Available via license: CC BY 4.0
Content may be subject to copyright.
Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren 37
von Andrea Klein
Ein kleiner Schritt
© pixabay 2021, Foto: Ri Butov
Vorangehen zahlt sich doppelt aus
Darwin, Australien, die letzte Station meiner mehrwö-
chigen Rundreise durch den Osten des Landes. Mein
Studium ist seit einem halben Jahr abgeschlossen. Wie
es nach der Reise weitergeht, weiß ich noch nicht ge-
nau. Auf meiner Liste für die letzten Tage in Down Under
steht: ein Tandem-Fallschirmsprung. Im Nachhinein kann
ich gar nicht mehr so genau sagen, was mich daran reizte
und wieso ich unbedingt in mehreren Tausend Metern
Höhe aus einem Flugzeug steigen wollte. Ich schätze, in
diesen Tagen in Australien ging es darum, mich zu über-
winden und etwas zu tun, obwohl es mir ein wenig Angst
bereitete. Ich buchte und absolvierte den Sprung, der so
schnell vorbei war, dass ich ihn gar nicht richtig genießen
konnte. Eigentlich zehrte ich später mehr davon, als dass
ich an dem Tag selbst viel davon hatte. Der kleine Schritt
aus dem Flugzeug entfaltete seine Wirkung zeitversetzt,
und vielfach.
Eine Nummer zu groß?
Auch in beruichen Fragen hat sich für mich dieses Prin-
zip als wertvoll erwiesen: Ich mache etwas, das mir ein
wenig Angst bereitet, und verlasse absichtlich die mir
vertraute, stabile Basis. Ich traue mir etwas zu, das eine
Nummer größer ist als sonst. Etwas, wofür ich mich in
dem Moment noch gar nicht richtig bereit fühle. Das
kann im Kleinen beispielsweise die Zusage für einen Vor-
trag in ein paar Wochen sein, dessen Thema ich in dem
Moment noch nicht genug überblicke und von dem ich
nicht weiß, ob ich die Erwartungen des Publikums oder
der Auftraggeber erfüllen werde.
Dieses Verlassen der stabilen Basis betrit oft zwei be-
stimmte Aspekte, das Sichtbar-Sein und das Gehen des
eigenen Weges. Bei mir traf beides zusammen, als ich aus
einem inneren Bedürfnis heraus im Jahr 2015 meinen
Blog www.wissenschaftliches-arbeiten-lehren.de starte-
te. Ich wollte diese Idee unbedingt umsetzen, um Anre-
https://doi.org/10.3224/expose.v2i2.09
Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren
38
Ein kleiner Schritt
gungen für eine sinnvolle Gestaltung der Lehre auf dem
Gebiet des wissenschaftlichen Arbeitens zu veröent-
lichen. Hatte ich alles, was es für ein solches Vorhaben
brauchte? War ich auf die möglichen Folgen vorbereitet?
Zweimal „Nein“, laut und deutlich. Als der Blog dann end-
lich online stand und für alle Welt zu lesen war, bedeute-
te das: Ich gehe heraus aus der Unsichtbarkeit und Ano-
nymität. Ich bin nicht mehr nur eine Dozentin von vielen,
die allenfalls auf der Webseite ihres Arbeitgebers gelistet
ist. Ich hatte einen Blog und wollte natürlich, dass mög-
lichst viele Interessierte ihn lesen. Ich war gezwungen,
eine Position einzunehmen und zu sagen, wofür ich ste-
he (und sie im Lauf der Zeit zu schärfen, denn statisch
ist das nicht). Ich fühlte mich angreifbar und musste das
aushalten.
Die Erfahrung, die ich machte, war positiv: Ich fand
Gleichgesinnte, ich bekam Zuspruch. Resonanz – Men-
schen schwangen mit dem mit, was ich schrieb. Sie fan-
den gut, wofür ich stand und wie mich entwickelte. Der
Blog führte direkt zu einem Buchvertrag und indirekt zu
einem weiteren, er führte zu vielen Begegnungen und zu
einer Art von Austausch, die ich sonst nicht bekommen
hätte. Ähnlich erging es mir mit meinem Online-Kon-
gress Studienfeuer, den ich im Jahr 2019 aus dem Nichts
aufbaute und mit dem ich wiederum auf Resonanz stieß.
Muss nun jeder einen Blog betreiben oder einen Kon-
gress auf die Beine stellen? Natürlich nicht. Es geht um
die Erkenntnisse auf der Meta-Ebene: Wenn ich mich
sichtbar mache und zeige, wofür ich stehe, gehe ich ein
Risiko ein – und kann belohnt werden. Von meinen Er-
fahrungen mit dem Blog und dem Kongress protiere ich
sehr. Und selbst wenn es anders gekommen wäre und
die Ideen geoppt wären, hätte ich viel gelernt.
