
seine Übersetzungsarbeit, „beim höchsten im Lande, beim König selbst“ zu nden war.
85
Ka‘eo skizzierte diese politischen und intellektuellen Beziehungen, um anschließend
zu betonen, dass es sich bei Restitution nicht nur um die Wiedergutmachung von ver-
gangenem Unrecht handle, sondern dass sie vielmehr einen signikanten Schritt in eine
82 Siehe https://voelkerkunde-dresden.skd.museum/ausstellungen/prolog-1-10-erzaehlungen-von-
menschen-dingen-und-orten/ (28.06.2021).
83 Siehe „Ka Ho‘ina. Going Home“, https://vimeo.com/114712444 (28.06.2021); „Nā Hulu Lehua.
The Royal Cloak and Helmet of Kalani‘ōpu‘u‘“, https://vimeo.com/189245734 (28.06.2021).
84 Noelle M. K. Y. Kahanu, Fated Feathers, Unfurling Futures, in: Tuhinga 28 (2017), 24–30; Mal-
lon/u. a., The ‘Ahu ‘Ula and Mahiole of Kalani‘ōpu‘u, 4–23; Schorch, Introduction.
85 Adolf Bastian, Die heilige Sage der Polynesier. Kosmogonie und Theogonie, Leipzig 1881, 68.
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51Re-membering Hawai‘i
neue Zukunft darstelle. In allen anderen Beiträgen wurde ebenfalls wiederholt diese
zukunftsorientierte Bedeutung von Restitution betont. Da wichtige VertreterInnen der
heutigen hawaiischen Gesellschaft ihr Land als unabhängige Nation nach internatio-
nalem Recht verstehen, die seit dem Sturz von Königin Liliʻuokalani von den USA
besetzt ist und nicht im herkömmlichen Sinne kolonialisiert wurde, handelte es sich
bei der Restitution aus Sachsen kaum um einen allein museologischen Akt, sondern
vielmehr um diplomatische Beziehungsarbeit, durch die das nächste Kapitel der longue
durée hawaiisch-deutscher Verechtungen aktiv mitgeschrieben wurde.86
Seit dem 23.Oktober 2017 hat die mit dem Prozess der Restitution einhergehende
Beziehungsarbeit weitere Früchte getragen: Im Dezember 2018 organisierten die SES
die Konferenz „Sensitive Heritage: Ethnographic Museums and Material/Immaterial
Restitutions“ am Grassi Museum in Leipzig mit ReferentInnen aus Afrika, Europa und
der Pazik-Region, welche zur Publikation eines Sonderhefts der Zeitschrift Museum
&Society führte.87 Ein Film, der die beschriebenen Vorgänge in Dresden dokumentiert,
wird sowohl in der Dauerausstellung in Leipzig als auch immer wieder zu verschiedenen
Anlässen in Hawai‘i gezeigt. Dadurch wird die Rückgabe einer noch breiteren Öffentlich-
keit zugänglich gemacht. Mittlerweise kam es seitens der SES zu weiteren Restitutionen
nach Australien.
88
Wenn Ausschnitte der Podiumsdiskussion und Übergabezeremonie aus
dem Jahr 2017 zum Zweck der Lehre oder von Präsentationen gezeigt werden, weckt
dies unweigerlich starkes Interesse seitens des Publikums. Diese vielfältigen Aspekte
attestieren das Nachleben und die fortwährende Wirkungsmacht von Restitutionsprozes-
sen, welche weder allein der Vergangenheit verhaftet noch auf die Gegenwart begrenzt
sind, sondern neue Begegnungswelten schaffen und Zukunft gestalten.
5. Fazit
Unser Artikel beschäftigte sich mit dem Potenzial des (Wieder-)Zusammenfügens und
der (Re-)Aktivierung von materiellen und immateriellen Kulturzusammenhängen–
ihrem re-membering– im Kontext einer deutsch-hawaiischen Verechtungsgeschichte.
