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Christoph Lorke
Von der Biografie- und Wissensgeschichte
zur Analyse sozialer Ungleichheiten
John Lekschas, Hans Szewczyk und die Pathologisierung des Sozialen in der DDR
Zeit ihres Bestehens verboten Ideologie und Selbstdeutungsentwürfe der DDR-Führung,
die Existenz sozialer Randlagen oder gar „Armut“ einzugestehen. Eine breite öentliche
ematisierung dieser sozialen Erscheinung stand im Widerspruch zu den sozialuto-
pischen Leitgedanken eines egalitären Staates.1 Es gehört zu den Aufgaben von Kultur-
und Sozialhistorikern, punktuell Vorstellungswelten über soziale Randlagen auch im
Staatssozialismus zu dekonstruieren und nach der Etablierung und Vermittlung von
Sinndeutungen des Sozialen zu fragen.2
Zentral für diese Produktion und Distribution von Sozialdiagnosen waren– nicht
erst mit der Gründung der DDR – seit jeher Wissenschaler. Schon in den 1920er-
Jahren traten verschiedene Experten ganz unterschiedlicher Fachrichtungen hervor, die
Annäherungen an soziale Randlagen gewagt haben und damit an einer umfassenden
„Verwissenschalichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) Anteil hatten. Mediziner führ-
ten in den frühen 1920er-Jahren in ihren Studien den Typus des „Asocialen“ ein, wobei
„Psychopathen“ hier das sample bildeten und entsprechende Deutungen (gemütlos, gel-
tungsbedürig, willensschwach, hysterisch) vorgeprägt haben düren.3 Der National-
sozialismus beförderte neben einer öentlich propagierten symbolischen Erhöhung der
1 Siehe Christiane Reinecke, Fragen an die sozialistische Lebensweise: Empirische Sozialfor-
schung und soziales Wissen in der SED-Fürsorgediktatur, in: Archiv für Sozialgeschichte (AfS)
50 (2010), S. 311–334.
2 Zur Wissensgeschichte sei nur Jakob Vogel, Von der Wissenschas- zur Wissensgeschichte.
Für eine Historisierung der „Wissensgesellscha“, in: Geschichte und Gesellscha (GG) 30
(2004), S. 639–660, erwähnt; vgl. daneben Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in:
Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172, in
übergreifender Hinsicht und zentral: Mitchell G. Ash, Wissenscha und Politik. Eine Bezie-
hungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: AfS 50 (2010), S. 11–46, bes. S. 30–42, sowie Peter
Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenscha zu Politik, Wirtscha
und Medien in der Wissensgesellscha, Weilerswist 2001.
3 Wilhel m Klugmann, Zur charakterologischen Ana lyse der asozialen Psychopathen, Diss. med.,
Köln 1923; Kurt Doerr, Die asocialen Neigungen bei Psychopathie des Kindesalters. Aetiologie
und forensische Bewertung, Kiel 1922.
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„erbgesunden“ und somit „förderungswürdigen“ kinderreichen Familie 4 ebenso eine
„erbbiologisch“ motivierte Verengung auf die „asozialen Großfamilien“, denen in ver-
schiedenen Untersuchungen „Antriebs- und Hemmungslosigkeit“ bei „Mangel an Ehr-
gefühl, Pichtbewußtsein, Verantwortungsfreude und Gemeinschassinn“5 attestiert
wurde. Die Untersuchungen dienten dazu, die vermeintliche Minderwertigkeit der kon-
struierten sozialen Gruppe festzuschreiben. Diese und andere Studien stützten die Ideo-
logie vom „Untermenschentum“ und von der „Gemeinschasunfähigkeit“ und waren
darauf ausgelegt, „rassepegerische Maßnahmen“ und somit exkludierende Anordnun-
gen anzubahnen.6
All diese Entwicklungen erklären, auf welche Weise nach 1945 überkommene so -
zia le Vorstellungswelten, altbewährte Beschreibungsformeln und herabsetzende Sozial-
klischees mitsamt einer Individualisierung sozialer Randständigkeit revitalisiert wer-
den und durchaus reüssieren konnten, sowohl im Zuge des „Auaus des Sozialismus“
als auch in der westdeutschen Wiederauaugesellscha. Die Orientierung an über-
kommenen bürgerlichen Werten, um das Soziale zu kategorisieren, war jedenfalls kei-
neswegs auf die DDR beschränkt.7 Wenn es in diesem Beitrag vornehmlich um die
Durchsetzung und das Zirkulieren sozialen Wissens in der „Arbeiter- und Bauernge-
sellscha“ und im Kern um sozialutopisch-sozialhygienisch motivierte Ansätze gehen
soll, denen durch den Bruch mit eugenischen Denkvorstellungen der Boden für die
4 Genannt se i hier insbesondere die nanzielle Unterstützung durch den Reich sbund der Kinder-
reichen. Siehe dazu Konrad (Düsseldorf), Präsident des Reichsbundes der Kinderreichen zum
Schutze der Familie, Die erbgesunde kinderreiche Familie und ihre Bedeutung für den neuen
Staat, in: Erich Zeßler-Vitalis, Volksaufartu ng. Ahnen- und Familienforschung, Bevölkerungs-
politik, Rassenhygiene, Erbbiologie, 2. Au., Berlin 1934, S. 44–52. Zur rassenhygienischen
Ausrichtung der Bevölkerungspolitik in zeitgenössischer Perspektive samt entsprechenden
politischen Forderungen: Friedrich Burgdörfer, Kinder des Vertrauens. Bevölkerungspoli-
tische Erfolge und Aufgaben im Großdeutschen Reich, Berlin 1940. Siehe zum Reichsbund
etwa Reichsbund der Kinderreichen (Hrsg.), Der Reichsbund der Kinderreichen: Was ist er?
Was will er, Berlin 1934; Reichsbund Deutsche Familie/Kampund für erbtüchtigen Kinder-
reichtum e. V. (Hrsg.), Richtlinien für die Auslese, Berlin 1940; zur Rolle des Reichsbundes: Jill
Stephenson, „Reichsbund der Kinderreichen“: e League of Large Families in the Population
Policy of Nazi Germany, in: European Studies Review 9 (1979), S. 351–379.
5 So der Leiter der Hauptstelle „Praktische Bevölkerungspolitik“ im Rassenpolitischen Amt der
Reichsleitung der NSDAP Wolfgang Knorr, Vergleichende erbbiologische Untersuchungen an
drei asozialen Großfamilien, Berlin 1939, S. 49.
6 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen in Nicole Kramer/Armin Nolzen (Hrsg.), Ungleichhei-
ten im „Dritten Reich“. Semantiken, Praktiken, Erfahrungen, Göttingen 2012; siehe außerdem
jüngst Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr/Elke Rajal, „Arbeitsscheu und mora lisch verkom-
men“: Verfolgung von Frauen als „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Wien 2019.
7 Für blockübergreifende Ähnlichkeiten bei der Wahrnehmung sozialer Randlagen siehe Chris-
toph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der
Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M./New York 2015.
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praktische Umsetzung faktisch entzogen war,8 dann scheint eine Begründung hierfür
kaum nötig: Denn auch in der DDR existierte ein soziokulturelles Spannungsverhält-
nis zwischen den so imaginierten „unteren“ Bevölkerungsteilen und der „Normalge-
sellscha“. Diagnostizierte Rückstände konnten aus Sicht zahlreicher Beobachter den
Weg zur „entwickelten sozialistischen Persönlichkeit“ hemmen, weshalb die Beurtei-
lungsformen „abgehängter“ Bevölkerungsschichten, besonders bei den Etikettierun-
gen „Dissozialität“ und „Asozialität“,9 als pathologische und nicht zuletzt auch patho-
logisierende Denitionsversuche seit den 1960er-Jahren eine immer größere Bedeutung
erlangen sollten– in einer Zeit, in der jenseits wie diesseits des „Eisernen Vorhangs“
ein wachsender Steuerungsanspruch sowie steigender Informationsbedarf festzustel-
len sind, was auch ein wachsendes Bewusstsein für Risiken und Bedrohungspoten-
zial bestimmter gesellschalicher Entwicklungen einschloss.10 Entsprechende Studien
8 Gabriele Moser, „Im Interesse der Volksgesundheit …“ Sozialhygiene und öentliches Gesund-
heitswesen in der Weimarer Republik und der frühen SBZ/DDR. Ein Beitrag zur Sozialge-
schichte des deutschen Gesundheitswesens im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002; Günter
Ewert, Sozialhygiene. Ein Rückblick zu ihrer Entstehung und Charakteristik im Kontext zum
Paradigma in der DDR, Berlin 2001; Carsten Klingemann, Ein Kapitel aus der ungeliebten
Wirkungsgeschichte der Sozialwissenschaen. Sozialutopien als sozialhygienische Ordnungs-
modelle, in: ders. (Hrsg.), Rassenmythos und Sozialwissenschaen in Deutschland. Ein ver-
drängtes Kapitel sozialwissenschalicher Wirkungsgeschichte, Opladen 1987, S. 10–49; Udo
Schagen, Sozialhygiene als Leitkonzept für Wissenscha und Gesellscha. Der Bruch mit dem
Biologismus in der Medizin der SBZ, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawli-
czek (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschasgeschichte des 20. Jahr-
hunderts, Stuttgart 2006, S. 223–232.
9 Siehe dafür die einsch lägige Studie von Sven Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“ im Recht der
SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung, Köln 2005,
hier S. 274; siehe des Weiteren Matthias Zeng, „Asoziale“ in der DDR: Transformationen einer
moralischen Kategorie, Münster u. a. 2000; omas Lindenberger, „Asoziale Lebensweise“:
Herrschaslegitimation, Sozialdisziplinierung und Konstruktion eines „negativen Milieus“ in
der SED-Diktatur, in: GG 31 (2005), S. 227–254; Joachim Windmüller, Ohne Zwang kann der
Humanismus nicht existieren ...– „Asoziale“ in der DDR, Frankfurt a. M. 2006; Steen Hirsch,
Der Typus des „sozia l desintegrierten“ Stra äters in Kriminologie und Stra frecht der DDR. Ein
Beitrag zur Geschichte täterstrafrechtlicher Begründungen, Göttingen 2008, sowie Katharina
Lenski, „Asozialität“ in der DDR, in: Enrico Heitzer u. a. (Hrsg.), Nach Auschwitz. Schwieri-
ges Erbe DDR: Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung,
Frankfurt a. M. 2018, S. 162–175.
