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Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungstrends

Authors:
Schließungskämpfe und
Usurpationsstrategien
Zum Sprachwechsel von
Rätoromanen im Kontext
gesellschaftlicher
Entwicklungstrends*
Beat Fux, Benjamin Gröschl,
Ruth Abramowski
1. Einleitung
Betritt man beispielsweise in Fardün (einer kleinen Gemeinde im Schams)
den Postbus oder besucht man in Müstair (Ort im Münstertal) ein Restau-
rant, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem freundlichen “bùn gi”
begrüßt. Wer, wie im Übrigen auch die Autoren dieses Aufsatzes, der rätoro-
manischen Sprache nicht mächtig ist, kann seine Unterhaltung auch in diesen,
zum traditio nell romanischsprachigen Gebiet1 zählenden Ortschaften, immer
problemlos in Deutsch fortsetzen. Die Ortsansässigen wechseln spontan je
nach Bedarf in den Bündnerdialekt oder in die deutsche Standardsprache. Sie
sind sich offensichtlich bewusst, einer sprachlichen Minorität anzugehören,
ein Umstand, der ihnen ein hohes Maß an sprachlicher Akkomodation ab-
trotzt.2 Während Einheimische, wenn sie unter sich sind, in den traditionell
* Die generische Bezeichnung Rätoromanen wird in diesem Aufsatz geschlechtsneutral verwendet und bezieht
sich selbstverständlich auf Rätoromaninnen und Rätoromanen. Dies gilt auch für ähnlich generische Be-
zeichungen, wie z.B. Autoren.
1 Das Konzept “traditionell romanischsprachiges Gebiet” wurde von Jean-Jacques Furer (1981) entwi-
ckelt. Das Gebiet umfasst jene Gemeinden, die 1860 eine romanische Mehrheit aufwiesen. Die damaligen
Sprachgrenzen blieben zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert weitgehend stabil (cf. dazu auch Diekmann
1983, 193–194).
2 Ein allgemeiner Überblick über die Verbreitung von Diglossie und Bilinguismus insbesondere in der
Deutschschweiz ndet sich bei Siebenhaar und Wyler 1997.
Ladinia XL (2016), 119–189.
ISSN 1124–1004; © Istitut Ladin Micurá de Rü, San Martin de Tor (BZ).
120 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
romanischsprachigen Gebieten überwiegend ihre lokalen Mundarten verwen-
den, sind bilinguale Sprachpraktiken weit verbreitet.
Nur schon diese Alltagsbeobachtung illustriert, dass es nicht unproblematisch
ist, überhaupt vom “Rätoromanischen” zu sprechen. Da wir uns aus einem
soziologischen Blickwinkel der Frage nach Veränderungen im Sprachgebrauch
nähern wollen, verwenden wir den Begriff zur Bezeichnung der Bevölkerungs-
gruppe im Kanton Graubünden, welche eine Variante der zur rätoromanischen
Sprachfamilie3 gehörigen Dialekte im Alltag mehrheitlich oder ausschließlich
verwendet. Entscheidendes Kriterium für die Zuordnung einer Person zur
bünderromanischen Bevölkerung sind ihre Selbstdeklarationen in den schwei-
zerischen Volkszählungen bis 2000. Im Visier steht somit eine bestimmte
sprachkulturelle Identität. Wiederum soll anhand einer Alltagsbeobachtung
auf einige aus unserer Sicht relevante Merkmale dieses bündnerromanischen
Selbstverständnisses aufmerksam gemacht werden. Im Kanton Graubünden
werden die Ortstafeln in der lokalen Mehrheitssprache oder zweisprachig be-
schriftet. Einen Ortstafelstreit, wie beispielsweise in Kärnten, hat es in der
Schweiz nie gegeben. Auch wenn es sich dabei um ein schwaches Indiz han-
delt, darf gleichwohl hervorgehoben werden, dass sich das Nebeneinander der
Sprachen und Idiome durch eine relative Koniktarmut auszeichnet. Im Laufe
der Geschichte haben sich das rätoromanische Sprachgebiet bzw. die jeweils
distinkten Regionen massiv verkleinert. Ausgedehnt haben sich vor allem jene
Regionen, in denen Deutsch gesprochen wird, was tendenziell zu einer Ver-
inselung des Rätoromanischen beiträgt. Zu vermuten ist, dass eine Vielzahl
von Faktoren an dieser Entwicklung beteiligt ist. Das traditionell rätoroma-
nische Gebiet liegt im alpinen Raum, ist stark dörich und agrarisch geprägt
und vergleichsweise dünn besiedelt. Diese strukturell periphere Lage korres-
pondiert mit einem Prestigegefälle (cf. richter 2005, 855–856) des Rätoroma-
nischen in dem Sinne, dass die Rätoromanen die Chancen für eine Expansion
Ihrer Sprachkultur für nahezu aussichtslos halten, sich anpassen und bilin-
gual verhalten. Vergleicht man das Rätoromanische mit anderen Minderheiten-
oder Regionalsprachen (z.B. Gälisch, Baskisch, Bretonisch oder Sorbisch),4 so
3 Aus der innerlinguistischen und soziolinguistischen Perspektive werden meist Bündnerromanisch, Dolomi-
tenladinisch und Friaulisch der rätoromanischen Sprachfamilie zugeordnet. Über die Zweckmäßigkeit dieser
Zuordnung herrscht innerhalb der Sprachwissenschaften kein Konsens (cf. liver 2010, 15–28).
4 Zur terminologischen Problematik von Minderheiten- und Regionalsprache (cf. raDatz 2013). Er hält
den Begriff Minderheitensprachen in soziologischen Zusammenhängen für zweckmäßig, während er
als soziolinguistisches Konzept unzureichend sei. Bei den Minderheitensprachen sollte zudem zwischen
autochthonen und allochthonen Minderheitensprachen unterschieden werden. Beide Formen seien
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Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
beobachtet man beim Bündnerromanischen kaum Anzeichen für eine Folklo-
risierung der Sprache. Erklärbar ist dies wohl dadurch, dass in der föderalis-
tisch organisierten Gesellschaft der Schweiz die lokalen Besonderheiten der
rätoromanischen Minorität grundsätzlich respektiert und anerkannt werden
(z.B. verfassungsmäßige Anerkennung als Landessprache).
Trotz der Verankerung des Rätoromanischen als eigenständige und eigenwillige
periphere alpine Kultur, die innerhalb der schweizerischen Gesellschaft aner-
kannt und respektiert wird, hat die vierte Landessprache der Schweiz stark an
Gewicht eingebüßt. Im UNESCO Atlas der gefährdeten Sprachen (cf.
moSeley
2010) wird sie als “denitely endangered” bezeichnet. Jean- Jacques Furer
schreibt in seiner im Auftrag des Bundesamts für Statistik verfassten Studie:
Es steht sehr schlecht um das Romanische. [...] Es sind nur noch Bruchstücke dessen vorhan-
den, was traditionell sein Eigen war, und selbst diese Bruchstücke halten nur noch eher schlecht
als recht. Das Schlimmste ist, dass sich der Auösungsprozess kontinuierlich fortsetzt.5
aufgrund ihres Status zu Bilinguismus und Diglossie gezwungen. Er billigt den allochthonen Minderheiten-
sprachen (d.h. immigrant minority groups) vielfältigere Anpassungsoptionen zu.
5 Furer 2005, 127
0,0
0,2
0,4
0,6
0,8
1,0
1,2
1,4
1,6
1,8
2,0
0
10.000
20.000
30.000
40.000
50.000
60.000
70.000
1803
1810
1820
1830
1840
1850
1960
1970
1880
1888
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1910
1920
1930
1941
1950
1960
1970
1980
1990
2000
2010
2014
Abb. 1: Indikatoren zur Entwicklung des Rätoromanischen, 1803–2014.
Anz. Personen (linke Skala)
Anteil an der Schweizer Bevölkerung (rechte Skala)
Jahr
Anzahl Rätoromanisch-Sprecher
Prozent
122 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Zur Entwicklung des Rätoromanischen
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwendete im Kanton Graubünden eine Mehr-
heit der Bevölkerung (ca. 36.700 Personen) die rätoromanische Sprache.6 Kurz
nach der Konstituierung der modernen Eidgenossenschaft zählte man in der
ersten schweizerischen Volkszählung, die 1850 durchgeführt wurde, 42.439 Rä-
toromanen, was einem Anteil von 1,77% der schweizerischen Bevölkerung ent-
spricht. Innerhalb des Kantons Graubündens bildete das die größte Sprachgrup-
pe (47,2%). Die entsprechenden Anteile der Deutsch- und Italienischsprachigen
beliefen sich auf 39,5% respektive 13,2%. Doch bereits 1880 verlor das Rätoro-
manische diese Vorrangstellung und wurde von den Deutschsprachigen überholt
(RR: 39,8%; Dt: 46,0%). In den folgenden Dekaden und bis ins Jahr 1910 setzte
sich diese Verdrängung kontinuierlich fort, und zwar im Unterschied zur italie-
nischsprachigen Bevölkerung Graubündens, deren Anteil sich damals aufgrund
von Migrationsgewinnen erhöhte. Die Erosion des Rätoromanischen wird be-
sonders deutlich ersichtlich, wenn man die Sprachgruppe an der schweizerischen
Bevölkerung relativiert (cf. Abb. 1). In der Folgezeit (1910 bis 1950) dürfte vor
allem die Konsolidierung einer nationalen Identität, die wesentlich auf dem po-
litischen Föderalismus sowie der konfessionellen und sprachlichen Vielfalt
7 der
Schweiz fußte, dazu beigetragen haben, dass die Anteile stagnierten. Im Gleich-
schritt mit dem Strukturwandel, dem konjunkturellen Aufschwung und der Ab-
wanderung beschleunigte sich der Rückgang der romanischen Sprache zwischen
1950 und 1970 aber wieder. In der Dekade 1970–1980 (Ende der Hochkon-
junktur; Erdölkrise 1973) sowie seit der Jahrtausendwende (Wirtschaftskrisen)
lassen sich weitere Stagnationsphasen feststellen. An der generellen Entwicklung
lässt sich aber nichts deuteln: Der Anteil der Rätoromanen an der schweizeri-
schen Bevölkerung ist zwischen 1850 und 2014 von 1,77% auf 0,55% und somit
um mehr als zwei Drittel eingebrochen. Innerhalb des Kantons Graubünden
6 Die Indikatoren zur Erfassung des Rätoromanischen variieren über die Zeit. Vor der Volkszählung 1880
wurde nach der Hauptsprache des Haushalts gefragt. In den Volkszählungen 1880 bis 1980 wurde die Haupt-
sprache (Muttersprache) ermittelt, was sowohl Über- als auch Unterschätzungen zur Folge haben dürfte:
Personen, die ihren Lebensmittelpunkt außerhalb der Stammgebiete des Rätoromanischen haben und die
Sprache im Alltag nicht verwenden, können sich als Rätoromanen deklarieren. Umgekehrt werden Allo-
chthone, welche das Rätoromanische im Berufsleben oder in der Familie verwenden, nicht erfasst. In den
Volkszählungen 1990 und 2000 wurden einerseits die Hauptsprache und andererseits die zu Hause respektive
in Beruf und Schule gesprochene Sprache ermittelt. Nach 2000 wurden die Volkszählungen durch eine Re-
gisterzählung und eine Strukturerhebung (Stichprobe) ersetzt. Dort wird ebenfalls die Hauptsprache erfragt.
7 In dieser Zeit bemühte sich eine große Zahl an romanischen Sprachvereinen um den Erhalt und die
Förderung des Rätoromanischen. Diese schlossen sich 1919 zu einem Dachverband mit einem öffentlich-
rechtlichen Auftrag, der Lia Rumantscha, zusammen.
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Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
hat sich das Romanische immer stärker zu einer minoritären Sprache entwickelt,
die sich in einer Konkurrenzsituation zu anderen Idiomen (insbesondere mit dem
Deutschen) bendet. Darüber hinaus geht dieser Erosionsvorgang einerseits mit
einer räumlichen Konzentration der Rätoromanen auf ihre traditionellen Stammlan-
de und andererseits mit funktionalen Differenzierungen des Sprachverhaltens einher.8
Dass wir bei dieser kursorischen Skizzierung der Entwicklung des Rätoromani-
schen einerseits die Kovariation mit der wirtschaftlichen Entwicklung und ande-
rerseits jene mit sprachpolitischen Bemühungen um den Erhalt der sprachlichen
Identität sowie Prozessen der Identitätsbildung betonen, hängt mit unserer For-
schungsfrage zusammen. Wir stützen uns ebenso wie ein Großteil der Literatur,
die sich mit der Verbreitung der rätoromanischen Sprache beschäftigt, auf die
Selbstdeklarationen in den schweizerischen Volkszählungen. Während die the-
matisch einschlägigen Studien ausnahmslos querschnittsartige Forschungsdesigns
verwenden, also die Ergebnisse einzelner Messzeitpunkte aneinander reihen, ste-
hen uns echte Längsschnittdaten zur Verfügung. Matthias bopp hat in Koope-
ration mit dem Bundesamt für Statistik die Personendaten der Volkszählungen
1970 bis 2000 anhand von sich nicht verändernden Identikationsvariablen (u.a.
Geschlecht, Geburtsdatum, Geburts- und Bürgerort u.a.) auf der Individualebe-
ne verknüpft. Das Verfahren wird als Record Linkage bezeichnet (bopp et al. 2009).
Auf diesem Weg erhalten wir einen Längsschnittdatensatz, welcher die Primärsprache
aller Rätoromanischsprachigen (Grundgesamtheit) an mehreren diskreten Zeit-
punkten erfasst. Mit anderen Worten: unseren Auswertungen liegen die Sprachbio-
graen der romanischen Bevölkerung zugrunde. Auf diesem Weg wird es möglich,
empirisch zu prüfen, welche Faktoren ein Individuum innerhalb seines Lebens-
laufs zur Änderung seines Sprachverhaltens veranlassen. Auf dieser Grundlage
lässt sich ermitteln, in welchem Ausmaß beispielsweise der Wohnortswechsel im
Zusammenhang mit dem Antritt einer Lehre oder weiterführenden Schule oder
die Heirat mit einer anderssprachigen Person zur Erosion des Rätoromanischen
beiträgt. Aufgrund unserer Datenquelle ist es naheliegend, in der vorliegenden
Studie vor allem den sozialstrukturellen Faktoren des Sprachwandels Beachtung
8 Hervorzuheben ist die Diglossie zwischen der lokal/regional gesprochenen Formen des Romanischen und
den fünf regionalen standardisierten Schriftformen (auch Schulsprachen), Idiome genannt. Die romanische
Standardsprache Rumantsch Grischun gilt seit 1997 als ofzielle Form für die kantonale Verwaltung. Ihre for-
cierte Einführung als Alphabetisierungssprache seit 2007 im Münstertal, im Surmeir und in einigen Gemein-
den der Surselva erwies sich als ein Misserfolg und nur das Surmeir verwendet es noch heute (cf. coray 2010,
159–161.). Es konnte bisher keine systematische domänenspezische Sprachwahl (Schule, Beruf, Familie
usw.) zwischen Deutsch und Rätoromanisch nachgewiesen werden (cf. Solèr 1986). Hingegen ist die Diglos-
sie Schweizerdeutsch (Dialekt) und Standarddeutsch, auch Schriftdeutsch genannt, beträchtlich.
124 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
zu schenken. Zwar lassen sich auch Querschnittsdaten sehr fein aufschlüsseln (cf.
etwa Furer 2005), jedoch bleiben die kausalen Zusammenhänge aus methodolo-
gischen Gründen ungeklärt (blackbox-Problem). Wir meinen daher, dass sich mit
unseren Daten die Mikrodynamik, welche dem Schwund des Rätoromanischen
zugrunde liegt, präziser erfassen lässt, respektive dass auf diesem Weg Licht in
die blackbox gebracht werden kann. Gleichwohl dürften sich unsere Befunde vom
derzeitigen Wissensstand nicht fundamental unterscheiden.
In theoretischer Hinsicht basieren wir unsere Analysen auf das Konzept der
sozialen Schließung. Der auf Max Weber zurückgehende und von Frank parkin
und Jürgen mackert weiterentwickelte Erklärungsansatz besagt, dass sozialer
Wandel – und damit auch Sprachwandel – als komplexes Wechselspiel von Ein-
und Ausschlüssen aufgefasst werden kann. Die Kehrseite solcher In- und Exklu-
sionen sind Bestrebungen, die jeweiligen Ausschlussregeln zu beseitigen oder,
anders ausgedrückt, Versuche, neue Territorien zu usurpieren.
Wir fokussieren unsere Untersuchung vor allem auf Aspekte der sozialen und
räumlichen Mobilität. So soll gezeigt werden, dass den Romanischsprachigen der
Zugang zu statushohen Bildungs- und Berufspositionen weitgehend erschwert
wird. Wer bildungsmäßig oder beruich vorankommen will, muss entweder weg-
wandern und auf seine romanische Primärsprache verzichten oder ist zumindest
genötigt, sie parallel und bereichsspezisch neben anderen Gebrauchssprachen zu
verwenden. In diesem Sinne usurpiert das überwiegend deutschsprachige Zent-
rum (und besonders das Bildungs- und Wirtschaftssystem) die traditionell romani-
schen Gebiete. Dabei handelt es sich jedoch nur um die eine Seite des Prozesses.
Die autochthone romanische Bevölkerung bedient sich des gleichen Handlungs-
repertoires (Schließung und Usurpation), um den Konkurrenzdruck des Deut-
schen einzudämmen. So zielen die Instrumente der Sprachpolitik und -förderung
(von rätoromanischen Massenmedien, über Unterrichtsmaterialien in den lokalen
Idiomen bis hin zur Propagierung des Rumantsch Grischun als romanische Standard-
sprache) auf das Ziehen und die Erweiterung der Grenzen des rätoromanischen
Sprachterritoriums (kraaS 1992 oder richter 2005 sprechen in diesem Zusam-
menhang vom Entstehen von Sprachinseln). Auch die Kontextualisierung des
Sprachgebrauchs (zu Hause, in der Schule, im Beruf) oder die Pendlermigration
lassen sich mit diesen analytischen Kategorien erfassen.9
9 Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, möchten wir betonen, dass soziale Schließungen und
Usurpationen legitime Formen der ethnischen Selbstbehauptung darstellen, deren Notwendigkeit wir in
keiner Weise in Zweifel ziehen. Was den Erfolg von romanischen Usurpationsstrategien angeht, so liefert
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Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Mithilfe der Längsschnittdaten können diese Schließungsprozesse relativ detail-
liert rekonstruiert werden. Auf unsere forschungsleitenden Hypothesen werden
wir in Kapitel 3 ausführlich zurückkommen.
2. Forschungsstand
Wir beabsichtigen hier nicht, den Forschungsstand zur Entwicklung der bündner-
romanischen Sprache umfassend zu rekapitulieren. Vielmehr geht es in diesem
Kapitel um die Einbettung unserer Untersuchung in den aktuellen Forschungs-
kontext. Auf der institutionellen Ebene ist die rätoromanische Sprachforschung
sehr gut etabliert. Lehrstühle für rätoromanische Sprach- und Literaturwissen-
schaft bestehen an den Universitäten Zürich, Fribourg und Genf (bis 2002 auch
an der Universität Bern). Zwischen 1985 und 1997 gab es ferner eine Professur
für “Rätoromanische Literatur und Kultur” an der Eidg. Technischen Hoch-
schule Zürich, die seither als halbe Professur gemeinsam mit der Universität
Zürich getragen wird. 2011 wurde in Fribourg als Kooperationsvorhaben von
Universität und Pädagogischer Hochschule ein wissenschaftliches Kompetenz-
zentrum für Mehrsprachigkeit eingerichtet, das neben eigener Forschung auch
Dokumentationsaufgaben übernimmt. Die Lia Rumantscha sowie das in Chur
domizilierte Institut für Kulturforschung Graubünden unterhalten ebenfalls online ab-
rufbare Datenbanken.
