Content uploaded by Armin G. Wildfeuer
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Anmerkungen
Alle Europäischen Vertragsdokumente lassen sich -auch in deutscher Überset-
zung
auf
der Homepage der Europäischen Union unter
https :// europa.eu/ european-union/law /treaties _ de einsehen.
2 So der Titel der Pariser Erklärung: ,,Ein Europa, wo(ran) wir glauben können",
die 2018 von einer Gruppe prominenter europäischer Denker veröffentlicht
wurde. Im
Netz
unter https://thetrueeurope.eu/die-pariser-erklarung/.
3 Exemplarisch sei
auf
die anspruchsvollen Argumentationen von
Josef
Isensee,
Eine Verfassung für Europa?: Zweckverband oder Wertegemeinschaft. In:
FAZ
v.
14.1.2007 sowie von Robert Spaemann, Europa ist kein Werteverbund. In:
Cicero, April 2004 verwiesen.
4
Zur
komplexen Geschichte und Bedeutung des Wert-Begriffs siehe Armin
G.
Wildfeuer, Wert. In: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg
i.
Br.: Alber 2011, Bd. 3, 2484-2504.
5 In: Anton Schaefer, Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer europäischen
Union. Dornbirn: Europa Verlag 2001, 64f.
6
Zum
Begriff
siehe Zygmunt Bauman, Retrotopia. Berlin: Suhrkamp 2017.
7 Vgl. Michel Foucault: Andere Räume (1967), in:
K.
Barck (Hg.), Aisthesis. 5.
Aufl. Leipzig: 1992, 34-46.
Der Verfasser
Dr. phil. Armin
G.
Wildfeuer ist Professor für Philosophie an der Katholischen
Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.
16
Herausgegeben von
der
Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle
Nr.4601 www.ksz.de
Kirche
und Gesellschaft GRÜNE • • •
Armin
G.
Wildfeuer
,,Auf
der
Grundlage
gemeinsamer
Werte''
Das
Narrativ der Wertegemeinschaft
und
das
Ethos
der
Europäischen
Union
J.P.
BACHEMMEDIEN
Die Reihe „Kirche und Gesellschaft" thematisiert aktuelle soziale Fragen
aus
der Perspektive der kirchlichen Soziallehre und der Christlichen Sozialethik.
THEMEN DER ZULETZT ERSCHIENENEN HEFTE:
Februar 2019,
Nr.
457:
Stephan Rixen
Gesundheit im Sozialstaat. Zukunftsfragen des Gesundheitswesens
März 2019,
Nr.
458: Amd Klippers
,,Zur Freiheit hat
uns
Christus befreit." (Galater 5,1)
Zum Verhältnis von Katholizismus und Politischem Liberalismus
April 2019,
Nr.
459: Markus Vogt/ Rolf Husmann
Proaktive Toleranz
als
ein
Weg
zum Frieden. Bestimmung und
Operationalisierung des Toleranzbegriffs
VORSCHAU:
Juni 2019,
Nr.
461:
Peter Schallenberg zum Themenbereich „70 Jahre Grundgesetz"
September 2019,
Nr.
462:
Johannes Frühbauer zum Themenbereich „Religion und Entwicklung"
Oktober 2019,
Nr.
463:
Gerhard Kruip zum Themenbereich „europäische Solidarität auf sozialem
Gebiet"
Die Hefte eignen sich
als
Material für Schule
und
Bildungszwecke.
Bestellungen
sind zu richten an:
Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle
Brandenberger Straße 33
41065 Mönchengladbach
Tel. 0
21
61/
8
15
96-0 ·
Fax
O
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61
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96-21
Internet: https://www.ksz.de
E-mail: kige@ksz.de
Redaktion:
Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle
Mönchengladbach
Erscheinungsweise: Jährlich
10
Hefte, 160 Seiten
2019
© J.P. Bachern Medien GmbH, Köln
ISBN 978-3-7616-3379-3
Das politische Projekt einer Union europäischer Staaten
war
räumlich,
architektonisch, politisch, rechtlich, strukturell
und
vertraglich
immer
in
Bewegung. In
Bewegung
waren
auch
die Leitideen, die
den
durchaus
mühsamen
Prozess des politischen
Zusammenwachsens
unterschiedlicher
Völker
und
Nationen
als „Narrativ", d.h. als sinnstiftende, aus
einem
vorder-
und
einem
hintergründigen
Text
bestehende Erzählung, begleitet
haben. Anfangs, d.h. direkt
nach
dem
Krieg,
war
dies das für alle unmit-
telbar einsichtige
Narrativ
einer
„Friedensgemeinschaft".
Auch
das Nar-
rativ einer friedenssichernden „Wirtschafts-
und
Wohlstandsgemein-
schaft" hatte
auf
dem
Hintergrund des Prosperitätsstrebens
und
der
wirt-
schaftlichen
Aufbruchsstimmung
der
Europäer
in
den
60er
bis 80er Jah-
ren des 20. Jahrhunderts seine
nicht
weiter rechtfertigungsbedürftige
Plausibilität. Seit
dem
Vertrag
von
Maastricht (1993)1,
mit
dem
der
Aus-
bau
der „Europäischen
Union"
(EU)
zu
einer vollumfänglichen politi-
schen
und
sozialen
Union
vorangetrieben
und
vertieft
werden
sollte, steht
das Narrativ einer
„Wertegemeinschaft"
im
Mittelpunkt der Verträge.