10 Gabriele Metzler, Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundes-
republik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschri 275 (2002) 1, S. 57–103. Zum Verhält-
nis von Wissenscha und Politik in der DDR, dabei insbesondere bezogen auf die Aspekte der
politischen Kontrolle und Steuerungsdominanz sowie die Grenzen politisch-diktatorischer
Durchdringung in einzelnen Fächern: Jürgen Kocka, Wissenscha und Politik in der DDR,
in: Jürgen Kocka/Renate Mayntz (Hrsg.), Wissenscha und Wiedervereinigung. Disziplinen
im Umbruch, Berlin 1998, S. 435–459; ferner Andreas Malycha, Geplante Wissenscha. Eine
Quellenedition zur DDR-Wissenschasgeschichte 1945–1961, Berlin 2003; Peer Pasternack,
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schufen damit auch Deutungsangebote für sozialpolitische Handlungen. Wie sich die
Wissensgenerierung, -distribution und -popularisierung ganz konkret entwickelte,
möchte der folgende Beitrag nachzeichnen, und zwar im Sinne einer Kulturgeschichte
des Wissens um das Soziale, bei der die wissenstheoretischen Repräsentationen sowie
die Konstituierungs bedingungen von Selbstbildern im Vordergrund stehen, woraus sich
wiederum bestimmte In- und Exklusionsformen ableiten lassen.11
Methodologisch sollen im Folgenden wissensgeschichtliche mit biograschen
Zugrien kombiniert werden. Die Ausführungen nähern sich zwei Protagonisten der
DDR-Wissenschasgeschichte, die – gewissermaßen als Nebenprodukt ihrer Fach-
richtungen– zwangsläug mit sozial unterprivilegierten Teilen der Bevölkerung kon-
frontiert waren. Der Strafrechtler John Lekschas (1925–1999) und der Mediziner Hans
Szewczyk (1923–1994) trugen ab den 1960er-Jahren maßgeblich dazu bei, dass es zur
sukzessiven Durchsetzung und Verfestigung kanonisierter, häug identisch-schemati-
scher Wertekategorien bei der Beurteilung sozial unterprivilegierter Lebensverhältnisse
kam, was darüber hinaus Rückschlüsse auf zeitgenössische Erklärungs- und Deutungs-
muster sozialer Dierenzierung erlaubt. Es handelte sich um ein in der stets Egalität
überbetonenden DDR überaus brisantes emengebiet.12 Wie wurden soziale Rand-
lagen in der DDR von Wissenschaen kommentiert und vergegenwärtigt, wie Wis-
senscha ideologisiert und umgekehrt: Ideologie verwissenschalicht, wie verbreiteten
sich Vorstellungsformen zu Ursachen und Überwindung sozialer Ungleichheit? Eine
eingehende Beleuchtung des Wirkens von Lekschas und Szewczyk– die man beide zu
den erweiterten „1929ern“ zählen könnte, der Alterskohorte also, die der DDR auf ver-
schiedenen gesellschalichen Ebenen Stabilität verlieh13– vermag Antworten auf diese
Fragen zu geben.
Wissenscha und Politik in der DDR. Eine Kontrastbetrachtung im Vergleich zur Bundes-
republik, in: Deutschland Archiv 41 (2008), S. 510–519; Agnes Tandler, Geplante Zukun.
Wissenschaler und Wissenschaspolitik in der DDR 1955–1971, Florenz 1997.
11 Achim Landwehr, Foucault und die Ungleichheit. Zur Kulturgeschichte des Sozialen, in:
Marian Füssel/omas Weller (Hrsg.), Soziale Ungleichheit und ständische Gesellscha.
eo rien und Debatten in der Frühneuzeitforschung, Frankfurt a. M. 2011, S. 64–84; spe-
ziell zur DDR und den dortigen symbolisch-rhetorischen Ein- und Ausschlussmodi Ralph Jes-
sen, Einschließen und Ausgrenzen. Propaganda, Sprache und die symbolische Integration der
DDR-Gesellscha, in: Bettina M. Bock/Ulla Fix/Steen Pappert (Hrsg.), Politische Wechsel–
sprachliche Umbrüche, Berlin 2011, S. 135–152.
12 Vgl. Reinecke, Fragen; siehe daneben Chr istoph Lorke, Von Anst and und Liederlichkeit . Armut
und ihre Wahrnehmung in der DDR (1961–1989), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in
Contemporary History 10 (2013), http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40209362/
de faul t.aspx [11. 2. 2020].
13 Mary Fulbrook, Dissonant Lives. Generations and Violence rough the German Dictator-
ships, Oxford 2011.
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John Lekschas: Strafrecht, Kriminologie und „unmoralische Verhaltensweisen“
Helmut John Lekschas wurde am 10. Oktober 1925 in Memel als Sohn des Kapitäns
Friedrich Lekschas geboren.14 Nach Kindheit in Nidden und Königsberg und dem
Besuch der Mittelschule trat Lekschas 1942 in den Arbeitsdienst ein. Nachdem er sich
während seiner Zeit in der Hitler-Jugend dazu verpichtet hatte, seinen Kriegsdienst
bei der Marine abzuleisten, erfolgte seine Einberufung im April 1943. Anfang Mai 1945
geriet er in amerikanische Kriegsgefangenscha und blieb bis Juni 1945 in Südtirol und
Österreich inhaiert. Nach seiner Freilassung lebte er zunächst in Hamburg bei seinem
Onkel und nahm danach ab 1946 eine Lehre als Maurer im sächsischen Waldheim auf.
Im Januar 1947 trat er, überzeugt von Kollegen im Betrieb und Arbeitern im Dorf, in die
SED ein. Die Hochschulreife holte er von März bis August 1947 an einer Arbeiter- und
Bauernfakultät nach und schrieb sich im Studienjahr 1947/48 an der Universität Leipzig
für Rechtswissenscha ein. 1949 wechselte er an die Humboldt-Universität zu Berlin.
Ab 1951 nahm er an einem Dozentenlehrgang an der Deutschen Verwaltungsakademie
„Walter Ulbricht“ in Forst Zinna teil und wurde dort u. a. von Hilde Benjamin (1902–
1989) betreut, der späteren Ministerin für Justiz (1953–1957). Der Lehrgang diente dazu,
eine ausreichende Anzahl an Dozenten für die von Schließung bedrohten Rechtsfakul-
täten in Jena und Halle auszubilden.15 Lekschas el aufgrund „seiner methodologischen
Klarheit und der wissenschalichen Durchdringung“ der Inhalte auf und wurde mit
der Empfehlung des seit 1952 amtierenden Professors für Strafrecht, Hans Gerats,16 nach
14 Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv, Charité, Personalakten. Prof. Lekschas,
John, 2 Bde. [im Folgenden weisen die Belege nur auf die Personalakten selbst]. Die biogra-
schen Informationen stammen v. a. aus dem ausführlichen Lebenslauf vom 6. November 1961
sowie aus den Personalbögen unterschiedlicher Jahre. Zum Werdegang Lekschas’ siehe wei-
terhin den Eintrag in Gabriele Baumgartner/Dieter Hebig (Hrsg.), Biographisches Handbuch
der SBZ/DDR. 1945–1990, Bd. 1, München 1996, S. 471; Lekschas, John, in: Günter Schenk/
Regina Meÿer (Hrsg.), Biographische Studien über die Mitglieder des Professorenzirkels
„Spiritus kreis“, Halle 2007, S. 756–758; Jan Wielgohs, Lekschas, John, in: Wer war wer in der
DDR?, http://bundesstiung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?
ID =2065 [31. 1. 2020].
15 Ralph Jessen, Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschul-
lehrerscha in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999, S. 344 f.; Falco Werkentin, Der sowjetische
Einuss auf Recht und Justiz in der DDR, in: Andreas H. Apelt u. a. (Hrsg.), Von der SED-Dik-
tatur zum Rechtsstaat. Der Umgang mit Recht und Justiz in der SBZ/DDR, Berlin 2012,
S. 44–55, hier S. 46 f.
16 Der gebürtige Rheinländer und Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland Gerats war
darüber hinaus zu Beginn der 1950er-Jahre an der Zentralen Richterschule Lehrgangsleiter.
Dort begegnete er zum ersten Mal John Lekschas. Beide waren wenige Jahre später Mitverfas-
ser eines einschlägigen Strafrechtslehrbuchs: Hans Gerats/John Lekschas/Joachim Renneberg,
Lehrbuch des Strafrechts der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1957.
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Halle vermittelt.17 Dort promovierte er im November 1952 an der Martin-Luther-Uni-
versität
18 und wirkte als Dozent für das Fach Strafrecht sowie als Prodekan der juris-
tischen Fakultät. 1956 wurde er aufgrund seiner Verdienste vom Staatssekretariat für
Hochschulwesen zum Professor mit Lehraurag für das Fach Strafrecht berufen und
ein Jahr später zum Dekan ernannt.
