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Dem Zufall eine Chance geben (Giving Serendipity a Chance)

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Abstract

In einem übertrieben kompetitiven System der Forschungsförderung bleibt angesichts der Bürokratie immer weniger Zeit für die Forschung. In an excessively competitive system of research funding, the bureaucracy leaves less and less time for research.
MEINUNG
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© 2022 Wiley-VCH GmbH Physik Journal 21 (2022) Nr. 2
Mit der Absicht, den thermischen Effekt eines elektri-
schen Stroms zu demonstrieren, beobachtete Hans
Christian Ørsted 1820 beim Einschalten des Stroms einen
Ausschlag eines in der Nähe liegenden Kompasses. Per Zu-
fall hatte er damit die Erzeugung eines magnetischen Feldes
durch elektrischen Strom entdeckt und die Grundlage für
die folgenden Entdeckungen des Ampere’schen Gesetzes
und der Faraday’schen Induktion gelegt.
Diese Entdeckung ist eine von vielen in der Wissen-
schaft, die aus reinem Zufall geschah. Das jüngste Bei-
spiel – mRNA als Impfstoff – zeigt, wie segensreich und
bedeutsam zufällige Entdeckungen sein können.
Unser heutiger Forschungsalltag gibt dem Zufall aber
kaum eine Chance: Wir Forscherinnen und Forscher sind
eingebunden in Projekte, in denen Fortschritte nach einer
Meilensteinplanung zu erreichen sind. Diesem Vorgehen
liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich wissenschaft-
licher Fortschritt planen lässt. Wie die obigen Beispiele
zeigen, führt dieser Ansatz oft an den wirklich interes-
santen Effekten vorbei.
Und nicht nur das: Vor Beginn der Forschung muss zu-
nächst ein Förderprojekt eingeworben sein. Dazu gilt es,
Projektanträge zu erarbeiten, Personal- und Verbrauchs-
mittelkosten zu ermitteln, einen detaillierten Arbeitsplan
zu erstellen und die Planung von
Kooperationspartnern und der
Verwaltung gutheißen zu lassen.
Das leidige Antragswesen ist
über die Jahre immer ausufernder
geworden. Zugleich nahmen die
Bewilligungsquoten stetig ab: In
BMBF-Programmen lagen sie zu-
letzt zwischen 10 und 30 Prozent, auch bei der DFG sah
es nicht viel besser aus. In vielfach frequentierten EU-
Programmen fielen sie in den letzten Jahren zum Teil
sogar auf wenige Prozent. Viele Forschende investieren
inzwischen einen Großteil ihrer Arbeitszeit in das Ver-
fassen von Projektanträgen.
Eine einfache Abschätzung zeigt, dass jedes Jahr allein
in Deutschland tausende von Personenjahren damit ver-
geudet werden, die um Mittel konkurrierende Wissen-
schaft Projektanträge schreiben zu lassen – von denen die
Mehrzahl nicht reüssiert. Das ist eine enorme Verschwen-
dung kostbarer Ressourcen. Können wir uns das leisten?
Sollte unsere wissenschaftliche Expertise nicht besser ein-
gesetzt werden, um drängende Probleme wie den Klima-
wandel und die Bevölkerungszunahme anzugehen?
Dem Zufall eine Chance geben
In einem übertrieben kompetitiven System der Forschungsförderung bleibt
angesichts der Bürokratie immer weniger Zeit für die Forschung.
Mario Birkholz
Meine
Meinung
Wissenschaft und Technik haben wesentlich zum
Wohlstand beigetragen, auf dem unser Land heute auf-
baut. Deutschland ist die zweitgrößte Exportnation des
Planeten und mit der Exportleistung pro Kopf weiterhin
unerreichter Weltmeister. Die wirtschaftliche Kraft un-
seres Staates für eine nachhaltige und für alle auskömm-
liche Gestaltung von Wissenschaft und Forschung ist also
gegeben. Doch die zunehmende Drittmittelfinanzierung
ging einher mit einer Prekarisierung der wissenschaft-
lichen Arbeit, insbesondere für den wissenschaftlichen
Nachwuchs.1)
Damit wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
wieder mehr Wissenschaft machen können, bedarf es
eines Ausbaus der Grund finanzierung für Wissenschaft
und Forschung, insbesondere
einer auskömmlichen Finan-
zierung der Universitäten –
verbunden mit einer Stärkung
des Mittelbaus. Wir brauchen
auch eine größere Transparenz
in der Forschungsförderung.
