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Preprint. Erschienen als:
Schön, Sandra (2021). Novel and Adaptive Thinking. Eine nicht-technische Kompetenz
im Zeitalter der Digitalität. Hintergrundtext für Lehrende. In: Zentrum
Theaterpädagogik PH Luzern (Hrsg.), Non-Technical Skills, Luzern: PH Luzern, S. 48-54.
«Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen,
durch die sie entstanden sind. »
(Albert Einstein 1879-1955, Physiker)
Überblick
1 Einleitung .............................................................................................................................. 2
2 Verständnis von «Novel and Adaptive Thinking» ............................................................ 2
3 Warum ist Novel and Adaptive Thinking zukünftig vermehrt gefragt? ........................ 2
4 Beispiele für «Novel and Adaptive Thinking» .................................................................. 3
5 Novel and Adaptive Thinking aus pädagogischer Perspektive .................................... 4
6 Denken in bekannten Strukturen als Herausforderung .................................................. 5
7 Entwicklung und Training von «Novel and Adaptive Thinking» .................................... 6
8 Kritische Stellungnahme und Ausblick ............................................................................. 7
Zum Vertiefen ............................................................................................................................... 7
Literatur .......................................................................................................................................... 7
Zusammenfassung
Denken in bekannten Strukturen wird zukünftiger immer weniger gefragt sein, weil
regelbasierten Entscheidungen verstärkt von Maschinen abgenommen werden. «Novel
and Adaptive Thinking» sind notwendig, wenn Lösungen für überraschende und
neuartige Situationen oder neuartige Lösungen gesucht werden. Kognitive Prozesse wie
die Annahme, dass sich Trends fortsetzen und die Schwierigkeit, eigene Denkmuster zu
erkennen, sind dabei hinderlich. Dieser Beitrag nennt Beispiele und Möglichkeiten des
Trainings von «Novel and Adaptive Thinking».
Hintergrundtext
für Lehrende
Novel and Adaptive Thinking
Eine nicht-technische Kompetenz
im Zeitalter der Digitalität
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Der Beitrag enthält Impulse aus Perspektive von Lehrer/innen und Lehrenden.
1 Einleitung
Es ist Schulalltag und doch eine Situation, die das neuartige Denken provoziert: die
Vertretungsstunde.
Marina ist Lehrerin für Mathematik und Geschichte. Überraschend soll sie eine Stunde des
Kollegen vertreten, der Altgriechisch unterrichtet – mit dem freundlichen Hinweis, doch bitte
die Schüler/innen auf die morgen anstehende Klassenarbeit vorzubereiten. Marina ist
entmutigt – sie kann ja nicht mal die vorgelegten Texte entziffern, sind sie doch auf
altgriechisch geschrieben. Wie kann sie kurzfristig einen zielorientierten Unterricht umsetzen?
Um diese und ähnliche Formen neuartigen Denkens durch ungewöhnliche bzw. neuartige
Situationen als Zukunftskompetenz, sogenanntes «Novel and Adaptive Thinking», dreht
es sich in diesem Beitrag.
Wie würden Sie in der Situation von Marina handeln?
2 Verständnis von «Novel and Adaptive Thinking»
Der Begriff «Novel and Adaptive Thinking» als Kompetenz, die zukünftig gebraucht
werden, stammt aus der Studie «Future Work Skills 2020» (Davies, Fidler & Gorbis 2011,
S. 9). Dort werden sie als «neuartiges und anpassungsfähige Denken» beschrieben. Es
handelt sich um die Fähigkeit auf Situationen zu reagieren, die nicht routinemässig
oder regelbasiert sind. Dabei ist nicht eine langwierige Anpassung gemeint, sondern die
unmittelbare, situative Anpassungsfähigkeit bei spezifischen, unerwarteten Umständen
(siehe Davies et al. 2011, S. 9, nach Autor 2010).
