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Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention

Authors:
  • Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) and Sigmund Freud Private University (SFU)

Abstract

Z u s a m m e n f a s s u n g Die Ausdrücke "Risikofaktor" und "Schutzfaktor" werden oft mehrdeutig und widersprüchlich verwendet, wobei Pro-gnosefaktoren, die auf Basis von Korrelationen identifiziert wurden, mehr oder weniger deutlich als Kausalfaktoren prä-sentiert werden. Hier ist ohne Frage mehr sprachliche Ge-nauigkeit zu fordern, ganz besonders, da unpräziser Sprach-gebrauch der mechanistischen Verwechslung von Assoziation und Kausalität Vorschub leistet. Häufig werden Risikofak-toren und Schutzfaktoren nach einem asymmetrischen Mo-dell als qualitativ unterschiedliche unipolare Dimensionen präsentiert, was in Zusammenhang mit dem Vorhandensein von Krankheitserregern und Impfungen elaboriert und plau-sibel erscheint, in den meisten anderen Bereichen aber daran scheitert, dass ein Großteil der Kausalfaktoren nicht sinnvoll in dieses System eingeordnet werden kann. Darüber hinaus hinterfragt der Autor kritisch, wie weit es sinnvoll sein kann, im Sinne des Risiko-bzw. Schutzfaktorenansatzes einzelne Faktoren isoliert in einen Zusammenhang mit positiven oder negativen Entwicklungen zu stellen, wenn gleichzeitig bekannt ist, dass diese Zusammenhänge sich unter unter-schiedlichen Bedingungen unterschiedlich präsentieren. Weit sinnvoller als auf isolierte Faktoren zu fokussieren, scheint es daher, komplexere Bedingungsgefüge zu erforschen und zu beschreiben. Nur so kann man das, was sich in komplexen Systemen entwickelt, angemessen beschreiben, verstehen und gegebenenfalls beeinflussen. A b s t r a c t The terms "risk factor" and "protective factor" are often used in an ambiguous and contradictory way, whereby prognostic factors that were identified on the basis of correlations are commonly presented in a way suggesting that they are causal factors. More linguistic precision is desirable, since this usage encourages the mechanistic confusion of association with cau-sality. Frequently, risk factors and protective factors are presented in accordance with an asymmetric model as different unipolar dimensions, which seems elaborate and plausible if the example of pathogens and vaccinations is used, however fails in most other areas, since a large fraction of causal factors cannot be meaningfully categorized into this system. Instead of focusing on isolated factors, it seems to be much more reasonable to investigate and describe more complex conditional structures. This is the only way to adequately understand and, if needed, influence the processes developing in complex systems. In addition, the author critically questions whether it makes sense to analyse isolated single factors in relation to positive or negative outcomes in line with the risk or protective factor approach, since it is known that these relationships are quite different when different conditions apply. Rather than focusing on isolated factors, it seems more appropriate to explore and describe more complex sets of conditions simultaneously. Only if the complexity of systems is adequately accounted for is it feasible to adequately understand and, if necessary, influence undesired processes within these systems.
Positive Psychologie und Resilienz
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Kritische/theoretische Auseinandersetzung
mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in
der Suchtprävention
Critical/Theoretical Debate of Risk Factors and Protective Factors
in Addiction Prevention
Alfred Uhl
Zusammenfassung
Die Ausdrücke „Risikofaktor“ und „Schutzfaktor“ werden
oft mehrdeutig und widersprüchlich verwendet, wobei Pro-
gnosefaktoren, die auf Basis von Korrelationen identifiziert
wurden, mehr oder weniger deutlich als Kausalfaktoren prä-
sentiert werden. Hier ist ohne Frage mehr sprachliche Ge-
nauigkeit zu fordern, ganz besonders, da unpräziser Sprach-
gebrauch der mechanistischen Verwechslung von Assoziation
und Kausalität Vorschub leistet. Häufig werden Risikofak-
toren und Schutzfaktoren nach einem asymmetrischen Mo-
dell als qualitativ unterschiedliche unipolare Dimensionen
präsentiert, was in Zusammenhang mit dem Vorhandensein
von Krankheitserregern und Impfungen elaboriert und plau-
sibel erscheint, in den meisten anderen Bereichen aber daran
scheitert, dass ein Großteil der Kausalfaktoren nicht sinnvoll
in dieses System eingeordnet werden kann. Darüber hinaus
hinterfragt der Autor kritisch, wie weit es sinnvoll sein kann,
im Sinne des Risiko- bzw. Schutzfaktorenansatzes einzelne
Faktoren isoliert in einen Zusammenhang mit positiven
oder negativen Entwicklungen zu stellen, wenn gleichzeitig
bekannt ist, dass diese Zusammenhänge sich unter unter-
schiedlichen Bedingungen unterschiedlich präsentieren. Weit
sinnvoller als auf isolierte Faktoren zu fokussieren, scheint es
daher, komplexere Bedingungsgefüge zu erforschen und zu
beschreiben. Nur so kann man das, was sich in komplexen
Systemen entwickelt, angemessen beschreiben, verstehen und
gegebenenfalls beeinflussen.
Abstract
The terms “risk factor” and “protective factor” are often used
in an ambiguous and contradictory way, whereby prognostic
factors that were identified on the basis of correlations are
commonly presented in a way suggesting that they are causal
factors. More linguistic precision is desirable, since this usage
encourages the mechanistic confusion of association with cau-
sality. Frequently, risk factors and protective factors are pre-
sented in accordance with an asymmetric model as different
unipolar dimensions, which seems elaborate and plausible if
the example of pathogens and vaccinations is used, however
fails in most other areas, since a large fraction of causal fac-
tors cannot be meaningfully categorized into this system. In-
stead of focusing on isolated factors, it seems to be much more
reasonable to investigate and describe more complex conditio-
nal structures. This is the only way to adequately understand
and, if needed, influence the processes developing in complex
systems. In addition, the author critically questions whether
it makes sense to analyse isolated single factors in relation to
positive or negative outcomes in line with the risk or protective
factor approach, since it is known that these relationships are
quite different when different conditions apply. Rather than
focusing on isolated factors, it seems more appropriate to
explore and describe more complex sets of conditions simul-
taneously. Only if the complexity of systems is adequately
accounted for is it feasible to adequately understand and, if
necessary, influence undesired processes within these systems.
1. Einleitung
Das Thema „Risiko- und Schutzfaktoren“ erweist sich
aus forschungsmethodologischer Sicht als besonders
faszinierendes Feld. Die Ausdrücke „Risikofaktor“ und
„Schutzfaktor“ sind im Suchtpräventionsdiskurs allge-
genwärtig, aber nur wenige der an zentralen Diskursen
Beteiligten setzen sich explizit und kritisch mit der Be-
deutung dieser Ausdrücke und den Grenzen der empi-
rischen Forschung in diesem Zusammenhang ausei-
nander. Es gibt eine Fülle divergierender Definitionen
und wenig Bewusstsein über die sprachliche Vagheit
und Mehrdeutigkeit dieser Ausdrücke. Der vorliegende
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Alfred Uhl
Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
Text setzt sich mit unterschiedlichen Definitionen und
grundlegenden methodischen Problemen in diesem
Zusammenhang auseinander und stellt die provokante
Frage, ob angesichts vielschichtiger Systemzusammen-
hänge ein Ansatz, der ein komplexes Bedingungsgefüge
auf einzelne Faktoren und deren Einfluss reduziert, als
sinnvoller Beitrag zur Suchtprävention gesehen werden
kann.
2. Mangelnde Sensibilität für vage
und mehrdeutige Begriffe
Wer sich mit dem Thema „Risiko-
faktoren und Schutzfaktoren“ beschäftigt
und den Umgang mit diesen Begriffen
in der alltäglichen Präventionsarbeit
beobachtet, dem stellt sich die Frage,
warum die Mehrdeutigkeit und Unschärfe
dieser Begriffe im Sprachgebrauch oft
weder bemerkt noch diskutiert wird.