Mit
ihm sollte nicht
nur
das
immer
engere
Zusammenrücken
der europäischen
Völker
und Nationen motiviert werden, es sollte auch den identitätsstif-
tenden Kern eines zukünftigen europäischen Ethos benennen.
,,Die Werte,
auf
die sich die
Union
gründet"
und
die das politische Pro-
jekt
prägen
sollen, sind
daher
in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages (2009)
ausdrücklich festgehalten: es
sind
„die
Achtung
der
Menschenwürde,
Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit
und
die
Wahrung
der
Menschenrechte einschließlich
der
Rechte
der
Personen, die Minder-
heiten angehören.
Diese
Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesell-
schaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung,
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität
und
die Gleichheit
von
Frauen
und
Männern
auszeichnet."
Die
EU
ist in ihrem
Handeln
-sei es innen-
oder
außenpolitisch -
diesem
Wertefundament verpflichtet
und
verfolgt das
Ziel, diese
Werte
zu
fördern (so Artikel 3).
Die
Europäische
Union -bloß eine „Wertegemeinschaft"?
Die Selbstzuschreibung der Europäischen
Union
als einer „Wertegemein-
schaft" ist nicht unwidersprochen geblieben.
Wer
primär
auf
das Narrativ
des „Christlichen
Abendlandes"
als eines „Europa, wo(ran)
wir
glauben
können"
2 fixiert ist, der wird darin eine Unterforderung
der
kulturellen
und
religiösen Potentiale Europas sehen
und
mit
Blick
auf
die
„wahren"
Wurzeln
Europas -Jerusalem,
Athen
und
Rom
-Anstoß
nehmen
an
der
vermeintlichen Geschichtsvergessenheit dieses Narrativs,
mit
dem
Euro-
3
pa „seine Seele verliert". Und wer in dem politischen Projekt einer Euro-
päischen Union nicht mehr als ein Zweck- und Interessensbündnis sehen
will, das allein durch rechtsförmige Verträge zwischen den beteiligten
Staaten zusammengehalten wird, der wird im Narrativ der „Wertege-
mei~schaft" eine im Kern unsachliche, da nicht rechtsförmig zu machen-
de
Uberforderung der Europäischen Union und seiner Bürger sehen und
stattdessen das Narrativ einer „Rechtsgemeinschaft" oder gar einer blo-
ßen „Zweck-" oder „Interessensgemeinschaft" bevorzugen.3 Hinter bei-
~en
Einwänden, dem der geschichtlichen Unter- wie dem der politischen
Uberforderung, verbirgt sich der Vorwurf, dass das politische Projekt
einer Europäischen Union sich von der sinnstiftenden religiös-kulturellen
Idee Europas als einer geistigen Lebensform verabschiedet habe.
Selbst der Begriff der „Wertegemeinschaft" wie auch dessen beide Kom-
ponenten geben Anlass zur Kritik. Zum einen, weil der abstrakte Wert-
begriff in der nachmetaphysischen Philosophie des
19.
Jahrhundert zu
einer Art Containerbegriff gewordenen ist, unter dem vielerlei, auf den
ersten Blick Zusammenhangloses ( wie sittliche Qualitäten, moralische
Tatsachen, Tugenden, materielle Güter, aber auch der Binnenmarkt, die
Freizügigkeit innerhalb der EU etc.) gleichermaßen gefasst werden kann.4
Zudem müsse bezweifelt werden, dass
es
wirklich so etwas wie „europäi-
sche" Werte geben könne, da Werte immer einen universalistischen Gel-
tungsanspruch haben. Universalistische Werte seien ob ihrer Neutralität
gegenüber den kulturhistorischen Besonderheiten als Grundlage eines
spezifisch europäisches Ethos daher ungeeignet. Zum anderen wird kriti-
siert, dass mit dem in der Philosophie der Romantik politisch überhöhten
Begriff der „Gemeinschaft" im 20. Jahrhundert erheblicher politischer
Missbrauch getrieben worden sei -man denke nur an die unselige Rede
von der „Volksgemeinschaft". Da helfe auch der Hinweis nicht, dass in
den Vertragsdokumenten selbst der Begriff der „Wertegem·einschaft"
nicht fällt, sondern nur davon die Rede ist, dass die „Union" auf Werten
gegründet ist. Selbst wenn sich diese philosophisch, juristisch und mit
Blick auf den kulturellen Kontext vorgetragenen Kritiken entkräften las-
sen, etwa mit dem Hinweis darauf, dass jedes politische, zumal ansatz-
weise „staatsförmige" Projekt nicht ohne den Bezug
auf
Werte als ver-
bindliche, das konkrete politische Handeln leitende Zielgrößen aus-
kommt, so bleiben dennoch Zweifel an der identitätsstiftenden und emo-
tionsbindenden Kraft der Vorstellung Europas als einer „Wertegemein-
schaft".
Das intellektuell wie in seiner emotionalen Bindungskraft offenbar frag-
würdig gewordene Narrativ von der Europäischen Union als einer Werte-
4
gemeinschaft ist, so zeigt sich, der Erklärung und Begründung bedürftig.