Während mit dem Begriff des «Novel Thinking» also eher unspezifisch das neuartige
Denken bezeichnet wird, das sich durch kreative, neue Lösungen auszeichnet, gibt es in
den Kognitionswissenschaften eine spezifische Auseinandersetzung zum «Adaptive
Thinking», insbesondere bei dem deutschen Psychologen Gerd Gigerenzer (2000). Er
beschäftigt sich dabei mit der Entscheidungsfindung in realen, d. h. nicht perfekten
Welten, in denen typischerweise nicht alle Informationen vollständig vorliegen.
Gigerenzer beschäftigt sich als Wissenschaftler mit unterschiedlichen
Entscheidungsverfahren (Heuristiken) und betont, dass es wichtig ist, dass wir auch mit
Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten gut umgehen können.
Komponenten des «Novel and Adaptive Thinking» sind zum einen effektive Planung,
genaue Beobachtung der Fortschritte und flexibles Denken (The Startup 2019). Nach
Gigerenzer zum anderen die Nutzung effektiver Heuristiken und eine realistische
Einschätzung von Risiken.
3 Warum ist Novel and Adaptive Thinking zukünftig vermehrt gefragt?
Die zunehmende Automatisierung verdrängt Menschen zunehmend aus Aufgaben, die
von Maschinen übernommen werden können, weil es sich um regelbasierte,
gleichmässige Abläufe handelt. Die menschliche Arbeitskraft wird zukünftig daher
stärker dort gefragt sein, wo es zu Abweichungen kommt, so die Begründung im Text
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«Future Work Skills 2020» (Davies, Fidler & Gorbis 2011, S. 9, Smartworkers.net 2014).
Berufe in der Bankbranche werden zukünftig verstärkt von Computern ausgeführt werden,
wohingegen die Arbeit von Lehrer/innen nur in sehr geringem Umfang als durch
Maschinen ersetzbar gilt (s. Dengler & Matthes, 2015).
Beschreiben und sammeln Sie Situationen, die im Alltag von Lehrer/innen nicht zu den
alltäglichen Herausforderungen gehören, aber auftreten können.
Die Fähigkeit, bei überraschenden Umständen angemessen zu reagieren, ist also nicht auf
hochqualifizierte Tätigkeiten beschränkt, sondern auch bei einfachen Tätigkeiten
gefragt (siehe Smartworkers.net 2014), wenn beispielsweise beim Strassendienst eine
Schneefräse ausfällt.
Der Psychologe Gigerenzer hat eine andere Erklärung parat, warum Adaptive Thinking
von Bedeutung ist: Er weist darauf hin, dass eben immer mehr Informationen
zugänglich sind, aber nicht das Wissen zum Umgang damit, beispielsweise mit
Wahrscheinlichkeiten, nicht verbreitet ist. In seiner Forschung kann er dies für das
Fachpersonal in der Medizin und der Bankbranche nachweisen (z. B. Interview mit Streck
2014, S. 832).
Sie wissen, dass 30 Prozent aller Schüler/innen, die in der ersten Klasse eine schlechte Note
haben, im Laufe ihrer Schullaufbahn Nachhilfe erfahren werden, bei den anderen liegt der
Anteil bei 10 Prozent. 20 Prozent Ihrer Schüler/innen haben eine schlechte Note in der ersten
Klasse. Wie hoch ist der Anteil der Schüler/innen, die voraussichtlich Nachhilfe erhalten? –
Solche Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten (Risiken) sind für Mathematik-Lehrer/innen
wohl einfach zu lösen, können aber nicht vorausgesetzt werden.