In Zusammenhang mit Suchtprävention wird immer
wieder gefordert, Schutzfaktoren zu fördern und Risi-
kofaktoren zu reduzieren – meist jedoch ohne zu präzi-
sieren, was damit gemeint ist. Forderungen, die auf den
Fachbegriffen „Risikofaktor“ und „Schutzfaktor“ basieren,
klingen wissenschaftlich fundiert und plausibel – und
kaum jemand hat Bedenken, diesen Forderungen vor-
behaltlos zuzustimmen. Alles zu reduzieren, was Risiken
birgt, und alles zu fördern, was vor Bedrohungen schützt,
ist ein Dogma des gesunden Menschenverstands. Aber
was bedeutet diese Forderung? Was soll beeinflusst wer-
den, woher kommt die Überzeugung, dass man damit
Erfolg haben kann, und wie gut ist diese Überzeugung
empirisch und logisch fundiert? Ohne Spezifizierung
entspricht diese Forderung der ziemlich trivialen Forde-
rung, das Richtige zu tun – auch wenn sie unmittelbar
gut klingt.
Warum bemerken Menschen oft nicht, wenn Aussa-
gen völlig trivial, vage oder sogar widersprüchlich sind?
Wie gelingt es ihnen, konkrete Schlussfolgerungen auf
der Grundlage von unzureichenden Informationen zu
ziehen, die diese aus logischen Gründen gar nicht zulas-
sen? Dieser Mechanismus ist eine dem menschlichen
Denken innewohnende Strategie, für die die Kogniti-
onspsychologie inzwischen eine Reihe von Erklärungen
bietet.
Kahneman (2012) beschrieb, dass sich Menschen
beim Schlussfolgern in der Regel mit dem begnügen,
was ihnen an Informationen angeboten wird und/oder
was ihnen zusätzlich ad hoc in den Sinn kommt, auch
wenn eine Schlussfolgerung ohne zusätzliche Fakten
logisch unmöglich ist. Kahneman nennt dieses Phäno-
men „What you see is all there is!” (auf Deutsch „Nur was
man gerade weiß, zählt!“) – kurz: WYSIATI. Er schreibt:
„Ein bemerkenswerter Aspekt unseres geistigen Lebens
besteht darin, dass wir nur selten überfragt sind. […]
Momente der Ratlosigkeit sind selten. […] Unabhängig
davon, ob wir sie explizit formulieren oder nicht, haben
wir oft Antworten auf Fragen, die wir nicht vollständig
verstehen, und wir stützen uns dabei auf Hinweise, die
wir weder erklären noch verteidigen können. […] Para-
doxerweise ist es leichter, eine kohärente Geschichte zu
entwerfen, wenn man wenig weiß, also wenn man we-
niger Mosaiksteinchen zusammenfügen muss. Unsere
beruhigende Überzeugung, dass die Welt einen Sinn
hat, ruht auf einem sicheren Fundament: unserer bei-
nahe unbegrenzten Fähigkeit, die eigene Unwissenheit
zu ignorieren.“
Hofstadter & Sander (2014) weisen in diesem Zusam-
menhang auf einen weiteren Aspekt hin. Sie betonen,
dass Menschen entgegen der landläufigen Meinung mit
vielen Ausdrücken keine eindeutige und konstante Be-
deutung verbinden. Der Sinn der verwendeten Ausdrücke
wird im verbalen Austausch auf Grundlage von Analo-
gien ständig spontan und intuitiv angepasst, ohne dass
den Beteiligten die permanenten Bedeutungsverschie-
bungen bewusst werden. Damit sind nicht Ausdrücke
gemeint, die ganz offensichtlich mehrere Bedeutungen
haben, wie z. B. „Strom“ (ein Fluss oder elektrische Ener-
gie), sondern Ausdrücke, bei denen man eigentlich eine
eindeutige Wortbedeutung annehmen würde.
Das gilt nicht nur für unseren alltäglichen Sprach-
gebrauch, sondern auch für wichtige wissenschaftliche
Texte. Wie ich (Uhl, 1983) beim intensiven Studium
des Buches „Disease Concept of Alcoholism” von Jelli-
nek (1960) feststellen konnte, werden darin mindestens
sechs erheblich unterschiedliche Bedeutungen des Aus-
drucks „Alkoholismus“ verwendet. Mastermann (1965)
identifizierte im Standardwerk „The Structure of Scien-
tific Revolutions“ von Kuhn (1962) 21 unterschiedliche
Verwendungen des Wortes „Paradigma“.
In Zusammenhang mit der Verwendung sprachlicher
Ausdrücke wies Liessmann (2009) auf einen weiteren
interessanten Aspekt hin. Er zeigte auf, dass man durch
die entsprechende Verwendung von mehrdeutigen und
unpräzisen Ausdrücken Aussagen gezielt gegen Kritik im-
munisieren kann. Indem man bestimmte Assoziationen
nahelegt, kann man gewisse Zielvorstellungen vertreten
und gleichzeitig verschleiern, dass deren Begründung in-
haltsleer oder widersprüchlich ist – ohne mit ernsthafter
Kritik rechnen zu müssen. Liessmann bezeichnet die mit
solcher Absicht verwendeten Worte als „Zauberworte“,
die das „Denken in einer Art und Weise blockieren, die es
kaum mehr erlaubt, zu erkennen, was sich hinter dieser
Begriffsinflation tatsächlich verbirgt. […] Gelingen kann
dieses Täuschungsmanöver nur, weil alle diese Begriffe
dem Prinzip der performativen Selbstimmunisierung ge-
horchen.“ Wer diese Worte verwendet, „hat immer schon
gewonnen, da diese Begriffe ihre Negation nur um den
Preis der Selbstbeschädigung zulassen.“
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Alfred Uhl
Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
Ein besonders gutes Beispiel für performative Selbst-
immunisierung ist der Ausdruck „Evidenzbasiertheit“,
der häufig für alles verwendet wird, was sich irgendwie
auf empirische Grundlagen bezieht, und gleichzeitig
den Eindruck erweckt, ausschließlich auf gut abgesi-
cherte experimentelle Ergebnisse zu fokussieren (Uhl,
2012). Aber auch die Ausdrücke „Risikofaktor“ und
„Schutzfaktor“ sind durchaus prägnante Beispiele für
das, was Liessmann „Begriffe mit performativer Selbst-
immunisierung“ nennt. Ganz offensichtlich kann man
sich nur schwer gegen die Forderung stellen, in der
Suchtprävention Risikofaktoren zu verringern und
Schutzfaktoren zu fördern, da diese Forderung bei ober-
flächlicher Betrachtung äußerst plausibel und fundiert
klingt, obgleich sie ohne inhaltliche Präzisierung banal
und inhaltsleer ist.
Ich werde versuchen, Probleme im Zusammenhang
mit den Ausdrücken „Risikofaktor“ und „Schutzfaktor“
möglichst präzise und gut nachvollziehbar zu erörtern,
um nicht selbst zum Opfer der „performativen Selbstim-
munisierung“ dieser Ausdrücke zu werden.
3. Prognosefaktoren vs. Kausalfaktoren
und deren Beeinflussbarkeit
Die Forderung „Risikofaktoren zu verringern und Schutz-
faktoren zu fördern“ impliziert, dass diese erstens als
Kausalfaktoren ursächlich zur Entstehung von ungüns-
tigen Entwicklungen beitragen und zweitens durch ge-
eignete Maßnahmen beeinflussbar sind. Die Forderung
ist widersinnig, wenn die Faktoren nicht veränderbar
sind oder wenn eine Veränderung der Faktoren sich nicht
auf relevante Zielgrößen auswirkt. Hier ist zudem zu be-
denken, dass viele theoretisch denkbare Maßnahmen
zur Beeinflussung von Kausalfaktoren aus ethischen, on-
tologischen, technischen oder ökonomischen Gründen
de facto nicht infrage kommen.
Betrachtet man die Ausdrücke „Risikofaktoren“ bzw.