Von den im Laufe des 19.Jahrhunderts entstandenen politischen, wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Verbindungen zeugen heute noch materielle Erzeugnisse– meist
als ‚ethnographische Objekte‘ klassiziert– wie auch iwi kūpuna und moepū, die in
deutschen Sammlungen und Museen verwahrt werden. Wir argumentierten dafür,
die Auseinandersetzung mit diesen mittels Provenienzforschung und Restitution als
zukunftsorientierte (post)koloniale Erinnerungsarbeit zu begreifen.
Anhand Arnings Sammlungen und seiner Sammelaktivität ließ sich zeigen, wie
aus materiellen Entitäten ethnographische und anthropologische ‚Museumsobjekte‘
86 Noelani Goodyear-Ka‘ōpua/Ikaika Hussey/Erin Kahunawaika‘ala Wright (Hg.), A Nation Ria-
sing. Hawaiian Movements for Life, Land, and Sovereignty, Durham 2014.
87 Schorch, Sensitive Heritage.
88 Siehe https://grassi-voelkerkunde.skd.museum/forschung/dekolonisierung-restitution-und-repatri-
ierung/ (28.06.2021). Mit Noelle Kahanu arbeiten wir fortwährend an Publikationen zu ozeanischen Muc-
seologien, vgl. Schorch/u. a., Refocusing Ethnographic Museums. Sie ist zudem mit dem Forschungs-
projekt zu Indigenität im 21. Jahrhundert assoziiert, vgl. https://www.indigen.eu/ (28.06.2021).
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52 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
wurden. Drei Aspekte dieses Prozesses des dis-membering wurden herausgearbeitet:
das ambivalente Verhältnis zwischen Ab- und Anerkennung geschichtlicher Entwick-
lungen und kultureller Veränderlichkeit, die im Zuge der Musealisierung erstarrenden
Beziehungsnetzwerke sowie die Missachtung von kulturellen Wertvorstellungen und
Praktiken. Verdeutlicht wurde damit zugleich die Rolle, die der Provenienzforschung
beim re-membering von Bedeutungszusammenhängen zukommen kann: Durch sie lässt
sich ein Bewusstsein für die Zerstücklung kultureller Zusammenhänge– materieller
wie immaterieller– schaffen, das eine Wiedereinbettung in genealogische Zusammen-
hänge, gesellschaftliche Beziehungen und kulturelle Praktiken ermöglicht.
Bei den eng miteinander verknüpften Aktivitäten von Provenienzforschung und
Restitution handelt es sich um Facetten einer sich entwickelnden Museumspraxis,
das heißt um museologische Praktiken, deren sich erweiternder Rahmen neben dem
Ziel der Wissensgenerierung auch ethische Sensibilität, diplomatisches Geschick
und interkulturelle Beziehungsarbeit verlangt. Solche ethischen, diplomatischen und
interpersonellen Erwägungen sind heute wichtiger Bestandteil musealer Wissenspro-
duktion und schränken diese nicht ein, wie oftmals befürchtet. Provenienzforschung
und Restitutionen haben epistemische und ontologische Potenziale, wie sich anhand
der Rückgabe und Rückkehr der iwi kūpuna aus Sachsen nach Hawai‘i aufzeigen ließ:
Potenzial für die Nachfahren der hawaiischen Ahnen, für das mit ihnen verwobene
Wissen und für die involvierten Institutionen. Materielle Entitäten– menschliche
Überreste wie auch Dinge– sind keine leblosen Relikte der Vergangenheit. Durch
ihren Transfer, ihre Präsenz wie auch ihre Restitution verfügen sie weiterhin über
Wirkungsmacht und provozieren Debatten, Auseinandersetzungen und Konikte,
möglicherweise aber auch Aussöhnung und reziproke, (post)koloniale Formen der
Wissensproduktion.