Einen aktuellen Überblick über die Entwicklung der rätoromanischen Sprach-
forschung liefert die Romanistin Ricarda liver in ihrem Buch Rätoromanisch –
eine Einführung in das Bündnerromanische (2010). Wir fokussieren im Folgenden
auf soziolinguistische sowie kultur- und sprachsoziologische Arbeiten, die für
unsere Fragestellung von Belang sind. Die Erforschung der Mehrsprachigkeit
im Kanton Graubünden begann – sieht man von einer kaum rezipierten Dis-
sertation von Uriel Weinreich ([1951] 2011) ab – erst in den späten 1970er
Jahren (cathomaS 1977; Solèr 1983) und zeichnete sich anfänglich durch star-
ke lokale Bezüge aus. Etwa zeitgleich erschien die umfangreiche Studie von
Robert H. billigmeier (1983), welche die Entwicklung des Rätoromanischen
auch Jean-Jacques Furer (2005), der bezüglich der Bedrohungslage des Rätoromanischen eher pessimis-
tisch argumentiert, Indizien. So weist er beispielsweise nach, dass in den traditionell romanischen Gebieten
der Anteil jener, die in der Schule oder im Beruf Romanisch sprechen, sich seit 1990 leicht erhöht hat (cf.
Furer 2005, 61). Gerade weil unsere Längsschnittdaten es möglich machen, nicht nur die Schlusssaldi,
sondern die effektiven Zu- und Abströme bei den jeweiligen Sprachgruppen zu ermitteln, kann unsere
Studie die bisherigen Befunde ergänzen.
126 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
aus einer kulturhistorischen und soziologischen Perspektive beleuchtet. Der
Mannheimer Romanist Erwin Diekmann legte mit seinem Aufsatz Das Räto-
romanische in der Schweiz (1996) eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Sozio-
linguistik und Sprachpolitik vor. Seither sind einige weitere Arbeiten publiziert
worden.
Eine rezente Studie von grünert et al. (2008) beschäftigt sich mit dem in-
dividuellen Sprachgebrauch, den Sprachkompetenzen, den Einstellungen zu
den Sprachen sowie mit der Sprachpraxis der Institutionen. Sie verfolgt einen
soziolinguistisch-ethnologischen Ansatz und berücksichtigt auch die Situati-
on des Italienischen im Kanton Graubünden. Regula cathomaS, Koautorin
des erwähnten Bandes, hat eine detailliertere Auswertung ihrer Befragung zum
Sprachverhalten von rätoromanisch- und deutschsprachigen Personen in den
Domänen Familie, Arbeitsplatz und Schule, welche sie in ausgewählten Ge-
meinden Graubündens durchführte, in Buchform vorgelegt. Diese Arbeit ver-
tieft damit Befunde, wie sie seit der Volkzählung 1990 vom Bundesamt für
Statistik veröffentlicht werden. Den Arbeiten von Renata coray liegt ebenfalls
ein qualitativ-ethnograscher Ansatz zugrunde. Ihr Buch Von der Mumma Ro-
montscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun (2008) analysiert die sprachpe-
gerischen und -politischen Debatten zum Bündnerromanischen und die darin
verbreiteten Sprachideologien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Ihre im
Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms “Sprachenvielfalt und Sprach-
kompetenz” in der Schweiz entstandene Studie Rätoromanische Sprachbiograen –
Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden (2009) zielt auf eine Typologi-
sierung von Sprachidentitäten ab. Mit unseren eigenen Hypothesen knüpfen
wir direkt an diese Typen an und versuchen diese für quantitative Zwecke zu
nutzen.
Aus unserer schließungstheoretischen Optik interessieren ferner Untersuchun-
gen, welche sich mit der rätoromanischen Sprachpolitik analytisch auseinan-
dersetzen. Neben der bereits erwähnten Studie von coray (2008), welche die
entsprechenden Bemühungen diskurstheoretisch rekonstruiert und in einen his-
torischen Rahmen verortet, gilt es die Arbeit von berthele 2001 zu nennen,
welche die schweizerische Sprachpolitik in Bezug zu entsprechenden Bemü-
hungen anderer Länder setzt. Ein Aufsatz von boSSong (1995) nähert sich der
Frage aus einer fundamentalen Perspektive. Er fokussiert das Paradox, wonach
im Zuge der Modernisierung die Erosion von minoritären Sprachen sowie die
Tendenz zur Mehrsprachigkeit unabdingbar erscheinen, und gleichwohl die par-
tikularen Kulturen gegen das Vordringen der dominanten Sprachen abgeschot-
tet werden. Eine andere Stoßrichtung verfolgt richter in ihrer materialreichen
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Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Habilitationsschrift aus dem Jahre 2005. Sie dokumentiert die Sprachenordnung
und den Minderheitenschutz im schweizerischen Bundesstaat aus einer juristi-
schen Perspektive und untersucht, inwiefern das Recht zur Sicherung des Spra-
chenfriedens beiträgt.
Für unseren Forschungszusammenhang von Bedeutung ist ferner die sozialgeo-
grasche Untersuchung von kraaS (1992). Die umfangreiche Dissertation diag-
nostiziert einen “Krebsgang” des Rätoromanischen, der bereits in der Spätantike
begonnen hat. Sie argumentiert, dass zum einen endogen geograsche Faktoren
wie die alpine Lage zur Erklärung dieser Entwicklung beitragen, und zum an-
deren makrostrukturelle Rahmenbedingungen wie die periphere Lage vis-à-vis
eines dominanten germanischen Zentrums eine zentrale Rolle spielen.
Eine beachtliche Vielfalt detailreicher Analysen, die aus unterschiedlichen
disziplinären Blickwinkeln argumentieren, charakterisiert den heutigen For-
schungsstand zur Situation des Rätoromanischen. Auf eine Forschungslücke
darf indes hingewiesen werden. Soziologische Untersuchungen, welche die
methodische Lücke zwischen qualitativ-ethnograschen Mikroanalysen einer-
seits und auf Aggregatdaten basierende makrosoziologische Ansätzen schlie-
ßen, existieren unseres Wissens derzeit nicht. Dementsprechend werden die
Auswirkungen von institutionellen (z.B. Lebensverläufe, Familienbildungspro-
zesse) und sozialstrukturellen Faktoren (Effekte der Bildungsexpansion oder
der Arbeitsmarktstrukturen) kaum zur Kenntnis genommen. Wir hoffen mit
unserem Aufsatz einen Beitrag zur Schließung dieses Forschungsdesiderats
leisten zu können.
3. Design, Theorie und Hypothesen
Das Verständnis von Sprachwechsel als komplexes soziales Phänomen erfor-
dert eine differenzierte Betrachtung und Analyse, einschließlich einer diszi-
plinübergreifenden Diskussion. Während sich Linguisten vorzugsweise der
Herkunft und der Entwicklung von Sprachen, im Spezischen auch der “Posi-
tionierung eines Dialekts inmitten des ihn umgebenden Raums bzw. innerhalb
der benachbarten Sprachlandschaft(en)” (bauer 2010, 7) widmen, und Psy-
chologen sich auf kognitive Fähigkeiten respektive Fertigkeiten von Individu-
en konzentrieren, messen Soziologen sowohl den gesellschaftlichen Rahmen-
bedingungen, als auch den individuellen Merkmalen eine zentrale Bedeutung
bei. Insbesondere gilt es, eine mehrdimensionale Perspektive zu verfolgen,
um der Komplexität sozialer Prozesse, in unserem Fall dem Sprachwechsel
128 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
des Rätoromanischen,10 wissenschaftlich gerecht werden zu können. In An-
lehnung an die bereits im Forschungsstand erwähnte qualitative Studie von
coray (2009) erfolgt zunächst eine Beschreibung der Sprache als individuelles
Identikationsmerkmal, mittels der erste Ursachen des Sprachwandels auf der
Mikroebene konstatiert werden können.
3.1 Sprache als Identifikationsmerkmal einer Gemeinschaft
Renata coray (2009) entwickelte anhand von sprachbiograsch-narrativen In-
terviews (die jeweils im Rahmen eines Zweitinterviews durch offene Leitfaden-
fragen vertieft wurden) mit 31 Personen aus den Bildungsgruppen Sekundarstu-
fe I und II aus je einer Gemeinde der Surselva und des Unterengadins induktiv
fünf Idealtypen sprachlicher Identikationsmuster des Rätoromanischen (cf.
coray 2009, 3–6):
1. Verwurzelte: Der erste Typus nimmt Bezug auf eine Gruppe von Personen,
die eine starke Verbundenheit mit dem Rätoromanischen betonen – Räto-
romanisch wird als “Moment der eigenen Persönlichkeit” bezeichnet (op.
cit., 4). “Verwurzelte” vermeiden nicht nur soziale Kontakte zu “Anders-
sprachigen” (insbesondere zu Deutschen), es werden auch große Mühen
der Aneignung von Fremdsprachen (im Spezischen der Deutscherwerb)
thematisiert. Der Erfahrungshorizont von “Verwurzelten” ist auf den Ge-
burts- und Wohnort fokussiert, sozialer und geograscher Mobilität wird
nach ihrer eigenen Einschätzung keine Bedeutung beigemessen. Insbeson-
dere ältere Personen und Frauen scheinen in diesem Typus überrepräsen-
tiert zu sein.
2. Kommunikative: “Kommunikative” betonen die Freude an sozialen Kontakten;
sie kommunizieren in sämtlichen Sprachen (Romanisch, Deutsch usw.). Ihr
Interesse an Sprachen steht in Zusammenhang mit vielfältigen Kommuni-
kationsaktivitäten. Romanisch wird metaphorisch als “Schlüssel zu anderen
Sprachen” beschrieben. Es handelt es sich i. d. R. um einen Personenkreis,
der längere Zeit außerhalb Graubündens im nicht deutschsprachigen Raum
verbracht hat und wieder nach Graubünden zurückgekehrt ist.
10 Mit Rätoromanisch wird hier ausschließlich Bezug auf das Bündnerromanische genommen (cf. auch An-
merkung 3).
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Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
3. Aufstiegs- oder Berufsorientierte:Aufstiegs- oder Berufsorientierte” verfügen
ebenfalls über ein ausgeprägtes Interesse an Sprachen, doch im Gegensatz
zu den “Kommunikativen” nicht aufgrund sozialer Kontakte, sondern auf-
grund ihrer Bemühungen um sozialen Aufstieg. Ähnlich wie der zweite Ty-
pus wird auch hier Romanisch als Schlüssel zu anderen Sprachen betrachtet.
Rätoromanisch wird als emotional hoch bewertet, jedoch wird zugleich die
Notwendigkeit von Fremdsprachenkenntnissen betont. Mehrsprachigkeit
wird im Gegensatz zu den “Kommunikativen” insbesondere als Instrument
für sozialen Aufstieg genutzt. Sie genießen soziale und geograsche Mobi-
lität und zeichnen sich durch eine geringere Ortsverbundenheit aus. Perso-
nen mit hohem Bildungsstand bzw. “Berufsorientierte” scheinen überre-
präsentiert zu sein.
4. Pragmatiker: “Pragmatiker” empnden Rätoromanisch als emotional nichts
Besonderes, sie erachten Sprache als funktional, als Notwendigkeit. Der
Nutzen anderer Sprachen, insbesondere Deutsch, wird als unabdingbare
Alternative (im Arbeitsumfeld) hervorgehoben, während die Ausübung des
Rätoromanischen eher auf den Kreis der Familie begrenzt ist. Personen, die
zweisprachig aufgewachsen sind, scheinen in dieser Gruppe stark vertreten
zu sein, wiewohl “Pragmatiker” sich selbst als sprachunbegabt und uninte-
ressiert beschreiben.
5. Nicht-sprachlich Orientierte: “Nicht-sprachlich Orientierte” messen der Sprache
keine Bedeutung bei. Sprache sei kein Sinnbild ihrer Identitätskonstruktion.
Aufgrund ihrer Ortsverbundenheit, einer geringen sozialen und geogra-
schen Mobilität, wird der Sprache keine Aufmerksamkeit gewidmet. Andere
Themenbereiche werden als relevanter erachtet.
Anhand Renata corayS Typologie wird ersichtlich, dass aus mikrosoziologi-
scher Perspektive individuelle Merkmale, Identitätskonstruktionen und Le-
bensläufe von Relevanz sind, um Prozesse eines Sprachwechsels zu analysie-
ren. Faktoren wie Alter, Geschlecht und Bildungsstand tragen zur Erklärung
individueller Sprachbiograen bei. Bezugnehmend auf die Altersspezik in-
nerhalb des Typus der “Verwurzelten” ist die Annahme naheliegend, dass der
Prozess der Modernisierung einen zunehmenden Druck auf Sprachgruppen
ausübt und darüber hinaus einen Rückgang von Minderheitensprachen und
eine Expansion von dominanten Sprachen hervorrufen kann. Insbesonde-
re scheint der individuelle Lebenslauf zentral für Wandlungsprozesse. Bei-
spielsweise sind beruiche Mobilität oder Wohnortswechsel Kriterien, die zur
Übernahme einer Fremdsprache und zur Abnahme der Ausübung der Haupt-
130 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
sprache11 führen können (hier: Zuströme zum Bündnerromanischen oder
Abströme vom Bündnerromanischen). Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass
die Sprache keineswegs als xer Bestandteil, vielmehr als stetig wandelbares,
nicht lineares Ereignis zu erfassen ist, wofür Längsschnittinformationen über
Sprachbiograen von Nöten sind. Bisherige Analysen basierten überwiegend
auf Querschnittsdaten, doch erfordert eine adäquate Analyse der Prädiktoren
individueller Sprachbiograen, die eine Erosion des Rätoromanischen hervor-
rufen können, ein Paneldesign. Gemäß diesem werden dieselben Fälle über
mehrere Messzeitpunkte befragt, wodurch Informationen über Sprachvariati-
onen im Kontext individueller Lebensläufe generiert werden.
Darüber hinaus sind nicht nur individuelle Aspekte, sondern auch strukturelle
Rahmenbedingungen sowie geograsch regionale Unterschiede zu analysieren
– eine Differenzierung zwischen den Ebenen, d.h. eine Berücksichtigung hi-
erarchischer Daten resp. geschachtelter Messwerte wird in Form eines Mehr-
ebenenansatzes12 möglich. Diese Methode erlaubt es, die Effekte der höheren
Ebene (struktureller Kontext) auf die niedrigere Ebene (Verhalten der Person)
zu bewerten (cf. hoSaya/koch/eiD 2014, 190).
Im Hinblick auf die Erklärung des Sprachwechsels des Rätoromanischen kann
zum Ersten eine Differenzierung zwischen mehreren Messzeitpunkten (Ebene
1) Aufschluss über intra-individuelle Veränderungen der Sprachbiograen ge-
währen, zum Zweiten wird ein inter-individueller Vergleich (Ebene 2) zwischen
Personen angestrebt (Personenheterogenität), und letztlich kann eine Differen-
zierung zwischen Regionen (Ebene 3) innerhalb des Kantons Graubünden zur
Erfassung struktureller Bedingungen beitragen.
Bezugnehmend auf die Theorie sozialer Schließung werden vorwiegend makro-
soziologische Faktoren, die Prozesse des Sprachwechsels begünstigen und eine
Erosion des Rätoromanischen bestärken, thematisiert.
11 Im Fragebogen der Swiss National Cohort (SNC) wurde ab 1990 die Hauptsprache, zuvor die Muttersprache
erhoben.
12 Eine Mehrebenenanalyse ist “eine Erweiterung der multiplen Regression um Effekte, die zwischen den
Ebenen variieren können” (hoSaya/koch/eiD 2014, 191). Erzielt wird die Vorhersage eines Kriteriums
durch mehrere Prädiktoren, deren Unabhängigkeitsannahme (soll heißen: einzelne Beobachtungen sind
nicht unabhängig voneinander) als verletzt unterstellt und ferner als mehrdimensional analysiert wird.
131
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
3.2 Die Theorie sozialer Schließung
Die Theorie sozialer Schließung dient als Erklärungsansatz für soziale Phäno-
mene, “in denen soziale Akteure den Versuch unternehmen, Ressourcen, Privi-
legien, Macht oder Prestige zu monopolisieren und andere Akteure davon aus-
zuschließen, und sie begreift Inklusion und Exklusion als Folge des strategischen
Handelns sozialer Akteure” (mackert 2004a, 11). Es sind gesellschaftliche Ver-
teilungskämpfe, die geführt werden, wobei der Mechanismus sozialer Schließung
impliziert, dass Akteure versuchen, aufgrund spezischer Merkmale andere Ak-
teure auszuschließen bzw. ihnen den Zugang zu materiellen oder immateriellen
Gütern zu verwehren und den strategischen Zweck der Eingrenzung von Kon-
kurrenz, d.h. der Monopolisierung ökonomischer Chancen, Teilhabe an Rech-
ten, Ressourcen, Macht sowie Prestige zu verfolgen – die Lebenschancen von
Individuen werden durch Ausschließungsstrategien beeinusst. Die Grundidee
der Theorie sozialer Schließung, zwischen sozialen Beziehungen zu differenzie-
ren, die einerseits eine Teilnahme weiterer Akteure zur Gruppenzugehörigkeit
ermöglichen, die andererseits jedoch auch Beziehungsformen berücksichtigt, die
die Teilnahme weiterer Akteure verwehren, ist auf Max WeberS (1985) “offene
und geschlossene Beziehungen”13 zurückzuführen.
Duale Schließung nach Parkin – Exklusion vs. Usurpation
Frank parkin erweiterte Max WeberS Konzept “offener” und “geschlossener”
Beziehungen. Er ist bestrebt, die Perspektive kollektiven Gegenhandelns mitzu-
denken und weiterzuverfolgen.
Zentral ist für ihn die doppelseitige Betrachtung von Ausschließung und Solidaris-
mus – eine Erweiterung der Betrachtung der Interklassenzugehörigkeiten von
Arbeit und Kapital durch Intraklassenbeziehungen innerhalb von sprachlichen,
religiösen oder ethnischen Gruppen. Nicht nur Inter-, vielmehr auch Intraklas-
senbeziehungen sind in eine Analyse gesellschaftlicher Verteilungskämpfe ein-
zubeziehen.
13 “Eine soziale Beziehung (gleichviel ob Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung) soll nach außen ‘of-
fen’ heißen, wenn und insoweit die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen
sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der
dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen ‘geschlossen’ dann, insoweit und in dem
Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken
oder an Bedingungen knüpfen” (Weber 1985, 23).
132 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Soziale Beziehungen können sich sowohl innerhalb als auch zwischen Klassen oder Schichten
abspielen. […] Beziehungen zwischen Klassen werden meistens als Ausdruck bestimmter grundle-
gender Eigenschaften des sozialen Systems verstanden, die sich aus der Eigentumsordnung,
den Herrschaftsverhältnissen oder auch der Arbeitsteilung ergeben. Untergliederungen innerhalb
von Klassen werden dagegen normalerweise unter ganz anderen Gesichtspunkten vorgenom-
men, die häug von rein nationalen Umständen geprägt zu sein scheinen. Sie weisen keine
universalen Merkmale auf.14
Folglich gilt es, beide Seiten der Schließungsgleichung (Ausschließende und
Ausgeschlossene), einschließlich ihrer politischen Strategien zur Realisierung
der Monopolisierung bestimmter Privilegien sowie interner sozialer Diffe-
renzierungen der Klassen zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu Max Weber
wird nicht nur Bezug auf ökonomische Chancen, sondern auf jegliche Be-
ziehungsformen zwischen Gruppen genommen, wodurch eine Analyse von
Herrschaftsverhältnissen und Machtasymmetrien zwischen Ausschließenden
und Ausgeschlossenen ermöglicht wird. Zwei Handlungsstrategien sind ge-
mäß Frank parkin in Erwägung zu ziehen: die Macht der Ausschließung und
die Macht des Solidarismus, d.h. einerseits die Ausschließungsstrategie,15 ande-
rerseits die Gegenaktionen von sozial Ausgeschlossenen, die als Usurpations-
strategien bezeichnet werden – es sind die Grundformen sozialer Schließung
(im Falle einer kollektiven Antwort ausgegrenzter Gruppen wird die Schlie-
ßungsstrategie auch als solidaristisch bezeichnet und dient der Verfolgung des
Usurpationsziels).16 Während Ausschließungsstrategien Bezug auf die Unter-
ordnung einer Gruppe nehmen (Ausschließungstechnik von oben nach unten),
nehmen Usurpationsstrategien Bezug auf die Reaktion der Ausgeschlossenen
(Usurpationsstrategie von unten nach oben). Erstere versuchen, die geltende
Schichtungsordnung zu stabilisieren, letztere drohen mit Usurpation und stel-
len folglich eine potenzielle Gefahr für das vorherrschende Verteilungssystem
dar (cf. op. cit., 32). Schließungskämpfe zwischen Ausschließenden und Aus-
geschlossenen werden häug durch Rahmenbedingungen beeinusst, u.a. sind
formale, rechtliche Regelungen des Staates von zentraler Bedeutung. So kön-
nen Gruppenzugehörigkeiten sowie ihre Über- bzw. Unterordnung rechtlich
deniert sein und bilden demzufolge eine notwendige Voraussetzung sozialer
14 parkin 2004a, 27; Hervorhebungen im Original.