„Schutzfaktoren“ isoliert ohne Kontext, so sind zwei
mögliche Bedeutungen denkbar: Kausalfaktoren, die
Risiken verursachen oder gegen Risiken schützen oder
Prognosefaktoren, die geeignet sind, erhöhte bzw. ver-
ringerte Risiken vorherzusagen. Im zweiten Fall ist ohne
Bedeutung, ob diese Faktoren beeinflusst werden kön-
nen oder nicht.
Reine Prognosefaktoren, also Faktoren, die über Kor-
relationszusammenhänge identifiziert wurden und für
die kein Kausalzusammenhang mit relevanten Zielgrö-
ßen begründet angenommen werden kann, sind für die
Suchtprävention durchaus von Bedeutung. Wenn sich
ungünstige Entwicklungen ankündigen, kann man geeig-
nete Maßnahmen überlegen, um diese Entwicklungen
zu verhindern bzw. weniger wahrscheinlich zu machen,
auch wenn die Faktoren nicht ursächlich mit den Ent-
wicklungen zusammenhängen und/oder unbeeinfluss-
bar sind.
Damit ergeben sich drei völlig unterschiedliche Inter-
pretationen der Ausdrücke „Risikofaktoren“ und „Schutz-
faktoren“.
1. Prognosefaktoren, die sich zwar dafür eignen, güns-
tige oder ungünstige Entwicklungen zu antizipieren,
deren Beeinflussung sich aber nicht auf die Ein-
trittswahrscheinlichkeit dieser Entwicklungen aus-
wirkt.
2. Nicht beeinflussbare Kausalfaktoren im Sinne von
Faktoren, die sich auf die Entstehung von günstigen
oder ungünstigen Entwicklungen ursächlich auswir-
ken, sich aber nicht als Ansatzpunkte für präventive
Maßnahmen eignen, weil sie nicht beeinflusst wer-
den können. Auch wenn diese Faktoren Kausalfak-
toren sind, kann man auch sie ausschließlich pro-
gnostisch nutzen.
3. Beeinflussbare Kausalfaktoren, also Faktoren, auf
die man gezielt Einfluss nehmen kann, um relevante
Zielgrößen zu beeinflussen. Diese Faktoren können
als nützliche Ansatzpunkte für präventive Maßnah-
men gesehen werden.
Die folgenden Beispiele werden diese Unterteilung et-
was anschaulicher machen:
3.1. Prognosefaktoren
Mithilfe eines Barometers kann die Wahrscheinlichkeit
des Auftretens von Gewittern prognostiziert werden.
Wer ein Gewitter erwartet, kann sich entsprechend ver-
halten, z. B. eine Wanderung unterlassen oder einen Re-
genschutz mitnehmen. Aber man kann das Wetter nicht
beeinflussen, indem man das Barometer manipuliert! In
der Regel kann man Prognosefaktoren über den Zusam-
menhang zwischen Faktoren und relevanten Zielgrößen
identifizieren.
Dabei ist auch noch zu beachten, dass auf diese Weise
identifizierte Prognosefaktoren in den Human- und Sozi-
alwissenschaften meist nicht mechanistisch auf andere
Zeiten und andere Regionen generalisiert werden kön-
nen und dass sie auch nicht für Teilpopulationen der un-
tersuchten Population gelten müssen. Es handelt sich
im Zusammenhang mit Suchtprävention in der Regel
nicht um deterministische, allgemein gültige Aussagen,
wie häufig in der Physik, sondern meist um Zusammen-
hänge, die je nach Kontext völlig unterschiedlich ausfal-
len können.
3.2. Nicht beeinflussbare Kausalfaktoren
Es gibt eine Reihe von angeborenen Faktoren, die die
Wahrscheinlichkeit für problematischen oder patholo-
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Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
gischen Alkoholkonsum direkt oder indirekt erhöhen.
Aber selbst wenn gentechnische Eingriffe auf Keimzel-
len, um diese Faktoren zu beeinflussen, denkbar sind,
kommen derartige Genmanipulationen am Menschen
aus ethischen Gründen gegenwärtig nicht infrage. Die
Identifikation von nicht beeinflussbaren Kausalfak-
toren ist besonders schwierig. Hypothesen darüber, ob
unveränderbare Faktoren tatsächlich mit relevanten
Zielgrößen kausal assoziiert sind, lassen sich nicht
einfach empirisch prüfen, sondern erfordern komplexe
rationale Überlegungen, grundlegendes empirisches
Wissen und mehr oder weniger belegte Grundannah-
men.
Ein Beispiel aus der Physik soll diesen Gedanken ver-
anschaulichen: Dass der Mond für die Gezeiten auf der
Erde verantwortlich ist, kann man nicht experimentell
überprüfen, indem man den Mond anhält und beob-
achtet, wie sich diese Intervention auswirkt. Aber man
kann alle Naturgesetze, die zur Erklärung dieses Phä-
nomens erforderlich sind, theoretisch überprüfen und
darauf aufbauend eine modellhafte Vorstellung davon
entwickeln, wie sich die Gezeiten an unterschiedlichen
Orten der Erde auswirken. Schließlich überprüft man,
ob diese theoretischen Überlegungen mit der beob-
achtbaren Realität übereinstimmen. Eine gute Über-
einstimmung zwischen theoretischem Modell und
Wirklichkeit gilt als Beleg für die Richtigkeit der Über-
legungen. Wer die grundlegenden Naturgesetze nicht
versteht und/oder nicht in der Lage ist, diese logisch
richtig zu Modellen zu verknüpfen, wird in der Physik
nicht reüssieren, weil sich solche Inkompetenz unmit-
telbar manifestiert. Anders als in der Physik sind in
den Humanwissenschaften die meisten grundlegenden
Theorien aber nicht deterministisch, sondern stark kon-
textabhängige und oft kontroversiell diskutierte, proba-
bilistische Wahrscheinlichkeitsaussagen, die sich nicht
zu präzisen quantitativen Modellen aggregieren lassen,
weswegen die Überprüfung durch Vergleich zwischen
Prognose und Wirklichkeit nur selten verlässliche und
eindeutige Urteile zulässt. Wer in den Humanwissen-
schaften von unrichtigen Gesetzmäßigkeiten ausgeht
und darauf aufbauend logisch unzulässige Modell-
vorstellungen entwickelt, ist weniger gefährdet, als
inkompetent entlarvt zu werden. Denn anders als in
den Naturwissenschaften ist für die Beurteilung häufig
nicht die Übereinstimmung der Prognose mit der Wirk-
lichkeit ausschlaggebend, sondern die Plausibilität im
Sinne einer Übereinstimmung der Behauptung mit den
Erwartungen der Zielgruppe. Wo mangels deterministi-
scher Gesetze keine präzisen quantitativen Prognosen
möglich sind und meist auch nicht die präzise Erfas-
sung der Wirklichkeit, kann sinnvolle Forschung nur
bedeuten, möglichst viele unterschiedliche Grundhy-
pothesen heranzuziehen, darauf präzise logisch-analy-
tisch aufzubauen und alle, wie Popper (1934) vertrat,
anhaltend kritisch zu hinterfragen. Wer Zusammen-
hänge mechanistisch als Kausalzusammenhänge inter-
pretiert, hat sich bei diesem Spiel schon von vornhe-
rein grundlegend disqualifiziert.
3.3. Beeinflussbare Kausalfaktoren
Wer beeinflussbare Kausalzusammenhänge finden will,
braucht konkrete Hypothesen. Dann besteht die theore-
tische Möglichkeit, Experimente zu planen, um die Hypo-
thesen zu bestätigen und so Faktoren zu finden, die sich
als Ansatzpunkte für präventive Maßnahmen eignen. Gut
kontrollierte randomisierte Studien1) (RCTs) kommen im
Bereich der Suchtprävention allerdings aus ethischen,
ontologischen, technischen oder ökonomischen Grün-
den für viele relevante Fragestellungen nicht infrage.