89
So verknüpfen sich die deutsch-hawaiischen Verechtungen
auf politischer, ökonomischer, wissenschaftlicher und kultureller Ebene mit den hier
thematisierten materiellen Zeitzeugen. Das Aufspüren dieser shared history verlangt
nach einem Ansatz, der diese „materielle Verechtungsgeschichte“ adressiert.90 Die
Museumspraxis im 21.Jahrhundert, vor allem in ethnographischen Institutionen, sollte
sich nicht nur der Erforschung, sondern auch der Pege dieser materiell-temporalen
Verbindungsstelle von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft widmen.91 Das „he alo
ā he alo / face to face“
92
museologischer Beziehungsarbeit ist dabei von fundamentaler
Bedeutung– wie wir sahen, ist re-membering weit mehr als Erinnern.
89 Schorch, Introduction; ders., Sensitive Heritage, 1–5.
90 Philipp Schorch, Materielle Verechtungsgeschichte. Ein Plädoyer, in: Zeitschrift für Welt-
geschichte. Interdisziplinäre Perspektiven 21 (2020) H. 2; Philipp Schorch, Two Germanies. Ethno-
graphic Museums, (Post)colonial Exhibitions, and the ‚Cold Odyssey‘ of Pacic Objects be tween
East and West, in: Lucie Carreau/u. a. (Hg.), Pacic Presences, Bd. 2: Oceanic Arts and European
Museums, Leiden 2018, 171–185.
91 Philipp Schorch/Conal McCarthy/Eveline Dürr, Introduction. Conceptualising Curatopia, in:
Philipp Schorch/Conal McCarthy (Hg.), Curatopia. Museums and the Future of Curatorship, Man-
chester 2019, 1–16.
92 Noelle M. K. Y. Kahanu/Moana Nepia/Philipp Schorch, He alo a he alo. Kanohi ki te kanohi / Face
to Face. Curatorial Bodies, Encounters and Relations, in: Philipp Schorch/Conal McCarthy (Hg.), Cura-
topia. Museums and the Future of Curatorship, Manchester 2019, 296–316.
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53Re-membering Hawai‘i
Ein Nachwort von Noelle M. K. Y. Kahanu
Meine Mutter verstarb 2016 nach langer Krankheit. Als Pädagogin von ganzem Herzen
scherzte sie darüber, ihren Körper zum Studium der University of Hawaiʻi Medical
School zu überlassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nach all den erfolgten
medizinischen Eingriffen und Operationen– dem Stochern und Stechen – und der
Amputation eines ihrer Beine im Tod erneut aufgeschnitten und erforscht, erneut ver-
letzlich und nackt gemacht werden würde. Wenn unsere Liebsten von uns gehen, sind
wir dankbar, dass sie endlich in Frieden ruhen können und in der Lage sind, moe loa,
den langen Schlaf zu schlafen. Als kanaka ‘oiwi (ancestral Hawaiians) glauben wir,
dass unser mana in unseren Knochen, unseren iwi, wohnt. Die Beerdigung im Schoß
von Haumea ermöglicht diesem mana, zurückzukehren und die nächste Generation
zu unterstützen.
Mit Entsetzen habe ich daher den Aufsatz von Gesa Grimme und Philipp Schorch
gelesen, insbesondere die Details zu Eduard Arnings Grabräubereien, Schändungen
und Diebstählen. Arning gibt freimütig zu, die weiche kapa-Decke von den sterb-
lichen Überresten eines Kindes gestohlen sowie Schädel aus Gräbern und Grabhöh-
len entwendet zu haben, wodurch sie von ihren Körpern, ihren Familien und ihren
Gemeinschaften getrennt wurden. Er tat dies wissentlich ohne Zustimmung und
gegen hawaiische Glaubensvorstellungen, Gesetze und Praktiken. Ein Strafgesetz des
hawaiischen Königreichs aus dem Jahr 1860 verbot es, „einen menschlichen Körper
auszugraben, zu exhumieren, ihn von einer Grabstätte zu entfernen oder wegzutra-
gen“. Wir müssen verstehen, dass aus indigener Perspektive Provenienzforschung
nicht nur Forschung zu vergangenen Handlungen ist, sie reißt auch alte Wunden
wieder auf. Sie setzt unsere kūpuna erneut dem hewa (Unrecht) dieser Vergangenheit
aus und legt ihre Scham bloß, nicht mehr liebevoll in kapa oder hina‘i (geochtene
Körbe) eingewickelt zu sein, sondern stattdessen nackt in Kisten verpackt in Regalen
aufbewahrt zu werden. Weil wir es noch nicht geschafft haben, sie nach Hause zu
bringen, setzt solche Forschung uns, die wir ihre Rückkehr anstreben, ihrer Wut und
ihrem Kummer aus und konfrontiert uns mit unseren eigenen Unzulänglichkeiten.
