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V METHODOLOGISCH-METHODISCHE
ÜBERLEGUNGEN
„Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst iden-
tisch macht, und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“56
Johann Wolfgang Goethe
Die Zeiten, in denen in einer psychologischen Arbeit ein qualitativ-
methodisches Vorgehen nur deshalb eigens begründet werden mußte,
weil es sich um einen qualitativen und nicht um einen quantitativen
Zugang handelte, scheinen endgültig vorbei zu sein. Gegenwärtig
kann in gewisser Hinsicht sogar von einer kleinen „Explosion“ quali-
tativen Forschens gesprochen werden, nimmt man jedenfalls die Flut
an neueren Publikationen als einen validen Indikator hierfür. Als eine
„kleine“ mag die angenommene „Explosion“ dennoch bezeichnet
werden, da nichtsdestotrotz die methodologisch-methodische Realität
zumindest an psychologischen Instituten nach wie vor in erster Linie
an dem bedingungsanalytischen experimentellen Paradigma als „via
regia“ der Erkenntnis orientiert ist.57 So erfolgt der mancherorts zu
beobachtende deutliche Aufschwung einer interdisziplinären qualitati-
ven Sozialforschung denn auch – wie meine nachfolgenden kursori-
schen Notizen zeigen – insbesondere unter der Mitwirkung solcher
Disziplinen wie der Soziologie oder der Pädagogik und (immer noch)
weit weniger der Psychologie.
56 Den Hinweis auf das schöne Zitat verdanke ich Jörg Bergmann.
57 Und daran haben auch die zahlreichen kritischen Analysen des Expe-
riments in der psychologischen Forschung allenfalls wenig ändern
können. Dies trifft auch dann zu, wenn die Kritik gewissermaßen aus
dem Herzen der Experimentalpsychologie selber geäußert wurde,
mithin das Ressentiment, Bedenken am Experiment äußere nur der-
jenige, der sich nicht eingehend damit beschäftigt habe, offensicht-
lich „daneben lag“ (vgl. lediglich Holzkamp [1964] oder Kline
1988).
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
172
Kursorische Notizen zu einer „Explosion“ qualitativen Forschens
Die angesprochene Flut zeigt sich in neu gegründeten Buchreihen, wie
der von Ralf Bohnsack, Jo Reichertz und Christian Lüders betreuten
Reihe „Qualitative Sozialforschung“, die sich die Bereitstellung kon-
ziser Texte für die konkreten Belange der Forschungspraxis zum Ziel
gesetzt hat. Bisherige Bände behandeln beispielsweise die rekonstruk-
tive Familienforschung (Hildenbrand 1999), die qualitative Analyse
von Gesprächen (Deppermann 1999), Möglichkeiten der Typenbil-
dung (Kelle und Kluge 1999) oder das Gruppendiskussionsverfahren
(Loos und Schäffer 2001) (vgl. zu dieser Reihe den instruktiven Re-
zensionsaufsatz von Gildemeister 2001).
Darüber hinaus sind in den Jahren 1999/2000 gleich vier Zeit-
schriftengründungen für qualitativ arbeitende Sozialforscher von be-
sonderem Interesse gewesen: „Psychotherapie & Sozialwissenschaft.
Zeitschrift für qualitative Forschung“ sieht das Ende der Metaanalysen
gekommen und im Gegenzug interpretativ verfahrende Arbeiten als
aussichtsreiche Alternativkandidaten zur wissenschaftlichen Bereiche-
rung der Psychotherapieforschung (vgl. das Vorwort der Herausgeber
Bergmann, Boothe, Buchholz, Overbeck, Straub, Streeck und Wolff in
der ersten Ausgabe 1999: 3). „FQS-Forum Qualitative Sozialfor-
schung“ bzw. „Forum: Qualitative Social Research“ ist ein seit Beginn
des Jahres 2000 auf Englisch und Deutsch, teilweise auch Spanisch
erscheinendes Internet-Journal, das sich dem gesamten Spektrum der
qualitativen Sozialforschung verpflichtet fühlt und insbesondere auch
eine internationale Vernetzung qualitativ arbeitender Wissenschaftler
anstrebt. Die „Zeitschrift für Qualitative Bildungs-, Beratungs- und
Sozialforschung“, die seit Sommer 2000 erscheint und von „Vetera-
nen“ der interpretativen Sozialforschung, wie z.B. Fritz Schütze her-
ausgegeben wird, versteht sich als ein Forum für diejenigen Forscher
der unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich
der interpretativen Forschung zurechnen. Mithin besteht konsequen-
terweise der Beirat der Zeitschrift auch aus renommierten Vertretern
der Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Ethnologie. „Sozialer
Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung“ schließlich be-
rücksichtigt sowohl stärker methodologisch als auch konkret empi-
risch ausgerichtete Arbeiten. Wenngleich sie nicht ganz in die vorge-
nommene Aufzählung hineinpaßt, ist in gewisser Weise auch noch
„Handlung, Kultur, Interpretation“ zu nennen. Dieses ehemalige
„Bulletin für Psychologie und Nachbardisziplinen“ ist 1999 nach
neunjährigem Bestehen in eine „Zeitschrift für Sozial- und Kulturwis-
senschaften“ umgestaltet worden. Es ist dort in Abhandlungen, Rezen-
sionsaufsätzen und unlängst einem eigenen Themenschwerpunkt (vgl.
Handlung, Kultur, Interpretation 2001, 10, 1) qualitativ-empirische
Forschung immer wieder grundlagentheoretisch sowie methodolo-
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 173
gisch reflektiert und (seltener) konkret empirisch demonstriert wor-
den.
Des weiteren kann darauf hingewiesen werden, daß bereits ältere
Einführungstexte und Handbücher in die qualitative Sozialforschung
immer wieder neu aufgelegt werden. Vier Beispiele: Uwe Flicks Mo-
nographie ist 2002 in überarbeiteter und erweiterter Fassung zum
sechsten, Philipp Mayrings58 kleines Buch ist im selben Jahr, ebenfalls
in überarbeiteter Version, bereits zum fünften Mal, Ralf Bohnsacks
Einführungstext ist 1999 in überarbeiteter und erweiterter Form zum
dritten und ein Jahr darauf in durchgesehener Form zum vierten Mal
und das „Handbuch Qualitative Sozialforschung“ von Flick, v. Kar-
dorff, Keupp, v. Rosenstiel und Wolff ist 1995 zum zweiten Mal auf-
gelegt worden. Außerdem ist im Jahre 2000 von Flick, v. Kardorff und
Steinke ein weiteres Handbuch herausgegeben worden, das in vielerlei
Hinsicht gehaltvoller als das ältere Handbuch ist, auch wenn die Her-
ausgeber eine Beziehung der Komplementarität ausmachen.59
Schließlich finden sich mittlerweile selbst in Einführungen oder
Handbüchern in die Psychologie, ihre Teildisziplinen sowie in die
Felder der angewandten Psychologie neben Kapiteln zu quantitativen
Methoden überhaupt, in der Kindheits- oder Psychotherapieforschung
auch solche zu qualitativen Methoden im allgemeinen, in der Kind-
heits- oder Psychotherapieforschung (vgl. Appelsmeyer, Kochinka
und Straub 1997; Buchholz 2000; Mey 2003; Mruck und Mey 2000).
Der angedeutete Trend zeigt sich allerdings nicht allein in den ge-
nannten Publikationen, sondern auch in der Schaffung eigener Zentren
für qualitative Forschung. Da ist das „Zentrum für Qualitative Bil-
58 Philipp Mayring hat im übrigen einen Ruf auf den Lehrstuhl für psy-
chologische Methodenlehre der Universität Klagenfurt erhalten, der
explizit für quantitative und qualitative Methoden ausgeschrieben
worden ist – etwas, das in der deutschsprachigen Psychologie –
wenn ich recht sehe – bisher noch nie geschehen ist. Auch dies mag
für eine stärkere Anerkennung qualitativen Forschens sprechen.
59 Als ein paar wenige Vorzüge gegenüber dem „alten“ Handbuch seien
angeführt: Die Beiträge zu einzelnen Verfahren sind im neuen Buch
wesentlich elaborierter, vgl. etwa das Kapitel zur Gruppendiskussion
von Dreher und Dreher (1995) und das von Bohnsack (2000b) zum
selben Thema – überhaupt sind die Autoren der jeweiligen Artikel in
bezug auf ihre Einschlägigkeit besser ausgewählt worden; die Glie-
derung ist schlüssiger; das methodologisch-methodische Problem-
bewußtsein ist entwickelter, s. hierzu v.a. den 6. Teil des Buches
„Qualitative Forschung im Kontext“, und schließlich erleichtert auch
ein Abschnitt wie der „Serviceteil“, in dem auf interessante Internet-
Adressen, einschlägige Zeitschriften, Buchreihen und Weiterbil-
dungsmöglichkeiten hingewiesen wird, die Orientierung für „Ein-
steiger“ in die qualitative Forschung und versorgt ebenso „Fortge-
schrittene“ mit interessanten Anregungen.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
174
dungs-, Beratungs- und Sozialforschung“ unter der Leitung des Päd-
agogen Winfried Marotzki und des Soziologen Fritz Schütze an der
Universität Magdeburg zu nennen. Ein „Zentrum Qualitative Psycho-
logie“ gibt es unter der Leitung von Günter Huber, Josef Held und
Mechthild Kiegelmann seit 1999 an der Universität Tübingen.
Zugleich ist jedoch auch zu beobachten, daß dem in Deutschland
bislang einzigartigen graduierten Projektstudium für Qualitative Sozi-
alforschung, das unter anderem von Ralf Bohnsack, Martin Kohli und
Jarg Bergold betreut wurde, die Einstellung droht. Seit dem Winter-
semester 1999/2000 ist aufgrund fehlender finanzieller Unterstützung
ein erneuter Studienzyklus bislang nicht wieder angeboten worden.