Man kann Menschen z. B. nicht nach dem Zufallsprinzip
in zwei Gruppen aufteilen und einer Gruppe jahrzehnte-
lang ein potenziell gesundheitsgefährdendes Verhalten
vorschreiben sowie der Kontrollgruppe dieses Verhalten
konsequent verbieten, um zu studieren, wie sich das auf
Gesundheit, Wohlbefinden und Lebenserwartung aus-
wirkt.
Wenn RCTs nicht möglich sind, bieten quasi-experi-
mentelle Studien, bei denen die Aufteilung in Versuchs-
und Kontrollbedingungen nicht zufällig erfolgt, einen
Ausweg. Wenn auch diese nicht möglich sind, kommen
nicht-experimentelle Studien infrage, die ausschließlich
auf Beobachtungsdaten aufbauen. Beide Ansätze, ganz
besonders der nicht-experimentelle, lassen nur sehr
bedingt das Ableiten und Belegen kausaler Aussagen
zu. Da wir Menschen in unserem Verhalten andauernd
darauf angewiesen sind, Entscheidungen zu treffen, um
gewisse Effekte zu erzielen, können wir auch dort, wo
Kausalhypothesen (noch) sehr unsicher und vorläufig
sind, nicht auf diese verzichten. Hayek (1989), dessen
Überlegungen ich in vielerlei Hinsicht nicht teile, for-
mulierte dazu treffend: „Wenn wir alle Handlungen un-
terließen, für die wir den Grund nicht kennen oder die
wir nicht rechtfertigen können, wären wir wahrschein-
lich bald tot.“ Mit dieser Aussage hat Hayek den Nagel
auf den Kopf getroffen – wir wären sogar sicher bald
tot. Die Notwendigkeit, aufgrund wenig fundierter, un-
sicherer Grundlagen zu entscheiden, enthebt uns aller-
dings nicht der Verpflichtung, als WissenschaftlerInnen
die empirischen und logischen Grundlagen hinter den
Hypothesen immer wieder kritisch zu überprüfen und
diese Grundlagen so weit wie möglich zu optimieren.
Die diesbezüglichen Möglichkeiten und Grenzen wer-
den im Abschnitt „Assoziation vs. Kausalität“ noch ge-
nauer ausgelotet.
3.4. Probleme durch Nicht-Unterscheidung
unterschiedlicher Bedeutungen
Grundsätzlich wäre es natürlich möglich, die drei be-
schriebenen Interpretationen der Ausdrücke „Risikofak-
toren“ bzw. „Schutzfaktoren“ durch die ausschließliche
Verwendung mit Zusatzprädikat sauber zu trennen,
also stets zwischen „prognostischen Risikofaktoren“,
„unveränderbaren kausalen Risikofaktoren“ und „ver-
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Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
änderbaren kausalen Risikofaktoren“ zu unterscheiden,
ebenso bei Schutzfaktoren. Aber diese Präzisierung ist
in der Forschungs- und Anwendungspraxis nicht üblich.
Damit wird der permanenten Verwechslung Tür und Tor
geöffnet. Bewusst oder unbewusst können AutorInnen
damit Faktoren, die sie ausschließlich über den Zusam-
menhang mit relevanten Zielgrößen identifiziert haben,
implizit in die Nähe von Kausalfaktoren rücken, was von
großem praktischen Vorteil ist. So kann man Texte für
AnwenderInnen, die häufig an Kausalfaktoren interes-
siert sind, interessant erscheinen lassen, ohne explizit
den Fehler einer ungerechtfertigten Kausalinterpreta-
tion von Korrelationen begangen zu haben. Ich möchte
damit keineswegs die Vermutung ausdrücken, dass es
sich in der Mehrzahl dieser Fälle um einen bewussten se-
mantischen Trick handelt. Es ist vielmehr so, dass viele
ForscherInnen auch selbst nicht konsequent zwischen
Assoziation und Kausalität bzw. zwischen Prognose und
Verursachung unterscheiden, wenngleich kaum ein/eine
ForscherIn explizit dem methodologischen Dogma wi-
derspricht, dass Assoziation nicht mit Kausalität gleich-
gesetzt werden darf.
Kahneman (2012) bezeichnet das intuitive Gleich-
setzen von ähnlichen oder ähnlich klingenden Inhal-
ten – z. B. „prognostischer Risikofaktor“ und „veränder-
barer kausaler Risikofaktor“, wenn diese unspezifisch
als „Schutzfaktor“ bezeichnet werden – als „Repräsen-
tationsheuristik“. Dieser Ausdruck indiziert, dass ähn-
liche oder ähnlich klingende Inhalte sich im Denken
der Menschen wechselseitig repräsentieren, was dazu
führt, dass völlig unterschiedliche Inhalte verwechselt
werden. So leistet hier schlampiges Denken der Ver-
wechslung von Assoziation mit Kausalität maßgeblich
Vorschub.
Problematisch ist der Umgang mit der Mehrdeutig-
keit der Ausdrücke „Risikofaktor“ und „Schutzfaktor“ in
Fachartikeln selbst dann, wenn in Fußnoten oder unter
„Limitationen“ ausdrücklich darauf hingewiesen wird,
dass Risiko- und Schutzfaktoren in diesem Text nicht als
Kausal-, sondern nur als Prognosefaktoren zu verstehen
sind. Fußnoten und kritische Bemerkungen in den Li-
mitationen werden oft nicht beachtet und die intuitive
Kausalinterpretation von Assoziation erfolgt unbewusst
und fast unkontrollierbar, wenn sie inhaltlich plausibel
erscheint.
Besonders problematisch wirken sich die drei unter-
schiedlichen Bedeutungen dann aus, wenn AutorInnen
laufend zwischen diesen hin und her schwanken und
diese Problematik konsequent ignorieren. Es gibt aber
auch AutorInnen, wie z. B. Berman et al. (2006), die hier
explizit unterscheiden. Das fördert ein gewisses Be-
wusstsein für die Problematik, auch wenn der andern-
orts schlampige sprachliche Umgang mit diesen Be-
griffen nicht nachhaltig verhindert wird. Berman et al.
schreiben: „Risikofaktoren sind jene Eigenschaften oder
Merkmale der Indexgruppe […], die die Zugehörigkeit zu
dieser Gruppe beschreiben.“ Daraus geht recht eindeu-
tig hervor, dass der Ausdruck „Risikofaktor“ ohne spezi-
fizierendes Attribut bloß als Prognosefaktor verstanden
wird. Wenn die AutorInnen dieses Textes Kausalfaktoren
meinen, verwenden sie den Ausdruck „kausale Risikofak-
toren“, um diese von reinen Prognosefaktoren abzugren-
zen.
4. Interne vs. externe Faktoren
Eine wichtige Spezifizierung von Risiko- und Schutzfak-
toren aus der Perspektive der Zielpersonen für Präven-
tionsmaßnahmen ist die Unterscheidung in „interne
Faktoren“ und „externe Faktoren“, wobei im Fall von
Kausalfaktoren beide Typen sowohl bedrohlich (Risi-
kofaktoren) als auch schützend (Schutzfaktoren) wirken
können.
Externe Kausalfaktoren als Bedrohung: Wenn eine
bestimmte Infektionskrankheit (z. B. Influenza) in
einer Population zirkuliert, besteht ein erhöhtes Ri-
siko, dass Mitglieder dieser Population infiziert wer-
den. Damit liegt der externe Risikofaktor „Exposition
gegenüber Influenzaviren“ vor.
Interne Kausalfaktoren als Schutzschild: Wenn ge-
fährdete Personen gegen Influenza geimpft sind, ist
die Wahrscheinlichkeit, an Influenza zu erkranken,
deutlich reduziert – der Faktor „Impfschutz“ wirkt als
interner Schutzfaktor.