Schließlich wird die Last dieses vergangenen Unrechts nicht nur von den Individuen
und Institutionen getragen, die an den Diebstählen beteiligt waren, sondern auch
von den heutigen HawaiierInnen, die sich mit den für Restitutionen notwendigen
Arbeiten beschäftigen.
Bei meinen Nachforschungen über Arnings Zeit in Hawai‘i stieß ich auf einen Arti-
kel in Ke Ola o Hawai‘i, einer der vielen hawaiischsprachigen Zeitungen der damaligen
Zeit. Geschrieben am 22.März 1884, vermerkt der Artikel: „Wir haben die Nachricht
erhalten, dass weitere Leichen von Patienten in Kalawao, Molokai, auf Befehl des
Deutschen [Eduard Arning] exhumiert wurden, weil er die Gründe für die Todesfälle
durch die Krankheit herausnden wollte.“93 Ich möchte mir nicht vorstellen, dass ihr
moe loa, nachdem sie endlich in Frieden geruht hatten, unterbrochen wurde, und dass
sie aufgrund ihres Leidens an der Hansen’schen Krankheit erneut Untersuchungen,
93 Zur Verfügung gestellt und aus dem Hawaiischen übersetzt via www.nupepa-hawaii.com
(30.06.2021).
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54 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
Schändung und Entmenschlichung unterworfen wurden. Dass Arning vom Königreich
Hawai‘i eingeladen wurde, um diese medizinischen Angelegenheiten zu untersuchen,
macht es nicht weniger heimtückisch. Es ist entsetzlich und macht wütend, dass er,
während er in Hawai‘i war, die Gelegenheit dazu nutzte, um weitere Gräber zu schänden
und iwi kūpuna und ihre Habseligkeiten zu stehlen.
Was machen wir als kanaka ‘oiwi mit diesen Informationen, mit dieser „(post)
kolonialen Erinnerungsarbeit“? Helfen uns solche Herkunftsangaben, die Überreste der
23hawaiischen Ahnen zurückzuholen, die von Arning entwendet wurden und die noch
heute von der BGAEU verwahrt werden? Laut Gesa Grimme fehlen Arnings Katalog-
informationen zu diesen Überresten, aber spielt das letztlich eine Rolle? Einerseits
natürlich schon: Wir wollen wissen, wohin wir sie zurückbringen können. Andererseits,
selbst wenn keine spezischen Details gefunden werden können, lassen sich dennoch
die Umstände erahnen, unter denen sie gestohlen wurden– dass er aktiv nach hawai-
ischen Überresten und Grabbeigaben suchte, und dass er dies ohne Zustimmung der
Familie tat und damit gegen die Gesetze des Königreichs verstieß. Gibt es angesichts
von Arnings eigenen Eingeständnissen nicht überwältigende ethische Aspekte, die die
sofortige Rückgabe der iwi kūpuna gebieten?
In dem oben bereits zitieren Buch Old Hawaiʻi stellt Adrienne Kaeppler fest: „we
are indebted to Eduard Arning for making this outstanding collection and his tireless
research in Hawaiʻi.“
94
In der Tat verrät diese enorme ethnographische Sammlung und
Arnings begleitender Katalog viel über das Leben der Hawaiier des 19.Jahrhunderts.