Aber von welchem Europa sprechen wir überhaupt, wenn wir
es
als
,,Wertegemeinschaft" bezeichnen? Die Gründungsverträge weichen die-
ser Frage aus. Es müssen jedoch drei Begriffe von Europa streng unter-
schieden werden: ein geographischer Begriff, ein sinnstiftender religiös-
kultureller Referenzbegriff und ein politischer Europabegriff.
Europa als Kontinent und religiös-kultureller Referenzbegriff
Der Begriff „Europa" ist zum einen eine seit der Antike begegnende geo-
graphische Bezeichnung für einen Kontinent, dessen Grenzen prekär
sind, weil sie nicht durch natürliche Gegebenheiten räumlich bestimmbar
sind. Die Namensgebung verdankt sich, wie allgemein bekannt, einem
antiken Gründungsmythos, von dem Homer (Ilias XIV, 231-322) und
Ovid (Metamorphosen II, 833-875) berichten und der sich als Bild von
„Europa auf dem Stier", d.h. von einer phönizischen Königstochter die
vom Göttervater Zeus entführt und dann verführt wird, im Bewusstsein
der Geschichte verfestigt hat.
Bereits der Mythos ist mehr als eine bloß nüchterne Erklärung für die
Namensgebung des europäischen Kontinents, sondern dient -wie alle
Gründungsmythen -der Selbsterhöhung. Wie der Göttervater von der
Schönheit, der Anmut, Tugendhaftigkeit, mithin der inneren wie äußeren
Vorzüglichkeit der Königstochter Europa angezogen wurde und daher
dieser vor allen anderen Töchtern den Vorzug gab,
so
ist -gleichsam
göttlich legitimiert -auch Europa als Kontinent allen anderen Kontinen-
ten und Landstrichen als in jeder Hinsicht überlegen vorzuziehen. Bereits
der Mythos hätte das Potential gehabt, daraus eine sinnstiftenden Idee
Europas zu entwickeln. Umso erstaunlicher ist es, dass dies bis zum Ende
des
18.
Jahrhunderts nicht der Fall war.
Die Entwicklung hin zu einem emphatischen Europa-Begriff, der als
religiös-kultureller Referenzbegriff tauglich ist, beschleunigte sich erst in
Auseinandersetzung mit der Expansion der Osmanen, insbesondere mit
dem im·westlichen Christentum als tragisch wahrgenommenen Fall Kon-
stantinopels 1453. Erst
ab
da wurde Europa mit dem „lateinischen"
Christentum als einem durch ein eigenes kulturelles Gepräge von anderen
Regionen der Welt klar zu unterscheidendes Gebiet identifiziert. Der
spätere Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini (1405-1464), prägte
auf
dem Reichstag von Regensburg, der den Widerstand gegen die Expansion
des Islam durch Beschwörung der Einheit der christlichen Fürsten Euro-
pas organisieren sollte, die langlebige, noch von Gorbatschow gebrauchte
5
Metapher
vom
„Haus Europa", unter dessen Dach, so dachte noch das 16.
Jahrhundert, sich eine Christliche Republik als eine kulturell einheitlich
geprägte societas perfecta entwickeln sollte. Angesichts der Zerstritten-
heit der Europäischen Fürsten sowie insbesondere der späteren konfessi-
onellen Aufspaltung
der
europäischen Christenheit blieb diese Vorstel-
lung realpolitisch weitgehend wirkungslos.
Erst
im
Zuge der Entdeckung von Geschichte und Kultur als sinnstiftende
Erkenntnisorte in der Epoche
der
Aufklärung,
vor
allem aber in der ka-
tholischen Romantik des ausgehenden
18.
Jahrhunderts entwickelte sich
der Europagedanke zu einer feststehenden kulturellen Referenz, zu einer
sinnstiftenden, vorrangig religiös-kulturell konnotierten Idee, die durch
die Benennung ihrer Komponenten nicht
nur
intellektuell anschluss-
und
diskussionsfähig, sondern als Hoffuungsbegriff eines zukünftigen Euro-
pas auch kampagnenfähig wurde. Es
war
vor allem Novalis (Friedrich
Hardenberg, 1772-1801 ), der die Verklärung der mittelalterlichen europä-
ischen Christenheit zur glücklichen „Urzeit" und als Vorbild für das zu-
künftige Goldene Zeitalter europäischer Einheit vorantrieb, in dem die
religiösen, künstlerischen, politischen, wissenschaftlichen und morali-
schen „ordines" nicht
mehr
durch einheitssprengende Gegensätze geprägt
sein sollten. Seine Rede „Die Christenheit oder Europa" (1799, vollstän-
dig veröffentlicht erst 1826 von Schlegel), die von F.D.E. Schleierma-
chers (1768-1834) Schrift „Über die Religion" ( ebenfalls 1799) angeregt
war
und eine Regenration Europas dadurch herbeiführen sollte, dass im
europäischen Menschen der Sinn für die Erkenntnis der höheren Welt
neu
erweckt werde, löste eine das ganze 19. Jahrhundert anhaltende Europa-
Euphorie aus. Das neue Europa, sollte
auf
den Grundfesten eines „poeti-
schen Christentums" aufsetzen, das Einheit und Freiheit zur Symbiose
führt und den ewigen Frieden herstellt.
Von
Novalis angeregt, haben die
Brüder A. W. Schlegel (1767-1845) und
F.