Bei seinem raschen Aufstieg kam Lekschas oenbar nicht nur die formale SED-
Mitgliedscha zugute, sondern wohl vor allem das aktive parteipolitische Engage-
ment auf verschiedenen Ebenen: 1951/52 war er Mitglied der Fakultätsparteileitung,
1954/55 Sekretär der Parteileitung der Fakultät, seit 1956 Mitglied der SED-Stadtlei-
tung in Halle.19 Lekschas verkörperte also schon früh den Prototypen eines aufstreben-
den Aka demikers, dessen Weg von höchster Stelle gebahnt wurde– nicht ohne über
die nötige wissenschaliche Prolierung zu verfügen.20 Seit 1953 Redaktionsmitglied
der von der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenscha herausgegebenen
juristischen Fachzeitschri Staat und Recht, erhielt er zwischen 1954 und 1958 vier Mal
die „Medaille für ausgezeichnete Leistungen“, etwa für seine rege Publikationstätigkeit
oder sein Engagement als Hochschullehrer, wohl vor allem aber aufgrund seiner Bemü-
hungen, die DDR-Strafrechtswissenscha in der Sowjetunion und anderen Ländern des
„Ostblocks“ bekannt zu machen.21
Seine Kontakte in die Ministerien konnte Lekschas in den folgenden Jahren zusätz-
lich vertiefen. 1957 in die Strafgesetzbuchkommission berufen, war er ständiges Mit-
glied in der von Hilde Benjamin geleiteten Grundkommission sowie in der Unterkom-
mission für Jugendstrafrecht und Jugendschutz.22 Weiterhin war er Vorsitzender des
wissenschalichen Beirates beim Staatssekretariat und trug seit 1958 die Verantwor-
tung für die Entwicklung der Staats- und Rechtswissenscha an den juristischen Fakul-
täten der DDR, die auch die Erarbeitung neuer Ausbildungsprogramme und die Gestal-
tung von Lehrmethoden umfasste. Im Februar 1958 wurde Lekschas vom Ministerrat
der DDR zum Richter für das Oberste Gericht der DDR bestellt. Vor diesem Hinter-
grund ist auch sein weiterer wissenschalicher Werdegang zu verstehen: 1961 Habilita-
tion und Lehrstuhlinhaber für Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, von
17 Johannes Gerats (Lehrgangsleitung), Beurteilung des Herrn Lekschas, Ministerium der Justiz,
Zentrale Richterschule, an den Dekan der Rechts- und Staatswissenschalichen Fakultät der
Martin-Luther-Universität Halle, 4. 9. 1951, Personalakte John Lekschas, Bd. 1.
18 John Lekschas, Die Kausalität bei der verbrecherischen Handlung, Berlin 1952.
19 Schreiben Lekschas an den Dekan der Jur. Fakultät, 25. 1. 1956, Personalakte John Lekschas,
Bd. 1.
20 Jessen, Elite, S. 346.
21 Begründung der Fakultätsgewerkschasleitung am 31. 10. 1958, Personalakte John Lekschas,
Bd. 1.
22 Hilde Benjamin, Zur Mitwirkung von John Lekschas bei der Entwicklung des sozialistischen
Strafrechts der DDR, in: Walter Hennig (Hrsg.), Beiträge zur Rechtswissenscha und -praxis
der DDR. John Lekschas zum 60. Geburtstag gewidmet, Berlin 1985, S. 1–11.
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1962 bis 1964 Dekan der Juristischen Fakultät, 1963 Berufung zum Mitglied des Kol-
legiums der Generalstaatsanwaltscha, 1966–1968 Prorektor für Gesellschaswissen-
schaen, 1969 Leitung der Sektion Rechtswissenscha der Humboldt-Universität, ab
1973 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaen, 1974–1976 Dekan
der Gesellschaswissenschalichen Fakultät. Sein Engagement spiegeln darüber hinaus
zahlreiche Prämien und Auszeichnungen wider.23 Wegen anhaltender gesundheitlicher
Probleme bat Lekschas im November 1979 den Rektor der Universität Helmut Klein um
die Entbindung als Dekan. 1990 ersuchte er um seine vorzeitige Emeritierung.24 Er starb
1999 in Berlin.
Dass Lekschas bereits seit den frühen 1960er-Jahren zum führenden Strafrecht-
ler der DDR avancierte, belegt die Vielzahl an einschlägigen Veröentlichungen. Seine
Dissertation und weitere Werke
25 wurden alsbald bei Studierenden und Teilnehmern
der Volksrichterlehrgänge „unentbehrliches Arbeitsinstrument“, wie Hilde Benjamin
resümierte.26 Zudem entwickelte Lekschas in zahlreichen Schrien Vorüberlegungen
über Grundfragen des Strafrechts bei jeweils kategorischer Abgrenzung zum bundes-
deutsch-bürgerlichen Strafrecht,27 was der Entwicklung einer sozialistischen Straf-
rechtstheorie den Weg ebnen sollte.28 Es waren vor allem seine Ausführungen, die dem
Strafrecht seit den frühen 1960er-Jahren „das Fremde im Innern der DDR“29 entdecken
und strafrechtlich-symbolisch markieren halfen. Dabei kam Lekschas bei der Mani-
festation bestimmter verbindlicher ethisch-moralischer wie auch kultureller Normen
sowie deren Verbreitung in der Bevölkerung eine Schlüsselrolle zu– was kaum ohne
den Hintergrund sozialistischer Moralvorstellungen in toto und ihrer Durchsetzung in
23 Unter anderem: Medaille für Verdienste um die Rechtspege in Silber 1965, Verdienstmedaille
der DDR 1969, Vaterländischer Verdienstorden in Bronze 1970, 1976 Nationalpreis III. Klasse.
24 Aktennotiz über ein Kadergespräch mit Gen. Prof. Dr. J. Lekschas, 29. 11. 1979, Personalakte
John Lekschas, Bd. 2; John Lekschas an die Personalabteilung der Humboldt-Universität zu
Berlin, 29. 3. 1990, Personalakte John Lekschas, Bd. 2.
25 Etwa John Lekschas, Zum Auau der Verbrechenslehre unserer demokratischen Strafrechts-
wissenscha, Berlin 1952.
26 Benjamin, Mitwirkung, S. 2.
27 Lekschas übte immer wieder Kritik an der Aufarbeitungspolitik, etwa in: John Lekschas/Joa-
chim Renneberg, Bonner Justiz nimmt Kurs auf KZ-Regime, in: Neues Deutschland vom
6. 2. 1959.
28 John Lekschas, Die Schuld als subjektive Seite der verbrecherischen Handlung, Berlin 1955;
ders., Über die Strafwürdigkeit von Fahrlässigkeitsverbrechen, Berlin 1958; John Lekschas/
Joachim Renneberg/Wolfgang Loose, Verantwortung und Schuld im neuen Strafgesetzbuch,
Berlin 1964; Harry Dettenborn/John Lekschas/D. Seidel, Studien zur Schuld, Berlin 1975.
29 omas Lindenberger, Das Fremde im Eigenen des Staatssozialismus. Klassendiskurs und
Exklusion am Beispiel der Konstruktion des „Asozialen Verhaltens“, in: Jan C. Behrends/o-
mas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hrsg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu histori-
schen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003, S. 179–191.
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der Bevölkerung zu verstehen ist.30 Gemeinsam mit Joachim Renneberg (1926–1977),
Professor an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaen „Walter
Ulbricht“ in Potsdam, wie Lekschas Mitautor des maßgebenden Strafrechtslehrbuchs
und Mitglied der StGB-Kommission beim Justizministerium, sorgte Lekschas für eine
Etablierung von klaren Vorstellungen zu „asozialer parasitärer Lebensweise“ in der
DDR. Es gebe im Jahr 1961, betonten beide in ihrem Vortrag im Dezember 1961 vor der
Kommission, „Lehren des XXII. Parteitags der KPdSU für die Entwicklung des sozia-
listischen Strafrechts der DDR“, eine „gesellschalich beachtliche Anzahl von Men-
schen“, die die „notwendige Reife noch nicht erreicht“ hätten.31 Dies äußere sich vor-
rangig durch Unlust an der Arbeit, wodurch „jeder ehrlich Arbeitende als Dummkopf“
erscheine.32 Unübersehbar sind in diesem Kontext soziokulturelle Transferprozesse mit
der Sowjetunion zu beobachten.33
Diese Grundüberlegungen waren der Ausgangspunkt für die Forschungsbemühun-
gen der nachfolgenden Jahre. Anfang der 1960er-Jahre gründete Lekschas in Zusam-
menarbeit mit dem Amt für Jugendfragen des Ministerrates die Forschungsgemein-
scha „Jugendkriminalität“. Überhaupt war (und blieb letztendlich bis 1989)
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Jugendkriminalität ganz zentraler Gegenstand von Lekschas’ wissenschalicher Beschäf-
tigung, musste doch die „junge Generation als künige Erbauer der kommunistischen
30 Vgl. zentral die „Zehn Gebote zur sozialistischen Moral“, die sich insbesondere von „bürger-
lich-kapitalistischen“ Ehe-, Familien- und sonstigen Wertevorstellungen und entsprechenden
„Überbleibseln“ distanzieren und allen voran die Wesenszüge „sozialistischer Arbeit“ de-
nieren wollten. Vgl. Institut für Gesellschaswissenschaen beim ZK der SED (Hrsg.), Neues
Leben, neue Menschen. Konferenz des Lehrstuhls Philosophie des Instituts für Gesellschas-
wissenschaen beim ZK der SED über theoretische und praktische Probleme der sozialisti-
schen Moral am 16. und 17. April 1957, Berlin 1957; ZK der SED, Abteilung Wissenscha und
Propaganda (Hrsg.), Die Bedeutung der sozialistischen Moral für den Kampf um den Auf-
bau der sozialistischen Gesellschasordnung, Berlin 1957; Reinhold Miller, Das moralische
Antlitz des sozialistischen Menschen. Die Entwicklung der sozialistischen Moral in der Deut-
schen Demokratischen Republik, Berlin 1958; Institut für Gesellschaswissenschaen beim
ZK der SED, Lehrstuhl für Philosophie/Reinhold Miller (Hrsg.), Vom Werden des sozialisti-
schen Menschen. Der Kampf des Neuen gegen das Alte auf dem Gebiet der Moral, Berlin 1960;
Institut für Gesellschaswissenschaen beim ZK der SED, Sozialistische Moral, Berlin 1963;
Bernd Bittighöfer/Jürgen Schmollack (Hrsg.), Moral und Gesellscha. Entwicklungsprobleme
der sozialistischen Moral in der DDR, Berlin 1968.