15 Eine Ausschließungsstrategie ist der Versuch einer Gruppe, “ihre Privilegien durch die Unterordnung
einer anderen Gruppe zu erhalten oder zu vermehren, d.h. eine andere Gruppe oder Schicht als unter der
eigenen stehend auszugrenzen” (op. cit., 31).
16 “Solidaristische Bestrebungen zielen immer auf Usurpation, weil Ansprüche auf Ressourcen, wenn sie
durchgesetzt werden können, normalerweise zu einer Verringerung des Ressourcenanteils der übergeord-
neten Gruppe führen” (op. cit., 37).
133
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Schließung – die Ausschließungskriterien sind nicht immer, wie Max Weber
annahm,17 als willkürlich, sondern meist durch staatliche Regelungen als le-
gitimiert zu erachten (cf. id. 2004b, 51). Der Staat ist als zentraler Akteur in
Schließungskämpfe involviert.
Ferner ist die Betonung der Zeitverlaufsperspektive wesentlich: Schließungs-
kämpfe um Inklusion bzw. Exklusion werden als dynamischer Prozess betrach-
tet; ihr prozessualer Charakter wird in der Anordnung von Klassen18 als variable
Dimensionen deutlich die Denition von Klassen erfolgt über dynamische
Prozesse sozialer Schließung (cf. id. 2004a, 40).
Zusammenfassend impliziert das Prinzip der dualen Schließung nach Frank par-
kin, dass beide Schließungstypen, das reexive Verhältnis von Ausschließenden
und Ausgeschlossenen als Interklassenbeziehung in Erwägung gezogen werden.
Darüber hinaus wird die wechselseitige Exklusion und Usurpation auch inner-
halb der jeweiligen Gruppen von Ausschließenden und Ausgeschlossenen als
Intraklassenbeziehung berücksichtigt. Die Ausschließungspraktik erfolgt über
spezische Merkmale bzw. Kriterien oder formale Qualikationen, die spezi-
schen Rahmenbedingungen unterliegen. Beispiele für Ausschließungskriterien
sind u.a. die Sprache, die Nationalität oder die Religion. Letztlich sei der dynami-
sche Aspekt sozialer Schließung als Prozess hervorgehoben.
3.3 Die Sprache als Ausschließungskriterium
Die Verfügung über transnationales linguistisches Kapital ist […] eine neue Quelle sozialer Un-
gleichheit im Kontext einer sich entwickelnden globalisierten und europäischen Gesellschaft;
sie ist eine Ressource, die über die Inklusion in diese Gesellschaft mitentscheidet bzw. zur
Exklusion führen kann.19
17 “[…] irgendein äußerlich feststellbares Merkmal eines Teils der […] Mitkonkurrierenden: Rasse, Spra-
che, Konfession, örtliche oder soziale Herkunft, Abstammung, Wohnsitz usw. [wird] von den anderen
zum Anlaß genommen […], ihren Ausschluß vom Mitbewerb zu erstreben. Welches im Einzelfall dies
Merkmal ist, bleibt gleichgültig: es wird jeweils an das nächste sich darbietende angeknüpft” (Weber
1985, 201).
18 “Die Beziehung [zwischen Klassen] wird vielmehr als antagonistisch und als permanente Spannung ver-
standen; das heißt als Zustand dauerhafter Verteilungskämpfe, der durchaus ‘eingehegt’ werden kann.
Klassenkonikt mag endlos sein, doch er wird nicht unbedingt bis zu einer Entscheidung ausgefochten.
Die wettstreitenden Begriffe Harmonie, Widerspruch und Spannung sollten als drei Möglichkeiten ver-
standen werden, die Beziehung zwischen Klassen zu konzeptualisieren und zugleich als Grundlage aller
Klassenmodelle zu dienen” (parkin 2004b, 62; Hervorhebungen im Original).
19 gerharDS 2010, 13.
134 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
In Zeiten der Globalisierung, insbesondere mit zunehmender Erosion von
Nationalstaatsgrenzen und einem steigenden Druck zur (beruichen) Mobili-
sierung, d.h. einer Wahrnehmung des Rechtes auf Freizügigkeit, wird vermehrt
transnationalen Sprachkompetenzen eine zentrale Bedeutung beigemessen. Es
gilt, diesem steigenden Wettbewerbsdruck durch Mehrsprachigkeit standzuhal-
ten. Die Abgrenzung zwischen Gruppen erfolgt nach der formalen Qualikation
der Sprache zu Schließungszwecken. Im Rahmen von Verteilungskämpfen ver-
suchen einige Sprachgruppen, ihre Teilhabechancen zu monopolisieren, um sich
Vorteile zu sichern und Machtpositionen zu erhalten.
Innerhalb der Schweiz sind Verteilungskämpfe der Sprachenvielfalt um sprach-
liche Erosion vorherrschend. Vier Landessprachen, namentlich Rätoromanisch,
Deutsch, Italienisch und Französisch sind auf der Bundesebene in der Verfas-
sung festgelegt. Rätoromanisch ist seit 1996 Teilamtssprache des Bundes sowie
eine der drei Amtssprachen (gemeinsam mit Deutsch und Italienisch) des Kan-
tons Graubünden. Jedoch haben Deutsch, Französisch und Italienisch einen
politisch-geograschen internationalen Stellenwert, insofern, als sie auch in an-
deren Nationalstaaten als amtliche Verkehrssprachen gelten; das Verbreitungsge-
biet des Bündnerromanischen ist heutzutage, geograsch betrachtet, ausschließ-
lich regional auf Graubünden begrenzt. Einerseits scheint eine Dominanz des
Deutschen, Französischen und Italienischen zu bestehen, andererseits fehlt es
dem Bündnerromanischen an Prestige und besonders an praktischem Wert – die
Überhöhung von Deutsch, Französisch und Italienisch führt zu einer Vernach-
lässigung des Rätoromanischen. Häug wird die Schweiz als Musterbeispiel für
eine heterogene Sprachpolitik angesehen. Während in einigen Nationalstaaten
eine homogene Sprachpolitik vorherrscht, d.h. meist eine einzige Amtssprache
festgelegt wird, sind in der Schweiz alle vier Landessprachen als Amtssprachen
(rechtlich) anerkannt. Diese Heterogenität fördert zwar den Verteilungskampf
zwischen den Sprachgruppen, schützt aber zugleich das Rätoromanische als Minder-
heitensprache.
Mitglieder der rätoromanischen Sprachgruppe sind aufgrund der Tatsache, dass
es sich bei dieser Sprache um eine Minderheitensprache handelt, auf Mehrspra-
chigkeit angewiesen, insbesondere um innerhalb der Schweiz überhaupt am wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilnehmen sowie auch transnationale
Mobilität genießen zu können (diese Problematik betrifft teilweise auch das Ita-
lienische).
Während konkurrierende Sprachgruppen Ausschließungsstrategien von Minder-
heiten (hier: rätoromanische Minderheit) verfolgen, um dem Modernisierungs-
135
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
druck einer globalisierten Welt, in der die internationale Kommunikationsfähig-
keit von zentraler Bedeutung ist, gerecht werden zu können, und Sprache als
Kriterium für die Teilhabe an Transnationalisierungsprozessen erachten, ver-
folgen Angehörige der rätoromanischen Sprachgruppe Usurpationsstrategien.
Usurpationsstrategien werden durch Formen der Sprachpolitik zum Schutz die-
ser Minderheitensprache begünstigt, wie beispielsweise durch eine einheitliche
Schriftform Rumantsch Grischun als Dachsprache dialektaler Varietäten (Idiome).
Usurpation durch Recht ist als Erfolg solidaristischer Usurpationsstrategien zu
verstehen (cf. parkin 2004b, 57). Mehrsprachigkeit wird gefordert, Minderhei-
tensprachen staatlich gefördert. Die staatliche Förderung des Multilingualismus
ndet Ausdruck in der Existenz mehrerer Amtssprachen. Individuell betrachtet
kann die Mehrsprachigkeit als weiterer Ausdruck von Usurpationsstrategien in-
terpretiert werden, als Reaktion auf die Ausschließungsstrategien. Um einerseits
ein Fortbestehen der eigenen Muttersprache zu sichern und andererseits in an-
deren Gemeinden wirken zu können, werden weitere Fremdsprachen erlernt,
die die Kommunikation mit Nicht-Rätoromanischsprachigen ermöglichen und
zugleich gewährleisten, dass das Rätoromanische innerhalb der Bezugsgruppe
weiterhin Anwendung nden kann. Je stärker die subjektive, emotionale Ge-
bundenheit zum Rätoromanischen bzw. die soziale Integration innerhalb dieser
Sprachgruppe ist, desto stärker ist die Abgrenzung zu den anderen Landesspra-
chen. Akteure, die ausschließlich Rätoromanisch sprechen, sind an ihren Hei-
matort gebunden und können nur begrenzt von den Vorteilen einer globalisier-
ten Welt20 protieren. Einsprachige Rätoromanen sind jedoch in der Empirie
sehr selten vorzunden. Die meisten Schweizer sprechen mindestens eine weite-
re Sprache, nahezu alle Rätoromanen wachsen folglich bilingual auf (cf. Werlen
2008, 13).
Trotz einer heterogenen Sprachpolitik können im Zuge eines Verteilungs-
kampfes zwischen den Sprachgruppen Homogenisierungstendenzen entste-
hen, die sich im Rückgang der rätoromanischsprachigen Bevölkerung zeigen
– Minderheiten sprachen sind stets der Verdrängung und Unterdrückung aus-
gesetzt (cf.
gerharDS 2010, 44). Doch wäre eine Schlussfolgerung, die auf das
Aussterben der rätoromanischen Sprachgruppe und auf ein weiteres Vordringen
der dominanten Landessprachen zielt, zu voreilig. Es ist zu bedenken, dass der
prozessuale Charakter von Schließungskämpfen analytisch erfasst wird, und eine
Mehrsprachentendenz nicht zwangsläug im Sprachverfall von Minderheiten-
20 Transnationales sprachliches Kapital ermöglicht u.a. transnationalen Austausch, Freizügigkeit, erhöhte Ein-
kommenschancen und Vorteile im Bildungswesen (cf. röSSel/SchroeDter 2014, 154).
136 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
sprachen mündet, sondern als Potenzial der weiteren Praktizierung des Rätoro-
manischen und transnationaler Kommunikation über Fremdsprachen zu erach-
ten ist – diese Usurpationsstrategie ist nicht zu unterschätzen.
Inwiefern usurpieren sich Rätoromanen wechselseitig?
Innerhalb der rätoromanischen Sprachgruppe sind ebenfalls Muster wechselseitiger
Exklusion und Usurpation, d.h. duale Schließungsprozesse zu erkennen, die mit
dem Grad der Sprache als Identikationsmerkmal und der Mehrsprachigkeit zu-
sammenhängen. Anhand der von Renata coray entwickelten Idealtypen ist zu
erkennen, dass der Extremtypus der “Verwurzelten” eine sehr starke emotio-
nale Verbundenheit zum Rätoromanischen äußert, und im Gegensatz dazu die
“Nicht-sprachlich Orientierten” ihrer Muttersprache keine besondere Bedeu-
tung schenken. Beide Typen haben jedoch gemeinsam, dass sie kaum Interesse
an Fremdsprachen zeigen und vielmehr Probleme der Aneignung von Fremd-
sprachen betonen. “Kommunikative”, wie auch “Aufstiegs- und Berufsorientier-
te” weisen ein ausgeprägtes sprachliches Interesse auf und kommunizieren in
auffallend vielen Sprachen. Die hieraus abgeleitete zentrale Behauptung ist, dass
Rätoromanen häug duale Strategien der Schließung verfolgen: usurpatorische
Aktivitäten gegen Angehörige der anderen Landessprachen (Deutsch, Italienisch,
Französisch) einerseits, exkludierende Aktivitäten gegen schwächer organisierte
rätoromanische Gruppen, die monolingual oder bilingual leben (überwiegend
“Verwurzelte”, “Nicht-sprachlich Orientierte” und “Pragmatiker”) andererseits
(cf. parkin 2004b, 48). Multilinguale Rätoromanen (“Kommunikative” sowie
Aufstiegs- und Berufsorientierte”) sind im Hinblick auf die sprachliche Qua-
likation in der besseren Position, um gegen die anderen Landessprachen ihre
Usurpationsstrategie zu verfolgen, obwohl sich dadurch die Verhandlungspositi-
on von den Mitgliedern, die keine oder nur eine Fremdsprache sprechen, verrin-
gert. Der Konikt innerhalb der Rätoromanen bezieht sich folglich auf Multilin-
gualismus im Gegensatz zum Monolingualismus oder zur Bilingualität.
Es ist anzunehmen, dass die “herrschenden Landessprachen” sich aus sozialen
Gruppen zusammensetzen, die ihre Vorteile über Exklusionsstrategien sichern,
während das oppositionelle Rätoromanische als Minderheitensprache aus sozi-
alen Gruppen besteht, die Usurpationsstrategien verfolgen. Gleichwohl werden
letztere durch sekundäre Exklusionsstrategien gegenüber mono- oder bilingu-
alen rätoromanischen Sprachgruppen ergänzt der interne Konikt kann als
erster Hinweis auf eine Klassenspaltung gedeutet werden (cf. op. cit., 49).
137
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
3.4 Schließungskämpfe zwischen Erosion und Expansion
Werden Ausschließende und Ausgeschlossene beiderseits berücksichtigt, so sind
folgende Ziele zu unterstellen (cf. Tab. 1): auf Seiten der dominanten Schwei-
zer Nationalsprachen sind Sprachkenntnisse als Exklusionskriterien zu erachten,
die sprachliche Expansion der eigenen Sprache bezwecken, zugleich wird die
Erosion des Rätoromanischen erzielt. Mittels des Merkmals “Sprache” wird die
Ausschließungspraktik betrieben. Anders formuliert: Ziel der Ausschließenden
ist die Erosion des Rätoromanischen zugunsten der Schweizer Nationalsprachen
Deutsch, Französisch und Italienisch. Andererseits bedienen sich ausgeschlos-
sene Rätoromanen Usurpationsstrategien in Form von Mehrsprachigkeit und
staatlicher Legitimation.
Schließungskämpfe sind auf differenzierten Ebenen zu verorten, wobei zwi-
schen Exklusionsdimensionen auf Seiten der dominanten Standardsprachen
und Inklusionsdimensionen auf Seiten des Rätoromanischen zu differenzieren
ist. Weiterführend sind kollektive Akteure zu ermitteln, die in erheblichem Maße
in die Auseinandersetzungen involviert sind, sowie strukturelle Grundlagen, die
Begünstigungen ermöglichen und für Exklusions- oder Usurpationsstrategien
benutzt werden können (cf. mackert 2004b, 261).
3.4.1 Sprachkenntnisse als Exklusions- und Usurpationsdimensionen
Auf persönlicher Ebene wird um den Sprachgebrauch innerhalb der Bezugsgrup-
pen Familie und Freundeskreis gerungen, auf der Ebene politischer Rechte um die
formale Legitimation von Amtssprachen, auf der ökonomischen Ebene um die
sprachliche Ausweitung auf dem Arbeitsmarkt in Folge des Modernisierungs-
drucks, auf der kulturellen Ebene um die Verbreitung im Bildungswesen (u.a. als
Schul- bzw. Unterrichtssprache) sowie um mediale Präsenz.
3.4.2 Exklusions- und Usurpationsgrundlagen
Rechtliche Regelungen bzw. Gesetze, die Bezug auf eine unterschiedliche Be-
handlung von Sprachgruppen nehmen, bilden eine wesentliche Grundlage in-
terner Schließung. In der Schweiz ist der Föderalismus ein zentrales Prinzip po-
litischer Administration, ferner sind drei Ebenen rechtlicher Grundlagen von
formaler Bedeutung: Bundesebene, Kantonsebene und Gemeindeebene.
138 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Auf der Bundesebene ist Rätoromanisch als eine von vier Landessprachen
und als Amtssprache im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache in
der Bundesverfassung verankert (cf. bunDeSverFaSSung Der SchWeizeri-
Schen eiDgenoSSenSchaFt 1999, Art. 4 u. Art. 70). Im Rahmen der Kan-
tonsebene ist formalisiert, dass Rätoromanisch eine von drei Amtssprachen
(Deutsch, Italienisch und Rätoromanisch) Graubündens ist (cf. verFaSSung
DeS kantonS graubünDen 2003, Art. 3, Satz 1). Letztlich verfügen die Ge-
meinden über die Souveränität, ihre Amts- und Schulsprachen zu denieren
(cf. op. cit., Art. 3, Satz 3).
Ein Beispiel, in dem die Handhabung der Sprachen als formale Vorschrift
festgelegt ist, liegt im Sprachengesetz des Kantons Graubünden vor:
Die Usurpationsstrategie der Mehrsprachigkeit wird als rechtliche Grundlage im
Kanton Graubünden formalisiert. So ist die Dreisprachigkeit als zentrales, po-
litisch festgelegtes Wesensmerkmal des Kantons im Sprachengesetz, Paragraph
1, Absatz 1 expliziert. Darüber hinaus werden Förderung und Erhaltung der
bedrohten Landessprache Rätoromanisch durch besondere Maßnahmen erzielt
sowie der politische Versuch angestrebt, die Mehrsprachigkeit individuell, ge-
sellschaftlich und institutionell zu festigen (cf. SprachengeSetz DeS kantonS
graubünDen 2006, 1).
Aufbauend auf den rechtlichen Regelungen kommunizieren soziale Akteure in
öffentlichen Diskursen über eine drohende Erosion des Rätoromanischen. In-
wiefern die konkurrierenden Positionen artikuliert und durchgesetzt werden, ist
auf asymmetrische Machtverhältnisse zurückzuführen – erst Ressourcen ermög-
lichen die Durchsetzung der Strategien (cf. mackert 2004b, 263).
Es kommt entscheidend darauf an, in welchem Maße soziale Akteure in der Lage sind, zur
Durchsetzung ihrer Interessen auf Ressourcen zurückzugreifen […]. Die Idee strukturierter
Schließungsverhältnisse richtet damit das Augenmerk auf die asymmetrische Machtverteilung
zwischen den sozialen Akteuren und ermöglicht so erst ein politisches Verständnis von Schlie-
ßungskämpfen.21
21 Op. cit., 265.
139
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
3.4.3 Kollektive Akteure und Strategien
Im Rahmen von Schließungskämpfen sind zahlreiche Akteure aktiv, um die
Durchsetzung der Ziele der Koniktparteien zu bestärken […] kollektive
Akteure als Trägergruppen der sozialen Auseinandersetzungen” (op. cit., 261).
Auf der Seite der dominanten Schweizer Nationalsprachen sind insbesondere
politische Akteure auf Bundes, Kantons- und Gemeindeebene, ökonomische
Akteure (wie Arbeitgeber) und mediale Akteure (wie Journalisten) involviert. Po-
litische Akteure sind für die Implementierung von Gesetzen sowie deren Einhal-
tung und Durchsetzung zuständig, um bestimmte Sprachgruppen auszuschlie-
ßen bzw. andere zu begünstigen. Ökonomische und mediale Akteure bestimmen
den Sprachgebrauch innerhalb ihres Systems.