In diesem Beispiel verursacht ein externer Risikofaktor
eine Bedrohung und ein interner Schutzfaktor fungiert
als Schutzschild. Es gibt aber auch die umgekehrte Si-
tuation:
Interne Kausalfaktoren als Bedrohung: Menschen
mit Depressionen und Angstzuständen neigen dazu,
ihre Symptome durch Alkoholkonsum abzuschwä-
chen, und sind daher verstärkt gefährdet, an Alkoho-
lismus zu erkranken. Psychische Erkrankungen sind
also interne Risikofaktoren, die die Entstehung einer
Alkoholabhängigkeit begünstigen.
Externe Kausalfaktoren als Schutzschild: Ein be-
rufliches und privates Umfeld, in dem übermäßiger
Alkoholkonsum unüblich ist, kann die Wahrschein-
lichkeit dafür verringern, dass Betroffene ihre psychi-
schen Erkrankungen mit Alkohol „behandeln“. Das
macht die Entstehung einer Alkoholabhängigkeit
unwahrscheinlicher. Wenig alkoholfreundliche Rah-
menbedingungen können in diesem Fall als Schutz-
faktor gegen die Entstehung einer Alkoholabhängig-
keit gesehen werden.
In diesem Beispiel wirkt der interne Risikofaktor psy-
chische Erkrankungen als Bedrohung, während ein we-
nig alkoholfreundliches Umfeld als externer Schutzfak-
tor bzw. Schutzschild fungiert.
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Alfred Uhl
Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
5. Qualitativer oder quantitativer Zugang
5.1. Asymmetrische Definition
In obigem Abschnitt wurde eine Art von Zusammenhang
zwischen Risiko- und Schutzfaktoren präsentiert, wo Ri-
sikofaktoren einen Angriff auf die Gesundheit repräsen-
tieren (Ursache) und Schutzfaktoren zur Abwehr dieses
Angriffs beitragen (intervenierende Variable), um uner-
wünschte Entwicklungen (Effekte) zu verhindern. Aus
diesem Bild ergibt sich für Risikofaktoren und Schutz-
faktoren eine völlig unterschiedliche Qualität. Risiko-
faktoren sind auf jeden Fall eine Bedrohung, während
Schutzfaktoren nur dann Bedeutung erlangen, wenn
eine konkrete Bedrohung durch Risikofaktoren vorliegt.
Dieser Vorstellung entsprechend ist die Abwesenheit
eines Risikofaktors nicht als Schutzfaktor zu bezeichnen
und die Abwesenheit eines Schutzfaktors nicht als Risi-
kofaktor.
Ein solches Verständnis im Sinne
des asymmetrischen Models, welches
Risikofaktoren und Schutzfaktoren
nicht als Gegensätze, sondern als zwei
unipolare Dimensionen mit zwei unter-
schiedlichen Qualitäten versteht, vertrat
unter anderem Antonovsky (1987).
Das Vorhandensein von internen Schutzfaktoren wird
häufig als „Widerstandskraft = Resilienz“ und die Ab-
wesenheit von internen Schutzfaktoren als „Verletzlich-
keit = Vulnerabilität“ bezeichnet.
5.2. Symmetrische Definition
Häufig werden aber in Zusammenhang mit Prävention
alle kausalen Einflussgrößen, die die Auftrittswahr-
scheinlichkeit für eine unerwünschte Entwicklung för-
dern, als Risikofaktoren, und alle Kausalfaktoren, die
die Auftrittswahrscheinlichkeit unerwünschter Ent-
wicklungen behindern, als Schutzfaktoren bezeichnet.
Diesem Verständnis entsprechend gibt es nicht zwei
unterschiedliche Qualitäten „Risikofaktoren“ bzw.
„Schutzfaktoren“, sondern nur eine bipolare Qualität,
bei der Risikofaktoren und Schutzfaktoren die beiden
Pole der Dimension repräsentieren. Die Abwesenheit
eines Risikofaktors ist diesem Konzept entsprechend
als Schutzfaktor und die Abwesenheit eines Schutz-
faktors als Risikofaktor zu verstehen – ein Modell, das
z. B. in einer Publikation des US-amerikanischen „Nati-
onal Institute on Drug Abuse“ (NIDA, 1997) nahegelegt
wird.
5.3. Probleme mit dem asymmetrischen Modell
Vergleicht man das symmetrische Modell mit dem asym-
metrischen, so erscheint die asymmetrische Version
zunächst deutlich attraktiver. Erläutert man dieses z. B.
anhand einer Bedrohung durch ein Influenza-Virus (Ri-
sikofaktor), der Abwehr durch eine Influenza-Impfung
(Schutzfaktor = intervenierende Variable) und einer re-
duzierten Wahrscheinlichkeit zu erkranken (Zielgröße),
erscheint diese Darstellung äußerst plausibel. Die Vor-
stellung einer Bedrohung und einer gegen diese Bedro-
hung gerichteten Abwehr, die sich nur auswirken kann,
wenn diese Bedrohung tatsächlich vorliegt, ist anschau-
lich und überzeugend.
Im Sinne dieses Modells muss man allerdings bei al-
len ungünstigen Kausalfaktoren eindeutig entscheiden
können, ob es sich um eine Ursache für ungünstige Ent-
wicklungen handelt oder um das Fehlen eines Schutzfak-
tors. Diese Entscheidung ist allerdings bei komplexen
Systemen, wo sich viele Faktoren serienmäßig beein-
flussen (Kausalketten), mit relevanten Rückkopplungen
(bidirektionale Kausalität) und komplexen Wechselwir-
kungen oft kaum möglich. Um dafür ein Beispiel zu ge-
ben: Der Faktor „Vernachlässigung durch die Eltern“ führt
gehäuft zu ungünstigen Entwicklungen bei Kindern. Im
Sinne des symmetrischen Modells kann man hier pro-
blemlos eine bipolare Dimension beschreiben, mit dem
Risikofaktor „Vernachlässigung durch die Eltern“ auf der
einen Seite und dem Schutzfaktor „Förderung durch die
Eltern“ auf der anderen Seite und zahlreichen Abstu-
fungen zwischen den Polen.
Im Rahmen des asymmetrischen Modells ergibt sich
hier allerdings ein Problem. Risikofaktoren und Schutz-
faktoren dürfen dieser Vorstellung entsprechend nicht
auf der gleichen inhaltlichen Dimension liegen. Im Rah-
men des asymmetrischen Modells müsste man nun
entscheiden, ob der Faktor „Vernachlässigung durch die
Eltern“ die Ursache für unerwünschte Entwicklungen
darstellt, also als Risikofaktor zu klassifizieren ist, oder
ob die Vernachlässigung durch die Eltern mit dem
Fehlen eines Schutzfaktors gegen unerwünschte Ent-
wicklungen gleichzusetzen ist. Wenn man diese Ent-
scheidung nicht sinnvoll treffen kann oder wenn man
zur Überzeugung gelangt, dass beide Aspekte gleich-
zeitig relevant sind, kann man den Faktor im Rahmen
des asymmetrischen Modells nicht sinnvoll verorten.
Mit ähnlichen Problemen ist man auch bei vielen ande-
ren Faktoren konfrontiert. Daraus ergibt sich eine klare
Überlegenheit des symmetrischen Modells zur Beschrei-
bung von Risikofaktoren und Schutzfaktoren.
6. Assoziation vs. Kausalität
Der optimale Zugang, um beeinflussbare Kausalfaktoren
zu finden, welche sich als Ansatzpunkte für präventive
44 Psychologie in Österreich 1 | 2022
Alfred Uhl
Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
Maßnahmen eignen, sind gut kontrollierte randomi-
sierte Experimente (RCTs). RCTs kommen allerdings
aus ethischen, ontologischen, technischen oder öko-
nomischen Gründen für viele relevante Fragestellungen
nicht infrage. Quasi-experimentelle Studien finden
manchmal ungeplant als natürliche Experimente statt.