Nach diesen knappen Hinweisen auf ein gewisses Aufblühen und Ge-
deihen der interpretativen Sozialforschung – nebst Relativierung – zu-
rück zum Ausgangspunkt der Überlegungen! Mag es nun also zwar
nicht mehr nötig sein, einen qualitativen Zugang nur deshalb zu be-
gründen, weil er ein qualitativer ist, ist der Forscher dennoch freilich
keineswegs von der Verpflichtung enthoben, sein empirisches Vorge-
hen methodologisch-methodisch zu reflektieren. Ganz im Gegenteil
eröffnet sich nun sogar viel stärker die Möglichkeit „zur Sache selbst“
zu kommen, als wenn immer wieder die Legitimität einer interpretativ
verfahrenden Sozialforschung begründet werden soll.60
Letzteres soll daher auch im folgenden nicht mehr geschehen. Das
heißt jedoch nicht, daß auf grundlegende methodologische Erörterun-
gen verzichtet würde. Es geht in ihnen nur nicht mehr allein um die
Konstitution interpretativen Denkens aus einer schroffen – bisweilen
allzu grobkörnigen – Abgrenzung gegen ein quantifizierendes Den-
ken.61 Mit Hilfe der Rede von der Perspektivität psychologischen
Denkens sollen solche prinzipiellen Überlegungen angestellt werden,
die den epistemischen Status interpretativen Forschens deutlicher in
Erscheinung treten lassen (1). Wie an dem bereits erwähnten Erschei-
nen – zum Teil ja sogar in mehreren Auflagen – von Einführungsbü-
chern abzulesen, scheint in mancherlei Hinsicht eine Art Kanonisie-
rung auch qualitativen Forschens sich vollzogen zu haben. Neben den
vielen wünschenswerten Folgen, die dies nach sich gezogen hat, wie
etwa einer erhöhten Lehrbarkeit dieses Forschungsstils, ist jedoch zu-
60 Dies sah freilich Peter Wiedemann bereits 1986 so, als er sich einer
nochmaligen „Kritik an der verhaltenswissenschaftlichen Psycholo-
gie“, dem wiederholten Pseudo-„High-Noon“ zwischen normativem
und interpretativem Paradigma zugunsten neuerer sachhaltiger Ar-
gumentationen verweigerte.
61 Günter Mey (1999) hat m.E. denn auch ganz recht, wenn er schreibt,
daß es eine auch lohnenswerte Perspektive sei „statt diese beiden
[das qualitative und das quantitative, C. K.] Paradigmen immer wie-
der auf ihre Unterschiede hin zu betrachten, [...] sich einiger meist
uneingestandener Gemeinsamkeiten gewahr zu werden“ (ebd.: 121).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 175
gleich die Gefahr einer gewissen Erstarrung zu beobachten. Diese be-
trifft zum einen die unablässige Tradierung von Regulativen interpre-
tativen Forschens, die in der vorgetragenen Form mindestens frag-
würdig sind (2), zum anderen die umstandslose Übernahme bewährter
Erhebungsinstrumente, wodurch dem vielfach geforderten Primat des
Inhalts vor der Methode eben nicht Rechnung getragen wird (4). Einer
derjenigen Ansätze, die dieses Primat beherzigen, ohne darum schon
einem „anything goes“ zu verfallen, welches jedwede methodische
Geregeltheit ablehnt, ist der „grounded theory“-Ansatz von Glaser und
Strauss. Auch nach Jahren der Erprobung und Entwicklung neuartiger
qualitativer Zugänge sind deren Vorschläge immer noch attraktiv,
weil sie hoch elaboriert sind und überhaupt prinzipielle Desiderate
interpretativen Forschens überzeugend einzulösen vermögen (3). Die
„grounded theory“ zeichnet sich nun dadurch aus, daß sie methodolo-
gischer Rahmen und konkrete Methodik zugleich ist. Daher findet
man in ihr auch eine Fülle an Anregungen zur Auswertung empiri-
scher Materialien. Gleichwohl können diese noch an Präzision gewin-
nen, wenn sie durch die Überlegungen zur dokumentarischen Methode
ergänzt werden. Insbesondere Ralf Bohnsack hat hier wertvolle Vor-
schläge unterbreitet, die jedoch ihrerseits – wie Jürgen Straub gezeigt
hat – präzisierungsbedürftig und -fähig sind (5).
1 Die Perspektivität psychologischen Denkens
und Forschens
„Da die Wahrnehmungsbeziehung auf der Affektation der sensiblen Zonen
des Körpers in Wechselwirkung mit dem sinnlich präsenten wirklichen Ge-
genstand basiert, geschieht Wahrnehmung stets von einem jeweils be-
stimmten raumzeitlichen Standort des Subjekts der Welt gegenüber; die
Welt ist somit dem Subjekt in einer bestimmten anschaulichen Perspektive
gegeben. Dieser Umstand läßt sich leicht als Grundmoment der menschli-
chen Erfahrung aufweisen. Ich sehe von meinem Platz an der Schreibma-
schine aus das Haus auf der anderen Straßenseite nicht als Ganzes, sondern
nur eine, nämlich die mir zugekehrte Seite des Hauses. Teile des Hauses
sind zudem verdeckt durch einen Baum, der zwischen meinem Standort und
dem Haus steht. Verborgen ist dabei für mich nicht nur die Rückseite des
Hauses, sondern auch seine ‚Innenansicht‘, die Größe und Beschaffenheit
seiner Zimmer etc. Ich kann natürlich in zeitlichem Nacheinander meinen
Standort wechseln, etwa hinübergehen, klingeln und in das Haus eintreten.
Das ändert aber nichts an der Standortgebundenheit meiner Wahrnehmung.
Zwar sehe ich dann die Zimmer des Hauses von innen – jeweils in einer be-
stimmten ‚Perspektive‘ – aber von dem neuen Standort aus ist mir nun die
Außensicht des Hauses verborgen. – Die Standortgebundenheit und Per-
spektivität sind Grundtatbestände der Beziehung des wahrnehmenden Sub-
jekts zur Welt und deswegen real unaufhebbar“ (Holzkamp 1973: 27).
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
176
Was Klaus Holzkamp hier in seiner Schrift „Sinnliche Erkenntnis“ für
den Prozeß der Wahrnehmung beschreibt, läßt sich in lockerer Anleh-
nung mühelos auf den Bereich psychologisch-wissenschaftlichen
Denkens übertragen. Auch für die Psychologie gilt, daß Perspektivität
ein „Grundtatbestand“ dieser Wissenschaft ist. Dabei bedeutet Per-
spektivität aber je Unterschiedliches. Dies soll in dreierlei Hinsicht
aufgezeigt werden: 1. Perspektivität und Konstitution des psychologi-
schen Gegenstandes; 2. Perspektivität als unhintergehbare Wirklich-
keit sozialer Akteure und 3. Perspektivität und die Abfolge im wissen-
schaftlichen Forschungsprozeß.
1.1 Perspektivität und Konstitution des
psychologischen Gegenstandes
Einige Autoren (Greve 1996; Hartmann und Werbik 2001; Holzkamp
1996; Krewer 1993; Popp-Baier 1996; Werbik [1991a] sowie Werbik
und Appelsmeyer 1999) haben sich in letzter Zeit der Perspektivitäts-
metapher bedient, um zwischen unterschiedlichen „Psychologien“
bzw. Zugängen zum psychologischen Gegenstand zu unterscheiden.
Dabei wird unter anderem davon gesprochen, daß eine Psychologie
aus der Beobachterperspektive oder der dritten Person und eine Psy-
chologie aus der Innenperspektive oder der ersten Person betrieben
werden könne.62 Bediene sich erstere registrierender Methoden und
einer objektsprachlichen Terminologie, so bemühe sich letztere mittels
dialogischer Verfahren um eine subjektwissenschaftliche Begrifflich-
keit.63 Unschwer sind hier Anklänge an die „Verstehen-Erklären“-
Kontroverse zu bemerken64 und tatsächlich geht es manchen der ge-
62 Werbik (1991a), Werbik und Appelsmeyer (1999) sowie Hartmann
und Werbik (2001) führen noch eine Perspektive zweiter Person (die
Perspektive des „Gesprächspartners“) und eine „Wirperspektive“ an.
Da für meine Argumentationsinteressen die Perspektiven erster und
dritter Person genügen, sei hier lediglich auf diese weiteren Diffe-
renzierungsmöglichkeiten hingewiesen.
63 Ganz analog zu der skizzierten Unterscheidung ist Pikes (1971) be-
rühmte Differenzierung zwischen „emischen“ und „etischen“ wis-
senschaftlichen Bemühungen zu sehen.
64 Unschwer sind auch Anklänge an die Rede einer „Krise der Psycho-
logie“ zu bemerken. In den verschiedenen Krisen-Schriften von Wy-
gotki (1985b; im Original 1927) oder Bühler (1927) für die ältere
und von Graumann (1979), Jüttemann (1992) oder Maiers (1988) für
die neuere Psychologie wird beständig der Sorge Ausdruck verlie-
hen, die Psychologie zerfalle in unterschiedliche „Psychologien“,
von denen alle allerdings auf zwei reduzierbar seien. Diese Diagnose
wurde in der kurzen Geschichte der psychologischen Wissenschaft
bemerkenswerterweise von den genannten Autoren, aber auch von
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 177
nannten Autoren auch um eine Rehabilitation eines nun freilich präzi-
sierten hermeneutischen Denkens in der Psychologie. Dabei findet
aber keineswegs ein Rückfall in einen zurecht überwundenen Intro-
spektionismus der „klassischen“ Bewußtseinspsychologie statt (vgl.
Brandtstädter 1991). Allerdings ist in den neueren theoretischen Bei-
trägen kaum noch von „Verstehen“ oder „Erklären“ die Rede, sondern
etwa von „subpersonaler und personaler Psychologie“ (Brandtstädter
1991), „intentionalem und nomologischem Denkmuster“ (Herrmann
1987), „Bedingtheits- und Begründungsdiskurs“ (Holzkamp 1996),
„Bedingungs- und Verweisungsanalysen“ (Laucken 1989) oder „Psy-
chonomie und Psychologie“ (Werbik 1985).65
Welche Fragen können nun bei der Übernahme der einen oder der
anderen Perspektive adressiert werden? In prototypischer Ausprägung
zeigt sich die Leistung der Beobachterperspektive beim klassischen
Behaviorismus. Per definitionem ist hier der Rekurs auf mentale Ter-
mini untersagt. Dem Naturwissenschaftler gleich soll nur das, was
sich quasi interpretationsfrei beobachten läßt, als anerkanntes psy-
chologisches Datum gelten. Das Ziel solchen Forschens sind vom For-
scher unabhängige empirische Gesetzmäßigkeiten.66 Auch wenn zen-
einer Reihe anderer prominenter Fachvertreter und an Psychologie
interessierter Philosophen (Binswanger, Brentano, Dilthey, Münster-
berg, Politzer, Spranger, Wundt) immer wieder gestellt. Gerade die-
jenigen, die den Krisentatbestand beschrieben, wollten aber selbst
keinesfalls der weiteren Zersplitterung oder auch nur Dualisierung
der Psychologie Vorschub leisten. Insofern ist es zumindest mißver-
ständlich, wenn Jerome Bruner (1997) anlässlich des 100. Geburtsta-
ges Piagets und Wygotskis, den letzteren allein in die Ahnenreihe ei-
ner interpretativen Psychologie rückt. Natürlich ist Wygotski für eine
interpretative Kulturpsychologie von außerordentlichem Interesse,
ihn allerdings ausschließlich hierfür zu reklamieren, verkennt den ei-
genen Anspruch dieses Autors, der darin besteht, Psychologie – nicht
im positivistischen Sinne des Wortes – als Einheitswissenschaft zu
betreiben.