Auf Seiten des Rätoromanischen agieren romanische Sprachvereine (z.B. Lia
Rumantscha),22 politische, ökonomische sowie mediale Akteure (z.B. Radiotelevisiun
Svizra Rumantscha)23 zum Schutz des Rätoromanischen gegen Sprachverfall.
Die Gruppen der Landessprachen Deutsch, Italienisch und Französisch (i.e. ver-
standen als internationale Verkehrssprachen, deren Verbreitungsgebiet über die
Nationalstaatsgrenzen der Schweiz hinaus Gültigkeit in weiteren Staaten erfah-
ren), verfolgen einen kollektivistischen Ausschluss anderer Sprachgruppen resp.
die Erosion konkurrierender Sprachen und forcieren zugleich die Verbreitung der
eigenen Sprache. Rätoromanen als sprachliche Minderheit reagieren mit Usurpa-
tionsstrategien und streben insbesondere die Strategie der Mehrsprachigkeit an.
Gemein haben Rätoromanen und Angehörige der o.a. internationalen Verkehrs-
sprachen, dass sie zum Spracherhalt der eigenen Sprachgruppe beitragen.
Festzuhalten ist, dass dem Multilingualismus eine zentrale Bedeutung im Vertei-
lungskampf zwischen den Sprachgruppen in der Schweiz zukommt. Einerseits
kann Mehrsprachigkeit als Usurpationsstrategie jener Rätoromanen betrachtet
werden, die den transnationalen Vorteil betonen. Andererseits kann sie auch als
22 Die Lia Rumantscha ist die Dachorganisation romanischer Sprachvereine und verfolgt das Ziel der Erhal-
tung und Fortführung des Romanischen (cf. lia rumantScha 2015).
23 Radiotelevisiun Svizra Rumantscha ist dem öffentlich-rechtlichen Schweizer Medienunternehmen SGR SSR
zugehörig und betreibt einen rätoromanischen Fernseh- sowie Radiosender, dessen Zielgruppe die rä-
toromanische Bevölkerung sowohl innerhalb Graubündens, als auch außerhalb des Kantons bildet (cf.
raDioteleviSiun Svizra rumantScha 2015). Insbesondere wird beworben, dass rätoromanischsprachige
Personen, die nicht mehr in Graubünden wohnen, dennoch rätoromanische Sendungen genießen, d.h.
mediale Inhalte passiv in ihrer Muttersprache konsumieren können.
140 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Tab. 1: Schließungskämpfe um den Sprachgebrauch: zwischen sprachlicher Erosion und Expansion (modiziert nach mackert 2004b, 262).
Deutsch, Italienisch, Französisch Rätoromanisch
Exklusions-
dimensionen
Exklusions-
grundlagen
Kollektive
Akteure
Exklusions-
strategien
Dimensionen der
Expansion
Usurpations-
strategien
Kollektive
Akteure
Usurpations-
grundlagen
Usurpations-
dimensionen
Bezugsgruppen,
persönliches
Umfeld
Sprachgebrauch
im Familien/
Freundeskreis
Organisationen
zum Schutz des
Rätoromanischen,
Sprachvereine
Persönlich Persönlich
Bund, Kanton,
Gemeinden,
Regional-/Ge-
meindeverbände,
Bezirke
Politische
Legitimation:
Amtssprache
Politische
Akteure
Politisch Politisch
Interessenver-
bände der
Arbeitgeber
Ausweitung auf
dem
Arbeitsmarkt
Interessens-
vereinigungen der
Arbeitnehmer
Ökonomisch Ökonomisch
Gemeinde,
kantonale und
kommunale
Schulgesetze
Verbreitung im
Bildungssystem
Kanton und
Gemeinden
Kulturell Kulturell
Medien (Rund-
funk, Fernsehen,
Print/Presse,
Internet)
Mediale
Ausdehnung
Medien (z.B.
Radiotelevisiun
Svizra
Rumantscha)
Sozio-medial Sozio-medial
Externe Faktoren
Rechtliche Regelungen, öffentlicher Diskurs, Ressourcen
Verbreitung der eigenen Sprache (Mono-/Bilingualismus)
Multilingualismus
Rechtliche Regelungen, öffentlicher Diskurs, Ressourcen
141
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Exklusionsstrategie innerhalb dieser sozialen Sprachgruppe gegen mono- und
bilinguale Mitglieder verstanden werden, um die Verhandlungsposition von
mehrsprachigen Rätoromanen gegenüber den Mitgliedern der anderen Sprach-
gruppen zu verbessern. Im Gegensatz dazu betonen die Mitglieder der anderen
dominanten Landessprachgruppen als Exklusionsstrategie den transnationalen
Vorteil der eigenen Sprache, der mit einem internationalen Stellenwert begrün-
det werden kann, insofern, als diese Sprachen auch in anderen Nationalstaaten
anerkannte Landessprachen sind resp. eine weitere politisch-geograsche Ver-
breitung der Sprache vorweisen können.
Für eine möglichst umfassende, systematische Erklärung der Situation des Räto-
romanischen in der Schweiz gilt es, sowohl die Perspektive der Ausschließenden,
als auch der Ausgeschlossenen mitzudenken, den Kontext sowie strukturelle
Rahmenbedingungen (u.a. staatliche Fördermaßnahmen) zu berücksichtigen,
den Aspekt der Mehrsprachigkeit einschließlich der Hierarchie zwischen den
Sprachen hervorzuheben und den Sprachwechsel als dynamischen Prozess zu
verstehen, dessen Auswirkungen auf der Mikro- wie auch auf der Makroebene
zu analysieren sind.
3.5 Hypothesen
Sprachwechsel ist als dynamischer Prozess auf differenzierten Ebenen zu ver-
stehen, dessen Komplexität nur mittels einer Fülle einander ergänzender Ein-
ussfaktoren erklärt werden kann. Auf Basis unserer theoretischen Annahmen
ergeben sich die nachfolgenden forschungsleitenden Hypothesen:
Hypothesen auf Makroebene:
H1: Der Modernisierungsdruck einschließlich wirtschaftlicher und gesellschaft-
licher Entwicklungen ist als ein zentraler Faktor für den Rückgang des Rä-
toromanischen zu erachten (damit hängt die Altersspezik zusammen).
H2: Kontextuelle Faktoren beeinussen den Prozess des Sprachwechsels des
Rätoromanischen maßgeblich: Zu differenzieren ist zwischen urbanen und
ländlich-agrarischen Regionen; erwartet wird, dass in ländlich-agrarischen
Gebieten eine stärkere Ausprägung des Rätoromanischen besteht.
H3: Der Staat agiert als zentraler Akteur innerhalb des Schließungskampfes zur
Integration unterschiedlicher ethnischer Gruppen, dessen Sprachpolitik
142 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
zum Erhalt des Rätoromanischen Wirkungen zeigt, und zwar insofern, als
der Prozess eines “Aussterbens” des Rätoromanischen drastisch entschleu-
nigt wird.
Hypothesen auf Mikroebene:
H4: Zum Schutz der Sprachidentitäten wird Mehrsprachigkeit als Ausweg einer
Erosion des Rätoromanischen genutzt, d.h. Bi- und Multilingualismus er-
setzen den traditionellen Monolingualismus.
H5: In differenzierten Segmentierungen ndet die Mehrsprachigkeit Anwen-
dung: zu differenzieren sind die Sprachverwendung im familiären und
außerfamiliären Umfeld (Arbeitsmarkt usw.). Im Kontext der Familie ist
der Sprachgebrauch des Rätoromanischen zu erwarten, während Deutsch,
Französisch und Italienisch überwiegend als außerfamiliäre Verkehrsspra-
chen für die Kommunikation mit Personen unterschiedlicher Sprachge-
meinschaften Anwendung nden.
H6: Zum Prozess des Sprachwechsels tragen folgende strukturelle Faktoren bei:
(1) Alter (+),24 (2) Bildungsstrukturen (+ Zu- und Abströme des Rätoroma-
nischen sind häug auf Bildungs-/Arbeitsbiograen zurückzuführen), (3)
Berufskarriere (+ s. o.), (4) Geschlecht (Frauen –).
4. Datengrundlagen
Die für unsere Analysen verwendeten Daten verlangen nach einer kurzen Er-
läuterung. Wie in der Einleitung erwähnt, handelt es sich bei der Swiss National
Cohort (SNC) um die Verknüpfung der Volkszählungsdaten 1970 bis 2000. Für
den Zeitraum 2000 bis 2008 enthält die SNC auch das in den amtlichen Re-
gistern (BEVNAT) erfasste Sterbedatum. Aus der SNC haben wir die Grund-
gesamtheit der im Kanton Graubünden wohnhaften Personen ausgewählt. Die
Volkszählungen enthalten auch retrospektive Informationen (z.B. den Wohnort
fünf Jahre vor dem Befragungszeitpunkt). Somit liegen Daten für den Zeitraum
1965 bis 2000 vor. Abb. 2 zeigt die Zahl der Beobachtungseinheiten sowie die
Zu- und Abgänge (Entries, Exits) aufgrund von Geburten oder Todesfällen zwi-
schen jeweils zwei Zählungen. Im Unterschied zu den Querschnittsdaten, wie
24 Notation: + steigert die Wahrscheinlichkeit, – verringert die Wahrscheinlichkeit eines Sprachwechsels.
143
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
sie in den meisten Studien zum Sprachwechsel verwendet werden, sind unsere
Beobachtungseinheiten individuelle Lebensverläufe oder Biograen. Nur für knapp
8% der Personen liegen Informationen für deren gesamte Lebensdauer vor. Bei
62,9% der Befragten sind die Daten linkszensiert, d.h. wir kennen ihre Sprach-
biograe nicht von Geburt an, sondern zwischen 1970 und dem individuellen
Lebensende. Bei rechtszensierten Fällen (29,3%) kennen wir die Hauptsprache
vom Zeitpunkt der Geburt bis 2000. Diese Besonderheit macht es notwendig,
die Daten mit ereignisanalytischen Methoden (Event history analysis) auszuwerten.
Dabei handelt es sich um Verfahren, wie sie in der Demograe beispielsweise bei
der Berechnung der Lebenserwartung zum Einsatz gelangen. Diese probabilisti-
schen Techniken erlauben eine verlässliche Hochrechnung der zensierten Fälle.
Abb. 3 zeigt die Häugkeitsverteilung der verwendeten Biograen. Sie lassen
sich sowohl im Längs- als auch im Querschnitt auswerten. Auszählungen für die
einzelnen Volkszählungszeitpunkte führen zu nahezu identischen Ergebnissen
(es gibt minimale Abweichungen aufgrund falscher Zuordnungen beim Record
Linkage Prozess). Bei längsschnittartigen Analysen wird von synthetischen Kohorten
ausgegangen. Mit anderen Worten: je nach Fragestellung (z.B. romanischspra-
Abb. 2: Struktur der Datengrundlage, Rätoromanen in der Swiss National Cohort (SNC).
Linkszensierte Fälle 230.643 62,9%
Rechtszensierte Fälle 107.437 29,3%
Vollständige Biographien 28.693 7,8%
366.773 100,0%
159.487 174.671 157.487 175.206 178.158 192.176 188.211 203.485
Exits: 27.818
Exits: 30.472
Exits: 68.173
Exits: 64.643
Entries: 30.689
Entries: 22.867
Entries: 23.181
Entries: 20.399
144 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
chige Männer mit höherer Bildung, die im traditionell romanischen Gebiet le-
ben) wird die Verteilung nach einjährigen Altersgruppen gebildet. Aus diesen
lassen sich die Hazard-Raten (d.h. die Wahrscheinlichkeit dafür, dass zu einem
bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Ereignis, beispielsweise Tod einer Person,
Wechsel der Sprache, Heirat usw. eintritt, ermitteln. Mithilfe von semiparame-
trischen oder parametrischen Regressionen lassen sich die Einüsse beliebiger
erklärender Faktoren untersuchen.
Eine Besonderheit unserer Daten ergibt sich dadurch, dass wir den exakten Zeit-
punkt des Auftretens eines Ereignisses nicht kennen. Wir wissen, dass eine Per-
son beispielsweise 1970 im Alter von 10 Jahren Romanisch als Hauptsprache
nennt, 1980, dann zwanzigjährig, jedoch Deutsch. Statistisch ausgedrückt haben
wir es somit mit diskreter Zeit zu tun. Dieser Umstand erfordert eine Annahme
über die Art der Interpolation. Man könnte linear interpolieren, also in obigem
Beispiel annehmen, dass die Person zwischen ihrem zehnten und zwanzigsten
Altersjahr zu gleichen Wahrscheinlichkeiten die Sprache hätte wechseln können.
Es lässt sich aber auch eine bestimmte Verteilung unterstellen, beispielsweise,
dass im Alter zwischen 12 und 14 Jahren, also beim Übertritt in die Sekundar-
oder Gymnasialstufe eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Sprachwechsel
bestanden hat. Solche Festlegungen erfolgen theoriegeleitet. Wir weisen jeweils
Abb. 3: Verteilung der Lebensverläufe von Rätoromanen (SNC).
60.757
51.797
7.869
21.160
96.633
3.886
8.577
2.000
181
17.908
7.799
4.197
236
28.259
1.686
111
24.857
N = 366.773
30
22.856
145
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
aus, von welchen Annahmen wir bei unseren Modellen ausgehen. Die Interpola-
tionen betreffen ausschließlich die Zeitspanne zwischen zwei Messzeitpunkten.
Bei den erfassten Messwerten erfolgen keinerlei Modikationen.
5. Deskriptive Befunde
Im folgenden Schritt soll einerseits gezeigt werden, dass der Umbau der Infor-
mationen zu einem Längsschnittdatensatz zu identischen Ergebnissen führt.
Andererseits lässt sich anhand der Alterspyramiden der rätoromanischen Wohn-
bevölkerung des Kantons Graubünden (cf. Abb. 4)25 auch illustrieren, dass die
Analyse sozialstruktureller Merkmale zu neuen Erkenntnissen führen kann. Die
auf der Basis der SNC erstellten Darstellungen weisen für die in den traditionell
rätoromanischen Gebieten und in den übrigen Gemeinden des Kantons Grau-
bünden ansässigen Personen exakt die gleichen Häugkeiten aus wie die Volks-
zählungen (1970: 37.878; 1980: 36.017; 1990: 29.679 und 2000: 27.038). Hinzu
kommen zeitweilig nicht Ortsansässige. Dieser Teil der romanischen Diaspora
beläuft sich für 1970 auf 875, für 1980 auf 543, für 1990 auf 734 und für 2000
auf 873 Personen.
Die Darstellung zeigt zunächst eine ausgeprägte Konzentration der Roma-
nischsprachigen auf die traditionellen Stammlande (cf. Furer 2005, passim).
Über die Beobachtungsperiode verringert sich die Zahl der Rätoromanen im
übrigen Kantonsteil kontinuierlich. Auffällig ist ferner die Unterrepräsentation
der weiblichen Bevölkerung. Anstelle der zu erwartenden leichten Überver-
tretung von Frauen belaufen sich deren Anteile auf 48,4% (1970) bis 49,8%
(2000). Das lässt darauf schließen, dass Familienbildungsprozesse eine Rolle
spielen dürften, und dass eine Tendenz besteht, dass die Sprache über die vä-
terliche Linie weiter vererbt wird. Der Einuss familialer Strukturen zeigt sich
auch darin, dass die 1970 und 1980 zu beobachtende Verbreitung der roma-
nischen Sprache bei Kindern und Jugendlichen in jüngerer Zeit stark rückläu-
g ist. Vor allem für 2000 wird ein sehr starker Schwund ersichtlich. Der bei
den beiden ersten Pyramiden feststellbare “Buckel” indiziert aber noch weitere
sozialstrukturelle Zusammenhänge. Weil sich dieser in der Pyramide nicht al-
tersmäßig fortpanzt, kann angenommen werden, dass biograsche Prozesse,
25 Trotz der Selektion der Wohnbevölkerung Graubündens als Datengrundlage, kann es vorkommen, dass
einzelne Personen an einzelnen Messpunkten in anderen Landesgegenden der Schweiz gelebt haben kön-
nen. Diese werden in Abb. 4 dargestellt. Es ist dies jedoch nicht die Gesamtheit der romanischen Diaspora.
146 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
400 300 200 100 0 100 200 300 400
1
11
21
31
41
51
61
71
81
91
101
Männer trad.RR
Frauen trad. RR
Männer GR
Frauen GR
Frauen CH
Männer CH
400 300 200 100 0 100 200 300 400
1
11
21
31
41
51
61
71
81
91
101
Männer trad.RR
Frauen trad. RR
Männer GR
Frauen GR
Frauen CH
Männer CH
1980
1
11
21
31
41
51
61
71
81
91
101
Männer trad.RR
Frauen trad. RR
Männer GR
Frauen GR
Frauen CH
Männer CH
1990
400 300 200 100 0 100 200 300 400
1
11
21
31
41
51
61
71
81
91
101
Männer trad.RR
Frauen trad. RR
Männer GR
Frauen GR
Frauen CH
Männer CH
2000
Abb. 4: Rätoromanen im Kanton Graubünden nach Alter und Wohnort 1970–2000
(eig. Berechnungen, SNC).
etwa der Übertritt in weiterführende Schulen und/oder ins Berufsleben, häu-
g zum Wechsel der Hauptsprache führen. Auffällig ist sodann (und dies gilt
insbesondere für das Jahr 2000), dass vor allem 20–30-Jährige das Rätoroma-
nische auch dann als Hauptsprache verwenden, wenn sie außerkantonal einer
Ausbildung oder Erwerbstätigkeit nachgehen. Anhand der Querschnittsdaten
kann nur spekuliert werden, ob das vielleicht mit Erfolgen der Sprachpolitik
(Rätoromanisch in den Schulen, romanische Studiengänge an den Universitä-
ten, Zunahme einer romanischen Identität in bestimmten Mi lieus) zusammen-
hängt. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass sich mit Querschnittsdaten kein Licht
147
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
in diese blackbox bringen lässt. Die Längsschnittorientierung unserer Untersu-
chung erlaubt es, solche Hypothesen zu prüfen.
6. Kulturelle Vielfalt in Graubünden
Im Südosten der Schweiz, angrenzend an Italien, Österreich sowie Liechtenstein
und vollständig in den Alpen gelegen, gliedert sich der Kanton Graubünden so-
wohl sprachlich, als auch kulturell und konfessionell in zum Teil stark separierte
Regionen. Dies ist in der historischen Entwicklung des Kantons, aber auch in sei-
ner geograschen und der davon abhängigen infrastrukturellen Lage begründet.
Durch den Zusammenschluss des Grauen (bzw. Oberen), des Gotteshaus- und
des Zehngerichte-Bundes zum Freistaat der drei Bünde, welcher später Teil
der Eidgenossenschaft wurde, entstand im 15. Jahrhundert ein eigenständiges
staatliches Gebilde. Dieses war vor allem durch starke, souveräne (Gerichts-)
Gemeinden und zusätzlich durch eine lose politische Struktur ohne eigentliche
zentrale Gewalt gekennzeichnet. Nach dem Gemeindeprinzip fand daher auch
die konfessionelle Reformation statt. Vor allem im Grauen Bund blieben die ka-
tholischen Gemeinden in der Mehrheit, während sich im Zehngerichte-Bund die
überwiegende Mehrheit der Gemeinden der Reformation anschloss. Der Got-
teshausbund dagegen war konfessionell gemischt, doch vor allem in Chur und
im Engadin dominierten reformierte Gemeinden. Im Verlauf der Bündner Wir-
ren und des Dreißigjährigen Krieges sowie der teilweise fanatisch ausgetragenen
Gegenreformation entfremdeten sich die Graubündner Gemeinden untereinan-
der weiter. Das obere Engadin und das Münstertal wandten sich Mailand, und
damit der (katholischen) spanisch-habsburgischen Krone zu. Die reformierten
Gemeinden wurden von Österreich unter Druck gesetzt, da die Kontrolle über
die Alpenpässe geopolitisch vor allem für die Habsburger Dynastie von zentraler
Bedeutung war. Durch die Unterstützung einzelner Kantone der überwiegend
katholischen Eidgenossenschaft und durch das militärische Engagement Frank-
reichs hielten die konfessionellen und politischen Unruhen im nahezu gesamten
Kantonsgebiet bis 1639 an und drohten zeitweise sogar die Eidgenossenschaft
in den Dreißigjährigen Krieg hineinzuziehen. Die politische und religiöse Zerris-
senheit der Region spiegelte sich bis ins 19. Jahrhundert in der gesellschaftlichen
Entwicklung Graubündens wider und förderte so die Etablierung auch heute
noch differenzierbarer konfessioneller Subregionen innerhalb des Kantons (cf.
berthele 2001, 119, cf. ferner Abb. 5.1 und 5.2).