4 Beispiele für «Novel and Adaptive Thinking»
Es gibt zahlreiche Beispiele, wie in der Menschheitsgeschichte Probleme über eine
längere Zeit hinweg gleichförmig angepackt angegangen werden, bis jemand einen
neuartigen, aber überraschend hilfreichen oder effektiven Zugang gefunden hat. Es
folgen zwei Beispiele, die in der Literatur und Vorträgen zur Innovationsentwicklung
anekdotenhaft beschrieben werden:
Die New Yorker U-Bahn hatte ursprünglich ihre Drehkreuze so gestaltet, dass man sie
durch den Einwurf von 5-Cent-Münzen durchschreiten kann. Bei der Fahrpreiserhöhung
auf 10 Cent wurden die Drehkreuze aufwändig angepasst. Als der Fahrpreis erneut erhöht
werden musste, suchte man eine kostengünstigere, nachhaltige Lösung und führte 1953
die „U-Bahn-Münze“ ein. In den folgenden 50 Jahren wurde zwar ihr Preis angepasst, aber
die Drehkreuze mussten nicht mehr angepasst werden. Die Münzen wurden erst 2003
abgeschafft und durch ein Kartensystem ersetzt. (Gotham Gazette 2003, Future Work
Skills Academy 2018)
Jahrzehnte lang wurde versucht, künstliche Herzen möglichst dem Original
nachzubilden, also als Pumpe mit einer Frequenz des natürlichen Herzschlags. Die
Kunstherzen waren gross und passten oftmals nicht in den kleineren Brustkorb von
Frauen. Aktuelle Herzunterstützungssysteme und Kunstherz-Entwicklungen weichen
daher von dem Prinzip der Imitation ab. So testet unter anderem O. H. Frazier vom Texas
Heart Institute in Houston seit etwa 15 Jahren einen anderen Ansatz: Sein künstliches Herz
mit zwei Rotoren lässt das Blut gleichmässig zirkulieren und ist kleiner und weitaus wenig
verschleissgefährdet. 2011 wurde ein solches Herz erstmals beim Menschen implantiert.
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Dem neuen Herzen fehlt dabei eine markante Eigenschaft: Bei Träger/innen lässt sich kein
Puls fühlen. (siehe Technology Review 2006, Deutschlandfunk 2016, 2018)
Lehrer/innen dozierten Jahrhunderte lang von ihrem Pult – einem erhöhten Podest mit
gutem Überblick über die Klasse. Die grosse Tafel als neues Unterrichtsmedium – heute
trotz digitaler Hilfsmittel in fast jedem Klassenzimmer zu finden - konnte sich daher nicht
ohne weiteres durchsetzen. Die Vorstellung, den Schüler/innen den Rücken vorzudrehen
und damit auch ein Stück Kontrolle über sie zu verlieren, schien abwegig (Wagner 2004).
Heute ist es kaum vorstellbar, aber die schwarze Tafel forderte neuartiges Denken heraus,
bevor sie die Klassenzimmer erobern konnte.
Gerade die Einführung von sog. «neuen Medien» im Klassenzimmer macht neuartiges
Denken der Lehrkräfte notwendig, im Hinblick darauf wie damit Lernen und Unterricht
gestaltet werden kann.
Abbildung: Neue Medien im Klassenzimmer provozieren Novel and Adaptive Thinking
Sie vertreten eine Unterrichtsstunde in einer Tablet-Klasse in Geographie. Die Klasse benutzt
kein Schulbuch und Sie erfahren nur kurz, dass sich die Klasse auf die nächste Prüfung zu
europäischen Hauptstädten vorbereiten soll. Wie gestalten Sie den Unterricht?
5 Novel and Adaptive Thinking aus pädagogischer Perspektive
Vertreter/innen der Situiertheitsansätze des Lernens gehen davon aus, dass die
Anwendung des erlernten Wissens nur erfolgt, wenn die Anwendungssituation und die
Lernsituation ähnlich sind (Renkl, 2004). Auf dem ersten Blick klingt das seltsam – aber
Untersuchungen zeigen, dass diese Theorie eine Erklärung für «träges Wissen« ist –
darunter versteht Renkl Wissen, das erworben wurde, aber nicht angewendet wird (Renkl
2004, S. 5f). So betrachtet ist notwendig, dass Wissen in ganz unterschiedlichen
Situationen erprobt werden muss, damit es dann auch wiederum in allerlei möglichen –
insbesondere, in neuartigen – Situationen überhaupt zum Einsatz kommen kann.