Schlegel (1772-1829) eine
Europakonzeption entworfen, die sich primär
auf
kulturelle Traditionen
stützt
und
um
den
Begriff
des „Abendlandes" kreist.
Die
antireformatori-
sche, antiaufklärerische
und
mit Blick
auf
die Ideen der Französischen
Revolution auch antidemokratische Stoßrichtung des Abendland-Begriffs
ist unverkennbar. Aus der „Geschichte der Stadt Rom
im
Mittelalter"
(1872) des Renaissance-Historikers F. Gregorovius (1821-1891) stammt
die sinn- und identitätsstiftende Rede von den drei „Wurzeln" Europas,
die seither
zum
festen Bestandteil
jeder
Wesensbestimmung Europas
geworden ist: ,,Unbedingt europäisch ist alles, was von drei Quellen -
Athen,
Rom
und Jerusalem -herrührt" sowie die Institution des Rechts
und der rechtsförmigen Gestaltung des politischen Gemeinwesens.
6
Europa als politisches Projekt „ex negativo" einer historischen
Schicksalsgemeinschaft
Bereits Europa als religiös-kultureller Referenzbegriff ist zweifelsohne
mit einer Vielzahl von positiven Wertvorstellungen aus
dem
Umfeld der
jüdisch-christlichen Religion, der abendländischen Philosophie
und
des
römischen Rechts aufgeladen. Nichts spräche dagegen, auch noch die
Werte der Aufklärung oder die der erfolgreichen technisch-
wissenschaftlichen Errungenschaften hinzuzurechnen. Denn sie alle ha-
ben sich zweifelsohne
im
historischen Raum des Europäischen Konti-
nents entwickelt, sind also tatsächlich typisch europäisch zu nennen.
Daher
kann sich die Frage aufdrängen: Müsste das friedliche Zusammen-
leben der Völker
und
Nationen Europas nicht auch schon mithilfe dieser
historisch gewachsenen Werte erfolgreich zu gestalten sein, so dass es der
Neubegründung Europas als einer „Wertegemeinschaft", wie sie die eu-
ropäischen Verträge vorsehen, gar nicht
mehr
bedürfte?
Und
würde nicht
schon das „kulturelle, religiöse
und
humanistische Erbe Europas", aus
dem die Union -wie es in der Charta der Grundrechte der Europäischen
Union (2000) heißt -,,schöpft", ausreichen, das Zusammenleben im Pro-
jekt
einer Europäischen Union zureichend zu orientieren
und
hinlänglich
friedfertig und prosperierend zu gestalten? Ist die Kritik an der histori-
schen Unterforderung des Europagedankens der Europäischen Union
daher nachvollziehbar?
Hier
gilt
es
zu
bedenken, dass alle Herkunftsnarrative fast naturwüchsig
dazu tendieren,
nur
die positiven Aspekte
zum
Teil der Erzählung zu
machen. Alles Negative dagegen wird ausgeschieden. Auch das Narrativ
vom
„Christlichen Abendland" ist ein solches, die geschichtliche Wirk-
lichkeit und die mögliche Zukunft verklärendes Konstrukt. Denn ein
Blick nicht
nur
auf
die ideal-, sondern auch die realhistorischen Gege-
benheiten ist ernüchternd. Die Wurzeln Europas haben jedenfalls zu kei-
nem
Ethos geführt, das stark genug war, um zu verhindern, dass die Re-
algeschichte Europas eine Geschichte der beständigen Kriege,
von
Reli-
gionskriegen zumal,
von
grausamen,
ja
hemmungslosen Auseinanderset-
zungen zwischen den Völkern
und
Religionen bis ins 20. Jahrhundert
hinein geblieben ist. Die friedensstiftende Bindekraft der Werte -
weder
der Religion, noch der Philosophie, noch des Rechts, noch der Aufklä-
rung
und
auch nicht der
von
Wissenschaft
und
Technik -hat die Völker
und Menschen Europas offensichtlich nicht davor bewahrt,
zum
Opfer
verheerender (Religions-) Kriege und religiösen Wahns, grausamster
Barbareien, eklatantester Ungerechtigkeiten und in die Katastrophe füh-
render Ideologien zu werden. Selbst Wissenschaft und Technik waren zur
7
orgams1erten Vernichtung der Menschen und ihrer Lebensgrundlagen
brauchbar. Dies alles passierte zwar nicht ausschließlich wegen, aber
doch -so der geschichtliche Erkenntnisertrag -trotz der Präsenz religiö-
ser und kultureller Werte.
Eine „Neugründung Europas" als eines politischen Projekts musste daher
auch
auf
einem neuen Fundament aufbauen -und dies gleichsam „ex
negativo", aus der Erfahrung der vielen Katastrophen Europas und der
Einsicht, dass das gewachsene Ethos Europas nicht ausgereicht hatte,
diese nachhaltig zu verhindern. Dies heißt nicht, die Ideale und kulturel-
len Errungenschaften Europas aufzugeben, sondern deren politischen
Wirksamkeitsraum durch den Rahmen eines negative Effekte ausschlie-
ßenden institutionalisierten Ethos, das vertraglich vereinbart ist, gleich-
sam einzuhegen. Das ist auch der Kern der sog. ,,Let-Europe-Arise-Rede"
von Winston Churchill (1874-1965) an der Universität Zürich am
19.