Als kapa-Praktikerinnen schwelgen meine Tochter und ich in seinen detaillierten
Beschreibungen der Kunst der Kapa-Herstellung. Und doch über ein Jahrhundert lang,
bis zur Veröffentlichung von Old Hawaiʻi im Jahr 2008, wurden diese Informationen
der hawaiischen Gemeinschaft vorenthalten. Während wir dankbar für die Informa-
tionen zur Herkunft sind, die uns mit Arnings Sammlung nun zur Verfügung stehen,
bedeutet diese Dankbarkeit nicht, dass wir nicht gleichzeitig auch seine „Forschung“
und den Diebstahl der Körper und Überreste unserer Vorfahren beanstanden können.
Wenn Sprachbarrieren indigene Gemeinschaften daran hindern, vollständigen Zugang
zu Museumsunterlagen zu den menschlichen Überresten ihrer Vorfahren zu erhalten,
ist es unerlässlich, dass Museen bei der Übersetzung von Schlüsseldokumenten helfen,
die Aufschluss über das Zustandekommen der Sammlung und die Art und Weise ihrer
Aneignung geben können. Andernfalls werden koloniale Mechanismen aufrechterhal-
ten, die unterdrücken und verletzen durch die bewusste, fortgesetzte Trennung der
Überreste der Vorfahren von ihren lebenden Nachkommen. Nur wenn das Wissen aus
der Provenienzforschung vollständig sowohl von den Museen als auch den indigenen
Gemeinschaften geteilt wird, können wir hoffen, die Vergangenheit zu überwinden
und in die Gegenwart und Zukunft zu gelangen.
In den Vereinigten Staaten zwingt der Native American Graves Protection and
Repatriation Act (NAGPRA) die Museen dazu, sich mit der Rückgabe der menschlichen
94 Arienne Kaeppler, Hawaiian Ethnography and the Study of Hawaiian Collections, in: dies./Mar-
kus Schindlbeck/Gisela Speidel (Hg.), Old Hawai‘i. An Ethnography of Hawai‘i in the 1880s. Based
on the Research and Collections of Eduard Arning in the Museum für Völkerkunde Berlin, Berlin
2008, 33–42, 41.
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55Re-membering Hawai‘i
Überreste von Native Americans, Alaska Natives und Native Hawaiians zu befassen.
Im internationalen Kontext gibt es jedoch kein solches Gesetz. Stattdessen müssen
wir Briefe und E-Mails schreiben und Freunde– oder Freunde von Freunden– nden,
die unsere Worte ins Deutsche, Französische und Russische übersetzen. Oft werden
diese Bemühungen mit Schweigen beantwortet: Einige Fälle dauern jahrelang, andere,
wie im Fall Deutschlands, jahrzehntelang. Wir verlassen uns auf unsere Beharrlich-
keit und unser aloha, das es uns ermöglicht, durch den Aufbau von Verbindungen
und Beziehungen zu Menschen wie Philipp Schorch mächtige MitstreiterInnen für
unsere Vorfahren zu sein. Unsere kūpuna haben uns gelehrt, dass die Großartigkeit
von aloha mehr ist als Liebe und Mitgefühl. Es bedeutet, offen und ehrlich zu sein,
und die Bereitschaft, eine Beziehung trotz vergangener Verletzungen zu entwickeln.
Es bedeutet, Vergebung zu gewähren, zu empfangen und zu akzeptieren.