65 Selbstverständlich sind die genannten Termini nicht bedeutungs-
gleich mit „Erklären“ und „Verstehen“ noch gar untereinander. Eine
„Familienähnlichkeit“ (Wittgenstein) besteht allerdings schon.
66 Daß in der Psychologie bisweilen analytische mit empirischen
Wahrheiten verwechselt werden, sei hier nur erwähnt (vgl. hierzu
z.B. Aschenbach, Billmann-Mahecha, Straub und Werbik 1983;
Brandtstädter 1981, 1982, 1984, 1987; Brandtstädter, Eckensberger,
Gadenne, Holzkamp, Kempf, Maiers und Markard 1994; Holzkamp
1986; Kochinka und Werbik 1997: 52 f.; Smedslund 1991; Toebe,
Harnatt, Schwemmer und Werbik 1977; Werbik 1974: 23 f.). – Das
Interesse zweier der eben angeführten Autoren – Jochen Brandtstäd-
ter und Hans Werbik – an dem Thema der empirischen und analyti-
schen Sätze in psychologischen Forschungsprogrammen ist bei bei-
den nicht zuletzt ihrer zeitweiligen Zuwendung zur Erlanger Schule
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
178
trale Konstituenten des behavioristischen Forschungsprogramms ob-
solet geworden sind, ist es dennoch weiterhin sinnvoll und fruchtbar,
für einige Fragen der Psychologie die Perspektive dritter Person ein-
zunehmen. Als lediglich ein einleuchtendes Beispiel kann das bino-
kulare Tiefensehen (Herrmann 1987) angeführt werden. Was nun eine
Psychologie erster Person anbelangt, so gilt für sie, daß sie nicht ein
bloßes Sich-Verhalten in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen rückt,
sondern „acts of meaning“ (Bruner 1990). Sie versucht also, wo im-
mer dies möglich ist, die sinnhaften Strukturen menschlichen Erlebens
und Verhaltens herauszuarbeiten. Dabei ist diese Vorgehensweise –
wie bei der Beobachterperspektive – nicht auf eine bestimmte psy-
chologische Teildisziplin beschränkt. Vielmehr ist auch sie als eine
Denkform (Laucken 1989) zu begreifen, die mal mehr, mal weniger
nützlich bei psychologischen Analysen sein kann. Dies ist von Fall zu
Fall zu entscheiden und keinesfalls immer eindeutig, wie man sich
rasch am Beispiel psychosomatischer Phänomene klar machen kann
(Schneider 1999).
Es dürfte offensichtlich sein, daß eine am Geschichtsbewußtsein
interessierte Untersuchung die Binnenperspektive der Forschungs-
partner im Auge hat. Daß die Begrifflichkeit, die im Prozeß einer sol-
chen Studie entwickelt werden soll, aber nicht in den Beschreibungen
der beforschten Subjekte „aufgeht“, wird in Abschnitt 1.3 näher zu
erläutern sein. Zunächst gilt es aber, näher zu explizieren, daß Per-
spektivität nicht erst durch das Handeln des forschenden Psychologen
bzw. Sozialwissenschaftlers „in den wissenschaftlichen Gegenstand
hineingelangt“, sondern daß diesem Perspektivität von vornherein als
Konstituens eingeschrieben ist.
1.2 Perspektivität als unhintergehbare Wirklichkeit
sozialer Akteure
In einer ganzen Reihe von Forschungsprogrammen wird dem Um-
stand Rechnung getragen, daß das „Forschungsobjekt“ der Psycholo-
gie selbst ein „Forschungssubjekt“ ist, das sprachbegabt, reflexiv,
handlungs- und symbolisierungsfähig ist. Beispiele hierfür sind etwa
das Forschungsprogramm Subjektive Theorien (Groeben und andere),
des Konstruktivismus zuzuschreiben, die einer Sensibilisierung für
dieses Thema Vorschub geleistet hat (s. etwa Kamlah und Lorenzen
1967, insbesondere: 189-234). Einer der Gründe für immer wieder
auftretende Begriffsverwirrungen, die eben auch zu den genannten
Verwechslungen führen, dürfte in der weitgehenden Abschottung der
gegenwärtigen akademischen Psychologie gegen die Philosophie lie-
gen (zu diesem beklagenswerten Tatbestand, der der Psychologie
zum Schaden gereicht, vgl. Greve 1994).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 179
die Untersuchung von Umgangswissen (Laucken), der Soziale Kon-
struktionismus (Gergen und andere), die Konzeptualisierung einer
Psychologie „more geometrico“ (Smedslund) und unterschiedliche
kulturpsychologische Bemühungen (Boesch, Bruner, Cole, Eckens-
berger, Ratner, Shweder, Straub, Valsiner und andere). Diesen Ansät-
zen ist bei aller Unterschiedlichkeit die Annahme gemein, daß sie den
Gegenstand der Psychologie als schon vor jeder wissenschaftlichen
Untersuchung sinnhaft strukturiert ansehen. Anders als in den Natur-
wissenschaften hat der Psychologe es nämlich mit einem „Untersu-
chungsgegenstand“ zu tun, der sich in der Welt interpretierend zu-
rechtfindet. Insofern ist das „Forschungsobjekt“ in einer ähnlichen
Lage wie das „Forschungssubjekt“: Es ist darauf angewiesen, die Bin-
nenperspektiven anderer zu verstehen, um sein eigenes Handeln da-
nach ausrichten zu können. Dabei ist es selbst in eine Vielzahl von
Perspektiven „verstrickt“: Nicht nur ist es ein „Ich“ gegenüber einem
„Du“ oder „Er/Sie“, sondern es ist auch einem „Wir“ gegenüber ei-
nem „Ihr“ oder „Sie“ zugehörig. Die Zugehörigkeit zu diesem oder
jenem „Wir“ bestimmt in entscheidender Weise unsere Perspektive
auf den anderen. Unsere Hinsicht auf diesen anderen ist in der All-
tagswelt nun allerdings insofern deutlich von der Perspektivität des
Wissenschaftlers unterschieden, als die pragmatischen Umstände des
jeweiligen Handelns andere sind. Nicht nur ist die Situation, in der der
Wissenschaftler über die Binnenperspektiven von Menschen nach-
denkt – im Gegensatz zum Alltag –, handlungsentlastet, verfolgt er
doch andere Ziele als der Alltagsmensch, nämlich die Produktion wis-
senschaftlicher Erkenntnis und nicht unmittelbarer handlungsleitender
Orientierungen.67 Auch ist der Weg zu seinen Schlußfolgerungen
idealiter methodisch geregelt und transparent. Gleichwohl unterschei-
den sich Wissenschaftler und Alltagsmensch auch wieder nicht prinzi-
piell, da das Schützsche sozialwissenschaftliche quasi-Axiom gilt, daß
„das Beobachtungsfeld des Sozialwissenschaftlers, also die soziale Wirk-
lichkeit [...] eine besondere Bedeutung und Relevanzstruktur für die in ihr
lebenden, handelnden und denkenden menschlichen Wesen [hat]. Sie haben
diese Welt, in der sie die Wirklichkeit ihres alltäglichen Lebens erfahren, in
einer Folge von Konstruktionen des Alltagsverstandes bereits vorher ausge-
sucht und interpretiert [...]. Daher sind die Konstruktionen der Sozialwis-
senschaften sozusagen Konstruktionen zweiten Grades, das heißt Kon-
struktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld, deren
67 Freilich ist die Handlungsentlastetheit des Wissenschaftlers eine re-
lative, schließlich ist er im Kontext seines Tuns vielfältigen anderen
Handlungszwängen unterworfen.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
180
Verhalten der Sozialwissenschaftler beobachten und erklären muß“ (Schütz
1971: 68).68
Auch für den Prozeß der „Erstellung“ von Konstruktionen zweiten
Grades kann die Rede von Perspektiven herangezogen werden.
1.3 Perspektivität und die Abfolge im wissenschaftlichen
Forschungsprozeß
Es ist bereits oben angedeutet worden, daß auch eine Psychologie, die
an den Binnenperspektiven ihrer Forschungspartner interessiert ist,
nicht im lediglich Individuellen und Idiosynkratischen verharrt oder
sich ihre Erkenntnisse von den Beschreibungen ihrer Forschungspart-
ner gleichsam diktieren läßt. Vielmehr kann die Einnahme unter-
schiedlicher Perspektiven auch mit den unterschiedlichen Stadien im
Prozeß interpretativer Forschung in Verbindung gebracht werden. So
ist bei der Analyse von empirisch gewonnenen Textmaterialien zu-
nächst wichtig, die Relevanzstrukturen der Betroffenen paraphrasie-
rend zu rekonstruieren. Dabei verbleibt der Interpret noch weitestge-
hend in den von den Forschungspartnern gezogenen Grenzen. In ei-
nem zweiten Schritt wird er aber diese Grenzen zu übersteigen su-
chen, um zu transindividuell interessanten Aussagen gelangen zu kön-
nen. Anders ausgedrückt: Der Forscher rekonstruiert zunächst die Per-
spektive erster Person unter weitestgehendem Rekurs auf die Selbst-
beschreibungen der Forschungspartner, gelangt aber im Verlauf des
Forschungsprozesses, wenn man so möchte, zu einer Perspektive
dritter Person, die die Eigenbeschreibungen der Beforschten zwar mit-
enthält, aber v.a. auch transzendiert; dies alles aber immer noch inner-
halb eines „Begründungsdiskurses“ (Holzkamp), der die Perspektive
dritter Person nicht an die Formulierung nomologischer Aussagen
bindet, sondern an der „verweisungsanalytischen“ (Laucken) Elabora-
tion von Konstruktionen zweiten Grades interessiert ist.