31 John Lekschas/Joachim Renneberg, Lehren des XXII. Parteitags der KPdSU für die Entwick-
lung des sozialistischen Strafrechts der DDR, in: Neue Justiz 16 (1962), S. 76–91, hier S. 77.
32 Ebenda, S. 81; siehe Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“, S. 274.
33
Etwa im Zuge der dortigen „Parasitengesetze“. Siehe Tatjana Hofmann, Tunejadstvo in der Sow-
jetunion. Zeitautonomie zwischen staatlicher Repression und individuellen Gestaltungsansprü-
chen, in: Eva Maria Gajek/Christoph Lorke (Hrsg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrneh-
mung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M. 2016, S. 231–249.
34 Z. B. John Lekschas, Probleme küniger Strafpolitik in der DDR, Berlin 1989.
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Gesellscha“35 ganz besonders im Fokus stehen. Unter seiner Federführung fand im
Jahr 1964 in Berlin das erste Internationale Symposium zu Fragen der „Jugendkrimi-
nalität und ihrer Bekämpfung in der sozialistischen Gesellscha“ statt, bei dem zahl-
reiche Referenten aus der DDR und anderen sozialistischen Staaten auraten.36 Dem
folgte ein zweites Symposium 1967. Erlangten schon seine Überlegungen zur Schuld-
theorie als Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortung vorwiegend in sozialistischen
Ländern internationale Anerkennung als wissenschalich-theoretische Grundlage für
die Strafgesetzgebung, die auch Eingang in das neue Strafgesetzbuch fanden,37 war Lek-
schas zudem an einem weiteren „Meilenstein“ des DDR-Strafrechts beteiligt: Gemein-
sam mit Erich Buchholz und Richard Hartmann – beide seinerzeit Professoren mit
Lehraurag für Strafrecht am Institut für Strafrecht der Humboldt-Universität– war
er Verfasser des Lehrbuchs „Sozialistische Kriminologie“.38 Hierin wurden erstmals die
theoretischen Grundlagen des jungen Faches herausgearbeitet und dessen sozialwissen-
schalicher Charakter betont. Das Buch fand internationale Anerkennung und ist auch
in der Sowjetunion, England, den USA und Japan erschienen. Ferner war Lekschas, der
mit seinem intellektuellen Temperament zwischen den „eoretikern der Ulbricht- und
den Praktikern der Honecker-Zeit“39 stand, an der Gesamtbearbeitung der Lehrbücher
zum DDR-Strafrecht und der ab 1969 veröentlichten Lehrkommentare zum Strafge-
setzbuch beteiligt.40 Im selben Jahr forderte er die weitere Vertiefung der Beziehungen
zwischen der Sektion und dem Marxismus-Leninismus und damit eine konkrete Mit-
wirkung bei der Gestaltung des „entwickelten sozialistischen Systems“ ein.41
Insbesondere die durch die Förderung des wissenschalichen Nachwuchses entstan-
denen Qualikationsarbeiten erlauben Rückschlüsse auf wissenschalich hergeleitete
35 John Lekschas/Walter Hennig, Probleme der Jugendkriminalität, in: Hans Szewczyk (Hrsg.),
Der fehlentwickelte Jugendliche und seine Kriminalität, Jena 1982, S. 11–15, hier S. 11 f.
36
Die Vorträge sind publi ziert in: Inst itut für Stra frecht der Humboldt-Universität zu Berli n (Hrsg.),
Jugendkriminalität und ihre Bekämpfung in der sozialistischen Gesellscha, Berlin 1965. Hier
veröentlichte im Übrigen auch Hans Szewczyk einen Beitrag zu Bandendelikten Jugendlicher.
37 Siehe John Lekschas, Grundzüge des neuen sozialistischen Strafrechts, Berlin 1968.
38 Erich Buchholz/Richard Hartmann/John Lekschas, Sozialistische Krimi nologie. Versuch einer
theoretischen Grundlegung, Berlin 1966. Das Buch erschien 1971 in zweiter Auage. Ferner
John Lekschas, Neue Aspekte der sozialistischen Kriminologie, Berlin 1967.
39 Inga Markovits, Die Juristische Fakultät im Sozialismus, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.),
Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010. Bd. 6: Selbstbehauptung einer Vision,
Berlin 2010, S. 91–135, hier S. 115.
40 John Lekschas/El Kosewähr, Kriminologie in der DDR, in: Günther Kaiser u. a. (Hrsg.), Kri-
minologische Forschung in den 80er Jahren. Berichte aus der Bundesrepublik Deutschland,
der Deutschen Demokratischen Republik, Österreich und der Schweiz, Freiburg i. Br. 1988,
S. 19–56, hier S. 20.
41 John Lekschas, 20 Jahre DDR– 20 Jahre Studium marxistisch-leninistischer Rechtswissen-
scha, in: Staat und Recht 18 (1969), S. 1601-1618.
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symbolische Kategorisierungen bezüglich sozialer Fragen und spiegeln auch Anschau-
ungen der Gutachter wider.
42
Drei Beispiele sollen dies genauer darlegen.
Die an der Sektion Rechtswissenscha der Humboldt-Universität 1975 ein-
gereichte Promotionsschri von El Kosewähr untersuchte unter der Betreuung
Lekschas’ das Freizeitverhalten jugendlicher Straäter im Jahr 1975. Die Delinquen-
ten, stellt die Autorin fest, stammten alle aus einer „gegenüber der Allgemeinheit
zurückgebliebene[n]‘ Schicht“, es dominierten Leistungsunwilligkeit und „Arbeits-
bummelei“, die Freizeitgestaltung sei im Gegensatz zu positiv-sozialistischem Verhal-
ten „primitiv und einseitig“. Bei den so charakterisierten Jugendlichen sei der Ver-
such gescheitert, „sozialistische Persönlichkeiten“ heranzubilden.43 Im zweiten Fall
hatte die bei Lekschas entstandene Promotionsschri von Gottfried Rudolf 1979 das
Ziel, „asozialitätsrelevante Einstellungen“ zu diagnostizieren und psychologische
„Besonderheiten“ von „asozialen“ Straätern zu belegen. Bei den Tätern seien, wie
der Krimi nologe ausdrücklich hervorhob, die „Hauptwerte sozialistischer Persönlich-
keit und Lebensweise“ wie etwa „Kollektivität, Kreativität, Bewußtheit und Partei-
lichkeit“ nicht sonderlich ausgeprägt. Insgesamt handele es sich bei diesen Personen,
die nach Beobachtung des Verfassers teilweise „unter den Bedingungen der extrems-
ten Geruchsbelästigung“ lebten, um nichts weniger als ein „Negativbild sozialisti-
scher Lebensweise“, das im Widerspruch zu den „moralisch-ethischen Prinzipien der
Arbeiterklasse“ stehe.44
Diese Überlegungen korrespondierten auf das Engste mit der dreibändigen Habi-
litation von Dieter Bohndorf aus dem Jahr 1983, ebenfalls betreut von Lekschas.
Bohndorf umriss das Milieu jugendlicher Straäter. Deren Eltern konzentrierten sich
vor allem im un- und angelernten Sektor mit schwerer körperlicher bzw. monotoner
Arbeit (Raumpegerinnen, Küchenhilfen, Krafahrer, Heizer und andere). Bohndorf
diagnostizierte in diesem Milieu nicht nur ein „erhebliches Bildungs dezit“, sondern
auch deutliche sozioökonomische Mangelsituationen (Einkommen, Wohnraum).
Dieser Umstand würde verstärkt durch „nicht wirtschaen können“, eine „unzu-
reichende häusliche Ordnung“, Alkoholmissbrauch und hohen Zigarettenkonsum,
42 Zum Quellenwert und der Reichweite dieser Arbeiten u. a. Reinecke, Fragen; ferner omas
Mergel, Soziale Ungleichheit als Problem der DDR-Soziologie, in: Christiane Reinecke/omas
Mergel (Hrsg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaen und gesellschaliche Ungleichheit
im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012.
43 Siehe El Kosewä hr, Freizeitgestaltung und die Persönl ichkeit jugendlicher Str aäter im Deter-
minationskomplex der Jugendkriminalität. Eine empirische Vergleichsuntersuchung an einer
Gruppe straälliger und einer Gruppe nichtstraälliger Jugendlicher, Diss., Gesellschaswis-
senschaliche Fakultät, Sektion für Rechtswissenscha, Humboldt-Universität zu Berlin 1975,
S. 170–172.
44 Gottfried Rudolf, Zur Diagnostik asozialitätsrelevanter Einstellungen, Diss., Humboldt-Uni-
versität zu Berlin 1979, S. 1, 58–61. Dazu u. a. Korzilius, „Asoziale“ und „Parasiten“, S. 408 f.
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Schulden, letztlich „asoziale Lebensweise“.45 In allen drei hier exemplarisch erwähnten
Werken sticht eine Gemengelage aus bürgerlich anmutenden Forderungen nach sozia-
listischer, d. h. „geordneter“ Lebensweise, einseitigen Überzeichnungen und reduk-
tionistisch-eindimensionalen Erklärungsansätzen deutlich hervor, was zur Schaung
eines „Anti-Bildes“ durch das Strafrecht beitrug.46 Die Individualisierung sozialer Not
(Selbstverschuldung beziehungsweise Unfähigkeit des Einzelnen) dominierte hier den
Blick der akademisch-bürgerlichen Kommentatoren sozialer Ordnung.