Der Fall Fabian
Im Laufe der letzten Jahre haben mich mehrere Personen
(aus meiner Perspektive teilweise aus heiterem Himmel!)
als ihre Mentorin bezeichnet. Immer waren das Men-
schen, mit denen ich einige lange, vertraute Gespräche
geführt habe. Meist ging es um Entscheidungen, die bei
ihnen gerade anstanden, oder ganz allgemein um Ent-
wicklungsmöglichkeiten. In diesen Gesprächen habe ich
oft einfach nur Fragen gestellt, manchmal aber auch von
eigenen Erfahrungen erzählt. Aber damit habe ich oen-
sichtlich in meinem Gegenüber etwas ausgelöst. Alle
konnten meist wenig später ihren ersten kleinen Schritt
machen (und danach viele weitere mehr).
Im Folgenden will ich von der Entwicklung einer Person
berichten, die mich gezielt als Mentorin angefragt hatte:
Ein Mann Mitte zwanzig, nennen wir ihn Fabian. Ich
lernte ihn vor einigen Jahren in einem hochschuldidak-
tischen Workshop kennen, den ich durchführte. Von den
anderen Teilnehmenden unterschied er sich: Er war deut-
lich jünger als die anderen. Zudem brachte er ein großes
Talent für Lehre mit. Letzteres zeigte sich vor allem in
einem Reexionstext, den er nach Abschluss des Work-
shops einreichte. Denn im Plenum verhielt er sich still.
Wie sich später herausstellte, hatte ihn der Erfahrungs-
vorsprung der anderen eingeschüchtert. Auch dass er als
Erster in seiner Familie studierte, trug sicher einen guten
Teil zu seiner Unsicherheit bei. Im akademischen Umfeld
war er noch nicht zu hundert Prozent angekommen, er
fühlte sich nicht zugehörig.
Unsere Wege kreuzten sich in den Monaten nach dem
Workshop noch einige Male. Irgendwann fragte Fabian
mich, ob ich mir vorstellen könne, seine Mentorin zu
sein. Für ihn war das ein großer Schritt, der ihn Über-
windung kostete. Mein Ja kam schnell, auch die Details
waren schnell geklärt, und wir trafen uns kurze Zeit nach
der Anfrage in einem Café für ein erstes Gespräch. Da-
rin ging es zunächst einmal um die Selbstorganisation
in seinem Job als studentische Hilfskraft und später als
wissenschaftlicher Mitarbeiter, aber auch um Fragen des
Sich-Trauens. Was „darf“ man als Masterand auf einer
Konferenz? Wie netzwerkt man, wenn man (in der eige-
nen Wahrnehmung) „noch nichts vorzuweisen hat“?
Danach haben wir weitere Gespräche geführt, mittler-
weile steckt Fabian mitten in seiner Promotion. Für die-
sen Artikel habe ich ihn gebeten, mir mitzuteilen, wozu
ich ihn damals ermutigt habe und was er sich getraut
hat, das ohne das Mentoring schwerer gefallen wäre.
Hier seine Antwort:
Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren 39
Ein kleiner Schritt
„Ich denke, ohne Deine Zusage zum Mentoring und un-
sere Gespräche wäre ich nie so gut in den PhD gestartet
und hätte mich lange Zeit noch mit Zweifeln an meiner
Eignung für den wissenschaftlichen Weg beschäftigt.
Durch Deine Erfahrungsberichte und den Blick von au-
ßen el es mir viel leichter, direkt die drei für mich wichti-
gen Präsentationen anzugehen und zu meistern. Konkret
ist ja auch der Schlagabtausch mit den ‚alten Meistern‘
bei der Tagung aus Deiner guten Idee gewachsen, mal
mit einer intelligenten Frage an der Tagung auf sich auf-
merksam zu machen... Rückblickend hattest Du wirklich
mit vielen Deiner positiven Einschätzungen ganz und gar
recht. Danke! 😊“
Fabian ist sichtbar geworden und hat außerdem die ers-
ten Schritte seines (eigenen) Weges beschritten, auch
gegen Unverständnis und sogar Widerstände aus dem
eigenen Umfeld. Wie hätte ich ihm als Mentorin helfen
können, wenn ich selbst nie erfahren hätte, wie es ist,
sichtbar zu sein und Widerstände auszuhalten? Wie hätte
ich ihn – bildlich gesprochen – dazu ermutigen können,
einen Fallschirmsprung zu wagen, wenn ich selbst da-
mals in Australien auf dem Boden geblieben wäre?
Fliegen im Doppeldecker
Das Potenzial in einem anderen Menschen zu entdecken,
ist nur der Anfang. Um es gemeinsam zu entwickeln,
braucht es allerdings mehr. Dabei wirkt eine Art „Dop-
peldecker“: Wer selbst die Erfahrung gemacht hat, dass
dieses Sich-Trauen und Sich-Herauswagen etwas Gutes
bringen kann, vermag anderen besser dabei zu helfen,
die eigenen Schritte zu gehen. Diese Schritte können
auf gänzlich anderen Gebieten stattnden. Es geht ein-
zig und allein darum, ein glaubwürdiges Vorbild für von
innen kommende Veränderungen zu sein.