Warum veröffentlichen För-
derorganisationen häufig nicht die Zahl der eingereich-
ten, bewilligten und abgelehnten Anträge? Diese Zahlen
sollten der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zur Ver-
fügung stehen. Für Wissenschaftsverbände wie die DPG
gibt es gute Chancen, mit einem solchen Vorschlag an die
Politik erfolgreich zu sein. Denn im Koalitionsvertrag der
neuen Bundesregierung heißt es „Wir wollen durch mehr
Transparenz unsere Demokratie stärken.“
Mit der Satzung der DPG haben wir uns ins Stamm-
buch geschrieben, dass wir die Anwendung der Physik
fördern wollen. Das wäre zu erreichen, wenn es gelänge,
die viele zweckentfremdete Arbeitszeit unserer Mitglieder
wieder in Forschungszeit zu konvertieren. Wir können
damit den größten Schatz heben, der im Moment für die
Physik in Deutschland zu gewinnen ist.
Die unter der Rubrik „Meinung“ veröffentlichten Texte
geben nicht in jedem Fall die Meinung der DPG wieder.
Prof. Dr. Mario Birkholz ist
Professor für Bioelektronik am
Leibniz-Institut für innovative
Mikroelektronik in Frankfurt
(Oder) und an der TU Berlin.
Können wir uns diese
enorme Verschwen-
dung kostbarer
Ressourcen leisten?
1) Unter dem Hashtag #IchBinHanna mobilisieren Wissenschaftler:innen gegen
schwierige Arbeitsbedingungen. Viele sehen keine Zukunftschancen an deut-
schen Hochschulen mehr.
Mario Birkholz
OPINION
Giving Serendipity a Chance
In an excessively competitive system of research funding,the bureaucracy
leaves less and less time for research.
Mario Birkholz
W
ith the intention of demonstrating the thermal
effect of an electric current, Hans Christian Ørsted
observed a deflection of a nearby compass when the
current was switched on. By chance, he had discovered
the generation of a magnetic field by an electric current
and laid the foundation for the subsequent discoveries
of Ampere's Law and Faraday induction.
Prof. Dr. Mario Birk holz is
professor for Bioele ctronics at
Leibniz-Institut für innovative
Mikroelektronik in Frankfurt
(Oder) and at TU Berli n.
Science and technology have contributed significantly
to the prosperity on which our country is built today.
Germany is the second-largest export nation of the
planet and remains the unrivalled world champion in
terms of exports per capita. The economic power of
our state to shape science and research in a sustainable
way that is adequate for all is thus given. But the
increase in third-party funding has gone hand in hand
with a precariousness of scientific work, especially for
young scientists.1)
In order for us scientists to be able to do more science
again, we need an expansion of basic funding for science
Can we afford this
enormous waste of
precious resources?
The tiresome application
process has become ever more
exuberant over the years. At the
same time, the approval rates have
steadily declined: In BMBF
programs, they were between 10
and 30 percent, and the situation
at the DFG was not much better.
and research, in particular
adequate funding for
universities - combined with
a strengthening of the
Mittelbau. We also need a
greater transparency in
research funding.
Why do funding
In EU programs that are frequently accessed, they have
even fallen to a few percent in some cases in recent years.
Many researchers now invest a large part of their working
time in writing project proposals.
A simple estimate shows that thousands of person-years
are wasted each year in Germany alone in having science
competing for funds write project proposals - the majority
of which are unsuccessful. This is an enormous waste of
precious resources. Can we afford that? Wouldn't our
scientific expertise be better used to tackle urgent problems
such as climate change and population growth?
organisations often not publish the number of applications
submitted, approved and rejected? These figures should be
available to the scientific community and to the public.
For science associations like the DPG, there is a good
chance of being successful with such a proposal to
politicians. After all, the coalition agreement of the new
federal government states "We want to strengthen our
democracy through more transparency."
With the statutes of the DPG, we have committed
ourselves to promote the application of physics. This
could be achieved if it were possible to convert the many
working hours of our members back to research time.
This is greatest treasure that can be won for physics in
Germany at the moment.
The texts publishe d under the headin g Opiniondo not
necessarily reflect the opi nion of the DP G.
1)
Scientists are mobilising against difficult working conditi ons under the hashtag
#IchbinHanna. Many no longer see any future oppor tunities at German
universities.
©
Wiley -VCH Gm bH
Physik Jour nal 21 (2022) Nr. 2
OPINION
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