Während die beiden italienischsprachigen Bezirke Bernina und Moesa, ebenso
wie die italienischsprachigen Minderheiten in den übrigen Bezirken, stabil über
148 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Römisch-katholisch: stark
Römisch-katholisch: schwach
Evangelisch-reformiert: stark
Evangelisch-reformiert: schwach
Keine Vorherrschaft
Rätoromanisch: stark Rätoromanisch: schwach
Deutsch: stark Deutsch: schwach
Italienisch: stark Italienisch: schwach
Keine vorherrschende Sprache
Abb. 5.1: Sprachkonzentration in den Gemeinden & Bezirken (eigene Darstellung, Quelle: Statisti-
scher Atlas der Schweiz).
Abb. 5.2: Vorherrschende Konfession in den Gemeinden (eigene Darstellung, Quelle: Statistischer
Atlas der Schweiz).
149
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
den Beobachtungszeitraum überwiegend römisch-katholischer Konfession sind,
variiert die Konfession der Deutsch und Rätoromanisch sprechenden Bevöl-
kerung beträchtlich zwischen den einzelnen Bezirken, bleibt aber im Untersu-
chungszeitraum ebenfalls sehr stabil. Die rätoromanische Bevölkerung in der
Surselva und im Bezirk Albula ist über den gesamten Beobachtungszeitraum
sehr dominant römisch-katholisch. Das gilt in deutlich schwächerer Weise auch
für die dort ansässigen deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen. Dagegen über-
wiegt der Anteil evangelisch-reformierter, romanischsprachiger Personen in den
Bezirken Inn, Hinterrhein und Maloja. In letzterem Bezirk sowie im Hinterrhein
gilt das für den rätoromanischen und deutschsprachigen Bevölkerungsanteil, im
Bezirk Hinterrhein sogar im gleichen Ausmaß. Im Bezirk Inn dagegen dominiert
die evangelisch-reformierte Glaubensgemeinschaft unter der rätoromanischen
Bevölkerung, während die deutschsprachigen Anteile eher der römisch-katholi-
schen Konfession angehören (cf. Tab. 2).
Allerdings sind diese Unterschiede infolge des vorherrschenden Gemeindeprin-
zips, im Gegensatz zu vergleichbaren zentralistischen Gebieten wie dem Norden
Spaniens, Belgien oder (Nord-)Irland, nur teilweise konjunkt mit den aktuellen
sprachlichen und kulturellen Subregionen, welche weitaus stärkere Überschnei-
dungen aufweisen.
Das ist vor allem auch der geograschen bzw. infrastrukturellen Situation in
Graubünden geschuldet. Während für das Habsburger Reich die Pass-Straßen
des hochalpinen Kantons als einfachste bzw. einzige Verbindungsmöglichkeit
zwischen den einzelnen spanischen und österreichischen Machtzentren infra-
strukturell enorm wichtig waren, stellten und stellen die entsprechenden Hoch-
gebirgszüge aber auch geograsche Barrieren für den kulturellen, ökonomischen
und sprachlichen Austausch zwischen der einheimischen Bevölkerung der ein-
zelnen Täler dar (cf. Abb. 6). Sie limitieren so zum einen die Interaktionsmög-
lichkeiten und den Handel, da diese nur über die entsprechenden Pässe erfolgen
können. Zum andern fördern sie entsprechend die Ausbildung und Bewahrung
regionaler kultureller und sprachlicher Distinktionsmerkmale, wie Dialektfor-
men und Traditionen innerhalb der geograsch separierten, nahezu ausschließ-
lich entlang der Flussläufe besiedelten Täler.
Es erscheint daher zielführend, in den folgenden Analysen auf kulturell-sprach-
liche bzw. geograsch-infrastrukturelle Regionen zu fokussieren und den kon-
fessionellen Unterschieden weniger Beachtung zuteil werden zu lassen, zumal
religiös-konfessionelle Faktoren ohnehin über das 20. Jahrhundert hinweg in
Zentraleuropa zunehmend an Bedeutung verloren haben und in weiten Teilen
lediglich historisch-politische Einussgebiete widerspiegeln.
150 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Albula Bernina Surselva
1970 2000 1970 2000 1970 2000
Sprache EV RK EV RK EV RK EV RK EV RK EV RK
Rätoromanisch 6,30 93,70 5,77 94,23 49,02 50,98 58,82 41,18 9,03 90,97 7,79 92,21
Deutsch 42,78 57,22 40,26 59,74 49,56 50,44 37,65 62,35 34,65 65,35 37,52 62,48
Italienisch 14,61 85,39 13,24 86,76 8,28 91,72 6,05 93,95 1,85 98,15 1,57 98,43
Französisch 40,00 60,00 32,14 67,86 25,00 75,00 42,86 57,14 15,79 84,21 22,86 77,14
andere 13,46 86,54 8,13 91,87 52,17 47,83 16,13 83,87 14,44 85,56 17,89 82,11
Total 21,50 78,5 28,91 71,09 10,91 89,09 8,58 91,42 15,18 84,82 18,16 81,84
Hinterrhein Imboden Inn
1970 2000 1970 2000 1970 2000
Sprache EV RK EV RK EV RK EV RK EV RK EV RK
Rätoromanisch 69,26 30,74 66,51 33,49 26,86 73,14 26,9 73,1 75,62 24,38 73,75 26,25
Deutsch 70,83 29,17 66,06 33,94 51,29 48,71 47,21 52,79 34,84 65,16 41,81 58,19
Italienisch 5,59 94,41 7,48 92,52 0,72 99,28 2,18 97,82 8,00 92,00 10,86 89,14
Französisch 75,00 25,00 64,00 36,00 44,44 55,56 38,18 61,82 68,18 31,82 73,08 26,92
andere 18,46 81,54 12,54 87,46 17,87 82,13 10,45 89,55 17,14 82,86 17,88 82,12
Total 65,36 34,64 62,77 37,23 38,03 61,97 41,95 58,05 62,42 37,58 60,11 39,89
Maloja Moesa Prättigau-Davos
Sprache 1970 2000 1970 2000 1970 2000
EV RK EV RK EV RK EV RK EV RK EV RK
Rätoromanisch 80,29 19,71 75,87 24,13 27,27 72,73 11,11 88,89 58,28 41,72 49,59 50,41
Deutsch 61,22 38,78 56,7 43,3 44,34 55,66 44,35 55,65 82,93 17,07 76,42 23,58
Italienisch 22,83 77,17 26,72 73,28 0,54 99,46 1,56 98,44 4,32 95,68 4,66 95,34
Französisch 43,89 56,11 32,62 67,38 23,53 76,47 30,56 69,44 52,48 47,52 42,86 57,14
andere 14,13 85,87 9,45 90,55 6,52 93,48 4,93 95,07 24,09 75,91 14,76 85,24
Total 50,42 49,58 48,52 51,48 2,10 97,9 4,28 95,72 75,78 24,22 72,38 27,62
Plessur Landquart
Sprache 1970 2000 1970 2000
EV RK EV RK EV RK EV RK
Rätoromanisch 34,96 65,04 26,04 73,96 36,69 63,31 30,48 69,52
Deutsch 60,50 39,50 54,02 45,98 62,76 37,24 58,07 41,93
Italienisch 4,31 95,69 5,92 94,08 2,54 97,46 4,38 95,62
Französisch 50,90 49,10 38,60 61,40 40,62 59,38 51,85 48,15
andere 13,55 86,45 12,76 87,24 16,83 83,17 16,11 83,89
Total 51,44 48,56 48,16 51,84 56,17 43,83 55,38 44,62
Tab. 2: Konfessionsanteile nach Bezirk und Sprache (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
151
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 6.1: Verkehrsnetz der Schweiz (eigene Darstellung, Quelle: OSM).
Abb. 6.2: Verkehrsnetz Graubünden (eigene Darstellung, Quelle: OSM).
152 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Graubünden gliedert sich demnach in drei sprachliche Regionen (Deutsch, Ita-
lienisch, Rätoromanisch), wobei das Rätoromanische (seit 1880 die dritte Amts-
sprache des Kantons, seit 1938 eine Landessprache der Schweiz) in fünf einzelne
Dialektregionen (der Sprachgemeindegröße nach geordnet: Surselva: Sursilvan;
Unterengadin: Vallader; Oberengadin: Puter; Albula: Surmiran; Hinterrhein: Sutsil-
van) zerfällt (cf. Abb. 5.1).
Die Sprachverteilung ist in den Bezirken sehr unterschiedlich. Während das Rä-
toromanische in der Surselva und im Engadin dominiert, sind das sutsilvanische/
sutselvische und surmiranische/surmeirische Idiom als Minderheitensprache in
gemischten oder deutsch dominierten Gemeinden des Hinterrheins und Albula
anzusehen. In Maloja nden sich gemischtsprachige Gemeinden, vor allem Rich-
tung Inn nimmt der Anteil an Rätoromanisch (Puter) Sprechenden zu. Das dich-
ter besiedelte Zentrum Graubündens mit den Bezirken Imboden, Landquart,
Prättigau-Davos und Plessur einschließlich der Hauptstadt Chur ist deutschspra-
chig dominiert, konfessionell meist paritätisch ausgerichtet und infrastrukturell
deutlich stärker vernetzt als die Peripherie (cf. Abb. 6).
Der Anteil deutschsprachiger Personen in Graubünden wächst im Beobach-
tungszeitraum von 59% auf 68%, der Anteil rätoromanischsprachiger Perso-
nen sinkt dagegen von 22% auf 14%. Auch die Gruppe der Anderssprachigen
wächst in dieser Zeitspanne, ebenfalls vor allem im Zentrum, von 3% (4.500)
auf 8% (14.000). Dies ist der zunehmenden Bedeutung der englischen Sprache
in Graubünden zuzuschreiben.
Da in dieser Zeitspanne aber die Bevölkerung in Graubünden insgesamt zu-
nimmt, werden davon natürlich auch die Sprachanteile beeinusst. Doch auch
in absoluten Zahlen nimmt die rätoromanische Bevölkerung ab. Während 1970
noch 37.000 Personen angaben, Rätoromanisch als Hauptsprache26 zu verwen-
den, ging diese Zahl auf 26.000 im Jahr 2000 zurück. Fast die Hälfte davon lebt
in der Surselva. In den dominant rätoromanischen Bezirken nimmt diese Sprach-
gruppe nur leicht ab. Gleichzeitig wächst, vor allem im Zentrum, die deutsch-
sprachige Population von 100.000 auf 130.000. In den rätoromanischen Gebie-
ten bleibt sie annähernd konstant bzw. steigt nur sehr leicht an.
26 Bei den Erhebungswellen 1970 und 1980 wurde nach der Muttersprache gefragt, während ab 1990 nach der
Hauptsprache gefragt wurde.
153
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 7.1: Relative Sprachverteilung in Graubünden (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Abb. 7.2: Absolute Sprachentwicklung nach Regionen in Graubünden (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
RR insgesamt
RR Surselva & Inn
RR Zentrum
Deutsch
andere
Italienisch
Rätoromanisch
DE insgesamt
DE Surselva & Inn
DE Zentrum
154 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Graubünden ist, wie die meisten Regionen Zentraleuropas, einem demogra-
schen Alterungsprozess unterworfen. Das Durchschnittsalter steigt im Beobach-
tungszeitraum insgesamt von 33,1 auf 38,5 Jahre. Lediglich in Prättigau (Davos)
sinkt es bei der rätoromanischen Bevölkerung. Während die deutsche Sprach-
gruppe meist etwas unter dem Durchschnittsalter liegt, ist in der rätoromani-
schen Sprachgruppe das Gegenteil zu beobachten.
Jahr Rätoromanisch Deutsch Italienisch Französisch andere
Albula 1970 37,4 31,9 34,7 38,3 32,0
2000 45,8 38,3 45,7 49,3 32,0
Bernina 1970 44,8 32,4 37,3 48,1 41,8
2000 56,6 45,7 43,2 53,6 42,1
Surselva 1970 34,5 33,0 32,7 30,8 30,1
2000 41,3 39,2 42,7 40,7 31,7
Hinterrhein 1970 43,9 34,0 32,7 53,8 31,5
2000 48,2 38,3 46,2 51,6 31,2
Imboden 1970 37,9 28,8 27,2 30,7 28,9
2000 49,7 35,9 43,5 43,0 31,6
Inn 1970 36,3 32,0 35,4 34,7 26,1
2000 40,0 39,2 46,4 58,5 34,3
Maloja 1970 34,4 29,3 33,5 29,8 29,0
2000 40,3 36,8 40,1 37,9 34,2
Moesa 1970 38,7 37,6 36,1 51,7 39,1
2000 43,9 48,5 42,1 46,2 31,8
Prättigau 1970 42,9 34,2 31,8 37,6 29,5
2000 40,8 38,1 44,8 48,2 34,6
Plessur 1970 35,5 32,6 30,3 38,5 29,4
2000 44,2 39,3 41,6 48,7 32,3
Landquart 1970 37,2 32,8 29,3 35,6 29,4
2000 43,8 36,7 44,5 43,7 30,5
Tab. 3: Durchschnittsalter nach Sprachgruppe und Wohnbezirk (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Die Altersdifferenz zwischen der deutschen und der rätoromanischen Bevöl-
kerung liegt insgesamt bei rund vier Jahren, variiert aber in einzelnen Bezirken
enorm und reicht von einem bis zwei Jahren im Engadin und der Surselva bis
über 10 Jahre in Imboden, Hinterrhein und Bernina. Nur in Moesa liegt der
Altersdurchschnitt der rätoromanischen Bevölkerungsgruppe unter jenem der
155
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Deutschsprachigen. Hier gibt es im Jahr 2000 allerdings auch nur noch 0,15%
Rätoromanisch Sprechende im Datensatz. Die weibliche Bevölkerung Graubün-
dens ist in beiden Sprachgruppen in der Regel älter als die männliche Bevölke-
rung, aber auch hier zeigen sich große Unterschiede zwischen den Bezirken.
Die Altersdistribution verändert sich im Untersuchungszeitraum für beide Ge-
schlechter nahezu parallel.
Auffällig ist vor allem in der deutschsprachigen Bevölkerung eine starke Ge-
burtskohorte in den 1960er Jahren, welche im Jahr 2000 das Alter von ca. 40
Jahren erreicht hat. In der rätoromanischen Bevölkerung dagegen lässt sich die-
se Kohorte nur bis 1980 nachzeichnen. Zwischen 1980 und 1990 verschwindet
die entsprechende Verteilungsauffälligkeit nahezu gänzlich (cf. Abb. 8). Im Jahr
2000 ist eine erneute, wenn auch schwache Zunahme der rätoromanischen Be-
völkerung in der Kohorte bis ca. 20 Jahre zu beobachten. Insgesamt scheint die
Erhöhung des Altersdurchschnitts in der deutschsprachigen Bevölkerung durch
eine Verschiebung des Modus27 in höhere Altersstufen begründet, während in
27 Der Modus einer Verteilung beschreibt die Ausprägung, welche auf die meisten in der Verteilung enthalte-
nen Einheiten zutrifft. Da die Altersverteilung hier gruppiert wurde, stellt der Modus die Altersklasse dar,
der die meisten Personen angehören.
Abb. 8: Altersentwicklung (in %) nach Sprachgruppen, insgesamt (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
156 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
der rätoromanischen Bevölkerung vor allem die Lebenserwartung und damit der
Bevölkerungsanteil in den hohen und höchsten Altersklassen steigt. Allerdings
spricht gegen einen generellen Überalterungseffekt und einen durch die entspre-
chende Mortalität bedingten Rückgang der rätoromanischen Sprache die nur
schwach negative Bevölkerungsbilanz (3.200 Geburten / 3.400 Sterbefälle im
Zeitraum von 1990–2000). Im Gegensatz dazu ist diese Bilanz in der deutsch-
sprachigen Bevölkerung allerdings positiv. Es kann jedoch nicht unterschieden
werden, zu welchem Anteil sich dieser Geburtenüberschuss deutschsprachig
aufwachsender Personen aus der bündnerromanischen Population reproduziert,
d.h. wie hoch der Anteil der deutschsprachig aufwachsenden Personen mit Rä-
toromanisch sprechenden Eltern ist, die ihre Hauptsprache nicht an die nächste
Generation weitergeben. Diese Einschränkung gilt umgekehrt zwar im gleichen
Maße, es ist aber anzunehmen, dass sowohl der Anteil, als auch die absoluten
Häugkeiten dort geringer ausfallen.
Mit Blick auf die jüngsten Altersgruppen fällt vor allem die starke anteilige
Abnahme der bündnerromanischen Kinder und Jugendlichen im Zentrum
Graubündens auf, während sich diese Kohorte in den rätoromanischen Sprach-
gebieten nur leicht und weitgehend parallel zum insgesamt feststellbaren Ge-
burtenrückgang verkleinert. In den übrigen Bezirken mit rätoromanischen
Minderheiten (Albula, Hinterrhein, Maloja) unterscheiden sich diese in ihrer
Entwicklung nicht von der entsprechenden deutschsprachigen Kohorte (cf.
junge und jüngste Altersklasse). Das könnte als Indiz dafür gesehen werden,
dass ein größerer Teil kulturell-sprachlich verwurzelter Rätoromanen in den
entsprechend dominierten Bezirken wohnhaft ist. Diese geben ihre regionale
Sprache gemeinsam mit den entsprechenden kulturellen Distinktionsmerkma-
len häuger über unterschiedliche primäre und sekundäre Sozialisationsprozes-
se an die jüngeren Kohorten weiter. In sehr stark rätoromanisch dominierten
Gemeinden könnten zusätzlich auch Schließungs- und Inklusionsprozesse den
Spracherhalt und die Weitergabe des Bündnerromanischen unter pragmatisch
orientierten Personen fördern. Im Zentrum dagegen kann eher von Berufs- und
Aufstiegsorientierten und kommunikativ bzw. pragmatisch orientierten Perso-
nen ausgegangen werden, da in dieser Region der kulturelle und kommunikative
(Gebrauchs-)Wert des Rätoromanischen als geringer eingestuft wird, und der
Erhalt und die Weitergabe des Rätoromanischen daher stärker vom traditions-
bewussten, identitätsstiftenden Charakter abhängig sein dürfte, was unter Ver-
wurzelten häuger der Fall ist. Darüber hinaus können Exklusionsprozesse der
deutschsprachigen Bevölkerungsmehrheit und kulturelle Stigmatisierungen den
Rückgang der rätoromanischen Sprache und Kultur in den jungen Kohorten im
Zentrumsgebiet bedingen.
157
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Eine differenziertere Analyse des Sprachgebrauchs und der Sprachentwicklung
im Kanton Graubünden muss daher auch anhand der vorhandenen Paneldaten-
struktur mit Hilfe longitudinaler Auswertungsmethoden zusätzlich auf indivi-
dueller Ebene erfolgen, um so auch die dynamischen Eigenschaften von Spra-
che, Spracherwerb und Sprachgebrauch berücksichtigen zu können. Zusätzlich
müssen aufgrund der bereits diskutierten starken Disparitäten räumliche, sowohl
individuelle, als auch regional-geograsche Dynamiken als Erklärungsmuster des
Sprachgebrauchs näher untersucht werden.