Trotz dieser vermeintlichen interpretatorischen Eindeutigkeit ist bei Lekschas
ab den frühen 1980er-Jahren ein Einstellungswandel zu beobachten. Verfocht er in
den oben zitierten Standardwerken zum sozialistischen Strafrecht noch die „Relikt-
theorie“, die Ursachen für Kriminalität innerhalb sozialistischer Gesellschasver-
hältnisse ausschloss, korrigierte er diese Ansichten sukzessive. Ein erster Beleg dafür
sind seine Ausführungen aus dem 1977, wonach Sozialismus noch gar nicht von
Rechtsverletzungen oder überhaupt von „unmoralischen Verhaltensweisen“ frei sein
könne, wenngleich solches Verhalten nicht aus dem Charakter der gesellscha lichen
Zustände erwachse.47 Im Lehrbuch „Kriminologie“ von 1983 grien er und seine
Ko-Autoren diesen Gedanken wieder auf, indem sie prononciert die Meinung ver-
traten, dass auch in der sozialistischen Gesellscha soziale Widersprüche wirksam
seien, die wiederum Kriminalität verursachen könnten.48 Man müsse ein Bewusstsein
dafür entwickeln, schrieb Lekschas wenig später, dass auch das negative Verhalten der
Jugend nicht zuletzt ein „Ergebnis der Art und Weise ihrer Heranbildung in der sozia-
listischen Gesellscha“49 sei.
Dieser kühne Vorstoß sollte zu einigem Widerspruch innerhalb der DDR-For-
schungslandscha führen, insbesondere seitens des damaligen Dekans der juristischen
45 Dieter Bohndorf, Die Jugendkriminalität 1980 im Vergleich zu 1970 in einem industriellen Bal-
lungsgebiet der DDR. Beitrag zur ursachentheoretischen Konzeption und der empirischen For-
schung der Kriminologie in der DDR, unter besonderer Berücksichtigung kriminalistischer
Probleme, 3 Bde., Berlin 1983, hier Bd. 2, S. 34 f.; 43; 49–51; dazu Korzilius, „Asoziale“ und
„Parasiten“, S. 413.
46
Sven Korzilius, „Asoziale“ in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Schaung eines
Anti-Bildes zum „sozialistischen Menschen“ über das Strafrecht, in: Karl Härter/Gerhard
Sälter/Eva Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen von Kriminalität und öentlicher Sicherheit.
Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010,
S. 555–588.
47 John Lekschas, Entfaltung der sozialistischen Lebensweise und Vorbeugung der Kriminalität
in der DDR, Berlin 1977, S. 13–16.
48 John Lekschas u. a., Kriminologie. eoretische Grundlagen und Analysen, Berlin 1983.
49 John Lekschas, Zur Vorbeugung der Kriminalität Minderjähriger– Forschungsprobleme, Ber-
lin 1984, S. 7, 11.
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Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Erich Buchholz.50 Durch die Bekräi-
gung seiner esen in weiteren Aufsätzen51 erreichte Lekschas letztlich wenigstens
ansatzweise ein Aurechen verkrustet-dogmatischer Positionen und eine vorsichtige
Überwindung von Tabus, was jüngeren Wissenschalern eine Alternative zu Resi-
gnation und Anpassung in der späten DDR bieten sollte.52 John Lekschas habe bis zum
Schluss an die Reformierbarkeit des Systems geglaubt und außerdem– so zumindest
erinnern sich Weggefährten in der Festschri zu dessen 65. Geburtstag– durch unver-
hohlen-sarkastische Kritik immer wieder Distanz zum politischen System der DDR
zum Ausdruck gebracht, was bei Kollegen teils Sympathien, teils Widerspruch hervor-
gerufen habe.53
Ein Beispiel für veränderte Wahrnehmungen ist die von Lekschas betreute juris-
tische Qualikationsschri von Wolfgang Brück aus dem Jahr 1985, in der Erschei-
nungsformen der „sozialen Destruktivität“ bei Jugendlichen beinahe fatalistisch als ein
allen Gesellschasformen zwangsläug immanentes Phänomen qualiziert und ihre
Beseitigung als „ein utopisches Unternehmen“54 bewertet werden. Kriminalität und
ihre sozialen Folgen wurden so zunehmend als soziales Problem auch des Realsozialis-
mus begrien55– ein Umstand, den Spitzenfunktionäre in den letzten Jahren der DDR
nicht mehr ernst zu nehmen bereit waren. Kurz: Die Entstehung kritischen Exper-
tenwissens wurde von der Partei- und Staatsführung weitgehend ignoriert, sicherlich
auch, weil die erzielten Befunde auf notwendige Veränderungen und somit zahlrei-
che Versäumnisse verwiesen, die sich die gerontokratische Politelite nicht mehr einge-
stehen wollte.56
50 Erich Buchholz, Zu den Ursachen der Kriminalität in der DDR, in: Neue Justiz 37 (1983) 5,
S. 199–201; Friedrich-Christian Schroeder, Die neuere Entwicklung des Strafrechts in beiden
deutschen Staaten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 38 (1988), S. 18–28, hier S. 27 f.
51 John Lekschas, Widerspruchsdialektik und Kriminalitätsforschung, in: Staat und Recht 34
(1985) 7, S. 578–585; ders., Zur Determination der allgemeinen Kriminologie in der entwickel-
ten sozialistischen Gesellscha, in: Informationen und Berichte der Vereinigung demokrati-
scher Juristen in der DDR (1986) 3, S. 3–9. 4, 19–26. Dazu insgesamt Lekschas/Kosewähr, Kri-
minologie, S. 32.
52 Uwe Ewald/Kersten Woweries, Editorial, in: dies. (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven von Kri-
minalität und Strafrecht. Festschri für John Lekschas, Bonn 1992, S. 5–13, hier S. 9.
53 Ebenda, S. 10.
54 Wolfgang Brück, Soziale und kriminelle Gefährdung Jugendlicher, Diss., Karl-Marx-Universi-
tät Leipzig 1985.
55 Arnold Freiburg, „Eine Art Produktion und Reproduktion von Jugendkriminalität“. Die
DDR-Kriminologie auf dem Weg zum Realismus, in: Deutschland Archiv 18 (1985), S. 68–74.
56 Siehe etwa André Steiner, Wissenscha und Politik. Politikberatung in der DDR?, in: Stefan
Fisch/Wilfried Rudlo (Hrsg.), Experten und Politik: Wissenschaliche Politikberatung in
geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 101–125.
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VON DER BIOGR AFIE- UND WISSENSGESCHICHTE ZUR ANALYSE
Hans Szewczyk: Medizin, Psychiatrie und die Entdeckung „dissozialer Milieus“
Lekschas’ Wirken im Wissenschasbetrieb der DDR ist kaum zu verstehen, wenn man
sich nicht zugleich mit Hans Szewczyks befasst. Der „Forensik-Papst“,57 der heute auf-
grund seiner Ermittlungserfolge im sogenannten Eberswalder Knabenmord bisweilen
als „erster moderner Proler“58 charakterisiert wird, wurde am 12. November 1923 in
Magdeburg geboren und stammte aus einer bürgerlichen Familie.59 Vater Ewald, gelern-
ter Schrisetzer, arbeitete bis 1933 als Journalist und musste nach der Machtübernahme
der Nationalsozialisten als Kaufmann in die Selbstständigkeit gehen. Hans Szewczyk
legte nach dem Besuch der Volksschule und des Wilhelm-Raabe-Gymnasiums Magde-
burg 1942 das Notabitur ab. Zwischenzeitlich in die Luwae eingezogen und dort als
Unterarzt im Range eines Oberfeldwebels 1943–1945 im Einsatz, bestand er noch wäh-
rend des Krieges in mehrmaligem Studienurlaub beide medizinische Vorexamina. Im
Mai 1945 geriet er in Kitzbühel in amerikanische Kriegsgefangenscha; bis August war
er in Rosenheim inhaiert.
Nach seiner Freilassung begann er ein Medizinstudium, das er 1949 abschloss. Im
März 1950 wurde er mit einer Arbeit über „Die Remissionen Schizophrener und ihre
Abhängigkeit von Belastung, Konstitution und praepsychotischem Charakter“ zum
Dr. med. promoviert. In den letzten Semestern begann er gleichzeitig ein Psychologie-
studium, das er bei Kurt Gottschaldt mit einer Doktorarbeit zum Dr. rer. nat. mit der
Qualikationsschri „Die Abwandlungen im Auau der Persönlichkeit in der Ermü-
dung“ beendete. Der Korreferent seiner psychologischen Dissertation beschrieb seinen
Schützling in einem Empfehlungsschreiben an den Rektor der Humboldt-Universität
zu Berlin als „sehr interessierte[n], gut unterrichtete[n], sorgfältige[n] und kritische[n]
Bearbeiter wissenschalicher Aufgaben“, auch menschlich habe er einen „durchaus
günstigen Eindruck“ hinterlassen.60
Szewczyks weiterer Werdegang liest sich eindrucksvoll: Assistent am Institut für
Psychologie der Humboldt-Universität von 1953–1957, ab 1957 Oberassistent. Im sel-
ben Jahr arbeitete er bereits als Assistenzarzt in der Nervenklinik der Charité, wo er
57 Sonja Süß, Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998,
S. 434; vgl. auch Greg Eghigian, e Corrigible a nd the Incorrigible: Science, Medicine, a nd the
Convict in Twentieth-Century Germany, Ann Arbor 2015, S. 76 f., 107–124.
58 Stefan Orlob, Die frühe Tätigkeit eines forensischen Psychiaters als Proler. Zur Rolle Hans
Szewczyks im Mordfall Hagedorn (1969–1972) in der DDR, in: Schrienreihe der Deutschen
Gesellscha für Geschichte der Nervenheilkunde 7 (2001), S. 223–237.
59 Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv, Charité– Personalakten. Prof. Szewczyk,
Hans, 2 Bde. [im Folgenden weisen die Belege nur auf die Personalakten selbst]. Die biogra-
schen Informationen sind hauptsächlich dem ausführlichen Lebenslauf vom Januar 1974 sowie
dem Personalbogen entnommen, der auf den November 1983 datiert.
60 Schreiben von iele, Korreferent bei der Dissertation 1953, an den Rektor der Humboldt-Uni-
versität zu Berlin, 29. 10. 1953, Personalakte Hans Szewczyk, Bd. 1.