Aus pädagogischer Perspektive ist das adaptive Lernen mit dem «Novel and Adaptive
Thinking» zumindest thematisch verwandt. Dabei werden die Lern- und Lehrstrategien für
Einzelne oder Gruppen differenziert und immer wieder angepasst. Dies sollte Fachkräfte
nicht grundsätzlich vor immer neue Herausforderungen stellen, der Ansatz birgt aber
natürlich Überraschungsmomente und kann kreative Lösungen und damit auch
neuartiges Denken notwendig machen.
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6 Denken in bekannten Strukturen als Herausforderung
Wenn Entscheidungen zu treffen sind, ist es schwer, aus den eigenen oder schon
vorhandenen Denkmustern auszubrechen und angemessen mit Risiken umzugehen.
Gigerenzer zeigt in seiner Forschung, dass Menschen dazu neigen, Entwicklungen zu
extrapolieren. Das bedeutet, dass wir häufig davon ausgehen, dass sich Trends stetig
fortsetzen. So erwarten Finanzexperten, dass ein über mehrere Jahre zunehmend
ansteigender Wechselkurs auch in den folgenden Monaten eher zu- als abnehmen wird.
Gegensätzliche Informationen zur Entwicklung werden ausgeblendet. Gigerenzer
illustriert das Phänomen in der «Truthahn Illusion»: Der Truthahn hat zunächst ein
ungutes Gefühl gegenüber dem Bauern – er sperrt ihn ein, kümmert sich aber auch um
seine Grundbedürfnisse. Einige Wochen vor dem amerikanischen Erntedank-Fest werden
die Essensrationen grösser, der Truthahn erwartet dementsprechend auch für seinen
nächsten Tag eine üppigere Ration – und nicht seine Schlachtung.
Abbildung: Truthahn-Illusion
Auch im Sport kennt man diese Erwartung einer gleichartig sich fortsetzenden
Entwicklung: Eine Basketballerin, die gerade einen Korb getroffen hat, tauscht man nur
ungern ein, weil die Erwartung ist, dass bei ihr die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass sie
noch ein zweites schiesst («Hot Hand») – auch wenn sich dieser Effekt nur in einigen
Sportarten beobachten lässt (unterschiedliche Forschungsergebnisse dazu in Raab &
Gigerenzer 2015).
Die Herausforderung ist, überhaupt zu erkennen, worin die eigene Denkweise («the box»)
eigentlich besteht (Thönnessen o.J.). Welche «Denkmuster» man sich selbst angeeignet
hat, ist nicht immer trivial zu identifizieren. Manchmal gelingt es aber auch, solche
impliziten Annahmen in Gesprächen aufzudecken. Solch ein Denkmuster ist zum Beispiel
das «Schubladendenken» mit dem sehr früh Zuordnungen erfolgen wie «Der Junge trägt
einen muslimischen Namen, dann wird er wohl in Deutsch schwach sein» (vgl. Geißler,
2008). So ein Denkmuster entwickelt sich mit eigenen impliziten Theorien oder auch
durch die Übernahme von Stereotypen. Denkmuster sind nicht per se falsch und sorgen
auch dafür, dass man schnelle Entscheidungen treffen kann. Sie sind bei genauerem
Hinsehen nicht notwendigerweise die richtigen oder besten. So fällt beispielsweise auf,
dass Mädchen in Deutschland im Gegensatz zu ihren männlichen Mitschülern «mehr
Angst im Fach Mathematik» haben, «weniger Selbstvertrauen, spezifische mathematische
Probleme lösen zu können» und dazu neigen «ihre Leistungsfähigkeit zu unterschätzen»
(König & Valtin 2011). Frappierend daran ist, dass dieser Geschlechtsunterschied in
anderen Ländern nicht vorhanden ist.