7. Dynamiken des Sprachwechsels
Die Sprache und der Sprachgebrauch sind stark abhängig von zeitlich veränder-
lichen Faktoren. Neben den individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten be-
einussen unter anderem Sozialisationsbedingungen, Bildungs- und Berufsent-
scheidungen, Veränderungen des sozialen Umfeldes sowie räumliche und soziale
Mobilität den individuellen Spracherwerb und -gebrauch und bedingen daher
auch einen möglichen Wechsel der Hauptsprache im Lebensverlauf. Während
nur 2,8% der deutschsprachigen Bevölkerung im Untersuchungszeitraum die
Hauptsprache wechseln, liegt dieser Anteil bei der rätoromanischen Bevölke-
rung bei 12%. Die gültigen Anteile schwanken allerdings stark in den einzelnen
Abb. 9: Altersverteilung (in %) nach Region und Sprachgruppe (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
158 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Erhebungswellen. Zwischen 1980 und 1990 steigt dieser in der bündnerroma-
nischen Population von 6% auf 17,5% (2000: 14,2%). In der deutschsprachi-
gen Population dagegen fällt der Anteil zwischen 1980 und 1990 von 3% auf
1,8%, steigt aber im Jahr 2000 wieder auf 3,1%. Die starke Unregelmäßigkeit
in der Welle von 1990 könnte aber in der damals eingeführten Änderung der
Fragestellung und des Erfassungsinstruments der Sprache begründet sein. Hier
wurde von der Abfrage der Muttersprache auf die Abfrage der Hauptsprache um-
gestellt, zudem wurden ergänzende Fragen zum Sprachgebrauch neu eingeführt.
Es steht zu vermuten, dass viele Fälle bereits zu früheren Erhebungszeitpunkten
ihre Hauptsprache gewechselt haben, durch die geänderten Abfragemodalitä-
ten aber erst zu diesem Zeitpunkt aufscheinen. Vor allem bezüglich der nahezu
vollständig bilingualen rätoromanischen Bevölkerung sind starke methodische
Einüsse zu vermuten.
Erhebungsjahr
Abwanderung von RR zu Sprachgruppen 1980 1990 2000
Deutsch 1.574 4.268 3.682
Italienisch 136 243 128
Französisch 9 7 68
andere Sprachen 12 14 21
Zuwanderung zu RR von Sprachgruppen 1980 1990 2000
Deutsch 1.695 877 1.892
Italienisch 149 174 313
Französisch 18 16 50
andere Sprachen 10 14 64
Saldo 141 –3.451 –1.580
Tab. 4: Sprachwechselsaldo nach Erhebungszeitpunkten in absoluten Sprecherzahlen (eigene Berech-
nung, Quelle: SNC).
Neben dem großen Anteil an Personen, welche ihre Sprache über den Untersu-
chungszeitraum nicht wechseln, dominieren in allen Sprachgruppen die Wechsel
zum Deutschen, aber auch Zuüsse zum Rätoromanischen sind erkennbar und
nehmen zwischen 1990 und 2000, relativ zu den vorherigen Perioden, deutlich
zu. Im Detail zeigt sich, dass der größte absolute Zustrom zum Rätoromani-
schen aus der deutschen Sprachgruppe erfolgt, der relative Anteil ist aber in allen
Sprachgruppen annähernd identisch. Sehr wenige Wechsler sind zwischen der
italienischen und der rätoromanischen Population zu beobachten. Dies über-
rascht vor allem aufgrund der häug in Treffen geführten, engen Verwandtschaft
159
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 10: Entwicklung der Sprachgruppen im Zeitverlauf (eigene Darstellung, Quelle: SNC).
Abb. 11: Wechsel der Hauptsprache im Zeitverlauf (eigene Darstellung, Quelle: SNC).
70 deutsch
70 deutsch
80 deutsch 90 deutsch
00 deutsch
70 andere
70 andere
Deutsch
andere
andere
Italienisch
Räto-
romanisch
Räto-
romanisch
80 andere
90 andere
00 andere
70 italienisch
70 italienisch
80 italienisch
90 italienisch
00 italienisch
70 romanisch
70 romanisch
80 romanisch
90 romanisch
00 romanisch
80 romanisch 90 romanisch 00 romanisch
80 italienisch 90 italienisch 00 italienisch
80 andere
90 andere 00 andere
80 deutsch 90 deutsch 00 deutsch
Italienisch
Deutsch
160 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
zwischen den beiden romanischen Sprachen, lässt sich aber durch die bereits
erwähnte geograsche und kulturelle Separation der italienischsprachigen Bevöl-
kerungsgruppen erklären.
Insgesamt nimmt die Zahl der Sprachwechsel in Graubünden im Zeitverlauf
zu. Der größte Austausch ndet zwischen der deutschen und rätoromanischen
Bevölkerung statt. Allerdings verschiebt sich der Wechsleranteil zugunsten des
Deutschen. Zwischen 1970 und 1980 sind 48% Sprachwechsel von Rätoroma-
nisch zu Deutsch respektive 36% von Deutsch zum Rätoromanischen festzustel-
len. In der folgenden Dekade nden 77% aller Wechsel zum Deutschen hin statt,
nur 11% wechseln zum Rätoromanischen. Bis zum Jahr 2000 steigt dieser Anteil
wieder auf 16%, während in dieser Zeitspanne 62% der Sprachwechsel hin zum
Deutschen gehen.
Infolge dieser Entwicklungen verändert sich im Untersuchungszeitraum die
Sprachverteilung in den einzelnen Bezirken. In den deutschen Gemeinden sinkt
der Anteil der rätoromanischen Minderheit von 11% auf 4%. Parallel wach-
sen diese Gemeinden um 20%. Da es sich auch um die bevölkerungsreichsten
Gebiete Graubündens handelt, und ein Drittel der rätoromanischen Bevölke-
rungsgruppe dort lebt, zählt man in diesen Gemeinden weit über die Hälfte aller
Sprachwechsel. Vor allem in den Bezirken Hinterrhein, Albula und Imboden
sinkt der relative Anteil Romanisch sprechender Personen deutlich. Aber auch
in Maloja sinkt der Anteil stark (cf. Abb. 12.1 und 12.2). Ein starker Rückgang
der rätoromanischen Sprache ist in Gemeinden ohne deutliche Sprachmehrheit
zu erkennen, während er in der Surselva und im Bezirk Inn nur sehr moderat
abläuft. In absoluten Zahlen bleibt die rätoromanische Bevölkerung im Bezirk
Inn sogar annähernd konstant, allerdings wächst dort die deutschsprachige Be-
völkerungsgruppe deutlich.
Auch bezüglich der Altersstruktur zeigen sich eindeutige Muster. So nden
Sprachwechsel vor allem in den Altersklassen unter 25 Jahren respektive zwi-
schen 40 und 60 Jahren statt. Deutlich weniger Wechsel lassen sich dagegen im
Alter zwischen 25 und 40 Jahren feststellen. Diese Auffälligkeit erweist sich als
unabhängig vom Geschlecht sowie von der Ursprungssprache der Personen. Al-
lerdings wird ebenfalls deutlich, dass dieser Lebenszykluseffekt im Zeitverlauf
an Bedeutung verliert. Während er in den Wellen bis 1990 noch sehr ausgeprägt
auftritt, verringert er sich zwischen 1990 und 2000, und die Altersdistribution
nähert sich zunehmend einer Gleichverteilung an. Auch hier überlagert der Pe-
riodeneffekt der geburtenstarken Jahrgänge in den 1960er Jahren innerhalb der
deutschsprachigen Bevölkerung dieses Ergebnis.
161
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Deutsch
Rätoromanisch
Italienisch
Französisch
andere Sprachen,
inkl. Englisch
Deutsch
Rätoromanisch
Italienisch
Französisch
andere Sprachen,
inkl. Englisch
Abb. 12.1: Sprachverteilung in den Bezirken, 1970 (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Abb. 12.2: Sprachverteilung in den Bezirken, 2000 (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
162 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Als wahrscheinliche Ursache dieser Entwicklung kann die zunehmende Erosion
durchgängiger Erwerbsbiograen und Lebensläufe gesehen werden, da ein Wech-
sel der Hauptsprache oft mit Veränderungen in der Lebenswelt der Akteure ein-
hergeht. Während in den älteren Jahrgängen häuger langfristige und lebenslange
Bildungs-, Erwerbs- und Partnerschaftsentscheidungen getroffen wurden und re-
alisierbar waren, scheint sich die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes
direkt auf den Sprachgebrauch und die Wahl der Hauptsprache auszuwirken. Die
Zunahme lebenslanger (Weiter-)Bildungs- und Qualizierungsoptionen erhöht
die Wahrscheinlichkeit von Berufswechseln und damit oft auch der Wohnorte
und der hauptsächlich verwendeten Sprache(n). Dies betrifft die gesamte Lebens-
spanne zwischen dem Beginn der Erwerbstätigkeit und dem Austritt aus dem
Arbeitsmarkt.
Demgegenüber waren in den älteren Jahrgängen oft langfristige Erwerbsent-
scheidungen prägend. So wurde die verwendete Hauptsprache oft zu Beginn
der Erwerbsbiograe an die Erfordernisse des jeweiligen Arbeitsmarktes, Be-
schäftigungsverhältnisses und des damit verbundenen sozialen und räumlichen
Umfeldes angepasst. Eine Rückkehr zur Muttersprache wurde dagegen mit dem
Ende der Erwerbsbiograe und dem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt wahr-
scheinlicher realisiert.
Abb. 13: Alter beim Wechsel der Hauptsprache nach Sprachgruppen (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
163
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 14.1: Alter beim Wechsel der Hauptsprache, Frauen in % (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Abb. 14.2: Alter beim Wechsel der Hauptsprache, Männer in % (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Alter
12 19 26 33 40 47 54 61 68 75 82 89 96
1980 von RR
1990 von RR
2000 von RR
1980 nach RR
1990 nach RR
2000 nach RR
%
5,00
4,00
3,00
2,00
1,00
0,00
Alter
12 19 26 33 40 47 54 61 68 75 82 89 96
1980 von RR
1990 von RR
2000 von RR
1980 nach RR
1990 nach RR
2000 nach RR
%
5,00
4,00
3,00
2,00
1,00
0,00
164 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Vor allem höher gebildete Personen wechseln daher, unabhängig von ihrer Mut-
tersprache, infolge stärkerer Akkomodations- und Leistungserwartungen und
wegen der stärkeren institutionellen Reglementierung des Übergangs in den
Arbeitsmarkt eher frühzeitig im Lebensverlauf und auch zeitlich konzentrierter
die Hauptsprache. Ferner ndet sich in der höher gebildeten Schicht auch ein
größerer Anteil aufstiegs- und berufsorientierter und kommunikativer Personen,
was durch die höheren individuellen Bildungsinvestitionen verdeutlicht wird. Da
diese auch im privaten Umfeld und aus eigener Motivation Sprachen gegenüber
interessierter sind, erhöht das die Wahrscheinlichkeit, eine zusätzliche Sprache zu
lernen bzw. die Hauptsprache zu wechseln.
Unter Personen aus mittleren und niedrigen Bildungsschichten hingegen voll-
ziehen sich die Sprachwechsel zeitlich weniger konzentriert und eher in späteren
Lebensabschnitten. Dies kann zum einen mit der weniger stärk ausgeprägten
Flexibilität und räumlichen Mobilität in Verbindung stehen. Auffällig ist zudem
der hohe Anteil relativ später Sprachwechsel. Zum einen könnte der über die
vollständige Erwerbsphase moderat ansteigende Anteil an Sprachwechseln auf
die sich verändernden sprachlichen Notwendigkeiten durch den beruichen
Aufstieg und sich damit verändernde Tätigkeitsfelder hinweisen. Zum anderen
kann der hohe Anteil an Sprachwechseln im Zeitraum des Austritts aus dem
Berufsleben als “coming home”-Effekt gedeutet werden, d.h. Personen wech-
Abb. 15: Sprachwechsel (Zu- und Abströme) nach Alter und Bildung, 1990–2000; der grüne Pfeil ver-
deutlicht die idealtypische Entwicklung der Sprachwechsel im Lebenslauf von Personen mit niedriger/
mittlerer Bildung, der violette Pfeil analog jene von Personen mit hoher Bildung (eig. Berechnung,
Quelle: SNC).
0,0
0,5
1,0
1,5
2,0
2,5
3,0
3,5
4,0
4,5
15
18
21
24
27
30
33
36
39
42
45
48
51
54
57
60
63
66
69
72
75
78
81
84
87
90
93
96
Prozent
Alter
niedrige/mittl. Bildung (RR -> and.Sp.)
niedrige/mittl. Bildung (and.Sp. -> RR)
hohe Bildung (RR -> and.Sp.)
hohe Bildung (and.Sp. -> RR)
165
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
seln mit dem Austritt aus dem Berufsleben von der Sprache im Beruf wieder zu
ihrer Muttersprache. Beides würde auf höhere Anteile pragmatisch orientierter
und verwurzelter Personen in dieser Schicht hinweisen. Es nden sich aber auch
kommunikative und sprachlich interessierte Personen darunter, welche mit dem
Austritt aus dem Erwerbsleben ihre Freizeit zum Erlernen einer neuen Sprache
und kultureller Gepogenheiten verwenden oder ihren Lebensmittelpunkt in
anderssprachige oder landschaftlich und kulturell reizvollere oder anderweitig
individuell präferierte Regionen verlegen.
Während des Erwerbslebens bedingen dagegen unter anderem beruiche Ver-
änderungen einen Arbeitsplatz- und einen damit oft auch verbundenen Wohn-
ortswechsel. Mangelnde Erwerbsoptionen in den ländlichen Gebieten und eine
Vielfalt an Aufstiegs- und Qualizierungsangeboten in dicht besiedelten Regio-
nen steigern die Wahrscheinlichkeit, ins Zentrum oder zentrumsnahe Gebiete
zu ziehen oder zu pendeln. Dadurch vergrößert sich der kulturelle Einuss des
deutschsprachigen, weiter wachsenden Zentrums. Nahezu 60% aller Wohnungs-
wechsel über Gemeindegrenzen hinaus nden im und vor allem ins Zentrum
statt. Dieser Anteil beträgt im Engadin 4,5% (Surselva: 12%).
In Zentrumsnähe benden sich zudem zwei der vier Ortschaften mit über
5.000 Einwohnern (Domat/Ems, Igis/Landquart). Da diese ebenfalls dominant
deutschsprachig sind, weitet sich die sprachlich-kulturelle Relevanz des Deut-
schen zusätzlich aus und schließt so fast an das Einussgebiet der Stadt Davos
an. Ein zweites geograsch separiertes, ebenfalls deutschsprachiges aber deutlich
kleineres Zentrum bildet St. Moritz im Bezirk Maloja.
Während bislang die Deskription der den Sprachwechsel beeinussenden Fak-
toren sowie deren zeitliche Entwicklung im Vordergrund stand, widmet sich
der folgende Abschnitt der modellbasierten, parametrischen und semi-para-
metrischen Analyse dieser strukturellen Faktoren in Bezug auf die individu-
elle Sprachnutzung. Hierbei nden Verfahren der Verweildaueranalyse (auch:
Ereignisanalyse bzw. event history analysis oder survival-time-analysis) Anwendung.
Als Grundgesamtheit der Untersuchung gelten alle Personen, die zum Zeit-
punkt ihrer ersten Erfassung der rätoromanischen Sprachgemeinde angehören
und in Graubünden wohnhaft sind. Ausgeschlossen werden allerdings Perso-
nen, welche in den italienischsprachigen Bezirken (inkl. Maloja) melderechtlich
erfasst sind, da dort, wie bereits erläutert, andere Wirkmechanismen und regio-
nale Einüsse erwartet werden müssen. Zudem machen Fallzahlproblematiken
die Berücksichtigung unmöglich. Aus methodischen Gründen (diskrete Mess-
zeitpunkte und zeitlich veränderliche Zustandsvariablen) ist es notwendig, die
Untersuchungszeiträume in einzelne Episoden zu zerlegen. Dies ermöglicht
166 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Abb. 16.1: Einussgebiet der Hauptstadt Chur, 0–30 Fahrminuten in 5 Minuten-Intervallen (eigene
Darstellung, Quelle: Open-Route-Service, OSM).
Abb. 16.2: Einussgebiet der Hauptstadt Chur, 0–30 Fahrminuten in 5 Minuten-Intervallen (eigene
Darstellung, Quelle: Open-Route-Service, OSM).
167
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 17.1: Einussgebiete der Populationszentren Graubündens, 0–30 Fahrminuten, in 5 Minuten-
Intervallen (eigene Darstellung, Quelle: Open-Route-Service, OSM.)
Abb. 17.2: Einussgebiete der Populationszentren Graubündens, 0–30 Fahrminuten, in 5 Minuten-
Intervallen (eigene Darstellung, Quelle: Open-Route-Service, OSM).
168 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
die Analyse von Perioden-Effekten der einzelnen Erhebungswellen. Darüber
hinaus ermöglicht dieses Vorgehen zum einen auch die Berücksichtigung von
Personen-Episoden, welche sonst als linkszensiert vollständig aus der Untersu-
chung ausgeklammert werden müssten. Zum anderen erlaubt dieses Procedere
die statistische Modellierung von Alterseffekten in semi-parametrischen Ver-
fahren und die Berücksichtigung zeitabhängiger Variablen in parametrischen
Verfahren.
Im Einzelnen werden die Einüsse des räumlich-sozialen Umfeldes und des
Wohnortes sowie des Bildungsniveaus auf den Wechsel der Hauptsprache vom
Rätoromanischen zum Deutschen in Abhängigkeit vom Alter der Personen un-
tersucht. Darüber hinaus werden die Einüsse des deutschsprachigen Zentrums
sowie Eigenschaften des Wohnortes und Informationen zur räumlichen Mobi-
lität mit Hilfe georeferenzierter, infrastruktureller Operationalisierungen näher
beleuchtet und als erklärende Variablen in das statistische Modell integriert. Mit
Blick auf die räumlich-soziale Dimension zeigt sich ein starker Zusammenhang
zwischen der Sprachkonzentration der Wohngemeinde und der Sprachwechsel-
neigung. Personen passen ihre Hauptsprache oft dem sozial-räumlichen Um-
feld an. Die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen und Netzwerkverbindungen
mit deutschsprachigen Personen ist in den entsprechenden Gebieten erhöht.
Dadurch steigt der individuelle Nutzen eines Sprachwechsels zur deutschen
Sprache. Vor allem kommunikative, aber auch pragmatische Personen wechseln
daher häuger zur regionalen Mehrheitssprache, während sprachlich wenig in-
teressierte und verwurzelte Personen in den rätoromanischen Sprachgebieten
diese Sprache über die Lebensspanne eher beibehalten.
Während das generelle Risiko eines Sprachwechsels in rätoromanischen Ge-
meinden eher gering ist und über den Lebensverlauf nur schwach steigt (= ab-
nehmende Überlebensrate), zeigt sich vor allem in deutschsprachig dominierten
Gemeinden eine starke Wechselneigung in den jüngeren Lebensabschnitten. Al-
lerdings sinkt dort die Überlebensfunktion auch stärker über die mittleren und
älteren Altersklassen. Zudem lässt sich ein altersunabhängiger Periodeneffekt
der einzelnen Erhebungswellen feststellen.
28
28 Die Überlebenswahrscheinlichkeiten in dieser und den folgenden Abbildungen werden mittels der Kaplan-
Meier-Schätzer “Ŝ(t)” dargestellt. Der Kaplan-Meier Schätzer ist ein effektives und konsistentes Verfahren,
das bei der Schätzung von Lebensdauern auch zensierte Daten in die Berechnung mit einbezieht. Er hat die
Form einer Treppenfunktion und eignet sich zum Vergleichen mehrerer Überlebensfunktionen (cf. kaplan/
meier 1958).
169
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 18.1: Sprachwechselneigung28 in Abhängigkeit von der Sprachkonzentration des Wohnortes und
des Erhebungszeitraums (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Abb. 18.2: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit von der Sprachkonzentration des Wohnortes und
des Alters (eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Kaplan-Meier survival estimates
Kaplan-Meier survival estimates
Analysis-time (in Altersjahren)
Erhebungszeitpunkt
170 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Abb. 19.1: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit vom Einzugsgebiet der Stadt Chur (eigene Berech-
nung, Quelle: SNC).