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nach bestandener Facharztprüfung für Psychologie und Neurologie (1959) im Jahr 1961
zum Oberarzt befördert wurde. Seit 1959 bot er für Mediziner, Juristen und Psychologen
Lehrveranstaltungen mit den Schwerpunkten Psychopathologie, klinische und foren-
sische Psychologie an. Nach der Habilitation für das Fach Psychiatrie bei Karl Leon-
hard mit einer Arbeit über „Psychologie und Magen-Darm-Uluos“ wirkte Szewczyk ab
Juli 1964 als Dozent für das Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie an der Medizini-
schen Fakultät der Humboldt-Universität. Es sollte jedoch noch einige Jahre dauern,
bis er auf einen Lehrstuhl berufen wurde. 1969 rückte er bereits in die engere Auswahl
für die Besetzung des Lehrstuhls für Psychiatrie.61 Im September 1973 äußerte er in
einem Gespräch mit dem Rektor der Humboldt-Universität seinen Unmut, dass er bis
dato noch nicht mit einer Professur bedacht wurde.62 Erst mit 50 Jahren erhielt er im
Fe bruar 1974 vom Minister für Hoch- und Fachschulwesen die lang ersehnte Berufung
als Ordentlicher Professor für das Fachgebiet „Psychiatrie unter besonderer Berücksich-
tigung der Gerichtspsychiatrie“.
Warum dieser Karriereschritt so lange auf sich warten ließ, ist nur zu vermuten.
Ein Grund dafür düre die fehlende SED-Mitgliedscha gewesen sein. Anders als
John Lekschas trat Szewczyk niemals der Einheitspartei bei, was auf Funktionärsebene
für Misstrauen gesorgt haben mochte. Ein Aufnahmeantrag wurde aus unbekannten
Gründen abgelehnt. In den Fünfzigerjahren hielt eine Stellungnahme der Kaderabtei-
lung noch fest, dass er trotz mangelnder gesellschalicher Organisation dem Staat posi-
tiv gegenüberstehe.63 In einem Gutachten des Jahres 1974 wurde Szewczyk als partei-
loser Wissenschaler beschrieben, der sich „mehr und mehr“ in Richtung „Partei der
Arbeiterklasse“ orientiere. Behindert haben ihn möglicherweise seine „überschießen-
den Verhaltensweisen“, die hier mit „schöpferischer Unruhe“ begründet wurden.64 Auch
das Ministerium für Staatssicherheit pegte oenbar eine kritische Distanz zum Partei-
losen, obwohl durchaus ozielle Arbeitskontakte bestanden. So konsultierte die HA IX
Szewczyk als Fachexperten, wofür er 1983 den „Kampforden für Verdienste um Volk
und Vaterland“ in Gold für 20-jährige Zusammenarbeit erhielt. Vermutlich versprach
sich der Geheimdienst von dem langjährigen Reisekader eine würdige wissenscha-
liche Vertretung der DDR im Ausland und damit einen nicht unerheblichen Prestige-
61 Fachgutachten von Prof. Seidel, Direktor der Klinik, 21. 1. 1974, S. 2, Personalakte Hans Szew-
czyk, Bd. 1.
62 Direktor für Kader und Qualizierung (Wilde) an Direktor des Bereiches Medizin, 18. 9. 1973,
Personalakte Hans Szewczyk, Bd. 1.
63 Stellungnahme der Kaderabteilung, 24. 9. 1956, Personalakte Hans Szewczyk, Bd. 2. Eine ähn-
liche Bemerkung über den Parteilosen ist aus dem Jahr 1964 überliefert. Psychiatrische und
Nervenklinik der Humboldt-Universität zu Berlin an den Prorektor für wissenschalichen
Nachwuchs, 5. 3. 1964, Personalakte Hans Szewczyk, Bd. 2.
64 Fachgutachten von Prof. Seidel, Direktor der Klinik, 21. 1. 1974, S. 4, Personalakte Hans Szew-
czyk, Bd. 1.
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zuwachs.65 So überrascht es kaum, dass Szewczyk regelmäßig zu internationalen Sym-
posien reisen dure und dort esen über „dissoziale Familien“ vorstellen konnte.66 Für
sein Fortkommen entscheidend war aber letztlich wohl die Rolle John Lekschas’, der
erheblich dazu beitragen sollte, dass Szewczyks Lehrstuhl eingerichtet wurde, nachdem
der Jurist seinen Einuss als Dekan und Prorektor geltend gemacht hatte. Fortan konn-
ten so– was Lekschas zweifellos entgegenkam– auch Juristen in forensischer Psycholo-
gie und Psychiatrie ausgebildet werden.67
Hans Szewczyk war Mitglied in verschiedenen nationalen Gesellschaen.68 Bereits
im Jahr 1974 umfasste sein wissenschaliches Œuvre zehn Monograen, über 130 wis-
senschaliche Arbeiten und über 180 kleinere Beiträge.69 Er erhielt diverse Prämien und
Auszeichnungen. Hervorzuheben als Zeichen der Anerkennung für „hervorragende
Dienste“ im Ministerium für Staatssicherheit ist die Verdienstmedaille der Nationalen
Volksarmee in Silber 1966.
Auf einer Reise nach Zagreb 1981 erlitt Szewczyk einen schweren Herzinfarkt,
der zu einer erheblich verminderten Belastungsfähigkeit führte.70 Trotz längerer Pha-
sen der Arbeitsunfähigkeit nach einer Herzoperation trieb er die weitere Prolierung
des Faches forensische Psychiatrie voran.71 Im September 1987 wurde er auf eigenen
65 Süß, Politisch mißbraucht?, S. 435–437.
66 Brief Karl Leonhard an die Kaderabteilung der Charité, 20. 5. 1968, Personalakte Hans Szew-
czyk, Bd. 1. Allein in den Jahren 1968 und 1969 reiste er u. a. nach Wien, Washington und
Kopenhagen. Nicht unerwähnt bleiben sollte dabei, dass das ema auch in der Bundesrepu-
blik, Österreich oder der Schweiz durchaus wissenschalich breiter diskutiert wurde. Siehe nur
Dietmar Kurzeja, Jugendkriminalität und Verwahrlosung. Zu den Ursachen der Dissozialität
Jugendlicher. Kritische Bestandsaufnahme und Versuch einer Neubestimmung, Gießen 1973;
Helmut E. Ehrhardt (Hrsg.), Aggressivität, Dissozialität, Psychohygiene, Bern 1975; Ilona Töp-
ner, Drogenkonsum in Beziehung zu Dissozialität und Aggressivität bei Jugend lichen. Eine
psychologische Untersuchung an 586 Real- und Gymnasialschülern, Diss., Würzburg 1976;
Udo Raucheisch, Dissozial. Entwicklung, Struktur und Psychodynamik disso zialer Persön-
lichkeiten, Göttingen 1981; Karl Gerlicher/Joachim Jungmann/Jochen Schweitzer (Hrsg.), Dis-
sozial ität und Familie. Zu r Kooperation von Jugendhilfe und Jugendps ychiatr ie unter familien-
therapeutischer Sichtweise, Dortmund 1986.
67 Hans Szewczyk, John Lekschas und die Entwicklung der forensischen Wissenschaen, in:
Hennig, Beiträge, S. 77–83, hier S. 82 f.
68 Etwa Erster Vorsitzender der Sektion Gerichtspsychiatrie, Vorsitzender der Sektion für forensi-
sche Psychiatrie, zudem Mitglied mehrerer Beiräte beim Ministerium für das Hoch- und Fach-
schulwesen.
69 Lebenslauf 1974, S. 3, Personalakte Hans Szewczyk, Bd. 1.
70 Brief Hans Szewczyks an den Prorektor der Humboldt-Universität zu Berlin Grosser am
24. 3. 1982, Personalakte Hans Szewczyk, Bd. 2.
71 So initiierte er in Ahrenshoop bis 1985 vier Lehrgänge über forensische Psychiatrie mit insge-
samt 120 Teilnehmern. Siehe Matthias Lammel, Forensische Psychiatrie in der DDR. Anmer-
kungen unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben, in: Andrea T. I. Six
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Wunsch vorzeitig und aufgrund seiner Invalidisierung emeritiert, 1994 verstarb er im
Alter von 71 Jahren.
Im Zentrum der wissenschalich-theoretischen Arbeit Szewczyks standen seit
Mitte der 1950er-Jahre Arbeiten auf den Gebieten der Psychopathologie, medizinischen
Psychologie und Sozialpsychopathologie. Auf Anregung von John Lekschas wurde bei
der Ausarbeitung des neuen Strafgesetzbuches eine eigene psychologische und psychia-
trische Unterkommission eingerichtet, als deren Leiter sich Hans Szewczyk vor allem
mit Fragen zu Schuld, Aekt, Fahrlässigkeit sowie der Zurechnungsfähigkeit befasste.
Insbesondere seine Vorstellungen zur Rehabilitation straällig gewordener Jugendlicher
ossen in die Erarbeitung des neuen Strafgesetzbuches ein. Mit der von ihm im Früh-
jahr 1965 initiierten Gründung eines Studentenzirkels unter der Bezeichnung „Bekämp-
fung der Jugendkriminalität“ wurde der Versuch gestartet, neuartige wissenschaliche
Erkenntnisse im Bereich der Diagnostik sowie der Datenverarbeitung zu nutzen, um
interdisziplinäre Kooperationsmöglichkeiten zwischen den Fachbereichen auszuloten.