Philipp Schorch und Gesa Grimme sprachen beredt von der 2017 erfolgten Resti-
tution von iwi kūpuna aus dem Freistaat Sachsen und der begleitenden öffentlichen
Übergabezeremonie. Sie stellte eine abgesprochene Abweichung von unserem Vor-
gehen bei bisherigen nationalen und internationalen Restitutionen dar. Grundsätzlich
öffnen wir den Ablauf nicht für Außenstehende, auch nicht für solche, die vielleicht
geholfen haben, den Restitutionsprozess zu erleichtern. Das Ausmaß der Kooperation
bestand meist darin, den Zeitpunkt, den Ort sowie die Art und Weise der Übergabe–
die Befreiung unserer iwi kūpuna aus den Fängen der kolonialen Institutionen– zu
koordinieren. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war der Kontakt zwischen hawaiischen
Organisationen und den betreffenden Museen meist emotional sehr aufgeladen und
feindselig. In den letzten Jahren hat sich das Blatt aber gewendet: Wir haben Mahl-
zeiten geteilt, uns umarmt und Tränen vergossen mit denjenigen, deren Institutionen
uns einst die Türen vor der Nase zuschlugen und unsere Vorfahren weit über ein
Jahrhundert lang gefangen hielten. Hochrangige Regierungs- und Universitätsver-
treterInnen haben sich öffentlich wie auch privat entschuldigt und den Diebstahl in
national und weltweit veröffentlichten Pressemitteilungen zugegeben. Dieser Pro
-
zess ist nicht einfach. Die Gefahr besteht, diese Provenienz-Arbeit zu romantisieren
und die Bürde, die mit der Aufdeckung der oft hässlichen Wahrheit zum Erwerb
einhergeht, nicht voll zu begreifen. Doch die Arbeit ist zugleich auch tiefgreifend
gewesen und die entstandenen Beziehungen sind dauerhaft und lebensverändernd:
Hawaiische VertreterInnen und deutsche Museumsangestellte und Wissenschaft-
lerInnen empfangen einander weiterhin gegenseitig im Ausland. Zum Teil kamen
diese Veränderungen durch die Bereitschaft zustande, den Prozess der Heilung– die
Überführung der sterblichen Überreste der Vorfahren und den Anfang ihrer Heim-
kehr– für VertreterInnen von Regierungen, Universitäten und Museen zu öffnen.
Noch wichtiger war, dass es für diese Personen eine Gelegenheit war, sich selbst an
die iwi kūpuna zu wenden und ihre eigenen Überlegungen und Entschuldigungen
anzubieten. Von Teilnehmenden haben wir gehört, dass dies eine der bewegendsten
Zeremonien war, an der sie je teilgenommen haben. Wie Edward Halealoha Ayau
vor Kurzem bei einer inter nationalen Restitutionszeremonie sagte: „Heute gewinnt
die Menschheit.“ In diesem Sinne möchte ich mit einigen Worten schließen, die ich
bei unserer öffentlichen Veranstaltung zur Restitution in Deutschland gesagt habe,
Worte, die unsere gemeinsame Zukunft prägen werden:
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56 Gesa Grimme, Noelle M. K. Y. Kahanu und Philipp Schorch
„There is a sea change. We are the living embodiments of your cultural past. A
past that saw you collecting our remains, our ancestors, our histories, our lives.
But your interest in who we were, in who we are, need no longer be one-sided.
We are here to bear witness to this enduring relationship, once fraught, that can
now be embraced with this act of ultimate humanity– the return of our iwi kūpuna
to the land they dearly love.
There is a sea change. Revel in the waves that bring us together in the here and
now. Revel in the notion that these waves, though they come from distant shores,
offer clarity and healing and hope for renewed relations. Let our warm waters
embrace you.“
Abstract
Re-membering Hawai‘i. Provenance Research und Restitution as
(Post)Colonial Memory Work
Material entities, mostly classied as “ethnographic objects” or “human remains”, held
in German collections and museums still bear witness to the political, economic and
scientic entanglements between Hawai‘i and Germany that emerged during the nine-
teenth century. Our article addresses the potential of (re)assembling and (re)activating
these material and immaterial cultural connections– their re-membering– and argues
for an understanding of engagement with these material presences and legacies through
provenance research and restitution as future-orientated (post)colonial memory work.
Gesa Grimme, M. A., Institut für Ethnologie, Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen, Oettingenstr. 67, D-80538 München, gesa.grimme@ethnologie.lmu.de
Noelle M. K. Y. Kahanu, Public Humanities &Native Hawaiian Programs, Department
of American Studies, University of Hawai‘i at Manoa, 324 Moore Hall, 1890 East-West
Road, Honolulu, HI 96822, USA, nmkahanu@hawaii.edu
Prof.Dr.Philipp Schorch, Institut für Ethnologie, Ludwig-Maximilians-Universität
München, Oettingenstr. 67, D-80538 München, philipp.schorch@ethnologie.lmu.de
© 2022 Böhlau, ISSN 2194-4032
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