Abb. 19.2: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit vom Wohnbezirk Surselva (eigene Berechnung,
Quelle: SNC, OSM).
Kaplan-Meier survival estimates
Analysis-time (in Altersjahren)
Kaplan-Meier survival estimates
Analysis-time (in Altersjahren)
171
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 20.1: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit von Bildungsniveau und Alter (eigene Berechnung,
Quelle: SNC).
Abb. 20.2: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit von Bildungsniveau und Erhebungszeitraum
(eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Kaplan-Meier survival estimates
Kaplan-Meier survival estimates
Analysis-time (in Altersjahren)
Erhebungszeitpunkt
172 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Die Überlebensneigung sinkt im Zeitraum von 1980–1990 in den deutschspra-
chigen Gemeinden deutlich stärker als in den übrigen Perioden. Dies trifft al-
lerdings nicht auf die rätoromanischen Sprachgebiete und nur schwach auf ge-
mischtsprachige Gemeinden zu.
Die räumliche Distanz des Wohnortes zur Stadt Chur verändert ebenfalls die
Sprachwechselneigung. Im Speziellen neigen in der Surselva wohnende Personen
weitaus weniger zu einem Sprachwechsel als Personen, die in den anderen in
die Analyse integrierten Orten wohnhaft sind. Dieser Effekt ist in dem zweiten
rätoromanischen Bezirk Inn allerdings nicht signikant (cf. Tab. 5, Modell 1-1).
Die Gemeindegröße und das Gemeindewachstum haben keine signikanten Ef-
fekte auf die Sprachwechselneigung (cf. ibid.).
Bezüglich des Bildungsniveaus zeigen sich ebenfalls Unterschiede in der alters-
abhängigen Entwicklung der Sprachwechselneigung. Niedrige Bildungsschichten
neigen in jüngeren Jahren häuger zu einem Sprachwechsel als die vergleich-
baren höher gebildeten Schichten. Diese Neigung geht aber deutlich über die
Lebensspanne zurück. Dagegen zeigen die höhere und höchste Bildungsschicht
eine konstant über die gesamte Lebensspanne fallende Überlebensneigung. Vor
allem der institutionell regulierte Einstieg in die Arbeitswelt und der damit oft
verbundene Auszug aus dem elterlichen Haushalt bringen eine Veränderung des
sozialen Umfeldes mit sich und erhöhen so auch die Sprachwechselneigung der
unteren Bildungsschicht in diesem Lebensabschnitt.
Aufgrund mangelnder Qualikationsmöglichkeiten und der damit verbundenen
Aufstiegs- und Karriereoptionen ergibt sich in dieser Gruppe weniger die Not-
wendigkeit der sprachlichen Anpassung. Darüber hinaus sind die entsprechenden
Beschäftigungsverhältnisse weniger oft an sprachliche Bedingungen geknüpft,
was arbeitsbedingte Sprachwechsel in der Erwerbsphase weniger häug macht.
Dagegen steigen in den oberen Bildungsschichten die sprachlichen Anforderun-
gen, und beruiche Veränderungen erhöhen die Sprachwechselneigung über die
gesamte Erwerbsphase. Da in den höchsten Bildungsschichten das Berufsleben
häuger unmittelbar mit dem Renteneintrittsalter endet, als dies bei handwerk-
lich tätigen Personen und Selbstständigen der Fall ist, sinkt in dieser Gruppe die
Sprachwechselneigung leicht. Innerhalb der Erwerbsphase liegt die Wechselnei-
gung der höchsten Bildungsschicht durchgehend leicht über der Wechselneigung
der mittleren Bildungsschicht. Es lassen sich keine perioden-spezischen Ver-
änderungen der Einüsse des Bildungsniveaus auf die Sprachwechselneigung
der bündnerromanischen Bevölkerung erkennen. Lediglich in der höchsten
173
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Abb. 21.1: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit vom Geschlecht (eigene Berechnung, Quelle:
SNC).
Abb. 21.2: Sprachwechselneigung in Abhängigkeit von der Konfession (eigene Berechnung, Quelle:
SNC).
Kaplan-Meier survival estimates
Kaplan-Meier survival estimates
Analysis-time (in Altersjahren)
Analysis-time (in Altersjahren)
174 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Bildungsschicht steigt die Sprachwechselneigung in der Periode von 1990 bis
2000 relativ zu den niedrigeren Gruppen nicht so deutlich. Veränderungen im
Hochschulsystem und den höheren Bildungseinrichtungen bezüglich der Nut-
zungsmöglichkeiten des Rätoromanischen, wie die Einführung als Studien- und
Unterrichtsfach, könnten sich hierfür verantwortlich zeigen.
Das Geschlecht hat auf die Sprachwechselneigung nur einen schwachen Effekt.
In den jüngeren Altersklassen unterscheiden sich die Verläufe der Überlebens-
funktion kaum. In den Altersklassen zwischen 21 und 65 haben Frauen eine
minimal stärkere Wechselneigung. In den älteren Altersklassen dagegen gleicht
sich diese wieder an. Allerdings ist dieser ohnehin schwache Effekt nicht signi-
kant (cf. Tab. 5, Modell 1-2). Konfessionstypische Sprachwechselneigungen sind
ebenfalls nur schwach erkennbar. Im graschen Vergleich der Überlebensraten
zeigen katholische Personen eine geringere Sprachwechselneigung als Refor-
mierte. Dieser Unterschied vergrößert sich mit zunehmendem Alter geringfügig,
erweist sich aber ebenfalls als statistisch nicht signikant.
Als erklärende Faktoren werden alle diskutierten Einussvariablen verwendet.
Die Wohngemeindegröße, die Konfession und das Geschlecht haben, wie be-
reits erläutert, keinen signikanten Einuss auf die Sprachwechselneigung. Ge-
nauso wenig stellen sich die Einüsse der administrativen Bezirkseinteilungen
des Zentrums und des Bezirks Inn als signikant heraus. Dagegen hemmt ein
Wohnort in der Surselva die Sprachwechselneigung höchst signikant und relativ
stark. Noch stärker erweist sich der Einuss der in der Wohngemeinde domi-
nierenden Sprache. Deutschsprachige Gemeinden erhöhen die Wechselneigung
sehr stark, während sie in rätoromanischen Sprachgemeinden deutlich verlang-
samt wird. Neutrale, sprachlich gemischte Gemeinden bilden hier die Referenz.
Ein Wohnortswechsel erhöht die Sprachwechselneigung zusätzlich (cf. Abb. 20).
175
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Modell 1-1 Modell 1-2 Modell 1-3
TR sig. TR sig. TR sig.
Entfernung von Chur
(durchschn. Fahrminuten) 1,00 0,94
Einzugsgebiet Chur
(30 Fahrminuten) 0,74 0 0,74 0 0,74 0
Änderung der Distanz zu Chur
durch Wohnortwechsel 0,99 0 0,99 0 0,99 0
Zentrumsbezirke (Administrative
Grenzen) 1,12 0,03 1,09 0,04 1,09 0,05
Bezirk: Surselva 1,28 0 1,20 0 1,20 0
Bezirk: Inn 1,09 0,42
Berufsausbildung 0,72 0 0,73 0 0,73 0
Matura/Hochschulstudium 0,85 0,00 0,85 0,00 0,86 0,00
Wohnort: RR-Gemeinde 1,52 0 1,53 0 1,53 0
Wohnort: DE-Gemeinde 0,37 0 0,36 0 0,36 0
Wohngemeindegröße 1,00 0,68
Konfession 0,95 0,07
Geschlecht 0,95 0,05 0,96 0,10
Wohnortwechsel 0,87 0 0,87 0 0,86 0
_cons 156,35 0 156,74 0 153,00 0
/ln_sig -0,15 0 -0,15 0 -0,15 0
Sigma 0,86 0,89 0,86 0,89 0,86 0,90
Tab. 5: Parametrische Regressionsmodelle29 (eigene Berechnung, Quelle: SNC, OSM).
Abb. 22: Geschätzte Überlebensfunktionen29 in Abhängigkeit vom Wohnort und Wohnortswechsel
(Eigene Berechnung, Quelle: SNC).
29 Den Regressionsmodellen liegen log-normal-verteilte Überlebensfunktionen zugrunde. TR = Time-Ratio, d.h.
Effektstärke (Werte < 1: beschleunigt die Sprachwechselneigung; Werte > 1 verlangsamt die Sprachwechsel-
neigung); sig.: Signikanz des Effekts. _cons, /ln_sig und sigma sind die Parameter der Verteilungsfunktion.
DE-Gemeinde, kein Orstswechsel
Neutrale Gemeinde, Ortswechsel
DE-Gemeinde, Ortswechsel
RR-Gemeinde, kein Orstswechsel
Neutrale Gemeinde, kein Ortswechsel
RR-Gemeinde, Ortswechsel
Lognormal regression
Analysis-time (in Altersjahren)
Survival
176 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Die absolute Entfernung des Wohnortes von der Hauptstadt Chur hat keinen
signikanten Einuss auf die Sprachwechselneigung, dagegen zeigen sich deutli-
che, signikante Auswirkungen der übrigen räumlichen Variablen. Vor allem in-
nerhalb des Einzugsgebietes der Stadt Chur erhöht sich die Wechselneigung der
dort wohnhaften Personen noch einmal stark. Das Bildungsniveau hat ebenfalls
einen höchst signikanten Einuss auf die Sprachwechselneigung. In der mitt-
leren Bildungsschicht ist dieser stärker ausgeprägt als in der höheren Bildungs-
schicht. Hierbei dient die unterste Bildungsschicht als Referenzkategorie. Da pa-
rametrische Verweildaueranalysen auf monotone Funktionsformen beschränkt
bleiben müssen, und diese Bedingung unter Umständen, wie die deskriptive
Analyse bereits gezeigt hat, die tatsächliche Form der dynamischen Veränderung
der Wechselneigung nicht adäquat repräsentieren, werden zusätzlich verteilungs-
freie Schätzverfahren30 zur Überprüfung der Zusammenhänge eingesetzt.
In der verteilungsfreien Modellierung zeichnen sich ebenfalls die bereits be-
schriebenen Effekte der Kovariablen auf die Sprachwechselneigung der rätoro-
manischen Bevölkerung ab. Das gilt sowohl für die Wirkrichtung, als auch für
die Stärke und Signikanz, so dass hier auf eine robuste Schätzung geschlossen
werden kann (cf. Tab. 6: Modell 2-1).
30 Basierend auf David cox (1972) bzw. cox-Snell-Residuen (cox/Snell 1968). Ein Residuum ist die Dif-
ferenz zwischen einem beobachteten Datenpunkt und einem prognostizierten oder angepassten Wert.
Beim cox-Snell-Residuum werden die Verteilung und die geschätzten Parameter aus dem Modell der
Regression mit Lebensdauerdaten berücksichtigt.
177
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Modell 2-1 (Prop. Hazards) Modell 2-2 (Prop. Hazards)
Hazard-
Ratio P>|z| Rho Prob>Chi² Hazard-
Ratio P>|z| Rho Prob>Chi2 31
Entfernung von
Chur (durchschn.
Fahrminuten)
1,00 0,81 0,03 0,07
Einzugsgebiet Chur
(30 Fahrminuten) 1,32 0 0,00 0,76 1,27 0 -0,05 0,00
Änderung der Distanz
zu Chur durch
Wohnortwechsel
1,01 0 -0,05 0,00 1,01 0 -0,06 0,00
Zentrumsbezirke
(administrative
Grenzen)
0,91 0,08 -0,02 0,12
Bezirk: Surselva 0,72 0 -0,02 0,25 0,81 0 -0,05 0,00
Bezirk: Inn 0,82 0,21 0,00 0,95
Berufsausbildung 1,52 0 0,06 0,00 1,48 0 0,07 0,00
Matura/
Hochschulstudium 1,20 0,00 0,00 0,91 1,18 0 0,01 0,57
Wohnort: RR-
Gemeinde 0,41 0 0,04 0,00 0,41 0 0,04 0,00
Wohnort: DE-
Gemeinde 3,65 0 0,04 0,00 3,83 0 0,03 0,04
Wohngemeindegröße 1,00 0,14 0,07 0,00
Konfession 1,04 0,16 -0,01 0,72
Geschlecht 1,02 0,52 -0,04 0,01
Wohnortwechsel 1,21 0 0,07 0,00 1,22 0 0,08 0,00
Tab. 6: Semiparametrische Regressionsschätzung nach cox (eigene Berechnung, Quelle: SNC, OSM).
31
Eine detaillierte Betrachtung der Faktoren zeigt eine nicht proportionale Ver-
änderung der Hazard-Raten der Kovariaten vor allem in Abhängigkeit von Bil-
dungsniveau und Wohnortswechsel (cf. Tab. 6: Modell 2-2, Abb. 22). Daher
werden für diese separierte, abschnittsweise konstante, semiparametrische Teil-
Modelle geschätzt (cf. Tab. 7: Modelle 3-1-1 bis 3-2-3).
31 Die angewendeten Signikanztests sind den Modellen entsprechend angepasst. Die Hazard-Ratio indiziert
die Effektstärke (Werte > 1: Zunahme der Sprachwechselneigung; Werte < 1: Abnahme der Sprachwech-
selneigung); Rho ist das Testmaß für die Proportionalitätsannahme; P>|z| und Prob>Chi2 geben die
Signikanz für die Tests wieder.
178 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Abb. 23.2: Bedingte Hazard-Raten in Abhängigkeit von Wohnortswechsel (eigene Berechnung,
Quelle: SNC).
Abb. 23.1: Bedingte Hazard-Raten in Abhängigkeit von Biuldungsniveau (eigene Berechnung,
Quelle: SNC).
obligatorische Schule
Matura / Hochschulstudium
-ln[-ln(Survival Probability)]
-ln[-ln(Survival Probability)]
Berufsschule
Wohnortwechselkein Wohnortwechsel
Analysis-time (in Altersjahren)
Analysis-time (in Altersjahren)
179
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
Es werden entsprechend der Modelleinschränkungen angepasste, exakte Ver-
fahren zur Berücksichtigung von Rang-Bindungen verwendet (exact margi-
nal likelihood), da den Sprachwechseln zwar eine kontinuierliche Zeitachse zu
Grunde liegt, diese aber erhebungsbedingt nur in diskreten Zeitintervallen er-
fasst wird.32
Räumlich mobile Personen aus den oberen Bildungsschichten neigen nahezu
über den gesamten Lebenszyklus eher zu einem Sprachwechsel, als räumlich
verwurzelte Personen. Hier wechseln vor allem niedrig gebildete Personen
frühzeitig im Lebensverlauf ihre Sprache, nach der Phase des Berufseintritts
nimmt diese Wechselneigung aber sehr deutlich ab. Dagegen verläuft die Über-
lebensfunktion der räumlich mobilen Vergleichsgruppe über die gesamte Er-
werbsphase hinweg streng monoton fallend.
Räumlich verwurzelte Personen aus höheren Bildungsschichten neigen zwar
ebenfalls eher in jüngeren Lebensabschnitten zu einem Sprachwechsel. Diese
Neigung nimmt aber im Lebensverlauf wesentlich weniger ab, als dies in den
niedrigen Bildungsschichten der Fall ist. Die mittlere Bildungsschicht neigt am
stärksten zu einem Sprachwechsel, vor allem in Kombination mit räumlicher
Mobilität. Insgesamt neigen räumlich verwurzelte Personen eher in frühen
Lebensphasen zu einem Sprachwechsel, während räumlich mobile Personen
eine über die Lebensspanne kontinuierlich steigende Sprachwechselneigung
aufweisen.
Neben den Effekten von Bildungsniveau und räumlicher Mobilität geht der
stärkste Einuss auf die Sprachwechselneigung von der Sprachkonzentrati-
on des Wohnorts aus. Er ist zudem über alle Teil-Modelle hinweg signikant,
nimmt aber mit aufsteigender Bildungsschicht deutlich ab. Höhere Bildungs-
schichten neigen daher eher dazu, ihre Sprache nicht vom räumlich-sozialen
Umfeld abhängig zu machen, oder sie verfügen ohnehin über ein räumlich
unabhängigeres soziales Netzwerk.
Aufgrund des höheren sozialen Ansehens und der mit dem Bildungsniveau ein-
hergehenden beruichen Positionierung können darüber hinaus Schließungs-
strategien der deutschsprachigen Bevölkerung höhere Kosten verursachen,
32 Zur Überprüfung der Proportionalitätsannahmen unter Verwendung von Schoenfeld-Residuen wird auf
die Efron-Methode zur Berücksichtigung von Rangbindungen zurückgegriffen (cf. therneau/grambSch
2000).
180 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Abb. 24.1: Hazard-Raten in Abhängigkeit von einem Wohnortswechsel bei niedriger Bildung (eigene
Berechnung, Quelle: SNC).33
Abb. 24.2: Hazard-Raten in Abhängigkeit von einem Wohnortswechsel bei Berufsschulbildung
(eigene Berechnung, Quelle: SNC).
Wohnortwechsel
Wohnortwechsel
kein Wohnortwechsel
kein Wohnortwechsel
Analysis-time (in Altersjahren)
baseline survivor (niedrige Bildung)
baseline survivor (Berufsschule)
Analysis-time (in Altersjahren)
33
33 Lesebeispiel: Unter allen Romanischsprachigen mit niedriger Bildung, die ihren Wohnort nie ge wechselt
haben (zu Beginn der Analysezeit = 1 (100%), nden Sprachwechsel gehäuft im Alter zwischen 18 und 20
statt (Rückgang auf .85 (85%). Im weiteren Lebensverlauf ist die Survivor -Funktion acher, d.h. es kommt
181
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
ebenso wie vermutlich manche Usurpationsstrategien der höher gebildeten rä-
toromanischen Schichten dank größerer individueller und gruppenspezischer
Ressourcen, wie ökonomische Möglichkeiten aber auch soziale Beziehungen
oder politische Einüsse, häuger genutzt werden.
Das Einzugsgebiet Churs hat vor allem auf die mittleren Bildungsschichten
einen starken Einuss, die Veränderung der Distanz zur Hauptstadt zum Zeit-
punkt des Wohnortswechsels wirkt nur minimal und ist zudem nur in den
oberen Bildungsschichten signikant. Es können starke Wechselwirkungen
zwischen den räumlichen Variablen und den die Teilmodelle denierenden
Variablen vermutet werden, was im Rahmen dieser Untersuchung aber nicht
weiter analysiert wird.
nur noch selten zu Sprachwechseln. Anders sieht die “Absterbeordnung” der Vergleichsgruppe (Personen
mit niedriger Bildung, die einen Wohnortwechsel erlebt haben) aus. Bei dieser Gruppe verteilen sich die
Sprachwechsel relativ linear über den ganzen Lebensverlauf.
Abb. 24.3: Hazard-Raten in Abhängigkeit von einem Wohnortswechsel bei hoher Bildung (eigene
Berechnung, Quelle: SNC).
Wohnortwechselkein Wohnortwechsel
baseline survivor (Matura, Hochschulbildung)
Analysis-time (in Altersjahren)
182 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
kein Wohnortswechsel Modell 3-1-1 Modell 3-1-2 Modell 3-1-3
Bildungsniveau 1-3 Haz.R. p>|z| Haz.R. p>|z| Haz.R. p>|z|
Einzugsgebiet Chur
(30 Fahrminuten) 0,93 0,37 1,59 0,00 1,41 0,14
Bezirk: Surselva 0,74 0,00 0,85 0,12 0,84 0,55
Wohnort: RR-Gemeinde 0,40 0,00 0,41 0,00 0,34 0,00
Wohnort: DE-Gemeinde 5,27 0,00 3,46 0,00 2,87 0,00
Wohnortswechsel Modell 3-2-1 Modell 3-2-2 Modell 3-2-3
Bildungsniveau 1-3 Haz.R. p>|z| Haz.R. p>|z| Haz.R. p>|z|
Einzugsgebiet Chur
(30 Fahrminuten) 1,04 0,83 1,25 0,08 1,52 0,20
Änderung der Distanz zu Chur
durch Wohnortwechsel 1,00 0,07 1,01 0,00 1,01 0,01
Bezirk: Surselva 1,02 0,94 0,87 0,39 0,33 0,01
Wohnort: RR-Gemeinde 0,41 0,00 0,52 0,00 0,61 0,30
Wohnort: DE-Gemeinde 4,67 0,00 3,02 0,00 2,05 0,04
Tab. 7: Semiparametrische, nach Bildungsniveau und Wohnortswechsel separierte Cox-Modelle (eige-
ne Berechnung, Quelle: SNC, OSM).