Ziel dabei war es, ein Modell zu schaen, das die (Fehl-)Entwicklungen einer Persön-
lichkeit nach Maßgabe unterschiedlicher gesellschalicher und anderer Einussbedin-
gungen darzustellen vermochte. Diese Bemühungen um eine Kombination naturwis-
senschalicher Erkenntnisse mit solchen der Sozio- bzw. Psychogenese fanden ab 1969
ihre Fortsetzung in dem vom ihm geleiteten Forschungsteilschwerpunkt „Dissoziali-
tät“. Dieses ema sowie die Jugendkriminalität waren in den nächsten Jahren Schwer-
punkte seiner stark interdisziplinär ausgerichteten Forschungstätigkeiten, die er ebenso
gebündelt in Lehrbüchern veröentlichen konnte
72 wie Darlegungen zu Sexualität,
Sadismus oder Alkoholmissbrauch.73
Szewczyks Überlegungen zu sozialer Abweichung waren dabei gewissermaßen
kanonisch. So zeichnete er zu Beginn der 1970er-Jahre in einem Lehrbuch die pro-
totypische Biograe eines jugendlichen Straäters nach. Auch wenn dabei konkrete
„armutsrelevante“ Ursachen nicht erwähnt wurden, klingen Faktoren sozialer Unter-
privilegierung an einigen Stellen durchaus an: „Milieugeschädigte“ Familien wohnten
in Stadt und auf dem Land unterversorgt, das Schulkind schwänze die Schule, liefere
daher schlechte Lernergebnisse und werde schließlich von seiner Umgebung isoliert,
von den Lehrern abgelehnt. Der Jugendliche verlasse die Schule ohne Abschluss, könne
(Hrsg.), Forensische Psychiatrie in Brandenburg. Entwicklungen und Brennpunkte, Berlin
200 7, S. 71–100, hier S. 94 f.
72 Siehe das dezidiert interdisziplinär ausgerichtete und an verschiedene Wissenschasdiszipli-
nen adressierte Standardwerk: Harry Dettenborn/Hans Fröhlich/Hans Szewczyk, Forensische
Psychologie. Lehrbuch der gerichtlichen Psychologie für Juristen, Kriminalisten, Psychologen,
Pädagogen und Mediziner, Berlin 1984.
73 Hans Szewczyk, Sadismus– eine Form der sexuellen Abnormität, in: Forum der Kriminalistik
2 (1966), S. 41–43; ders., Der Alkoholiker. Alkohomißbrauch und Alkoholkriminalität, Jena
1979; ders.: Sexualität und Partnerscha, Berlin 1982.
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deshalb nur selten eine Lehre beginnen und werde weitgehend als ungelernter Arbeiter
beschäigt. Als beinahe logische Konsequenz komme es „zu Bekanntschaen mit fast
ausschließlich Dissozialen“, da er mit Menschen „aus einem geordneten Milieu“ nicht
zurechtkomme und sich eher „Gleichgesinnten“ zuwende. Die Eheschließung erfolge
meist mit einem „dissozial entwickeltem Partner“, doch werde das Bündnis bald aus-
einanderbrechen oder existiere nur noch auf sexueller Grundlage. Letztendlich komme
es durch die „Arbeitsbummeleien“ zur materiellen Notlage der Familie, ferner zu
Alkohol missbrauch, Schulden, Unordnung und einer Vernachlässigung der Kinder, die
wiederum „dissozial“ zu werden drohten.74
Szewczyks exemplarisch vollzogener Erklärungsversuch für depravierte Perso-
nen in der DDR-Gesellscha verweist nicht nur auf das im öentlichen Raum eigent-
lich „Nicht-Sagbare“ und belegt damit ein verändertes Problembewusstsein. Er vereint
darüber hinaus nahezu alle zeittypisch gängigen Deutungsvariationen der gewünsch-
ten sozialen Anordnung im „Arbeiter- und Bauernstaat“ und lässt somit auch vielerlei
Paral lelen zum Wirken Lekschas’ erkennen. Dass das prominent von der Akademie für
Ärztliche Fortbildung der DDR geförderte Lehrbuch, in dem diese Deutungen publi-
ziert wurden, bis 1977 in drei Auagen erscheinen sollte, lässt erahnen, dass Szewczyks
Ausführungen einen großen Teil von angehenden und praktizierenden Juristen und
Kriminalisten, Medizinern und Pädagogen, Psychologen und sonstigen Wissenscha-
lern beeinusst haben düren.75
Auch anhand der Betreuungstätigkeit Szewczyks lässt sich an drei Beispielen nach-
weisen, wie durch szientistisch begründete Beobachtungen die Aufrechterhaltung und
Verfestigung normativer Bestimmungen sozialer Randständigkeit vonstattengingen.
Barbara eek befasste sich 1970 mit „asozialem Verhalten“, das sich ihren Ergebnissen
zufolge nur bei Betroenen in einer „niedere[n] soziale[n] Position“ zeige. Ihre Unter-
suchung repetierte ein ähnliches Ensemble aus psychosozialen Alltagsvorstellungen und
war damit ein Anhaltspunkt für den zeitlosen Standardhaushalt an Etikettierungsformen
74 Hans Szewczyk, Untersuchungen zur kriminellen Entwicklung Jugendlicher, in: ders. (Hrsg.),
Kriminalität und Persönlichkeit. Psychiatrisch-psychologische und strafrechtliche Aspekte,
2. Au., Jena 1974, S. 15–36, hier S. 26–29 (1. Au. 1972).
75 Das Buch war Teil der Schrienreihe „Medizinisch-juristische Grenzfragen“. Szewczyk war
in den bis 1985 erschienenen Bänden sieben Mal alleiniger oder mitverantwortlicher Heraus-
geber, was seine Bedeutung für die Beschäigung mit sozialer Abweichung abermals unter-
streicht. In einem weiteren Buch war die Ko-Autorin eine Schülerin: Heide-Ulrike Jähnig/
Eckhard Littmann (Hrsg.), Kriminalpsychologie und Kriminalpsychopathologie, Jena 1985.
Der hier skizzierte „dissoziale“ Lebenslauf ndet sich einige Jahre später in leicht modizier-
ter Form auch in einem anderen weitverbreiteten Lehrbuch: Dettenborn/Fröhlich/Szewczyk,
Forensische Psychologie, S. 195–199, wenngleich hier ausdrücklich bereits die Notwendigkeit
zur Dierenzierung von „Dissozialen“ betont wurde. Ein ähnliches Beispiel wird skizziert in
Hans Szewcz yk, Die Entwicklung von Alkoholikern– Diskussion zweier Fä lle, in: ders. (Hrsg.),
Der Alkoholiker, S. 132–144.
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(Sitzenbleiber und Trinker, „schlechte Freizeitgestaltung“ bzw. „verbummelte Frei-
zeit“).76 1978 untersuchte der Mediziner Matthias Wolf „Asozialität“. Auf der Grundlage
ärztlicher Gutachten aus der gerichtspsychiatrischen Abteilung der Nerven klinik der
Charité lieferte der Szewcyzk-Schüler ein abermaliges Paradebeispiel für den genorm-
ten Wahrnehmungshaushalt: Straälligkeit, Alkoholmissbrauch, zerrüttetes Familien-
leben, Sitzenblieben, häuger Arbeitsplatzwechsel, früher erster Geschlechtsverkehr,
sexuelle „Verwahrlosung“ und unterdurchschnittlich entwickelte Intelligenz.77 Ähn-
liche Formen der sozialen Unterprivilegierung im Fall von Mehrkinderfamilien kon-
statiert eine Untersuchung von Doris Mackuth und Eberhard Burger für den Kreis
Eberswalde aus dem Jahr 1980: Die wiederum als „dissozial“ titulierten Familien hat-
ten im Durchschnitt sechs Kinder und lebten in partiell sozial depravierten Lebens-
verhältnissen, die sich in der ritualisierten Wissenschaskategorisierung in bekannter
Weise lesen (Alkoholmissbrauch, Promiskuität, Bildungs- und Interessenmangel).78 Ein
nicht geringer Teil lebte vor allem von staatlichen Zuschüssen. Sozialleistungen wür-
den– so die auf Sozialbetrug abhebende Schlussfolgerung Szewczyks wenige Jahre spä-
ter– bei bewusster Verweigerung von Kontrazeptiva planmäßig sogar angestrebt, um
als „Kinder reiche“ staatliche Zuwendungen in Anspruch nehmen zu können.79 Diese
Unterstellung lässt ebenso wie die vorhergehenden Beispiele darauf schließen, dass
Szewczyk in seiner Funktion als Experte maßgeblich zur Kanalisierung und Steuerung
der Wahrnehmung sozialer Randlagen beigetragen hat.
76 Barbara eek, Untersuchungen zur Asozialität krimineller Jugendlicher und Heranwachsen-
der, Diss., Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin 1970, S. 2 f., 17, 29. Ähn-
liche Ergebnisse liefert auch die von Szewczyk betreute Studie von Heide-Ulrike Jähnig, Alko-
holmißbrauch bei jugendlichen und heranwachsenden Kriminellen, Berlin 1969.
77 Matthias Wolf, Ursachen und Mitbedingungen der Asozialität: Typenanalytische Untersu-
chung von Dissozialen sowie typenanalytische Auswertung von Nachuntersuchungen der
späteren Entwicklung der begutachteten Probanden, Diss., Medizinische Fakultät der Hum-
boldt-Universität zu Berlin 1979.
78 Doris Mackuth/Eberhard Burger, Über Ursachen und Erscheinungsformen der Dissoziali-
tät. Untersuchungen an Familien des Kreises Eberswalde, Diss., Medizinische Fakultät, Hum-
boldt-Universität zu Berlin 1980, S. 31.
79 Hans Szewczyk, Ergebnisse forensisch-psychiatrischer und psychologischer Arbeiten zur
Erforschung und Bekämpfung der Jugendkriminalität, in: ders. (Hrsg.), Der fehlentwickelte
Jugendliche, S. 25–54. Für die Staats- und Parteiführung besaßen kinderreiche Familien eine
unumstrittene Bedeutung und standen im Mittelpunkt soziopolitischer Bemühungen, was
durch die breite Unterstützung der Massenmedien popularisiert werden sollte. Siehe als Bei-
spiel für die Wahrnehmung von kinderreichen Familien und der öentlich-medialen Verbrei-
tung er wünschter Image s Christoph Lorke, „S oziale Ungleichheit und soz iale Ungerechtigkeit“:
Kinderreiche Familien in der DDR, in: Deutschland Archiv Online, 11. 5. 2015, http://www.
bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-archiv/206153/soziale-ungleichheit-und-soziale-
ungerechtigkeit
-kinderreiche-familien-in-der-ddr [11. 2. 2020].