September 1946. 5
Auf
dem Hintergrund der „Tragödie Europas" warnte
er davor, erneut in „das finstere Mittelalter mit seiner Grausamkeit
und
seinem Elend" zurückzufallen.
Er
plädierte für „eine Art von vereinigten
Staaten von Europa", für eine „Neuschöpfung der europäischen Völker-
familie, oder doch soviel davon, wie möglich ist, indem
wir
ihr eine
Struktur geben, in welcher sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit
bestehen kann". Denn, so Churchill, die gemeinsame Geschichte des
Kontinents sowie das einigende Band des christlichen Glaubens und der
christlichen Ethik prädestinierten geradezu zu einer Zusammenarbeit
der
europäischen Staaten.
Neu ist das Verständnis Europas als eines realpolitischen Projekts „ex
negativo" übrigens nicht. Es ist historisch viel älter als der recht späte
„romantische" Europabegriff. Politische Europakonzeptionen mit
dem
Fokus einer Vereinigung der europäischen Völker tauchen seit
dem
14.
Jahrhundert beständig
auf
und sind dabei immer „ex negativo" motiviert.
Dass dennoch die Vorstellung Europas als einer sinnstiftenden religiös-
kulturellen Idee den politischen Europagedanken im
19.
Jahrhundert
verdrängen konnte, hat seinen Grund darin, dass
der
kulturelle Referenz-
begriff Europas als einer kulturellen Sinneinheit zunehmend in Konkur-
renz mit dem zur gleichen Zeit aufkommenden Gedanken der Nation
geriet. Und weil die europäischen Nationalstaaten begannen, sich eben-
falls als sinnstiftende Kultureinheiten eigenen Typs zu betrachten, verlor
das Projekt einer Einigung des ebenfalls kulturell verstandenen Europas
an Attraktivität. Es bedurfte der unmittelbar evidenten Barbareien zweier
Weltkriege,
um
das politische Projekt eines vereinigten Europas wieder
voranzubringen.
8
Die Europäische Union -ein auf gemeinsam vereinbarten Werten
gegründetes politisches Projekt
Doch
auf
was muss ein solches realpolitisches Projekt gegründet sein,
damit es die angezielte Wirkung, nämlich tatsächlich einen „Raum des
Friedens, der Sicherheit und der Freiheit"
zu
schaffen, entfalten kann?
Der
Rückgriff
auf
eine idealisierte Geschichte und die sie tragenden reli-
giös-kulturellen Werte -also eine Gründung „ex positivo" -kann es
nicht sein. Auch alle vermeintlich historischen Realisationsformen einer
societas perfecta, wie sie die Romantik im Christlichen Mittelalter sah,
haben sich als politisch untaugliche, weil schwärmerische „Retrotopien"
erwiesen. Unter endlichen Bedingungen, zumal unter Bedingungen der
conditio humana, d.h. von Menschen und Völkern, die -wie
I.
Kant
( 1 724-1804) meinte -immer schon „aus krummem Holz geschnitzt" und
durch „ungeselllige Geselligkeit" gebeutelt sind, wird es nie gelingen, die
national und international pluralen, noch dazu in sich selbst fragilen, aber
gerade deswegen miteinander konkurrierenden religiösen, intellektuellen,
politischen, sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen Ordnungssyste-
me
auf
eine gemeinsame Wahrheit und gemeinsame Zielsetzungen hin
zu
orientieren. Die Herstellung einer solchen Einheit würde ein modernes
politisches Gemeinwesen, das Freiheit und Pluralität garantiert, anderer-
seits friedliche Kooperation fördert, überfordern. Genauso würde das
staatsnegative Konzept von Europa als eines bloß mechanistischen Ver-
standes- bzw. Notstaates, der -so die ebenfalls in der Romantik wurzeln-
de Idee -als societas defecta durch die sich vollendende Sittlichkeit der
Menschen überwunden werden soll, ein staatsförmiges Europa in seinen
Aufgaben unterfordern. Ganz abgesehen davon, dass ein solches Konzept
aufgrund seiner viel
zu
optimistischen Anthropologie und der ausgeblen-
deten Wankelmütigkeit moralischer Orientierungen
auf
ein sehr unsiche-
res Fundament gebaut wäre.
Beide Vorstellungen, die der societas perfecta wie die der societas defec-
ta, sind realitätsfern und untauglich als Blaupause des Europäischen Pro-
jekts. Dieses muss sich als societas incompleta et imperfecta verstehen,
als unvollkommenes, aber
auf
Freiheit gebautes und dem Menschen-
rechtsethos verpflichtetes Gemeinwesen, das kulturelle Herkunftstraditi-
onen nicht zur Einheit homogeniseren will, sondern von der gleichen
Würde und dem gleichen Freiheitsanspruch aller europäischen Völker
und Nationen ausgeht. Als Völkerrechtssubjekte setzen sich die Staaten
und ihre Regierungen daher gleichsam aus Furcht voreinander zusam-
men, machen im Konsens Verträge und geben darin einen Teil ihrer Sou-
veränität unter der Bedingung an das vertraglich konstituierte staatsför-
9
mige Gebilde
ab,
dass die anderen dies ebenso tun, mit dem Ziel, der
permanenten wechselseitigen Gefährdung der eigenen Souveränität und
der Freiheit ihrer Bürger zu entgehen. Die Verträge konstituieren ein
nicht naturwüchsiges politisches Gebilde, für das die Vertragspartner
gemeinsam zu erreichende Ziele vereinbaren, die als „Werte" alles ge-
meinsame Handeln lenken und orientieren sollen. Für deren Umsetzung
erschaffen sie geeignete Normen und Institutionen, deren Zustandekom-
men und Agieren fürderhin nicht nur von den beteiligten Regierungen der
Einzelstaaten, sondern gleichermaßen auch von den europäischen Bür-
gern durch Etablierung eines Europäischen Parlaments demokratisch
kontrolliert wird.