Die Variable Surselva steht für die geograsche Lage des Wohnorts. Sie zeigt
sowohl bei räumlich gebundenen, niedrig gebildeten als auch räumlich mobilen,
hoch gebildeten Personen eine signikante Wirkung. In den anderen Teil-Model-
len wird das Signikanzniveau nicht erreicht. Der relativ größere Anteil kulturell
und regional verwurzelter Personen könnte diesen Effekt bei der unteren Bil-
dungsschicht erklären. Innerhalb der hochgebildeten, räumlich mobilen Grup-
pe dürfte vor allem die sprachlich-kulturelle Identität die Sprachwechselneigung
beeinussen, da hier die Sprachkonzentration in den Wohngemeinden keinen
signikanten Einuss ausübt.
183
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
8. Diskussion der Befunde: komplexe Veränderung der Sprachnutzung –
Rätoromanisch als Zweitsprache
Zusammenfassend ist gemäß den dargestellten Befunden festzuhalten, dass Ver-
änderungen der Sprachnutzung des Rätoromanischen nicht als lineare Erosions-
hypothese betrachtet werden können (cf. Prognosen von Querschnittsanalysen),
sondern vielmehr als ein komplexes Gefüge von Schließungsprozessen zu er-
achten sind. Im Sinne der ersten Hypothese (H1) können die Ergebnisse der
Altersspezik als ein Anzeichen des Modernisierungsdrucks gedeutet werden,
der auch anhand der Ergebnisse bezüglich der Bildung (H6 (2)) sowie Berufskar-
riere (H6 (3)) Ausdruck ndet. Innerhalb der für die Berufskarriere bedeutenden
Altersgruppen zeigt sich, dass ein Sprachwechsel im Alter bis 25 Jahre sowie
zwischen 40 und 60 Jahren wahrscheinlich ist, jedoch im Lebensabschnitt der
Familiengründungsphase (25 bis 40) ein Sprachwechsel deutlich seltener auftritt
(H6 (1)), was gegebenenfalls mit der Ortsverbundenheit während dieser Phase
zusammenhängen könnte. Insgesamt ist das Durchschnittsalter der Rätoroma-
nen höher als das der Deutschen (Ausnahme: Moesa). Ferner ist die Abnahme
von bündnerromanisch sprechenden Kindern und Jugendlichen im Zentrum
Graubündens auffallend, die als Exklusionsstrategie primär zu Gunsten des
Deutschen in Ballungsgebieten Geltung erfährt.34 Hierbei zeigt auch die gemäß
der zweiten Hypothese (H2) geforderte Differenzierung zwischen urbanen und
ländlich-agrarischen Regionen Wirkung. Während in den bevölkerungsreichs-
ten, deutschen Gemeinden die meisten Sprachwechsel zu verzeichnen sind,
stellt man in peripheren, ländlich-agrarischen Regionen, die eine große Distanz
zur Stadt Chur aufweisen, lediglich einen moderaten Rückgang des Rätoroma-
nischen fest (starke Wechselneigung im Einzugsgebiet Chur; weitaus geringe-
re Wechselneigung in Surselva; Inn, nicht signikant). Als relevant erweist sich
insbesondere der Wohnort: deutschsprachige Wohnortsgemeinden steigern die
Sprachwechselneigung, rätoromanischsprachige Wohnortsgemeinden hemmen
diese. (Jedoch konnte kein signikanter Effekt der Wohnortsgemeindegröße
nachgewiesen werden.) Diese Resultate verweisen auf ausgeprägte Schließungs-
kämpfe zwischen der deutschen und der rätoromanischen, jedoch weniger auf
Schließungskämpfe zwischen der italienischen und der deutschen Sprachgrup-
pe infolge des vergleichsweise geringen Wechselstroms. Der dominante Status
34 Heutzutage leben weniger Rätoromanisch sprechende Eltern in dieser Gegend als dies noch in den 1970er
Jahren der Fall war. Viele Rätoromanen wohnen wieder im Stammgebiet, weil zahlreiche Möglichkeiten
zum Pendeln bestehen (pendelnde Rätoromanen sind sehr häug auf Mehrsprachigkeit angewiesen, wo-
durch der Sprachwechsel begünstigt wird). Hingegen mussten Berufseinsteiger um 1970 aufgrund man-
gelnder Infrastruktur häug in die Zentren umziehen.
184 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
deutscher Sprachgemeinden trägt wesentlich zur Erosion des Rätoromanischen
bei. Er bewirkt innerhalb der jeweiligen Bezirke häuge Hauptsprachenwechsel
von Rätoromanisch zu Deutsch und funktioniert über ökonomische und kul-
turelle Exklusionsmechanismen. Gleichwohl vermag sich das Rätoromanische
als Zweitsprache auf persönlicher Ebene gegebenenfalls dank sozio-medialer
Usurpationsbemühungen teilweise zu behaupten. Auf der politischen Usurpa-
tionsdimension erfährt Rätoromanisch auch in deutschsprachigen Gemeinden
Graubündens den Schutz, (neben Deutsch und Italienisch) als Amtssprache im
gesamten Kanton legitimiert zu sein. Erste Hinweise, wie die Verwendung des
Rätoromanischen als Hauptsprache von 20–30-Jährigen trotz außerkantonaler
Ausbildung oder Erwerbstätigkeit, verweisen darauf, dass die Sprachpolitik (z.B.
Etablierung von Rätoromanisch an Universitäten) Erfolge erzielt (H3).
Die Ursachen von Sprachwechseln sind oftmals an lebenszyklische Unterbre-
chungen oder Veränderungen von Erwerbsbiograen gekoppelt (H6 (3)). Mo-
dernisierungsprozesse führen zu einer zunehmenden Flexibilisierung des Ar-
beitsmarktes (ältere Kohorten weisen deutlich häuger konsistente Bildungs-,
Erwerbs- und Partnerschaftshistorien auf als jüngere Kohorten, die ihre Er-
werbstätigkeit vermehrt unterbrechen und zunehmend in Teilzeit arbeiten, ins-
besondere Frauen). Dies begünstigt einen Sprachwechsel vornehmlich dann,
wenn mit der beruichen Qualizierung ein Wohnortswechsel in ein anderes
Sprachgebiet verbunden ist. Im Verlauf der gesamten, für die Erwerbstätigkeit
relevanten Lebensphase wechseln Personen aus der oberen sowie mittleren
Bildungsschicht (überwiegend Aufstiegs- und Berufsorientierte) häuger ihre
Hauptsprache als Personen aus der untersten Bildungsschicht. Folglich steigt mit
dem Bildungsniveau aufgrund erwerbsspezischer Anforderungen die Bereit-
schaft, die Hauptsprache zu wechseln (H6 (2)), wobei es den jeweiligen alters-
abhängigen Lebensabschnitt zu berücksichtigen gilt. Für die untere Bildungs-
schicht ist ein höherer Anteil frühzeitiger, jugendlicher Sprachwechsler (15–20
Jahre) respektive Berufseinsteiger zu beobachten, hingegen zeigen die höchste
sowie die mittlere Schicht zwar ein insgesamt höheres, jedoch über die gesam-
te Biograe konstant fallendes Bestreben zum Wechseln. Vorwiegend räumlich
mobile Personen aus den oberen Bildungsschichten (Aufstiegs- und Berufsori-
entierte) sind im Laufe des gesamten Lebenszyklus sprachwechselfreudiger als
räumlich Verwurzelte.
Im Gegensatz zu Argumentationen, deren Inhalte auf Querschnittsanalysen be-
ruhen, sind die vorliegenden Ergebnisse zum Sprachwechsel des Bündnerroma-
nischen nicht als lineare Erosionshypothese zu interpretieren. Vielmehr belegen
sie die Schließungsmechanismen wie die Verdrängung des Rätoromanischen in
185
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
den Privatbereich resp. als Zweitsprache (persönliche und sozio-mediale Usurpa-
tionsdimension), wobei lediglich die Hauptsprache (meist berufsbedingt, ökono-
mische Exklusionsdimension) gewechselt wird. Wie erwartet wechseln Rätoroma-
nen häuger die Hauptsprache als die deutschsprachige Bevölkerung. Ohnehin
überwiegen in allen Sprachgruppen die Wechsel zum Deutschen. Nichtsdesto-
trotz sind einige Zuüsse zum Rätoromanischen zu verzeichnen (insbesondere
zwischen 1990 und 2000), die einem linearen Erosionstrend widersprechen und
auf einen “Nachwuchs” des Rätoromanischen hoffen lassen. Vornehmlich in der
besagten Periode steigt der Zuuss zum Rätoromanischen im Vergleich mit den
vorausgehenden Dekaden beachtlich. Dies könnte als erster, wenn auch vager
Hinweis des Erfolges rechtlicher Usurpationsgrundlagen gedeutet werden, da vor
allem im Zeitverlauf zwischen der zweiten und dritten Panelwelle staatliche Maß-
nahmen zum Schutz des Rätoromanischen verabschiedet wurden (wie beispiels-
weise die Entwicklung einer gemeinsamen Schriftsprache), die seit 1990 Wirkung
zeigen. Die Zunahme der Sprachwechsel dürfen nicht vom Trend zur Mehrspra-
chigkeit entkoppelt werden. Der häuge Wechsel der Hauptsprache von Räto-
romanen deutet darauf hin, dass Bi- und Multilingualismus als Auswege einer
Erosion des Rätoromanischen genutzt werden (H4). Das zeigt sich insbesondere
in der variierenden Sprachverwendung von Deutsch (u.a. im Rahmen der Er-
werbstätigkeit) und Rätoromanisch (im familiären Umfeld) je nach Umfeld (H5).
Solche Differenzierungen werden übersehen, wenn lediglich die Hauptsprache
in Betracht gezogen wird. Ein Hauptsprachenwechsel ist nicht zwangsläug mit
einer Erosion der vorherigen Hauptsprache gleichzusetzen. Faktisch sind mindes-
tens Kenntnisse zweier Sprachen erforderlich, andernfalls wäre ein Wechsel nicht
möglich. Die Praktizierung einer Sprache entscheidet auch nicht über den Verlust
einer anderen. Vielmehr bleiben die Sprachkenntnisse weitgehend bestehen und
werden im Rahmen der Nebensprache fortlaufend genutzt bzw. können bei Be-
darf erneut abgerufen werden. Dies führt zu einem “Coming-Home-Effekt”. Unter
Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit sind somit unsere Befunde ein Plädoyer
für eine funktionale Sprachdifferenzierung.
Der Sprachgebrauch basiert auf einem komplexen Gefüge von Schließungspro-
zessen, deren Analyse nicht arglos auf Querschnittsinformationen fundiert wer-
den sollte. Ein differenzierteres Bild liefern Längsschnittdaten, die mit adäquaten
Auswertungsmethoden untersucht werden. Relevante Einussfaktoren, welche
im Rahmen unserer Analysen festgestellt werden konnten, sind das Bildungs-
niveau, Erwerbsbiograen, räumliche Mobilität sowie die Sprachkonzentration
des Wohnortes, die wir aus einer dynamischen Lebensverlaufsperspektive analy-
siert haben. Auf diesem Wege können wir Unterschiede der Sprachwechselnei-
gung von Bevölkerungsgruppen zwischen den Regionen innerhalb des Kantons
186 Ladinia XL (2016) / Beat Fux, Benjamin Gröschl, Ruth Abramowski
Graubünden (Einzugsgebiet zum deutschsprachigen Zentrum Chur, Surselva)
feststellen, die jedoch nach Bildungsstand variieren.
Bezüglich der Auswertung ist zu berücksichtigen, dass die vorliegenden Ergebnis-
se weiterführend mittels eines Mehrebenenmodells zu systematisieren sind. Ein
solcher Ansatz würde es erlauben, die Effektstärke der unterschiedlichen Ebenen,
d.h. der struktureller Rahmenbedingungen einerseits sowie der individuellen Hand-
lungen andererseits, innerhalb Graubündens nach Regionen zu kontextualisieren.
Auch eine Erhebung minutengenauer zeitlicher, partnerorientierter und inhaltli-
cher Inventarisierung der Sprachenverwendung stellt seit Jahren ein Forschungsde-
siderat dar (z.B. bei bilingualen Personen, um die Sprachverwendung gewichten zu
können). Folglich bedarf diese Thematik weiterer, in Anbetracht der Komplexität
der Fragestellung vorzugsweise auch interdisziplinärer Forschung.
9. Zusammenfassung und Ausblick
Unserem Forschungsanliegen der Veränderung des Sprachgebrauchs des Räto-
romanischen in Graubünden haben wir uns aus einer soziologischen Perspek-
tive genähert und sind zu der Erkenntnis gekommen, dass Sprachwechsel ein
komplexes soziales Phänomen darstellt. Die theoretische Argumentation der
Sprache als Identitätsmerkmal und Sprachwechsel als Schließungsprozess im Wechsel-
spiel zwischen Inklusion und Exklusion hat uns verholfen, ein Verständnis dieser
Komplexität zu entwickeln. Mittels der Analyse von Längsschnittdaten ist ein
wesentlicher Schritt erfolgt, individuelle Sprachbiograen methodisch präzise zu
erfassen. Im Rahmen dieser Untersuchungen wurden vornehmlich Aspekte der
räumlichen und sozialen Mobilität fokussiert, die sich als relevante Einussg-
ßen erwiesen. Ferner können erste Hinweise von partiellen Erfolgen der Sprach-
politik zum Schutz des Rätoromanischen festgestellt werden. Unsere Befunde
deuten darauf hin, dass die Mehrsprachigkeit als Usurpationsstrategie von Räto-
romanen tendenziell unterschätzt wird. Die Verwendung des Rätoromanischen als
Zweitsprache auf vorwiegend persönlicher und sozio-medialer Usurpationsdimen-
sion, erfolgreiche politische Maßnahmen und ein Zuuss zum Rätoromanischen stellen
Hindernisse für eine völlige Erosion dieser Minderheitensprache dar. Schluss-
folgernd wird hieraus eine, wenn auch vage Hoffnung auf das Fortbestehen des
Rätoromanischen ausgesprochen. Feststellen können wir bis dato, dass die The-
matik des Sprachwechsels weiterer, auch interdisziplinärer, Forschung bedarf.
Letztlich bleibt, insbesondere für unser soziologisches Forschungsinteresse, ein
Ausbau der Befunde in Richtung eines multivariaten Mehrebenenmodells für
diskrete Daten wünschenswert.
187
Schließungskämpfe und Usurpationsstrategien. Zum Sprachwechsel von Rätoromanen
10. Literatur
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Italienischen, in: “Linguistica”, L, 2010, 7–26.
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Ressumé
L svilup dl rumanc grijon se lascia descrive sciche n prozes de erojion lonch
sciche ence na dominanza tres plu grana dl lingaz todesch. Tles cumpeides dla
popolazion svizeres vegnel tres indò registré les carateristiches struturales dla po-
polazion retoromana, ma ala se trata pro chisc dac de informazions trasversales,
che ne tegn nia cont de fatours dla vita tipics per la mudazion linguistica. La Swiss
National Cohort (SNC) conlieia i dac personai coius adum dal Oze Federal per
Statistica tl temp dal 1970 al 2000 y conzed de analisé per l prum iade biograes
linguistiches, la mudazion dla adoranza linguistica y si determinanc. Te nost arti-
cul se nuzonse dla poscibelté de analisé i avenimenc, per denì i fatours zentrai,
che – sciche pro les toes di morc ti studies demogracs – inuenzeia la “soura-
vivenza” (survivor), chel vuel dì la mudazion dla adoranza linguistica personala. Se
lian a la teoria dla sclujura soziala mostra i resultac che dutes les strutures soziales
(danter l auter l svilup economich, la espanjion formativa) complicheia la adoran-
za dl retoroman. Chest se mostra sovenz tla mudazion linguistica entant certes
fases dla vita (p.ej. canche an met man de laoré, canche an met su familia). A de
tel mecanisms de esclujion messen ti mete decontra strategies usurpatores anter i
retoromans. L bilinguism o la adoranza spezica dl retoroman te cer ciamps (p.ej.
a ciasa, tl laour) sostegnù da sforc de politica linguistica desmostra che al é n gran
potenzial de souravivenza dla cultura linguistica dl retoroman.
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Article
Residuals are usually defined in connection with linear models. Here a more general definition is given and some asymptotic properties found. Some illustrative examples are discussed, including a regression problem involving exponentially distributed errors and some problems concerning Poisson and binomially distributed observations.
Article
In lifetesting, medical follow-up, and other fields the observation of the time of occurrence of the event of interest (called a death) may be prevented for some of the items of the sample by the previous occurrence of some other event (called a loss). Losses may be either accidental or controlled, the latter resulting from a decision to terminate certain observations. In either case it is usually assumed in this paper that the lifetime (age at death) is independent of the potential loss time; in practice this assumption deserves careful scrutiny. Despite the resulting incompleteness of the data, it is desired to estimate the proportion P(t) of items in the population whose lifetimes would exceed t (in the absence of such losses), without making any assumption about the form of the function P(t). The observation for each item of a suitable initial event, marking the beginning of its lifetime, is presupposed. For random samples of size N the product-limit (PL) estimate can be defined as follows: List and label the N observed lifetimes (whether to death or loss) in order of increasing magnitude, so that one has 0t1t2tN.0 \leqslant t_1^\prime \leqslant t_2^\prime \leqslant \cdots \leqslant t_N^\prime . Then P^(t)=Πr[(Nr)/(Nr+1)]\hat P\left( t \right) = \Pi r\left[ {\left( {N - r} \right)/\left( {N - r + 1} \right)} \right], where r assumes those values for which trtt_r^\prime \leqslant t and for which trt_r^\prime measures the time to death. This estimate is the distribution, unrestricted as to form, which maximizes the likelihood of the observations. Other estimates that are discussed are the actuarial estimates (which are also products, but with the number of factors usually reduced by grouping); and reduced-sample (RS) estimates, which require that losses not be accidental, so that the limits of observation (potential loss times) are known even for those items whose deaths are observed. When no losses occur at ages less than t the estimate of P(t) in all cases reduces to the usual binomial estimate, namely, the observed proportion of survivors.
  • Bernard Cathomas
cathomaS, Bernard: Erkundungen zur Zweisprachigkeit der Rätoromanen, Bern -Frankfurt 1977. cathomaS, Bernard: Der Weg zu einer gemeinsamen romanischen Schriftsprache, in "Bündner Monatsblatt", 1/12, 2012, 28-62.
Rätoromanische Sprachbiographien -Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden
  • Renata Coray
coray, Renata: Rätoromanische Sprachbiographien -Sprache, Identität und Ideologie in Romanischbünden, Zürich 2009.
  • David R Cox
cox, David R.: Regression models and life tables, in: "Journal of the Royal Statistical Society, Series B", 34, 1972, 187-220.
Rumantsch Grischun -eine gemeinsame romanische Schriftsprache
  • Alexi Decurtins
DecurtinS, Alexi: Rumantsch Grischun -eine gemeinsame romanische Schriftsprache, in: "Bündner Monatsblatt", 3/12, 2012, 227-239.
La mort dil Romontsch ni l'entschatta della fin per la Svizra (Mit Anhang: Graphiken und Karten)
  • Jean-Jacques Furer
Furer, Jean-Jacques: La mort dil Romontsch ni l'entschatta della fin per la Svizra (Mit Anhang: Graphiken und Karten), Degen/Igels 1981; [in allen vier Landessprachen der Schweiz veröffentlicht].