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Resümee
Aufgrund der Komplementarität beider Fächer, der vergleichbaren Forschungsgegen-
stände und inhaltlichen Überschneidungen überrascht es wenig, dass es zu unzäh-
ligen wissenschalichen wie persönlichen Begegnungen zwischen John Lekschas und
Hans Szewczyk gekommen ist. Aus den Personalakten beider Wissenschaler geht her-
vor, dass sowohl der Psychiater frühzeitig und beständig eine enge Zusammenarbeit
mit den Sektionen der Kriminalistik und der Rechtsorgane suchte, wie auch der Straf-
rechtler eine Kooperation und enge Verzahnung mit dem Arbeitsbereich forensische
Psychiatrie beabsichtigte. Der Grundstock für die Zusammenarbeit wurde während
einer Veranstaltung des Deutschen Kulturbundes im April 1961 in Leipzig gelegt, als
beide zunächst einen losen Gedankenaustausch mit den Schwerpunkten „Schuld“ und
„Zurechnungsfähigkeit“ vereinbarten. Im Juli desselben Jahres kam dann eine erste Sit-
zung zustande, bei der vor allem terminologische Fragen diskutiert wurden. Das erste
gemeinsame Symposion organisierten 1963 das Institut für Strafrecht und die Abteilung
für gerichtliche Psychiatrie der Humboldt-Universität. Auauend darauf spiegeln wei-
tere Tagungen und Symposien für Juristen, Philosophen und Psychiater bzw. Psycho-
logen die Bemühungen beider Wissenschaler um einen interdisziplinären Austausch
wider. Ziel der Zusammenarbeit war es, akute soziale Probleme nicht allein isolierten
Fachdisziplinen zu überlassenen, sondern durch den interdisziplinären Austausch Fra-
gen der Terminologie, Möglichkeiten der Prophylaxe, Resozialisierung und erapie
auszu loten. Die intensiv geführten Diskussionen, die, so erinnerte sich Szewczyk später,
„sich freundschalich erhitzten und am abendlichen Biertisch fortgesetzt wurden“,80
lassen nicht nur das biograsche Element deutlich hervortreten, sie sind zudem Beleg
für szientistische Aushandlungen um Fragen sozialer Problemfelder im Staatssozialis-
mus, die es oziell nicht geben dure, die ihren Niederschlag aber in den erwähnten
Qualikationsschrien und Kooperationen gefunden haben – und somit wenigstens
„subkutan“ einem größeren Kreis von Experten und Praktikern bekannt gewesen sein
düren. Um ihre esen der wissenschalichen Öentlichkeit vorzustellen, bedure
es durchaus eines gewissen Maßes an Mut, denn die Sprachregelung der Staats- und
Partei führung mit Blick auf die Überwindung sozialer Ungleichheiten und ihrer Folgen
gab andere Erklärungsmuster vor.
Gleichwohl würde es zu kurz greifen, behauptete man, dieses Wissen wäre allein
einem Fachpublikum bekannt gewesen. Zum einen stellten Lekschas und Szewczyk
ihre Überlegungen nicht nur in zahlreichen Vorträgen immer wieder einem breiteren
Publikum vor, so etwa Hans Szewczyk im Rahmen von „Urania“-Vorlesungen.81 Die
80 Szewczyk, John Lekschas, S. 78 f.
81 Eines der emen war z. B.: „Neue Probleme der Jugendkriminalität“: Experten haben das
Wort. Urania-Veranstaltungen in diesem Monat, in: Neue Zeit vom 10. Juni 1975.
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große Prägekra der von ihnen ausgearbeiteten Deutungsmodi und deren öentliche
Verbindlichkeit zeigt sich unter anderem darin, dass die beliebten, in DDR-Zeitungen
abgedruckten Gerichtsserien einer größeren Leserscha die „andere“ Seite des Staats-
sozialismus vermittels rigid-moralisierender, scharf verurteilender Beispielgeschich-
ten näherbrachten. Diskursiv-argumentative Anleihen aus den beiden Fachwissen-
schaen zur Kennzeichnung von Normabweichungen sind dabei kaum zu übersehen.82
Dadurch wurden die letztlich politisch gewünschten Sozial-Kategorisierungen aus der
semi-öentlichen Sphäre mittels positiver wie auch negativer Musterbiograen der All-
gemeinheit als Deutungsressource zur Verfügung gestellt. Sie trugen nicht zuletzt per-
formativen Charakter, implizierten sie doch immer auch Verhaltensanweisungen für
eine „richtige“, d. h. häug an bürgerliche Wertekategorien angelehnte „sozialistische
Lebensweise“.
Mit ihren Forschungen trugen John Lekschas und Hans Szewczyk– bei allen Ambi-
valenzen gerade zum Ende der DDR– ganz entscheidend dazu bei, dass es zur sukzessi-
ven Durchsetzung ursprünglich geringgeschätzter bürgerlich-kulturkonservativer Ord-
nungsmuster bei der Beurteilung sozial unterprivilegierter Lebensverhältnisse in der
DDR kam. Die von einem optimistischen Planungs- und Steuerungsglauben geprägte
Phase der Entdeckung und Verwissenschalichung des unteren gesellschalichen Ran-
des ab den 1960er-Jahren ging in der DDR mit pathologischen Deutungen einher, in
deren Rahmen die Einussnahme auf das Soziale sowie dessen Veränderbarkeit ver-
handelt wurden. Ziel war eine schrittweise „Versicherheitlichung“ des Sozialen, was
nicht zuletzt „Vorsorge“ in einer modernen Industriegesellscha 83 bedeutete und oen-
bar zwangsläug von Moralisierung und Biologisierung eskortiert wurde. Die daraus
resultierenden normativen Beschreibungen– etwa ein „gestörtes“ Verhältnis zu Arbeit,
Familie und Gesellscha, aber auch Bildungs-, Kultur- und Moraldezite, letztlich ganz
zentral, wenn auch zumeist unausgesprochen der Begri der „Ehre“– und damit ver-
bundene Kennzeichnungen des abweichenden Sozialen beförderten nicht nur eine auf
Pathologisierung beruhende Individualisierung sozialer Randständigkeit, sie grenzten
„unwürdige Arme“ auch in doppelter Hinsicht ab: von den „verschämten Armen“ einer-
seits und der „sozialistischen Normalgesellscha“ andererseits. Letztendlich schloss
82 Ganz exemplarisch seien nur zwei Artikel genannt: Helge Hinrichs, Clever? Nein, asozial!,
in: Neue Zeit vom 21. 12. 1979; Ihr schnellster Gang: Müßiggang, in: Berliner Zeitung vom
18. 11. 1980. Auch Rudolf Hirschs Reihe „Als Zeuge in dieser Sache“ (1953–1981) war äußerst
beliebt, da die dort vorgestellten Fälle sonst nirgendwo derart oen beschrieben wurden. Für
die Verbreitung pathologisierender Sozialnarrative durch d as Fernsehen der DDR und hier ins-
besondere durch das Medium der Kriminalserien vgl. Christoph Lorke, Depictions of Social
Dissent in East German Television Detective Series, 1970–1989, in: Journal of Cold War Studies
19 (2017) 4, S. 168–191.
83 Siehe dazu grundlegend die instruktiven Hinweise in Nicolai Hannig/Malte ießen (Hrsg.),
Vorsorgen in der Moderne: Akteure, Räume und Praktiken, Berlin/Boston 2017.
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das auf imaginäre Grenzen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges deutende 84 und
auf Korrigierbarkeit ausgerichtete Herangehen, das immer auch unerwünschte soziale
„Risikozuküne“85 zu vermeiden suchte, auch sozialhygienische bzw. sozial-eugenische
Überlegungen nicht aus, im Gegenteil. Erwartungen und Ängste in der mittleren und
späten DDR sowie im geteilten Deutschland gegenüber nach unten abweichenden sozia-
len Lebensformen weisen neben Spezika und Eigendynamiken auch tradierte Versatz-
stücke auf.
Mit einem wie hier praktizierten kombinatorischen biograe- und wissensge-
schichtlichen Zugri können die Leitlinien zeitgenössischer Sozialvorstellungen und
Deutungssujets erfasst und davon ausgehend die sozialsymbolische Ordnung analysiert
werden. Beides erlaubt Rückschlüsse auf gesellschalich akzeptierte Erwartungen an
Normgemäßheit. Umgekehrt weisen die Aushandlungsformen sozial „unerhörten“ Ver-
haltens auf zeitgenössische Vorstellungen über das geringgeschätzte untere Spektrum
der Gesellscha. Medizinische, psychiatrische, biologische und rechtswissenscha liche
Deutungen und Modelle machten soziale Entwicklungen sichtbar und behandelbar,
Gesellscha somit auch präventiv besser planbar– das glaubten jedenfalls nicht wenige
der in der DDR agierenden Experten, ehe sie an einen Punkt gelangten, an dem sozial-
planerische Versprechungen durch sozialwissenschaliche Aulärung an ihre Grenzen
gekommen waren.86
84 Vgl. hierzu David Eugster/Sibylle Marti (Hrsg.), Das Imaginäre des Kalten Krieges: Beiträge zu
einer Kulturgeschichte des Ost-West-Koniktes in Europa, Essen 2015.
85 So Rüdiger Graf/Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunsvorstellungen zur
Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunsbezugs im
20. Jahrhundert, in: GG 42 (2016), S. 497–515; vgl. außerdem Martin Sabrow, Zukuns pathos
als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der
DDR, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hrsg.), Auruch in die Zukun. Die 1960er
Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik
Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 165 –184.
86 Lutz Raphael, Experten im Sozialstaat. Statuswechsel und Funktionsdierenzen in Demokra-
tie und Diktaturen in Deutschland 1933 –1990, in: ders. (Hrsg.), Ordnungsmuster und Deu-
tungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 95–129,
hier S. 107.
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