Eine solche Redeweise geht von bestimmten Prämissen aus, die
nicht selbstverständlich sind. In dem von Norbert Groeben federfüh-
rend mitentwickelten Forschungsprogramm Subjektive Theorien
(FST; s. auch Kapitel IV, 1) etwa hat die Perspektivitätsmetapher zwar
auch ihren Platz, sie erfährt aber eine gänzlich andere Behandlung als
hier. Forschern, die dem FST nahe stehen, ist nämlich durchaus an der
Reformulierung der Binnenperspektive des Beforschten gelegen. Die-
se Reformulierung soll idealerweise so aussehen, daß das „For-
schungsobjekt“ der Deutung des Forschers zustimmen kann. Eine sol-
68 Eine ähnliche Denkfigur bezogen auf den alltagsweltlichen im Ver-
gleich zum geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Historie ent-
wickelt Carr (1998).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 181
che Zustimmung, die – wiederum idealiter – innerhalb eines herr-
schaftsfreien Diskurses stattfinden soll, gilt dann als kommunikative
Validierung. Dabei bleiben aber die Subjektive Theorien untersuchen-
den Wissenschaftler nicht stehen. Auch sie wollen der Ausarbeitung
von Aussagen aus einer Perspektive dritter Person zuarbeiten. Diese
ist allerdings nun doch wieder einem nomologischen Programm ver-
pflichtet. Unvermittelt wird hier nämlich von der Perspektive eines
Gesprächspartners, der die Binnenperspektive des Beforschten zu re-
konstruieren sucht, auf die Ebene eines beobachtenden Dritten „umge-
schaltet“, der nicht mehr an Handlungsgründen interessiert ist, son-
dern an den „wahren“ Ursachen des Erlebens und Verhaltens seines
„Gegenstandes“ (vgl. Groeben 1986; zur Kritik an dem „pragmati-
schen Bruch“ dieses Perspektivenwechsels s. Werbik 1991b; zur Kri-
tik insbesondere an dem epistemologischen Kategorienfehler s. Straub
1994). Aber auch Argumentationen anderer theoretischer Provenienz
konvergieren nicht mit den hier vorgestellten Überlegungen. Betrach-
tet man Klaus Holzkamps (1996) letzten posthum erschienen Text zu
„alltäglichen Szenen der Lebensführung“, zeigen sich zwar einige
Gemeinsamkeiten, in entscheidenden Punkten aber gravierende Unter-
schiede. Diese betreffen insbesondere die zuletzt entfaltete Version
einer Perspektive dritter Person. Die zentrale Differenz besteht darin,
daß Holzkamps Perspektive dritter Person, auch „metasubjektive Per-
spektive“ genannt, stets mit einer Perspektive „erweiterter Handlungs-
fähigkeit“ gleichgesetzt wird. Die enge Kopplung einer Perspektive
dritter Person und einer erweiterten Handlungsfähigkeit ist keines-
wegs zwingend. Sie ergibt sich allerdings aus den normativen Prämis-
sen des kritisch-psychologischen Ansatzes, der wissenschaftliches
Tun an praktisches Handeln bindet. Wissenschaftliche Aussagen auf
der Ebene dritter Person können allerdings auch dann formuliert wer-
den, wenn der Bezug zur Handlungsfähigkeit nicht – zumindest nicht
primär – gegeben ist. Es kann ja bekanntlich als ein Vorteil wissen-
schaftlichen Handelns gelten, daß es eine Art institutionalisierter
„Lernschleife“ darstellt, deren Aussagen nicht sogleich in Praxis
münden müssen.
Für die psychologische Untersuchung der Entwicklung von Ge-
schichtsbewußtsein kann zusammenfassend festgehalten werden: Die
Fokussierung auf die Perspektive erster Person zielt ab auf eine sub-
jektwissenschaftliche Begrifflichkeit, die es für den jeweils interessie-
renden Studiengegenstand zu entwickeln gilt. Dabei ist die Prämisse
entscheidend, daß die „Forschungsobjekte“ selbst an den Binnenper-
spektiven anderer interessiert sind und selbst in Perspektiven ver-
strickt sind. Schließlich ist zu betonen, daß die Analyse von Binnen-
perspektiven keinesfalls in eins gesetzt werden darf mit der Vorstel-
lung, die Erkenntnisse des Wissenschaftlers seien bloße Paraphrasen
von den Beschreibungen der Forschungspartner. Vielmehr ist der For-
scher, auch in subjektwissenschaftlicher Absicht, auf transindividuelle
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
182
Aussagen aus, und arbeitet so, wenn der metaphorische Sprachge-
brauch weiterhin erlaubt ist, an einer Perspektive dritter Person. Frei-
lich ist diese eine andere als die Beobachterperspektive des klassi-
schen Behaviorismus oder die Nagelsche „view from nowhere“.
2 Regulative rekonstruktiver Sozialforschung
In der qualitativen Sozialforschung sind von unterschiedlichen Auto-
ren immer wieder Prinzipien und Grundlagen formuliert worden, die
als Regulative forscherischen Handelns gelten können. Zum Teil sind
diese, wenn sie nur noch als Kürzel aufscheinen, schon zu einem Er-
kennungszeichen qualitativer Studien geworden. Es findet sich kaum
eine einschlägige Arbeit, in der nicht in der ein oder anderen Weise
die Rede ist von den leitenden Prinzipien Offenheit, Fremdheit,
Kommunikation oder Reflexivität. Der Kürzelhaftigkeit in der Ver-
wendung dieser Begrifflichkeiten ist es wohl zuzuschreiben, daß der
Rekurs auf sie bisweilen mehr verdeckt als erhellt. Dies trifft insbe-
sondere dann zu, wenn die ursprünglich in nüchtern-reflektierender
Absicht entwickelten Termini geradezu als Kampfvokabeln in der
Auseinandersetzung mit dem „normativen Paradigma“ (Wilson) ge-
braucht werden. Nicht selten soll dann der Eindruck der „verfolgten
Unschuld“ qualitativer Forschung erweckt werden, der eine größere
Alltagsnähe, Natürlichkeit, Ethik oder Emanzipationskraft als dem
quantitativen Gegenpart zukomme. Diese kritischen und selbstver-
ständlich überspitzten Anmerkungen, die es natürlich noch zu konkre-
tisieren und näher zu explizieren gilt, sollen allerdings nicht darüber
hinwegtäuschen, daß handlungsleitenden Prinzipien eine wichtige
Rolle zukommt. Im (selektiven) Durchgang durch nur wenige ausge-
wählte, m.E. besonders wichtige Regulative qualitativer Forschung
soll jedoch der Gefahr der Mythologisierung qualitativen Denkens
entschieden begegnet werden. Außerdem soll solch ein Prinzip identi-
fiziert werden, das bereits ohne „Verkürzelung“ qua eigener Definiti-
on fragwürdig ist. Das Ziel dieses Abschnitts ist – zusammengefaßt –
also zweigeteilt: Einerseits sollen solche methodologischen Vorschlä-
ge aufgenommen werden, die zur Anleitung interpretativen Forschens
als sinnvoll und unerläßlich angesehen werden können. Zugleich aber
sollen bestimmte Lesarten dieser Vorschläge und auch andere Regu-
lative identifiziert werden, die nicht nur nicht zu einer reflektierten
Forschungspraxis beitragen, sondern durch „Mystifizierungen“ eine
vernunftgeleitete und gehaltvolle qualitativ-empirische Forschung ge-
radezu behindern.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 183
2.1 Prinzipien qualitativer Sozialforschung
Historisch betrachtet dürfte wohl Christa Hoffmann-Riems (1980)
grundlegende Arbeit zu Offenheit, Kommunikativität und Fremdheit
als den zentralen Prinzipien qualitativer Sozialforschung den Anstoß
zu einer von da an immer wieder angestrengten Reflexion über die
leitenden Regulative im qualitativen Forschungsprozeß gegeben ha-
ben; eher als angestrengte Reflexion dürften sich jedoch leider noch
mehr Arbeiten finden lassen, in denen den genannten und anderen
Prinzipien lediglich Lippenbekenntnisse gezollt oder diese Prinzipien
ihres rationalen Gehalts beraubt werden. Da Hoffmann-Riems Arbeit
mit Sicherheit zu dem Typus „angestrengte und fruchtbare Reflexion“
zu zählen ist, und sie nach wie vor wertvolle Einsichten bietet, sei zu-
nächst im Anschluß an diese Arbeit auf die in ihr herausgestellten
Prinzipien eingegangen.
Offenheit
Gegenüber der nomologischen Sozialwissenschaft ist in so heteroge-
nen Strömungen wie dem symbolischen Interaktionismus, der Traditi-
on der philosophischen Hermeneutik (Gadamer 1990, bspw.: 361 f.),
der psychologischen Biographik Hans Thomaes (z.B. Thomae 1968:
145; s. Straub 1989: 9-33; hier: 14) und der Kritischen Psychologie
Klaus Holzkamps (vgl. v.a. Holzkamp 1996: 104-110) unisono und
stets betont worden, eine Hypothesenbildung ex ante versperre einem
eher den Blick auf die Erfahrungswelt, als daß sie zu interessanten
Einblicken führen würde. Damit wurde einer der in der Popperschen
Wissenschaftstheorie unterbewerteten Aspekte des Forschungsprozes-
ses, nämlich der „context of discovery“ gegenüber dem „context of ju-
stification“ nobilitiert. Die Warnung vor der Ausarbeitung eines Hy-
pothesensets, das es danach „nur“ noch zu testen gelte, entsprang der
Befürchtung einer Forschungspraxis, in der diese Praxis ein Oktroi
bedeutet, und zwar eines gegenüber den Forschungspartnern, die sich
nur noch in den vorgezeichneten Bahnen des Erhebungsdesigns arti-
kulieren könnten. Damit kämen dann nicht mehr die „Sachen selbst“
in das Gesichtsfeld des Sozialwissenschaftlers, sondern allenfalls die
methodisch zugerichteten Überreste der interessierenden Phänomene.