Diese hier nur knapp skizzierte Situation, in der Europa nach dem Zwei-
ten Weltkrieg stand und die zur Gründung einer Europäischen Union
geführt hat, ist als realpolitische Entsprechung dem Gedankenexperiment
der Gesellschaftsvertragstheorien des
17.
und
18.
Jahrhunderts (Th.
Hobbes,
J.
Locke,
1.
Kant, J.G. Fichte, G.W.F. Hegel) nachgezeichnet,
das im Ausgang von der Unerträglichkeit eines Naturzustandes die Gene-
se
der politischen Institution und der eigentümlichen Macht des Staates
rekonstruiert und rechtfertigt.
Von der Friedens- und Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft
Das Werte-Narrativ begleitet die Geschichte der Europäischen Staaten-
gemeinschaft von Anfang
an.
Obgleich bereits die von Churchill
in
seiner
Let-Europe-Arise-Rede formulierten Zielwerte -Friede, Sicherheit und
Freiheit -weit über eine bloß wirtschaftliche Zielsetzung hinausgingen,
setzten die konkreten Schritte dieser Gemeinschaft vorerst nur wirtschaft-
lich an, was durchaus eine „List der Vernunft" sein mochte. Erst im Ko-
penhagener Dokument zur europäischen Identität (1973) wird die Werte-
rhetorik verstärkt. ,,In dem Wunsch", so heißt
es
dort, ,,die Geltung der
rechtlichen, politischen und geistigen Werte zu sichern, zu denen sie [ die
Staaten Europas] sich bekennen, in dem Bemühen, die reiche Vielfalt
ihrer nationalen Kulturen zu erhalten, im Bewusstsein einer gemeinsamen
Lebensauffassung, die eine Gesellschaftsordnung anstrebt, die dem Men-
schen dient, wollen sie die Grundsätze der repräsentativen Demokratie,
der Rechtsstaatlichkeit, der sozialen Gerechtigkeit, die das Ziel des wirt-
schaftlichen Fortschritts ist, sowie der Achtung der Menschenrechte als
die Grundelemente der europäischen Identität wahren."
Dem Wert der Demokratie wurde mit den ersten Direktwahlen zum Eu-
ropäischen Parlament 1979 entsprochen. Mit der Einheitlichen Europäi-
10
sehen Akte von 1987 wurde dann die schrittweise Vollendung des Bin-
nenmarktes
an
konkreten innereuropäischen Freiheiten orientiert (freier
Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr). Mit dem Ver-
trag von Maastricht (1993) wurde nicht nur der Binnenmarkt vollendet,
sondern
es
kamen auch zahlreiche neue Politikfelder hinzu (Umwelt,
Gesundheit, Außenbeziehungen, Sicherheit, Justiz, Migration, gemein-
same Währung, Beschäftigung und Soziales, Energie, Kultur und Bil-
dung, Wissenschaft und Technologie, Verkehr und Reisen, Entwicklung
und humanitäre Hilfe etc.), die aus einer wirtschaftlichen eine voll um-
fängliche politische und soziale Union mit entsprechenden Zielsetzungen
und Wertorientierungen machen sollten.
Erstmalig in der Präambel der Europäischen Grundrechtscharta, die vom
Europäischen Rat im Dezember 2000 feierlich proklamiert, aber erst mit
dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon
im
Dezember 2009 rechts-
verbindlich wurde, sprach man von der Grundlage „gemeinsamer Werte".
In dieser Grundrechtscharta, die orientiert war an der Europäischen Men-
schenrechtskonvention (1950/1953) und der Europäischen Sozialcharta
(1961/1065) des Europarates, den mitgliedstaatlichen Verfassungen und
internationalen Menschenrechtsdokumenten und der Rechtsprechung der
europäischen Gerichtshöfe, heißt
es:
,,Die Völker Europas sind entschlos-
sen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu
teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.
In
dem
Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die
Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Men-
schen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den
Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den
Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbür-
gerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
begründet. Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser
gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditi-
onen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaa-
ten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regiona-
ler und lokaler Ebene bei. Sie ist bestrebt, eine ausgewogene und nach-
haltige Entwicklung zu fördern und stellt den freien Personen-,
Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungs-
freiheit sicher. Zu diesem Zweck ist
es
notwendig, angesichts der Weiter-
entwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissen-
schaftlichen und technologischen Entwicklungen den Schutz der Grund-
rechte zu stärken, indem sie
in
einer Charta sichtbarer gemacht werden."