So wurde z. B. in Deutschland und der Schweiz, als der
Gebrauch von sogenannten Alkopops rasch zunahm und
man in diesen süßen Getränken eine Gefahr für Kinder
und Jugendliche sah, eine spezielle Alkopop-Steuer ein-
geführt, in Österreich hingegen nicht. In allen drei Staa-
ten ging die Popularität von Alkopops rasch zurück, was
in Deutschland und der Schweiz als Effekte der Alkopop-
Steuer interpretiert wurde. Da allerdings die Nachfrage-
Entwicklung in Österreich völlig parallel verlief, ergab
sich eine natürliche quasi-experimentelle Studie, die
nahelegt, dass der Popularitätsrückgang von Alkopops
nicht durch die Einführung der Steuer ausgelöst wurde,
sondern dass der Hype wie viele andere Konsum-Moden
nach kurzer Zeit von selbst wieder zusammengebrochen
ist. Es ist zwar durchaus plausibel, dass der Preis alko-
holischer Produkte einen gewissen Einfluss auf den Al-
koholkonsum hat und indirekt auch auf die Wahrschein-
lichkeit, dass pathologische Alkoholkonsum-Muster
entstehen, aber man sollte diesen Einfluss nicht über-
bewerten. Es gibt noch eine Fülle von anderen Faktoren,
die den Alkoholkonsum der Bevölkerung längerfristig
beeinflussen, und steuerbedingte Preiserhöhungen sind
im Fall der Alkopops kaum als Ursache für den plötz-
lichen Popularitätsrückgang dieser Produkte anzusehen
(Uhl & Strizek, 2021).
Es gibt auch eine Reihe nicht kontrollierter Studien,
die lediglich die Situation vor und nach einer Inter-
vention ohne Kontrollbedingung vergleichen. Manche
Berufsfelder zeichnen sich durch ein betont alkohol-
freundliches Klima aus, welches die Entstehung von
problematischen Konsumgewohnheiten der Mitarbei-
terInnen begünstigt, wobei die Zahl dieser Berufsfelder
und das Ausmaß der Toleranz im Lauf der letzten Jahr-
zehnte generell deutlich abgenommen hat. Durchaus in-
teressant ist in diesem Zusammenhang das Konzept „Al-
kohol am Arbeitsplatz“, das Betriebe dabei unterstützt,
den Umgang mit Alkohol restriktiver zu gestalten und
adäquat gegen Alkoholprobleme am Arbeitsplatz vorzu-
gehen. Die Vorher-Nachher-Erfolge dieser Programme
sind beeindruckend und das Konzept ist inhaltlich
plausibel. Widerstände in den Betrieben gegen die Ver-
änderung werden durch schrittweises und vorsichtiges
Vorgehen möglichst geringgehalten. Nichtsdestoweni-
ger muss man zur Kenntnis nehmen, dass es sich dabei
nicht um ein kontrolliertes, randomisiertes Experiment
handelt und dass daher auch andere Erklärungen für
die Veränderungen infrage kommen. So ist z. B. denkbar,
dass in manchen Betrieben schon längere Zeit relevante
Entwicklungen stattfanden, die die Einstellung zum
Alkoholkonsum während der Arbeit maßgeblich verän-
derten, und das dazu führte, dass in diesen Betrieben
das Programm „Alkohol am Arbeitsplatz“ implementiert
wurde. In diesem Fall ist das Programm nicht Ursache
für die Veränderungen, sondern ihre Folge (Selektions-
bias). Es ist auch durchaus plausibel, dass es bezüglich
der Beurteilung des Alkoholkonsums und des Konsum-
verhaltens in Betrieben in Österreich generelle Trends
gegeben hat, wobei nicht zuletzt zahlreiche gesetzliche
Veränderungen und Versicherungsaspekte eine Rolle
gespielt haben könnten. In diesem Fall ist plausibel,
Vorher-Nachher-Veränderungen zumindest teilweise auf
diesen allgemeinen Trend zurückzuführen. Man kann
vermutlich noch eine Fülle von weiteren potenziellen
Verzerrungen und Faktoren finden, die als unkontrol-
lierte Drittvariablen2) (Uhl & Kraus, 2006) in Erscheinung
treten können. Ich möchte das keinesfalls als Argument
gegen das Programm „Alkohol am Arbeitsplatz“ verstan-
den wissen, dessen Ansatz mir sinnvoll und wirksam
erscheint. Aber das Beispiel zeigt deutlich, dass immer
dann, wenn RCTs nicht möglich sind, komplexes syste-
misches Denken und kritisches Überprüfen der Annah-
men und Überlegungen von großer Bedeutung sind.
Ein günstiger Vorher-Nachher-Vergleich
oder ein korrelativer Zusammenhang
kann keinesfalls als unumstößlicher
Beweis für die Wirksamkeit einer Maß-
nahme akzeptiert werden.
Noch schwieriger ist die Situation, wenn gar keine ge-
zielten Interventionen stattfinden, deren Auswirkungen
beobachtet werden können, wenn man also ausschließ-
lich auf Beobachtungsdaten angewiesen ist und darauf
angewiesen ist, Korrelationen zu interpretieren. Der
unzulässige Fehlschluss von statistischen Zusammen-
hängen auf kausale Zusammenhänge wird in der Lite-
ratur oft als „Cum-hoc-“ oder „Post-hoc-Fehlschluss“
bezeichnet, je nachdem, ob Ereignisse gleichzeitig oder
hintereinander auftreten. Diese Bezeichnungen sind in-
sofern irreführend, weil es sich dabei in der Regel nicht
um bewusste Fehlschlüsse handelt, sondern vielmehr
um intuitive Zuschreibungen, die unmittelbaren Wahr-
nehmungserlebnissen entsprechen. Es handelt sich
um unmittelbare Eindrücke, denen man sich, wie bei
Gestaltphänomenen üblich, kaum entziehen kann. Kau-
salzuschreibungen etablieren sich automatisch im Be-
wusstsein der Betrachtenden ohne deren bewusste Ent-
scheidung (Kriz et al., 1990). Chabris und Simons (2011)
sprechen von einer „Ursachenillusion“. Um der wahren
Natur der Dinge auf die Schliche zu kommen, ist es – wie
Kriz et al. betonten – notwendig, das spontan entste-
hende Kausalitätserleben zu dekonstruieren, also den
unmittelbaren Eindruck unter Heranziehen von Wissen
gedanklich-analytisch kritisch zu hinterfragen.
Die intuitive Gleichsetzung von Assoziation mit Kau-
salität findet allerdings dann nicht statt, wenn diese
Gleichsetzung den eigenen Erwartungen massiv wider-
spricht oder vordergründig absurd erscheint. In diesen
Fällen erinnert man sich des methodologischen Dogmas,
45Psychologie in Österreich 1 | 2022
Alfred Uhl
Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
dass Assoziation nicht automatisch Kausalität bedeutet.
Wenn allerdings die Gleichsetzung eigene Erwartungen
unterstützt und nicht zu vordergründig absurd erschei-
nenden Ergebnissen führt, so wird die Assoziation meist
unmittelbar als Beweis für den angenommenen Kausal-
zusammenhang interpretiert. Das Zugeständnis an Kriti-
kerInnen, dass es sich bloß um eine Assoziation handelt,
die nicht mechanistisch kausal interpretiert werden darf,
ändert in der Regel wenig an der gefühlten Überzeugung
der Kritisierten.
In der wissenschaftlichen Alkoholliteratur gibt es
zahlreiche Beispiele, wo ökologische Zusammenhänge3)
zwischen Zeitreihen als Beweis für bestimmte Maßnah-
menforderungen völlig unkritisch kausal interpretiert
werden. Wenn z. B. über einen gewissen Zeitraum die Al-
koholpreise steigen und der durchschnittliche Alkohol-
konsum abnimmt und wenn dann im gleichen Zeitraum
auch noch die Lebenserwartung steigt, kann man davon
ausgehen, dass diese Zusammenhänge von vielen als
Beweis dafür gesehen werden, dass Preiserhöhungen
die Alkoholnachfrage verringern und dass sich diese
Maßnahme indirekt positiv auf die Lebenserwartung
auswirkt. Nun ist zwar aus theoretischen Gründen ab-
leitbar, dass deutliche Alkoholpreiserhöhungen sich auf
den Alkoholkonsum von Personen auswirken sollten, de-
nen nur ein begrenztes Budget zur Verfügung steht, und
aus empirischen Befunden ist klar, dass ein Rückgang
des exzessiven Alkoholkonsums zu weniger alkoholbe-
dingten Krankheiten und damit zu einem Anstieg der
Lebenserwartung führen muss, aber – auch wenn das für
viele schwer zu akzeptieren ist – die zuvor beschriebenen
Korrelationen können aus logischen Gründen nicht als
Beweis für diese Behauptungen dienen.