Gemäß Banduras Konzept der Selbstwirksamkeit helfen
uns nicht nur eigene Erfolgserlebnisse, sondern auch das
Vorhandensein von Vorbildern, das Vertrauen aufzubau-
en, dass wir mit unserem Handeln etwas bewirken kön-
nen. Wenn Sie also bei anderen Personen (z. B. bei Studie-
renden) eine Veränderung bewirken möchten, sollten Sie
ihnen Erfolgserlebnisse ermöglichen und einen Zugang
zu Vorbildern schaen – oder am besten gleich selbst
als Vorbild dienen. Es hilft, wenn das Vorbild der Person
möglichst stark ähnelt, die sich verändern möchte. Nach-
vollziehbar ist auch, dass verbale Ermutigung der Selbst-
wirksamkeitserwartung zuträglich ist. Bestärken Sie Ihr
Gegenüber und ermutigen Sie sie zu ersten Schritten,
aus denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Erfolgserlebnis-
se resultieren.
Aus einer anderen Perspektive, nämlich jener von Decis
und Ryans Selbstbestimmungstheorie, lernen wir etwas
über Motivation (im Wortsinn die Summe der „Beweg-
Gründe“). Ein Grundbedürfnis des Menschen ist das
Kompetenzerleben, sprich: gelungene Erfahrungen zu
sammeln, die auf das eigene Handeln zurückzuführen
sind. Das war übrigens ein Grund dafür, dass ich kurz nach
meinem Fallschirmsprung das Gleitschirmiegen erlernt
habe. Da musste ich selbst etwas tun, anstatt mich nur
an jemand anders zu schnallen und dann fallen zu las-
sen. Diese Art des Fliegens konnte ich vor dem Flug bei
© pixabay 2021, Foto: Alexandr Ivanov
Exposé – Zeitschrift für wissenschaftliches Schreiben und Publizieren
40
Ein kleiner Schritt
der Planung, während des Flugs und danach genießen.
Das zweite Bedürfnis ist das nach Autonomie. Die Person,
die sich entwickeln möchte, benötigt Wahlfreiheit. Sie
sollten ihr Raum für eigene Entscheidungen zugestehen
– auch wenn Sie (vermeintlich!) noch so gut wissen, wel-
cher Weg der vielversprechendere ist. Aus dem dritten
Bedürfnis, dem nach sozialer Eingebundenheit, lässt sich
ableiten, dass bedeutsame Veränderungen eher stattn-
den, wenn das Umfeld stimmt. Stellen Sie für die Person
Kontakt zu Gleichgesinnten her, önen Sie Ihr Netzwerk,
kurz: machen Sie menschliche Verbindung möglich.
Fliegen lernen
Und nun zu Ihnen selbst: Was könnte Ihr erster Schritt
sein? Wo trauen Sie sich, sichtbarer zu werden und Ihren
eigenen Weg zu gehen? Ist es ein Wortbeitrag zu einer
kontroversen Frage während des nächsten Team-Mee-
tings? Ist es ein Social-Media-Post zu einem Herzensthe-
ma? Ist es vielleicht ein Beitrag zu meinem Online-Kon-
gress Studienfeuer? Gehen Sie voran – für sich selbst und
für Andere!
Zum Weiterlesen
Bandura, Albert (2012): Self-ecacy: The exercise of con-
trol. New York: W. H. Freeman.
Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (2000): The „What“ and
„Why“ of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-De-
termination of Behavior. Psychological Inquiry, 11(4),
227–268.
Dweck, Carol (2008): Mindset: The new psychology of
success. New York: Ballantine Books.
Wahl, Diethelm (2013): Lernumgebungen erfolgreich
gestalten: Vom trägen Wissen zum kompetenten
Handeln. 3. Auage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Die Autorin
Dr. Andrea Klein – Dozentin, Coach und Autorin – lehrt
seit vielen Jahren an Universitäten, Fachhochschulen und
Berufsakademien die Grundlagen wissenschaftlichen Ar-
beitens. Im Jahr 2019 hat sie den Online-Kongress „Stu-
dienfeuer“ ins Leben gerufen (www.studienfeuer.de). In
hochschuldidaktischen Workshops teilt Andrea Klein ihre
Erfahrungen mit Dozierenden und entwickelt mit ihnen
Herangehensweisen für die Lehre sowie für die Betreu-
ung und Begutachtung studentischer Arbeiten. Ihr Fach-
Blog „Wissenschaftliches Arbeiten lehren“ (www.wissen-
schaftliches-arbeiten-lehren.de) richtet sich ebenfalls an
Dozierende.
© privat