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Franz ist Mathematiklehrer und er ist ein wenig bestürzt, als er erfährt, dass seine Bewertung
eines Mathetest auch von Handschrift und Orthografie seiner Schüler/innen beeinflusst sein
kann (Jäger 2000). Haben Sie Ähnliches in Ihrem Schulalltag erlebt?
Hinderlich werden Denkmuster, wenn sie fehlerhaft sind und negative Entwicklungen
beeinflussen, etwa im Sinne von sich selbsterfüllenden Prophezeiungen. Studien
zeigen, dass Erwartungen der Lehrer/innen über die zukünftige Entwicklung von
Schüler/innen diese Entwicklung in entsprechender Weise beeinflussen (auch
«Rosenthal-» oder «Pygmalion-»Effekt genannt, Rosenthal & Jacobson 1966). Für
neuartiges Denken müssen solche Denkmuster identifiziert werden.
7 Entwicklung und Training von «Novel and Adaptive Thinking»
Wer seine eigenen Fähigkeiten in Bezug auf das «Novel and Adaptive Thinking» trainieren
möchte, kann die folgenden Tipps für die individuelle Förderung von Curious Lion
Learning (2018) befolgen:
1. Werde dir bewusst, dass du bereits jetzt häufig und regelmässig – im Beruf oder
auch der Freizeit – entsprechende Fertigkeiten einsetzen musst.
2. Nutze Möglichkeiten, adaptives Denken in unkritischen Situationen zu
praktizieren, z. B. auch im Nachhinein: Welche anderen Verhaltensmöglichkeiten
hätte es bei der letzten beruflichen Entscheidung in einer ungewöhnlichen
Situation gegeben, mit welchen Konsequenzen?
3. Versuche bei der nächsten ungewöhnlichen Situation nicht impulshaft zu
reagieren, sondern nehme dir ein wenig Zeit, um unterschiedliche
Handlungsmöglichkeiten abzuwägen.
4. Sei offen gegenüber anderen Strategien.
5. Versuche Veränderungen in der Umgebung wahrzunehmen, bevor sie
tatsächlich eintreffen.
6. Stelle Fragen zum konkreten Problem – je besser du es verstehst, je eher sollest
du es zukünftig vermeiden können.
7. Bewerte die Risikotoleranz aller Involvierten, wenn du neue Wege einschlägst.
Isabel ärgert sich: Sie hat während einer Prüfung entdeckt, dass die Schüler/innen ein grosses
Plakat mit allen wichtigen Daten des Geschichtstests über der Tafel aufgehängt hatten. Sie hat
daraufhin die Prüfung abgebrochen. Nun hat ein Wochenende Zeit, bevor sie wieder in die
Klasse kommt und die Prüfung wiederholt. Sie möchte darüber nachdenken, welche
Alternativen sie gehabt hätte. Welche Fragen könnte sie sich dazu stellen?
Gerd Gigerenzer hat als Kognitionspsychologe einen spezifischeren Zugang zum
adaptiven Denken. Eine von ihm gezogene Folgerung ist, dass insbesondere in den
Schulen mehr Wert auf «Risk Literacy» (von ihm übersetzt als «Risikointelligenz») gelegt
werden sollte. Ihm zufolge sollte das bereits in der Primarstufe beginnen (im Interview mit
Streck 2014, S. 840). Gigerenzer plädiert dafür, dass es Spass machen soll, über
Handlungsalternativen und Konsequenzen nachzudenken: «Let’s dare to know – risks and
responsibilities are chances to be taken, not avoided.“ (Gigerenzer 2012, S. 260, zitiert
nach Streck 2014, S. 833). Gigerenzer zufolge sind stochastisches und statistisches
Denken für das Leben nach der Schule weit wichtiger als Geometrie oder Algebra (im
Interview mit Streck 2014, S. 839).