In diesem Zusammenhang ist es nützlich zu wissen,
dass es in der Literatur zahlreiche Beispiele gibt, wo die
eben erwähnten Zusammenhänge in eine diametral un-
terschiedliche Richtung weisen. So ist z. B. in Österreich
seit den 70er-Jahren der reale Alkoholpreis erheblich zu-
rückgegangen und parallel dazu hat auch der Pro-Kopf-
Alkoholkonsum deutlich abgenommen (Uhl & Strizek,
2021). Wenn man aus Preis-Konsum-Zusammenhän-
gen allgemein gültige Kausalzusammenhänge ableitet,
kommt man mit den Daten unterschiedlicher Länder
zu völlig widersprüchlichen Ergebnissen. Besonders
deutlich zeigt sich das Problem, wenn man den Zusam-
menhang zwischen dem Pro-Kopf-Alkoholkonsum und
der durchschnittlichen Lebenserwartung in Österreich
analysiert (Uhl, 2020). Im Zeitraum 1973-2018 beispiels-
weise ist der Alkoholkonsum kontinuierlich gesunken,
die Lebenserwartung hingegen kontinuierlich gestiegen.
Da die Korrelation mit r = -0,93 außergewöhnlich hoch
ist, kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass
der Rückgang des Alkoholkonsums ursächlich für die Zu-
nahme der Lebenserwartung verantwortlich sei. Betrach-
tet man allerdings den gleichen Zusammenhang für den
Zeitraum von 1955-1973, ergibt sich zwar ebenfalls eine
hohe Korrelation von r = 0,91, allerdings mit umgekehr-
ten Vorzeichen. Nun müsste man schlussfolgern, dass
eine Steigerung des Alkoholkonsums die Lebenserwar-
tung erhöhe – und plötzlich nimmt die Bereitschaft, die
Assoziation mechanistisch kausal zu interpretieren, er-
heblich ab, weil das der allgemeinen Erwartung diame-
tral widerspricht.
Abb. 1: Quelle: Uhl (2020)
Anhand dieses Beispiels wird klar, dass mechanistische
Kausalinterpretationen aufbauend auf Assoziationen
nicht zulässig sind und dass Assoziationen nicht als
wissenschaftlicher Beweis für Kausalzusammenhänge
gelten können. Man darf die Beurteilung einer logischen
Schlussfolgerung nur von den Regeln des logischen
Schließens abhängig machen und nicht davon, ob das
Ergebnis plausibel erscheint oder sogar erwiesenerma-
ßen inhaltlich korrekt ist. Falsche Schlüsse, die zu in-
haltlich richtigen Ergebnissen führen, dürfen nicht als
Beweis für Ergebnisse herangezogen oder akzeptiert
werden, deren Richtigkeit zuvor auf anderem Wege be-
wiesen wurde.
7. Messprobleme
Wenn es um die Erfassung von Kausalzusammenhängen
im Suchtbereich geht, kommt der Umstand erschwerend
hinzu, dass Substanzmissbrauch und Suchtverhalten
meist im Verborgenen stattfinden und dass Angaben
von Betroffenen hochgradig unzuverlässig sind. Befragt
man beispielsweise eine Stichprobe von zufällig aus-
gewählten Personen mit den Methoden der Meinungs-
forschung über ihr Alkoholkonsumverhalten, so stellt
man international regelmäßig fest, dass durchschnitt-
lich nur rund ein Drittel des laut Wirtschaftsdaten tat-
sächlich konsumierten Alkohols angegeben wird. Fragt
man nach den Konsumerfahrungen mit illegalisierten
Drogen und verwendet zur Validitätsprüfung auch eine
nicht existierende fiktive Substanz4), so muss man da-
mit rechnen, dass bis zu 1 % der Befragten angibt, die
fiktive psychoaktive Substanz konsumiert zu haben, wo-
bei der Konsum von anderen illegalisierten Drogen oft
nur geringfügig unter oder über diesem Wert berichtet
wird. Angaben über den Konsum von in der Bevölkerung
nur selten gebrauchten illegalisierten Drogen sind also
quantitativ im Bereich „weißes Rauschen“ angesiedelt
Quelle: Uhl (2020)
67 Jahre
69 Jahre
71 Jahre
73 Jahre
75 Jahre
77 Jahre
79 Jahre
81 Jahre
7 Liter / Jahr
9 Liter / Jahr
11 Liter / Jahr
13 Liter / Jahr
15 Liter / Jahr
17 Liter / Jahr
1955 1961 1967 1973 1979 1985 1991 1997 2003 2009 2015
Liter Reinalkohol pro J ahr (15+) Lebenserwartung bei Geburt
46 Psychologie in Österreich 1 | 2022
Alfred Uhl
Kritische/theoretische Auseinandersetzung mit Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Suchtprävention
und daher inhaltlich kaum sinnvoll interpretierbar. Die-
ses Problem tritt in dieser Form nicht auf, wenn es um
den Konsum von Cannabis geht, weil ein relativ großer
Teil der Bevölkerung Erfahrungen mit Cannabis hat. Ver-
gleicht man aber über die Zeit, wie viele Personen Can-
nabiserfahrungen angeben, dann stellt man fest, dass
ein erheblicher Teil jener, die früher im Jugend- und
jungen Erwachsenenalter Cannabiserfahrungen ange-
geben haben, diese mit zunehmendem Alter leugnet.
Da Konsumerfahrungen mit zunehmendem Alter nur
zunehmen, nicht aber abnehmen können, manifestiert
sich, dass Ältere diese Erfahrungen in hohem Maße ver-
leugnen.
8. Heterogenität
Ein Grundproblem, das im Zusammenhang mit Risiko-
und Schutzfaktoren oft nicht beachtet wird, ist, dass
in den Human- und Sozialwissenschaften in der Regel
nicht nach den Prinzipien der Naturwissenschaften ge-
forscht werden kann. Während es in der Physik wenige
gut definierte Grundgrößen und präzise definierte de-
terministische Naturgesetze gibt, ist man in der Welt
der Human- und Sozialwissenschaften mit äußerst kom-
plexen Systemen konfrontiert, wo je nach Rahmenbe-
dingungen unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten gelten,
die in der Regel auch bloß probabilistischer Natur sind.
Folgendes Beispiel kann das illustrieren: Hohe Intelli-
genz und eine gute Ausbildung gelten gemeinhin als
Faktoren, die eine positive Entwicklung von Menschen
erleichtern und problematische Entwicklungen unwahr-
scheinlicher machen. Wenn allerdings gut ausgebildete
und sehr intelligente Personen eine berufliche Position
einnehmen, für die sie deutlich überqualifiziert sind,
und mangels sozialer Kompetenz und sozialer Unter-
stützung nicht in der Lage sind, eine ihnen besser ent-
sprechende Alternative zu finden, führt das zu anhal-
tender Frustration und zu massiver Belastung. Unter
diesen Bedingungen wird Intelligenz zum Risikofaktor
für die Entstehung pathologischer Substanzkonsum-
und anderer problematischer Gewohnheiten. Hier sieht
man unmittelbar, dass es wenig Sinn hat, den Einfluss
von Intelligenz auf günstige oder ungünstige Entwick-
lungen im Zusammenhang mit Substanzkonsum und
Sucht zu analysieren, ohne einen Zusammenhang mit
relevanten anderen Faktoren herzustellen und zu be-
achten.