11
Im Lissabon-Vertrag (2009) wird dieser Weg konsequent weiter beschrit-
ten. Die Europäische Union wird in dem bereits eingangs zitierten Artikel
2 als Verband beschrieben, für dessen Handeln seine Werte maßgeblich
und verbindlich sind. Sie sollen identitätsstiftend sein und das zukünftige
Ethos der Europäer prägen. Freilich bleiben Fragen: Wie ergeben die
Vielzahl der in den Dokumenten deklarierten Werte eine einheitliche
Werteordnung und inwiefern sind diese geeignet, ein gemeinsames Ethos
der Europäer auszubilden?
Die Werteordnung der Europäischen Union und das Ethos der
Europäer
Unter einem „Ethos" versteht man das Gesamtmuster der in einer Grup-
pe, Institution, Gesellschaft etc. vorhandenen, tatsächlich akzeptierten
und von Alters her bewährten Verhaltensweisen, Handlungsmuster und
Haltungen, die das soziale Handeln bestimmen. Den Kern eines Ethos
bilden gemeinsam geteilte Wertorientierungen, an die man sich gleichsam
„gewöhnt" hat. Für soziale Systeme hat der Bezug
auf
ein gemeinsam
geteiltes Ethos eine fünffache Bedeutung: eine normative Funktion für
das Verhalten ihrer Mitglieder, eine konstitutive Funktion für die Bildung
einer eigenen kulturellen Identität, eine integrative, gemeinschaftsstif-
tend-soziative Funktion, eine motivational-emotionale Funktion und eine
geschichtsbezügliche Kontinuitätsfunktion.
Mit Blick
auf
ihre Genese müssen jedoch zwei Ethos-Varianten unter-
schieden werden: Ein „gewachenes" Ethos bildet sich gleichsam unab-
sichtlich im Rücken der Akteure als ein Habitus heraus, der von Traditi-
on, Brauch, Sitte, Kultur und Gewöhnung bestimmt ist. Emotionsbasierte,
identitätsstiftende, historisch etablierte Werte liegen einem solchen ge-
wachsenen Ethos zugrunde und konstituieren eine Art Ethos-
„Gemeinschaft". Rechtlich verfasste Gesellschaften dagegen werden in
ihren Handlungsvollzügen durch vereinbarte Normen und Gesetze gelei-
tet, die in ihrer Summe das „institutionalisierte" Ethos einer Rechtsge-
meinschaft ausmachen. Sie lenken das eigene Handeln und Denken
(noch) nicht von selbst, sondern müssen gegebenenfalls auch durch
Zwangsbewehrung durchgesetzt werden.
Mit Blick
auf
das Ethos des politischen Projekts EU wird man sagen
müssen: seiner Genese nach ist dessen Ethos noch ein institutionalisier-
tes. Die Erfahrung freilich lehrt, dass beide Ethos-Varianten dazu tendie-
ren, im Laufe der Geschichte eine Symbiose einzugehen, um sich
~
ein
realistisches Erfordernis unter den Bedingungen der conditio humana
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zumal
~
wechselseitig zu stützen. Das Recht, aber auch seine konkreten
Normen und Institutionen bilden sich am gewachsenen Ethos heraus,
indem sie dessen gelebte Normen rechtlich institutionalisieren und in
einem nachvollziehbaren System ordnen. Das institutionalisierte Ethos
wiederum wird in einem Prozess der Gewöhnung Teil des gelebten E-
thos. Nur ein politisches Gebilde, dem es in seinem konkreten Handeln
gelingt, diese Dialektik zwischen zwei Ethos-Varianten aufrechtzuerhal-
ten kann sich
auf
Dauer stabil entwickeln. Das institutionalisierte Ethos
der' EU-Verträge wird sich daher, so die Hoffnung, zu einem gewachse-
nen Ethos wandeln, wenn es nicht nur
auf
einem abstrakten, an großen
menschenrechtlichen Idealen orientiertem Konstrukt aufbaut, sondern
sich auch in seiner Umsetzung tatsächlich als zuträglich erweist, die rea-
len Lebensverhältnisse der Europäer so gestalten zu können, dass ein
friedfertiges, prosperierendes wie insgesamt sozial gerechtes Zusammen-
leben der Staaten und Völker Europas Wirklichkeit geworden ist. Die EU
muss in ihren Wertedeklarationen daher auch die konkreten Vorausset-
zungen in den Blick nehmen, unter denen das reale Zusammenleben der
Europäer gestaltet wird. Auch diese haben ihre eigene, geschichtlich-
reale Werthaftigkeit. So würde etwa der Wert der Freiheit ein hohles
Versprechen bleiben, wenn er
auf
Ebene der EU nicht durch den konkre-
tisierten Wert der Freizügigkeit des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-
und Personenverkehrs im europäischen Binnenmarkt ergänzt würde.