Freilich wird es sich bei dem Prinzip der Offenheit stets um eine
relative und eingeschränkte Offenheit handeln. Dies nicht allein des-
halb, weil wir uns etwa bedauerlicherweise nicht all unserer Vorurteile
entledigen könnten, sondern weil wir dies – so es in reflektierter Wei-
se geschieht – im Dienste wissenschaftlich gehaltvoller Aussagen
auch gar nicht sollten. Ohne Vorurteile oder, wie richtiger gesagt wer-
den sollte, ohne Vorstrukturen des Verstehens ist dieses selbst nicht
möglich. Vorstrukturen stellen demnach die Bedingung der Möglich-
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
184
keit wissenschaftlich kontrollierten Fremdverstehens dar. Diese be-
treffen, wie weiter unten ausführlicher ausgeführt werden soll, nicht
allein unser Alltagswissen, sondern ebenso unser wissenschaftlich
vermitteltes Welt- und Selbstverständnis. Ohne irgendwelche vorgän-
gigen Anhaltspunkte, an denen wir neue Deutungsarten abgleichen
könnten, ginge jede Lektüre von Texten – nicht nur, aber eben auch
solcher eigens zu empirischen Analysezwecken erstellter – ins Leere.
Deshalb ist auch die Ausklammerung von Literaturstudien vor einer
eigenen empirischen Studie, wie dies in den frühen Arbeiten von Gla-
ser und Strauss, wenn nicht gerade empfohlen, so doch zumindest als
ein sinnvolles Vorgehen suggeriert wurde, verkehrt. Sicher kann die
Kenntnis der einschlägigen Literatur bisweilen den Interpreten quali-
tativer Daten so beeindrucken, daß er nur noch das sucht und findet,
was ihm aus der Literatur vertraut ist. Richtig ist aber auch, daß eine
Unkenntnis des Forschungsstandes zu Entdeckungen führen kann, die
nur vermeintliche sind (vgl. Hopfs [1996] eindringliche Kritik an ei-
nem naiven Prinzip der Offenheit). Oder wie es der Historiker Heim-
pel einmal ausgedrückt haben soll: „Belesenheit schützt vor Neuent-
deckungen“ (zit. n. Wehler 2001: 65).
Kommunikativität
Anders als in psychobiologischen Untersuchungen spielt Kommuni-
kation in der qualitativen Sozialforschung eine herausragende Rolle –
manche Autoren sprechen überhaupt bei der qualitativen von einer
kommunikativen Forschung (s. etwa Giesecke und Rappe-Giesecke
1997), was – wie weiter unten gezeigt werden soll – nicht sinnvoll ist.
Dennoch: Wer an den Werten, Normen und Orientierungen seiner
Forschungspartner interessiert ist, wird Sorge dafür tragen müssen,
daß diese in der ihnen vertrauten Sprache artikuliert werden können,
ist die Sprache doch – im Einklang mit den im Anschluß an Wygotski
formulierten theoretischen Prämissen – geradezu das privilegierte Ein-
fallstor in die Selbst- und Weltsicht von Menschen. Dabei wird an im
Alltag eingeübte Formen der Kommunikation angesetzt. Erzählen,
Diskutieren und Fragen beantworten sind kommunikative Tätigkeiten,
die – anders als das Blicken auf Schachbrettmuster bei gleichzeitigem
Angeschlossensein an ein EEG-Gerät – alltäglich ausgeführt werden.
Allerdings werden diese kommunikativen Tätigkeiten durch die spezi-
fischen Vorkehrungen des Forschers oftmals transformiert und unter
Bedingungen des Außeralltäglichen aktualisiert (hierzu unter dem
Punkt Naturalistizität mehr). Von daher hat die Rede von einem An-
setzen an den alltäglichen kommunikativen Fertigkeiten seine volle
Berechtigung.
Freilich werden bisweilen auch nicht-sprachliche Artikulationen
Berücksichtigung finden müssen. Von einem Kleinkind oder einem
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 185
geistig behinderten Menschen etwa wird man kaum erwarten können,
daß sie sich gewinnbringend an einem narrativen Interview beteiligen.
Gleichwohl ist hier nicht der Schluß zu ziehen, nun müsse man also
notwendigerweise auf die nomologische Sozialwissenschaft rekurrie-
ren, lassen sich doch ebenso nicht-sprachliche Artikulationen evozie-
ren und beobachten, die symbolisch strukturiert und symbolisch aus-
deutbar sind. So können etwa Zeichnungen interpretiert werden (für
den Bereich der Kinderzeichnungen s. Billmann-Mahecha 1994) oder
teilnehmende Beobachtungen angestellt werden. Mithin muß inter-
pretative Forschung nicht schon dort kapitulieren, wo sie es nicht mit
dem aus der Sicht bestimmter handlungstheoretischer Perspektiven in
der Psychologie, wie etwa derjenigen Norbert Groebens (1986), idea-
len Subjekt zu tun hat, das reflexiv, intentional, bewußt, sprachfähig
und noch anderes mehr ist. Gewiß ist aber, daß die sprachliche Ver-
faßtheit sozialwissenschaftlicher Daten – ganz offensichtlich auch in
der vorliegenden Arbeit – in der interpretativen Sozialforschung aus
naheliegenden Gründen besonders favorisiert wird, womit bisweilen
aber möglicherweise andere interessante Aspekte verdeckt werden.
Fremdheit
Die Kennzeichnung interpretativer Forschung als methodisch kontrol-
liertes Fremdverstehen hebt darauf ab, daß es etwas zu verstehen gilt,
was unvertraut, den Rahmen des eigenen Horizontes sprengend, neu
und andersartig ist. Dies erfordert die Bereitschaft eines Interpreten,
eigene für selbstverständlich erachtete Deutungsschemata irritieren zu
lassen. Andernfalls läuft er Gefahr, sich in den Stricken eines bloß no-
strifizierenden Denkens zu verfangen, das das Fremde und Andere
ohne weitere Umstände dem Eigenen und Vertrauten subsumiert.
Nicht umsonst wird dem Moment der Irritation bei der Interpretation
qualitativer Daten in prominenten sozialwissenschaftlich-hermeneuti-
schen Zugängen eine so große Rolle eingeräumt. Man sehe sich hierzu
etwa Arbeiten aus der Tradition der Tiefenhermeneutik (für ein will-
kürlich herausgegriffenes Beispiel s. König 1998) oder der psycho-
analytischen Sozialforschung im weiteren Sinne an (etwa Leithäuser
und Volmerg 1979). Es dürfte unmittelbar nachvollziehbar sein, daß
diese Bereitschaft einer psychischen Disposition bedarf, die im All-
tagsleben untypisch ist und eher in Situationen, die vom direkten all-
täglichen Handlungsdruck entlastet sind, zum Zuge kommen kann.
Solche Situationen stellen idealiter Interpretationsprozesse in wissen-
schaftlicher Absicht dar. Aber auch in ihnen ist es mitunter alles ande-
re als leicht, dem Prinzip der Fremdheit nachzukommen, heißt dies
doch eben möglicherweise auch, konstitutive Elemente der eigenen
„taken for granteds“ radikal in Frage gestellt zu sehen.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
186
Soll etwas nicht für ewig den Status des unverständlichen Fremden
behalten, so sind unweigerlich stets Aneignungsprozesse am Werk,
Nostrifizierung mithin bis zu einem gewissen Grad nicht zu vermei-
den. Es kommt nun alles darauf an, wie diese nostrifizierenden Akte
angelegt sind. Man wird zwar nicht sagen wollen, daß die Problematik
sich dadurch auflöse, aber mit dem glücklichen Begriff einer „reflek-
tierenden Nostrifizierung“ (Srubar 2001) ist vielleicht doch ein gang-
barer Weg immerhin angedeutet. In ihm steckt ja die Mahnung, die
Nostrifikation im Bewußtsein zu behalten und ihrerseits selbst zum
Gegenstand reflexiver Bemühungen zu machen.
Auf der anderen Seite des an Fallstricken reichen Spektrums ste-
hen Verstehensbemühungen, die das Fremde zwar nicht vorschnell
nostrifizieren, gleichwohl darum noch nicht vorzuziehen sind. Ge-
meint sind exotisierende Umgangsweisen mit dem Fremden, die in
ihm das ganz Andere, bizarre und vollkommen Unverständliche sehen
wollen.
Zwischen diesen beiden Polen – dem Fremden als das vermeintlich
dem Eigenen ganz und gar Verwandte und dem Fremden als das durch
und durch Andere – gilt es also zu balancieren. Daß dies ebenso wie
die beiden anderen Prinzipien lediglich idealiter zu denken ist, bedarf
wohl keiner eigenen Begründung.
Naturalistizität
Eine der mißverständlichsten Auskünfte über qualitative Sozialfor-
schung betrifft das Prinzip der Naturalistizität. Folgt man Lamnek
(1998: 49), so „kommt [es ...] im wissenschaftlich-empirischen Vor-
gehen darauf an, weitestgehend alltägliche, mindestens alltagsnahe
Kommunikationssituationen zu schaffen“. Weiter heißt es: „Je gerin-
ger der Grad der Standardisierung, desto größer die Flexibilität, auf
das Forschungssubjekt als Interaktionspartner einzugehen, desto all-
tagsähnlicher die Kommunikation und desto realitätsgerechter die
‚Datenproduktion‘“ (ebd.). Nach Lamneks Dafürhalten erfüllen so-
wohl das Gruppendiskussionsverfahren als auch das narrative Inter-
view diese methodologisch-methodischen Imperative besonders gut
(ebd. und ebd.: 33).
Zunächst einmal ist die Formulierung dieses Prinzips einem
durchaus legitimen Anliegen geschuldet, nämlich dem, keine Arte-
faktforschung zu betreiben. Eine solche Forschung ist nicht dadurch
gekennzeichnet, daß sie keine wissenschaftlich gültigen (beispielswei-
se im Sinne der Testtheorie) Resultate zeitigen würde, wohl aber da-
durch, daß diese an ihrem Untersuchungsgegenstand vorbeigehen.