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8 Kritische Stellungnahme und Ausblick
Der Term «Novel and Adaptive Thinking» ist keine Begrifflichkeit, die eindeutig definiert
ist. Die Bezeichnung spielt – abgesehen von Gigerenzers spezifischen Blick auf adaptives
Denken – in der psychologischen Fachliteratur keine Rolle. Der Begriff wird praktisch
ausschliesslich in der populären Literatur zu neuen Herausforderungen der
Digitalisierung in der Arbeitswelt aufgegriffen, dies auch nur oberflächlich. Die hier
einleitend vorgestellte Definition nach Davies et al. (2011) wird im aktuellen Buch von
Tracey Wiley (2018) kurzerhand Chastney (2014) zugeschoben, weil er sie in einem
gleichnamigen Weblogbeitrag ohne Quellenangabe übernimmt.
Dennoch erscheint allgemein die zunehmende Notwendigkeit einer solchen Fähigkeit,
neuartige Lösungen zu entwickeln, schlüssig. Welche Massnahmen dazu dienen, wie man
die notwendigen Strukturen dazu erhält oder wie man die eigenen Denkmuster aufbricht,
bedarf dabei weiterer Überlegungen und Untersuchungen. Hier könnten Verfahren aus
der Innovationsentwicklung gezielt eingesetzt werden, um die Fähigkeit zu neuartigem
Denken zu trainieren.
Zum Vertiefen
Folgende Quellen zum Thema «Novel and Adaptive Thinking» sind kostenfrei online
zugänglich und sind zur Vertiefung zu empfehlen:
• Die Studie mit der Forderung nach «Novel and Adaptive Thinking» von Davies,
Fidler & Gorbis (2011): Future Work Skills. Palo Alto, CA: Institute for the
Future for the University of Phoenix Research Institute. URL:
http://www.iftf.org/futureworkskills/
• Eine kurze deutschsprachige Einführung zur «Risikointelligenz» nach
Gigerenzer:
Wirtschaftspsychologie Aktuell (2013). Faustregeln helfen. Beitrag vom
29.4.2013, URL: https://www.wirtschaftspsychologie-
aktuell.de/strategie/strategie-20130429-gerd-gigerenzer-faustregeln-
helfen.html
Literatur
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https://www.hamiltonproject.org/assets/legacy/files/downloads_and_links/The_Polarization_of_Job_O
pportunities_in_the_US_Labor_Market-_Implications_for_Employment_and_Earnings.pdf
Chastney, G. (2014). The Productive Workplace: The Novel and Adaptive Thinking Space. Weblogbeitrag
vom 4.7.2014, URL: https://grahamchastney.com/2014/04/07/the-productive-workplace-the-novel-and-
adaptive-thinking-space/
Curious Lion Learning (2018). 2020 Skills: Novel and Adaptive Thinking. Beitrag vom 6.3.2018, URL:
https://curiouslionlearning.com/blog/2018/03/06/2020-skills-novel-and-adaptive-thinking/
Davies, A.; Fidler, D. & Gorbis, M. (2011). Future Work Skills. Palo Alto, CA: Institute for the Future for the
University of Phoenix Research Institute. URL: http://www.iftf.org/futureworkskills/
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Lizenz
CC BY 4.0 International – Sandra Schön (BIMS e.V.) für das Projekt
«Extended (non technical) Digital Skills (EntDS)» an der PH Luzern
URL zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Über die Autorin
Dr. Sandra Schön ist promovierte Erziehungswissenschaftlerin und
forscht und arbeitet im Themenfeld von IT-Innovationen für das Lernen
und die Arbeit. Sie ist Senior Researcher bei der Salzburg Research
Forschungsgesellschaft und beim gemeinnützigen BIMS e.V. (Bad
Reichenhall) in unterschiedlichen Projekten zum freien Zugang zu
Bildung aktiv.