Die beklagte Unübersichtlichkeit der Vielzahl und der Heterogenität der
deklarierten Werte der EU löst sich auf, wenn man sie in unterschiedliche
Werteklassen einteilt. Mit ihnen lassen sich zudem gelingende Ethos-
Formen analytisch beschreiben, die durch das harmonische Verhältnis
dreier Werttypen gekennzeichnet sind: Es braucht erstens höchste Ziel-
werte, die eine Antwort
auf
die Frage geben: ,,Was wollen wir im Letzten
gemeinsam erreichen?". Im EU-Wertekatalog, der freilich
auf
viele Do-
kumente verstreut ist, werden ausgehend vom Ethos der Menschenrechte
genannt: Wahrung der Würde des Menschen und der Menschenrechte,
Freiheit Demokratie Gleichheit Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Nicht-
diskrimi~lierung, Solidarität, Subsidiarität, Achtung der Vielfalt der Völ-
ker und Kulturen, der Traditionen der Völker Europas sowie der nationa-
len Identität der Mitgliedstaaten und der Organisationen ihrer staatlichen
Gewalt sowie soziale Gerechtigkeit. Es braucht zweitens institutionelle
Werte, wie sie in Normen, Institutionen, Standards oder Regelsystemen
gegeben sind. Sie geben eine Antwort
auf
die Frage: ,,Durch welche
Formen der sozialen Interaktion sollen die höchsten Zielwerte realisiert
werden?" Die Dokumente nennen hierbei das Projekt einer Europäischen
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Union selbst als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die
Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, die Unionsbür-
gerschaft, die Strukturen einer nachhaltigen und ausgewogenen Entwick-
lung, Freizügigkeit, die Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen
Fortschritts und der wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen,
sowie die Achtung des Privat- und Familienlebens. Habituelle Werte wie
Tugenden und Haltungen sind drittens die Antwort
auf
die Frage: ,,Wel-
che Verhaltensweisen von Individuen und Kollektiven sind nötig, um
sowohl an den gemeinsamen Zielwerten festzuhalten als auch die ent-
sprechenden Strukturen hervorzubringen und zu bewahren?" Solche Hal-
tungen, die für europäische Politik, Beamte und Bürger gleichermaßen
wichtig sind, sind etwa Solidarität, Subsidiarität, Rechtstreue, Toleranz
und Bereitschaft zum Kompromiss.
Auch das religiöse und kulturelle Erbe bleibt
in
den Dokumenten als
Wert sui generis nicht unerwähnt. Es wird allerdings nicht zur Grundlage
des institutionalisierten Projekts einer Europäischen Union gemacht.
Freilich,
so
muss man wohl sagen, wäre das Projekt eines friedlich ver-
einten Europas ohne das „Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittli-
chen Erbes" weder notwendig gewesen noch möglich geworden.
Die Europäische Union -eine Heterotopie der Menschenrechte
Aufgrund der bisherigen Überlegungen ließe sich das Narrativ der Euro-
päischen Union als einer „Wertegemeinschaft" wie folgt erzählen: Die
Europäische Union als „Wertegemeinschaft" ist nicht die Realisations-
form der sinnstiftenden religiös-kulturellen Idee von Europa. Sie kann
sich angesichts der Unglücksgeschichte Europas, der Pluralitätsbedin-
gungen und der Ambivalenzen der Modeme wie der vielfältigen kulturel-
len und religiösen Prägungen der Europäer nicht mehr bloß als-,,Retroto-
pia"6 eines vermeintlich Goldenen europäischen Zeitalters begreifen,
zumal dessen geschichtlich gewordenes Ethos offensichtlich nicht geeig-
net war, für die Schicksalsgemeinschaft der Europäer eine friedliche Zu-
kunft in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit zu gewährleisten. Damit eine
glücklichere Zukunft keine bloße Utopie bleibt, haben sich die Völker
Europas daher
auf
den Weg gemacht, ihre Zukunft primär am Ethos der
Menschenrechte und
an
darauf beziehbaren gemeinsam vereinbarten
Werten zu orientieren und alle Normen und Institutionen wie alles ge-
meinsame Handeln daran auszurichten. Solchermaßen motiviert durch die
Erfahrung gemeinsam erlittener Katastrophen, das weiterhin bestehende
gegenseitige Misstrauen sowie gleichzeitig die Einsicht, dass sie auch
zukünftig schicksalhaft
in
einem gemeinsamen Boot sitzen werden, ha-
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ben sie sich durch Verträge und vertraglich abgesicherte politische, wirt-
schaftliche und soziale Verflechtungen, deren Vorteile für alle evident
sind, gleichsam wie
in
einer Galeere
auf
Gedeih und Verderb
so
eng an-
einander gekettet, dass auch ihr zukünftiges Schicksal nicht von der Brü-
chigkeit wechselseitigen Wohlwollens, sondern von der gemeinsamen
Furcht des Untergangs aller abhängig bleiben soll.
Das politische Projekts Europäische Union ist daher eine Ethos-
Gemeinschaft sui generis, nämlich nicht „ex positivo", sondern „ex nega-
ti
vo". Als Wertegemeinschaft kann sie eine Not-, eine Zweck-, eine ln-
teressens-, eine Wirtschafts- und eine Rechtsgemeinschaft gleichermaßen
sein, solange sich Europa einen Ausdruck Michel Foucaults7aufgrei-
fend-als eine „Heterotopie" der Menschenrechte begreifen lässt, d.h. als
einen realen Ort,
an
dem versucht wird, den Gedanken der Menschen-
rechte unter historisch-kulturellen Bedingungen und vor allem unter Be-
dingungen der conditio humana in allem politischen, wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Handeln Wirklichkeit werden zu lassen. Die mit
Nachdruck betriebene Arbeit
an
diesem europäischen Projekt, das wie
alles Politische nicht frei von Verwerfungen und Rückschlägen ist, macht
Europa nicht nur vom Rest der Welt unterscheidbar, der Beweis der rea-
len Zuträglichkeit seiner Werteordnung könnte auch die historische Mis-
sion Europas sein.
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