Gegenstandsadäquatheit oder eine „realitätsgerechte Datenprodukti-
on“ ist jedoch nicht einfach dadurch zu erreichen, daß der Grad der
Standardisierung möglichst klein gehalten, die Flexibilität vergrößert
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 187
wird und man auf das Forschungssubjekt als Interaktionspartner ein-
geht. Zum einen lassen sich eine Reihe an Fragestellungen denken, wo
genau das Gegenteil zutreffend ist, also Standardisierung möglichst
groß sein muß, Flexibilität möglichst klein, und das Forschungssub-
jekt in der Tat nur in einem sehr eingeschränkten Sinne als Interakti-
onspartner zu betrachten ist. Dies trifft nicht allein auf psycho-
physiologische Fragen zu, wie etwa das bereits erwähnte binokulare
Tiefensehen, in dem auch andere Favoriten qualitativer Sozialfor-
schung, wie Reflexivität oder Intentionalität nur sehr bedingt eine
Rolle spielen, sondern auch auf solche Untersuchungen wie etwa die
Experimente Solomon Aschs zur Konformität in Gruppen. Ihnen wird
man nicht einfach wegen ihrer Künstlichkeit die Gegenstandsadäquat-
heit abstreiten wollen.
Aber auch im Herzen der qualitativen Forschung selbst treffen
Lamneks Ausführungen nicht zu. Das narrative Interview, „dessen
Alltagsnähe“, so der Autor, „in der Erhebungssituation [...] wohl
durch keine andere Methode erreicht [wird]“ (ebd.: 33), ist eben kei-
neswegs alltagsnah – im Gegenteil. Was ist alltagsnah an einem Set-
ting, in dem der eine bis auf einen erzählgenerierenden Stimulus, re-
zeptiven Signalen und seltenen Nachfragen schweigend zuhört, wäh-
rend der andere eine mehr oder wenige lange Erzählung präsentiert –
zumal in Anwesenheit eines laufenden Tonbandes, zumal oftmals ge-
genüber einem ihm Fremden? Eher noch als einer Alltagssituation ist
solch ein Interaktionsrahmen einer Beichte oder einer Sitzung beim
Psychoanalytiker vergleichbar, worauf bekanntlich Alois Hahn (1987)
hingewiesen hat.
Und auch für das Gruppendiskussionsverfahren ist die Alltagsnähe
nicht ohne weiteres zu konzedieren. Wohl stimmt es, daß Diskussio-
nen den Forschungspartnern „aus vielen alltäglichen Lebensbezügen
(Schule, Beruf, Fernsehen etc.) sehr wohl geläufig [sind]“ (ebd.: 49).
Dies kann bisweilen – wie ich im vierten Abschnitt dieses Kapitels
zeigen werde – allerdings eher ein Problem denn ein Vorteil sein.
Schließlich werden in sozialwissenschaftlicher Absicht Gruppendis-
kussionen oftmals eben nicht wie in der Schule, eben nicht wie bei ei-
ner Mitarbeiterbesprechung und eben nicht wie im Fernsehen durch-
geführt. Dies trifft allemal dann zu, wenn die Diskussionsleitung sich
in ihren Beiträgen vorzugsweise zurückhält, um die Forschungspartner
in ihren Relevanzsetzungen zu Wort kommen zu lassen, was etwa für
schulische Kontexte die Ausnahme und nicht die Regel ist.
Es sei noch auf ein letztes Verfahren, das dezidiert nicht durch sei-
ne Alltagsnähe gekennzeichnet ist, hingewiesen. Gemeint ist das Leit-
faden-Interview. Diesem ist – wie Christel Hopf (1978) bereits vor gut
zwanzig Jahren in einer nach wie vor lesenswerten Arbeit überzeu-
gend ausgeführt hat – gerade das Problem, daß alltägliche Kommuni-
kationsschemata beständig das wissenschaftliche Interview zu durch-
kreuzen trachten, in seiner innersten Struktur eingeschrieben.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
188
Freilich gibt es alltagsnahe Erhebungsmethoden, wie ein Blick in
bestimmte ethnomethodologische Arbeiten zeigt (zur Einführung s.
etwa Bergmann 2000). Qualitative Sozialforschung in Gänze jedoch
auf das Prinzip der Naturalistizität verpflichten zu wollen, ist unsin-
nig, da damit die Vielfalt qualitativen Denkens und Forschens einge-
ebnet wird, und ein Schein-Gegensatz zu quantitativ-methodischen
Vorstellungen aufgebaut wird.
2.2 Eine Säule qualitativ-methodischen Selbst(miß)verständnisses
Der Blick in Einführungsbücher in die qualitative Sozialforschung und
in programmatische Schriften offenbart mitunter etwas, das man in
Anlehnung an Jürgen Habermas’ berühmtes Diktum des szientisti-
schen Selbstmißverständnisses der Psychoanalyse, als ein naives nor-
matives, ethisches und politisches Selbstmißverständnis der qualitati-
ven Methodenlehre bezeichnen könnte. Ähnlich wie eine bestimmte
Ausfüllung der oben diskutierten Prinzipien trägt dieses Selbstmißver-
ständnis zu einer schiefen Wahrnehmung des qualitativ-methodischen
Zugangs bei. Zur Demonstration ziehe ich lediglich eine Arbeit aus
der jüngeren Zeit heran – es könnten auch andere sein.69 Es handelt
sich um Thomas Heinzes (2001) Einführung in die qualitative Sozial-
forschung. Die gleich zu entfaltende Kritik bezieht sich allein auf ei-
nen speziellen Aspekt des Buches, keinesfalls jedoch auf die Arbeit
als Ganze, die in mancherlei Hinsicht lehrreich und anregend ist.
Bereits nach wenigen Seiten kommt Heinze auf die „Gründe für
die Aktualität qualitativer Forschung“ zu sprechen (ebd.: 17 ff.). Diese
sieht er in besonderen historischen Umständen. Im Zuge der „Frie-
densbewegung, de[r] Studentenunruhen, vielen Alternativ-Bewegun-
gen, später der Entwicklung einer feministischen Wissenschaft [...],
d[er] übergreifenden Studenten-Proteste, d[er] antiautoritären Bewe-
gungen, APO etc.“ (ebd.: 17) habe sich eine „neue Reflexivität“ (ebd.:
18) herausgebildet, die sich eben auch auf die „positivistischen Me-
thoden der Sozialwissenschaften“ bezogen hätte (ebd.). Letztere seien
nicht in der Lage gewesen, brennende gesellschaftliche Probleme wie
die „soziale[...] und ökonomische[...] Diskriminierung von Frauen,
69 Ein anderes Beispiel wären etwa die Ausführungen Lamneks (1995:
6-21) in seinem Einführungsbuch, wo er suggeriert, der qualitativen
Forschung komme prinzipiell eine größere Alltagsnähe, ein höheres
emanzipatorisches Potential wie überhaupt eine höherwertige Ethik
als dem quantitativen Gegenpart zu. Gegenüber den noch bestürzen-
deren schwarz-weiß-malerischen Ausführungen in Carl Ratners
(1997: 231-243) ansonsten lesenswerter Studie zu einer kulturpsy-
chologischen qualitativen Methodologie bleibt Lamnek allerdings
weit „zurück“.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 189
Kindern, Alten, Randgruppen, Ausländern, im Weltmaßstab die Ar-
mut, die Umweltzerstörung, das Fortbestehen von Kriegen, Folter und
Vertreibung“ (ebd.), wissenschaftlich zu analysieren und damit die
Grundlage zu ihrer Beseitigung zu schaffen.
An der skizzierten Diagnose ist mancherlei zweifelhaft. Schon die
Begründung für die Verbreitung qualitativer Methoden vermag in der
vorgetragenen Weise nicht zu überzeugen. Neben wissenschaftsexter-
nen dürften doch wohl auch wissenschaftsimmanente Gründe eine
Rolle gespielt haben; und auch die gesellschaftlichen, sozio-kulturel-
len und historischen Umstände sind sicherlich nicht auf 1968 und Fol-
gen beschränkt, wie Heinze zu glauben machen versucht. Betrachtet
man etwa die gewachsene Anzahl an qualitativ-methodisch ausge-
richteten Studien im Bereich der interkulturellen Arbeits-, Betriebs-
und Organisationspsychologie (vgl. etwa Thomas 2000), so wird ei-
nem auffallen, daß ein Vorteil qualitativer Methoden in ihrer adäqua-
teren Beschreibung fremdkultureller Deutungsmuster gesehen wird,
was wiederum die Konstruktion von Trainings erlaube, deren Ziel
nicht zuletzt in reibungsloserer geschäftlicher Kommunikation (auch)
zum Zweck der Gewinnmaximierung gesehen wird. Dieser Umstand
allein zeigt schon an, daß das Interesse an qualitativer Sozialforschung
nicht allein – vielleicht nicht einmal vordringlich – „sozialkritisch be-
gründet“ ist, wie es bei Heinze (2001: 18) weiter heißt. Die schon fast
wahllose Auflistung der angeblich begünstigenden historischen Um-
stände – von Diskriminierung an allen Arten von Unterprivilegierten
bis zu Krieg und Folter ist ja fast alles dabei – und die Stiftung „pro-
gressiver“ politischer Verwandtschaften verdeckt den Umstand, daß
qualitative Forschung, wie gerade erwähnt, eben auch anderen Zielen
als sozialkritischen diente und dient und weiterhin, daß auch dort, wo
mancher qualitative Forscher sich auf der „richtigen“ politischen Seite
wähnt, genau Gegenteiliges bei bester Intention geschieht. Man führe
sich nur die einschlägigen Arbeiten Michel Foucaults (hier sind natür-
lich insbesondere die Bücher zu Sexualität und Wahrheit gemeint) vor
Augen, der – bei aller möglichen Kritik im Einzelnen – teilweise
überzeugend zeigen kann, daß humanwissenschaftliche Bemühungen
im Mantel hehrer Aufklärung bisweilen eher der raffinierteren Mani-
pulation dienen als der Emanzipation aus selbstverschuldeter Unmün-
digkeit. So vermag die Schlichtheit folgenden Absatzes doch zu ver-
wundern: „Durch die Veröffentlichung von Selbstzeugnissen – so ein
in der Biographieforschung vertretenes Argument – erhalten Benach-
teiligte oder von Benachteiligung bedrohte soziale Gruppen Artikula-
tionshilfe zur Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Situation“ (ebd.:
30). Genau umgekehrt könnte man vermuten, daß die immer subtilere
Ausleuchtung noch der privatesten Bereiche des Lebens machtgesteu-
erten Interaktionen Vorschub leisten kann, die mitnichten zu einer
Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von Benachteiligten
führt. Immerhin wird dies – wenn auch eher en passant – unter Rekurs
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
190
auf eine Arbeit von Ferchoff (1986) angedeutet (Heinze 2001: 34).