Die Beantwortung relevanter Fragestellungen zur
Suchtprävention erfordert, wie am Beispiel der Intelli-
genz beispielhaft gezeigt werden konnte, systemisches
Denken und nicht das reduktionistische Fokussieren auf
den Einfluss einzelner Faktoren. Aus diesem Grund er-
scheinen Versuche, das Entstehen von Suchtverhalten
über die Existenz von Risiko- und Schutzfaktoren zu be-
schreiben, in den meisten Zusammenhängen fragwür-
dig. Wenn man sich trotzdem entschließt, Risikofaktoren
und Schutzfaktoren zu identifizieren – und in manchen
Fällen mag das trotz der genannten Probleme durchaus
sinnvoll sein –, sollte man sich aus den zuvor genannten
Gründen zumindest von der Idee des asymmetrischen
Modells verabschieden und sich für ein symmetrisches
Modell entscheiden.
Im Lichte dieser Komplexität erscheint überdies qua-
litative Forschung mit dem Ziel, psychologische Intui-
tion und Praxiserfahrung zu fördern, erheblich wichtiger
als quantitative Forschung, die große Mengen von Be-
obachtungsdaten mit statistischen Modellen zu analy-
sieren sucht. Generell ist ein kritischer Zugang im Sinne
Poppers (1934) erforderlich, der möglichst viele unter-
schiedliche Erklärungshypothesen für beobachtete Phä-
nomene erwägt, systematisch weitere zur Abklärung ge-
eignete Daten erhebt und die Hypothesen konsequent
logisch-analytisch untersucht, bis sich im günstigsten
Fall ein Großteil dieser Hypothesen aus empirischen
oder logischen Gründen als unhaltbar erweist.
Herzlichen Dank an Elisabeth Breyer für das Lektorat.
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47Psychologie in Österreich 1 | 2022
Alfred Uhl
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Autor
Priv.-Doz. Dr. Alfred Uhl
Gesundheitspsychologe, Mitglied des BÖP-
Schiedsgerichts und des Leitungsteams des
Referats Suchtpsychologie des BÖP, stv. Leiter
des Kompetenzzentrum Sucht, Gesundheit
Österreich GmbH (GÖG) und stv. Leiter des
Englischen Doktoratsstudiengangs, Fakultät
für Psychotherapiewissenschaft, Sigmund Freud
PrivatUniversität (SFU). Forschungsschwerpunkte: Epidemiologie,
Prävention, Suchtpolitik, Evaluation, Forschungsmethodologie.
alfred.uhl@goeg.at
alfred.uhl@sfu.ac.at
www.goeg.at
www.sfu.ac.at/de
1) Englisch: Randomized Controlled Studies
2) Hier wird oft der englische Ausdruck „Confounder“ verwendet.
3) Ökologische Zusammenhänge sind Zusammenhänge zwischen aggregierten
Daten (z. B. wenn Durchschnittswerte pro Region oder Staat korreliert werden),
die den Zusammenhängen auf der Basis individueller Daten auch diametral
widersprechen können.
4) Eine solche fiktive Substanz wurde zur Validitätsprüfung in eine Liste von ab-
gefragten existierenden Substanzen aufgenommen.
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Chapter
Full-text available
Alkoholpolitische Diskurse in Europa finden im Spannungsfeld zwischen einer alkoholkritischen Haltung im protestantisch geprägten Norden bzw. englischsprachigen Raum und einer alkoholtoleranten Haltung im katholisch bzw. christlich-orthodox geprägten Rest Europas statt. Da die von einer alkoholkritischen Haltung geprägten Länder zur Stützung ihrer Position die epidemiologische Alkoholforschung über viele Jahrzehnte massiv gefördert haben, ist es ihnen gelungen, den Wissenschaftsbetrieb in diesem Kontext nachhaltig zu dominieren und ihre Forderungen als einzig sinnvoll und „evidenzbasiert“ darzustellen. Der Ausdruck „evidenzbasiert“ wird dabei wie das Siegel für einen unbestreitbaren Gültigkeitsanspruch verwendet. Dagegen sind vor allem zwei Argumente vorzubringen: Erstens basieren die in diesem Zusammenhang präsentierten Schlussfolgerungen in der Regel nicht auf experimentellen Studien, sondern auf Beobachtungsstudien, die grundsätzlich keine eindeutige Kausalinterpretation zulassen. Zweitens entspricht die implizierte Überzeugung, dass man allein aus empirischen Sachverhalten und ohne normative Überlegungen politische Entscheidungen ableiten könne, einem „naturalistischen Fehlschluss“. Der Terminus „evidenzbasierte Politik“ verschleiert den zentralen Stellenwert von ethischen Entscheidungsgrundlagen. Im vorliegenden Text wird die methodologische Kritik an einzelnen Postulaten und Forderungen einer „evidenzbasierten Alkoholpolitik“ angerissen und jeweils auf ausführlichere Texte der Autoren verwiesen. The book can be downloaded via: https://alternativer-drogenbericht.de/wp-content/uploads/2021/07/ADSB8-2021web.pdf
Article
Concern over those individuals who drink alcohol to excess goes back many centuries, this concern being directed at the effect alcohol has on the individual and on society. Levine (1978) pointed out that the idea of alcoholism as a progressive disease with the key symptom of ‘loss of control’ did not simply start with the foundation of Alcoholics Anonymous or the publication of Jellinek's monograph. Such a concept is, in fact, at least 200 years old.
Book
The thoroughly revised and updated Third Edition of the acclaimed Modern Epidemiology reflects both the conceptual development of this evolving science and the increasingly focal role that epidemiology plays in dealing with public health and medical problems. Coauthored by three leading epidemiologists, with sixteen additional contributors, this Third Edition is the most comprehensive and cohesive text on the principles and methods of epidemiologic research. The book covers a broad range of concepts and methods, such as basic measures of disease frequency and associations, study design,field methods, threats to validity, and assessing precision. It also covers advanced topics in data analysis such as Bayesian analysis, bias analysis, and hierarchical regression. Chapters examine specific areas of research such as disease surveillance, ecologic studies, social epidemiology, infectious disease epidemiology, genetic and molecular epidemiology, nutritional epidemiology, environmental epidemiology, reproductive epidemiology, and clinical epidemiology.
Article
The second edition of Berman, Jobes, and Silverman's Adolescent Suicide: Assessment and Intervention is an essential resource for anyone who treats adolescents—and the tangled web of adolescent depression and suicidal ideation and behavior. It is an intriguing book, an optimistic book, and a compelling piece of scholarship and creative thinking. It fills a significant hole in the treatment literature: There is no comparable book. However, this is not the book for the clinician looking for a quick fix. Instead, this incredible book provides an expansive description of the vast complexity of multiple risk and predictive characteristics, epidemiology, theory, and empirical context. In addition, it addresses assessment, treatment, prevention, and postvention (i.e., attending clinically to the survivors of the suicide, including the therapists) of adolescent suicide, all in the frame of standards of care and legal considerations. Anyone who reads this book will be acutely sensitized to the hugely heightened risk factors of access to firearms, alcohol, and drugs for the suicidal adolescent.
Der unsichtbare Gorilla -Wie sich unser Hirn täuschen lässt
  • Ch F Chabris
  • D J Simons
Chabris, Ch. F. & Simons, D. J. (2011). Der unsichtbare Gorilla -Wie sich unser Hirn täuschen lässt. München: Piper.
The Collected Works of Friedrich August Hayek, Volume 1, The Fatal Conceit -paperback edition 1998
  • F A Hayek
Hayek, F. A. (1988). The Collected Works of Friedrich August Hayek, Volume 1, The Fatal Conceit -paperback edition 1998. T. J. Padstow: Press.
Schnelles Denken, langsames Denken
  • D Kahneman
Kahneman, D. (2012). Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler.
Erkenntnis-und Wissenschaftstheorie
  • J Kriz
  • H E Lück
  • H Heidbrink
Kriz, J., Lück, H. E. & Heidbrink, H. (1990). Erkenntnis-und Wissenschaftstheorie. Opladen: Leske.