Gleichwohl dominiert eine unreflektierte Ineinssetzung des politisch,
normativ und ethisch Wünschenswerten mit der qualitativen Sozial-
forschung, wohingegen – gewiß überspitzt gesagt – alles Übel dieser
Welt mit der quantitativen Forschung assoziiert wird. Es wird der
Eindruck vermittelt, im Verbund mit den fortschrittlichen politischen
Kräften würde qualitative Forschung einen weitaus wertvolleren Bei-
trag zur Lösung drängender Menschheitsprobleme leisten als ihr
quantitativer Gegenpart. Neben den schon ausgeführten Irritationen
erstaunt hier nicht zuletzt der generelle Optimismus in bezug darauf,
was Wissenschaft überhaupt zu leisten in der Lage sein soll.
3 Die „grounded theory“ als
methodologischer Rahmen
Die Arbeit an einer wie zu Ende des ersten Abschnitts bestimmten
Perspektive dritter Person kann von dem im Rahmen der „grounded
theory“ sensu Glaser und Strauss entwickelten methodologisch-
methodischen Programm angeleitet werden. Dieser Rahmen bietet
sich insofern besonders an, als er einer der elaboriertesten Ansätze
interpretativer Sozialforschung ist und es erlaubt, in methodisch kon-
trollierter Weise zu theoretischen Aussagen zu gelangen, die in Empi-
rie gegründet sind. Recht besehen finden sich ohnehin zentrale Kon-
stituenten nahezu jedweder ernstzunehmenden qualitativen Methodo-
logie in der „grounded theory“ formuliert. Betrachtet man den
deutschsprachigen Raum, so läßt sich sogar behaupten, daß kaum ei-
ner der mit qualitativen Methoden arbeitenden Wissenschaftler ohne
einen mehr oder minder starken Bezug auf die „grounded theory“ aus-
kommt.70 Dies gilt insbesondere dann, wenn auch Typenbildungen
angestrebt werden. In diesem Zusammenhang hat nicht zuletzt die
„Operation called Vergleichen“ (Matthes), die bei Glaser und Strauss
an prominenter Stelle steht, in den methodologischen Vorschlägen
von Fritz Schütze, Ralf Bohnsack, Ulrich Oevermann oder Jürgen
Straub konstitutiven Rang.
Im folgenden möchte ich einige wesentliche Grundzüge dieses
Ansatzes vorstellen, die im weiteren Verlauf des Kapitels – insbeson-
70 Das liegt gewiß nicht zuletzt daran, daß zu Anselm Strauss von sei-
ten einiger prominenter qualitativer Sozialforscher (z.B. Bruno Hil-
denbrand, Fritz Schütze oder Gerhard Riemann) auch persönlicher
Kontakt bestanden hat. Dieser wurde durch mehrere Aufenthalte von
Strauss in Deutschland initiiert, dessen erster auf Einladung Richard
Grathoffs zum damals im Aufbau befindlichen Sozialwissenschaftli-
chen Archiv der Universität Konstanz im Jahre 1975 erfolgte (vgl.
Hildenbrand 1994: 17).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 191
dere was die Schritte bei der Auswertung des Datenmaterials anbe-
langt –, wenn auch unter anderem Namen, so doch der Sache nach
immer wieder aufgenommen und ergänzt werden sollen. Da diese
Wiederaufnahmen und Ergänzungen für mein empirisches Vorgehen
das Wichtigere sind, gehe ich lediglich in aller Kürze auf die „groun-
ded theory“ ein. Es handelt sich dabei sowohl um solche Aspekte, die
den fraglichen Ansatz als einen bestimmten Forschungsstil ausweisen,
als auch um solche Vorschläge, die der konkreteren Forschungspraxis
dienen; dies sind nicht zuletzt Anregungen zur Kodierung qualitativer
Daten.
3.1 Die „grounded theory“ als „multivariate“ Methode
Einer der Eckpfeiler der „grounded theory“ ist die beständige Variati-
on.71 Diese geschieht etwa hinsichtlich der zu untersuchenden Perso-
nen, Situationen und Datenarten (verbale, Beobachtungs- und sonstige
Daten). So wird man – möchte man die Interaktion mit Sterbenden in
einem Krankenhaus untersuchen (wie dies Glaser und Strauss be-
kanntlich selbst getan haben) – nicht allein das Pflegepersonal, son-
dern ebenso die Ärzte, die Patienten selbst und deren Angehörige in
die Untersuchung einbeziehen. Außerdem wird man sich nicht allein
auf eine bestimmte Sorte von Daten – etwa Beobachtungsprotokolle –
stützen wollen, sondern ebenso biographische Daten erheben, etwa zur
Krankengeschichte eines Patienten. Schließlich wird man vielleicht
Vergleiche anstellen, wie ein Patient sich beim Essen verhält und wie
beim gemeinschaftlichen abendlichen Fernsehen. Dies alles dient dem
Zweck, eine möglichst detaillierte und genaue Antwort auf wichtige
Forschungsfragen zu erlangen. Mit einem vor allem in jüngerer Zeit
beliebt gewordenen Terminus könnte man hier auch von Triangulation
sprechen (vgl. etwa Flick 2000).
Die wünschenswerte Realisierung der „grounded theory“ als mul-
tivariate Methode ist ein Ideal, dem nicht zuletzt pragmatische Re-
striktionen im Wege stehen. Es ist evident, daß in Abhängigkeit von
den verfügbaren zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen
dieses Ideal unterschiedlich approximiert wird. Im Rahmen der eige-
nen Untersuchung wurde insofern multivariat vorgegangen – wie
weiter unten genauer dargestellt wird –, als Schüler aus unterschiedli-
chen Schultypen (Hauptschule und Gymnasium), unterschiedlicher
Jahrgangsstufen (6., 8. und 10. Klasse) sowie Mädchen und Jungen
71 Anselm Strauss erklärt diesen Umstand damit, daß Barney Glaser bei
Paul Lazarsfeld studiert habe, der eben dieses stets betont habe – die
Wichtigkeit ständiger Variation –, weshalb dies Postulat in das Kon-
zept der „grounded theory“ mit eingegangen sei, sie mithin ein mul-
tivariates Verfahren darstelle (vgl. Strauss 1994: 30).
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
192
untersucht wurden. Des weiteren wurden zwei erhebungsmethodische
Zugänge entwickelt und durchgeführt, nämlich Gruppendiskussionen
und fokussierte Interviews. Schließlich wurden, v.a. zu Beginn der
Untersuchung, die Forschungspartner in unterschiedlichen Settings
(kirchlichen Gemeinden, Schulen und Freizeittreffs) aufgesucht.
3.2 Qualitative Stichprobenziehung
Zu dem multivariaten Vorgehen gehört auch – dies ist schon deutlich
geworden – die Einbeziehung unterschiedlich stark kontrastierender
Fälle. Nun werden diese im Programm der „grounded theory“ aller-
dings nicht a priori festgelegt, sondern im Zuge der empirischen
Analysen nach und nach hinzugenommen. Das bedeutet, daß man mit
der Analyse eines ersten Falles beginnt, zu diesem sodann maximale
und minimale Kontraste sucht und dieses Prozedere solange wieder-
holt, bis die Variationsbreite des interessierenden Phänomens durch-
schritten ist. Dabei kommt alles darauf an, daß die Einbeziehung der
nächsten Fälle theoriegeleitet erfolgt; und zwar theoriegeleitet im Sin-
ne der sich entwickelnden empirisch gegründeten Theorie, zu deren
weiterer Ausdifferenzierung, Bestätigung oder Sättigung die Analyse
weiterer Fälle nötig ist. Dieses Vorgehen nennen Glaser und Strauss
„theoretical sampling“ (s. etwa Strauss 1994: 35-50).
Bruno Hildenbrand (2000) hat in einem Handbuchartikel über An-
selm Strauss gerade das „theoretical sampling“ als besonders wichtig
herausgestrichen und beklagt, daß es in der deutschsprachigen Sozial-
forschung kaum je wirklich beherzigt würde. Er schreibt hierzu:
„Dieser Kerngedanke der Grounded Theory scheint sich in der deutschen
Forschungslandschaft nicht nachhaltig durchgesetzt zu haben, denn die
‚klassische‘ Abfolge: zehn Interviews zu erheben und diese danach zu
analysieren, unabhängig davon, ob das erhobene Material eine Relevanz für
die sich entwickelnde Theorie hat, gehört nach wie vor zum Standard einer
sich qualitativ nennenden empirischen Sozialforschung und zu den frustrie-
renden Erfahrungen von Forschungsberatern, die, wenn es bereits zu spät
ist, aufgefordert werden, zündende Ideen für die Rettung solcher im Ansatz
problematischer Forschungsprozesse zu entwickeln“ (ebd.: 42).
Hildenbrands Polemik ist zwar nicht völlig unbegründet, aber auch
nicht in jeder Hinsicht stichhaltig. Warum sollte man denn nicht auch
die „klassische Abfolge“ wählen dürfen, so die Wahl der dann zu
analysierenden zehn Interviews nicht willkürlich verläuft, sondern
sich an der Bildung von Kontrasten, deren Vorhandensein mitunter
auch vor der eigenen Untersuchung mit guten Gründen angenommen
werden darf, orientiert? Außerdem sind ja auch Mischformen denkbar,
wie etwa zunächst ein Interview, das dann analysiert wird, woraufhin
ein Design mit einer bestimmten Anzahl an Fällen erstellt wird (zu
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 193
unterschiedlichen Formen qualitativer Stichprobenpläne vgl. Kelle
und Kluge 1999: 38-53). Richtig ist freilich, daß dies wieder nur einen
Baustein im weiteren Forschungsprozeß darstellen kann, sofern die
Theorie am Ende des interpretativen Prozesses noch nicht entwickelt
genug ist – und dies wird sie ohnehin so schnell nicht sein. Zudem er-
gibt sich ein nicht unwesentlicher Nachteil des „theoretical sam-
pling’s“, der mit forschungspragmatischen Umständen zusammen-
hängt: Die Dauer des Erhebungsprozesses ist kaum abzuschätzen.
Dies ist insofern von Bedeutung, als eben die Handlungsentlastetheit
des Forschers – wie weiter oben angemerkt – lediglich eine relative ist
und keine potentiell „never ending (empirical) stories“ oder „unendli-
che Analysen“ erlaubt.
In der eigenen empirischen Arbeit wurde von dem Gedanken des
„theoretical sampling’s“ allein die Mahnung, Kontraste zu bilden,
übernommen. Wie eben erwähnt, wurden Mädchen und Jungen,
Hauptschüler und Gymnasiasten usw. in die Untersuchung einbezo-
gen. Daß dieses Vorgehen insofern riskant ist, als es unterstellt, rele-
vante Unterschiede würden sich in unterschiedlichen Schularten, un-
terschiedlichem Geschlecht usw. zeigen, sei zugestanden. Es ist inso-
fern allerdings auch wieder nicht so riskant, als eine solche Unterstel-
lung ja aus anderen Kontexten begründet angenommen werden darf,
wobei freilich nicht die Möglichkeit außer Acht gelassen werden soll,
daß sie eben für eine bestimmte Fragestellung vielleicht doch nicht
statthaft ist. Dies wird sich letztlich an der Empirie zeigen müssen.
3.3 Unterschiedliche Arten der Kodierung
Ein weiteres Herzstück des Glaserschen und Strausschen Ansatzes
sind ihre Vorschläge zur Kodierung qualitativer Daten. Zu ihnen ge-
hören das offene, das selektive und das axiale Kodieren (vgl. Strauss
1994: 90-123).
Beim offenen Kodieren, das am Beginn der Datenanalyse steht,
werden ausgewählte Sequenzen des erhobenen Materials Zeile für
Zeile, Wort für Wort auf ihren Bedeutungsgehalt hin analysiert. Dabei
wird unter Rückgriff auf das Hintergrundwissen der Interpreten her-
ausgearbeitet, was ein bestimmtes Wort bzw. eine bestimmte Wortfol-
ge im Kontext der ausgewählten Sequenz heißen könnte. Haben sich
im Laufe der Datenanalyse bestimmte Codes als zentral erwiesen, so
wird im weiteren selektiv kodiert. Das bedeutet, daß das empirische
Material insbesondere nach den als zentral eingestuften Codes durch-
gesucht wird. Beim axialen Kodieren werden die in den vorangehen-
den Schritten herausgearbeiteten Schlüsselcodes oder -kategorien
schließlich auf ihre Beziehungen zueinander hin ausgewertet. Am En-
de solch einer Analyse steht ein – bisweilen auch graphisch darge-
stelltes – theoretisches Netzwerk, in dem die Schlüsselkategorien als
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
194
konstitutive Knotenpunkte fungieren. Fernerhin wird zwischen sozi-
alwissenschaftlichen und natürlichen Kodes unterschieden. Bei letzte-
ren handelt es sich um solche Kodes, die direkt an die Sprache der
Forschungspartner anschließen. Solch ein natürlicher Kode stellt etwa
der Ausdruck „greifbare Vergangenheit“ dar, der in einer meiner
Gruppendiskussionen von den Jugendlichen selbst eingeführt wurde,
und im gesamten Verlauf des Gesprächs eine tragende Rolle spielte
(näheres zu diesem natürlichen Code in Kapitel VI).
Die drei Kodierarten erfolgen zum Teil nacheinander im For-
schungsprozeß. Allerdings handelt es sich bei ihnen um analytische
Differenzierungen, da sie in der realen Forschungspraxis oftmals in-
einander übergehen. Darüber hinaus kann auch in einer späteren For-
schungsphase bei Bedarf – etwa wenn der Forscher den Verdacht hat,
daß die von ihm gefundenen Kategorien doch keine Schlüsselkatego-
rien sind – zum offenen oder selektiven Kodieren zurückgekehrt wer-
den.
Der gesamte Kodierungsprozeß wird durch das Schreiben von
Memos unterstützt. Das sind Einfälle des Forschers, die er beim Erhe-
ben und Analysieren der Daten oder auch der Lektüre theoretischer
Texte sowie empirischer Studien gewonnen hat und die er für seine
Fragestellung für relevant hält. Diese Memos dienen der Strukturie-
rung der im Laufe der Studie gewonnenen Hypothesen oder auch
schon der Analyseergebnisse. Damit stellen sie eine wichtige Hilfe bei
der Abfassung des Schlußberichts dar.
Zur Ermittlung der Beziehungen zwischen den Schlüsselkategori-
en haben Glaser und Strauss ein Kodierparadigma vorgeschlagen (vgl.
Strauss 1994: 56-65), in dem die Daten daraufhin befragt werden sol-
len, welche ursächlichen Bedingungen, welcher Kontext, welche in-
tervenierenden Bedingungen und welche Handlungsstrategien ein be-
stimmtes Phänomen ausmachen und welche Konsequenzen sich dar-
aus ergeben. Ein Beispiel von Strauss, in dem „Schmerz“ das zu un-
tersuchende Phänomen ist, soll veranschaulichen, was damit gemeint
ist: „Wenn ich viel getrunken habe (Kontext), habe ich (Bedingung)
Kopfschmerzen (Phänomen/Achsenkategorie). Dann nehme ich Aspi-
rin (Strategie). Nach einer Weile geht es mir besser (Konsequenz)“
(zit. n. Böhm 2000: 479). Freilich lassen sich auch je nach Datenmate-
rial andere Kodierparadigmen denken. Gerade für psychologische
Fragestellungen wird man nicht immer auf das dargestellte Kodierpa-
radigma zurückgreifen wollen, dessen Fundierung in einer bestimmten
Spielart der soziologischen Handlungstheorie nicht zu übersehen ist.
So wird im Auswertungsteil dieser Arbeit in Anlehnung an das Biele-
felder Geschichtenschema von Boueke, Schülein, Büscher, Terhorst
und Wolf (1995; vgl. auch Kapitel IV, 2) für manche Textpassagen
ein Kodierparadigma herangezogen werden, das sich von dem Gla-
ser-/Strausschen unterscheidet.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 195
3.4 Von den Daten zur Theorie und zurück
Es ist sinnvoll, daran zu erinnern, daß die „grounded theory“ nicht
zuletzt aus einem Unbehagen an der Zweiteilung sozialwissenschaftli-
chen Arbeitens entstanden ist, wie sie in der Soziologie der 1950er
Jahre typisch war (dies jedenfalls behauptet m.E. zu Recht Métraux
2000: 643 f.): auf der einen Seite die Konstrukteure weitreichender,
ambitionierter Theorien à la Parsons, auf der anderen Seite die empiri-
schen „Fronarbeiter“ im Weinberge dieser oder anderer „grand theo-
ries“. Dieser Hiatus zwischen Empirie und Theorie sollte überwunden
werden, damit Empirie nicht mehr theorielos sein und Theorien mit
deutlichem empirischen Bezug entstehen sollten. Dabei sollten – wie
schon bei der Diskussion des „theoretical sampling’s“ hoffentlich
deutlich geworden ist – die Theorien erst im Zuge empirischer Unter-
suchungen entwickelt werden und beständig an ihnen weiter überprüft
werden. Damit wurde auch einer starren Trennung von Induktion und
Deduktion eine Absage erteilt – richtiger: einem abduktiven Schluß-
verfahren der Vorzug im empirischen Forschungsprozeß gegeben.
Die in einem bestimmten Forschungsprojekt entstandenen Theori-
en können ferner auch in anderen als den ursprünglichen empirischen
Kontexten von Wert sein, und zwar als sensitivierende Konzepte. Sol-
che Konzepte können die Auswertung eigener empirischer Daten da-
durch erleichtern, daß sie einem bereits gut begründete Kategorien an
die Hand geben, die möglicherweise ebenfalls im neuen Kontext Gül-
tigkeit beanspruchen können. Dies ist jedoch fallweise zu entscheiden,
wobei es stets die aktuellen empirischen Daten sind, die den letztend-
lichen Prüfstein abgeben müssen.
Es wäre angesichts vieler elaborierter empirischer Arbeiten auf
dem Feld der qualitativen Sozialforschung sicherlich übertrieben zu
behaupten, qualitative Forschung sei nicht allein in der Hinsicht theo-
rielos, als sie nicht an bereits vorhandene Theorie anschließe, sondern
selbst keine Theorien generiere. Angesichts des Umstands, daß aber
gleichwohl einige qualitative Studien eben doch keine Theorien gene-
rieren, sondern sich bisweilen mit interessanten Illustrationen begnü-
gen, erscheint das Beharren von Glaser und Strauss auf dem Aspekt
der Theoriegenerierung nach wie vor als wichtig, einem Beharren,
dem sich auch die vorliegende Arbeit verpflichtet weiß.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
196
4 Das Erhebungsinstrumentarium72
Den programmatischen Zielsetzungen der interpretativen Sozialfor-
schung gemäß, soll das „Inversionsprinzip“ (Jüttemann 1983), das ei-
nen Primat der Methode vor dem Gegenstand bedeute und zur reinen
Methodendemonstration in manchen sozialwissenschaftlichen Pro-
jekten führe, aufgegeben werden (vgl. auch Adorno 1971; Graumann
und Métraux [1977] sowie Métraux 2000). Stattdessen wird gefordert,
sich in unvoreingenommener Haltung der Sache selbst zuzuwenden
und dazu Methoden zu entwickeln, die ihrem Gegenstand nicht auf-
oktrojiert werden, sondern sich ihm vielmehr „anschmiegen“ (s. auch
Holzkamp 1972: 288). War – und ist z.T. noch – die Rede vom „In-
versionsprinzip“ vor allem kritisch gegen ein „variablenpsychologi-
sches“ Vorgehen gerichtet,73 muß doch festgestellt werden, daß die
bloße Orientierung an qualitativen Methoden auch noch keine Gegen-
standsadäquatheit garantiert. Es ist nicht damit getan, umstandslos
beispielsweise auf die Methode des narrativen Interviews zurückzu-
greifen und diese dann auf alles und jedes anzuwenden. Vielmehr
müssen auch in qualitativ-methodischer Absicht die einzelnen Verfah-
ren der je eigenen Fragestellung angepaßt oder sogar allererst entwik-
kelt werden.74 Dabei wird man allerdings auch wieder keine „creatio-
nes ex nihilo“ erwarten dürfen. Die Erprobung eigenständiger metho-
discher Zugänge wird mehr oder weniger auf schon bestehende und
bewährte Vorschläge rekurrieren, diese jeweils abwandeln und damit
dann mehr oder minder Neues schaffen. Begreift man, wie etwa Klaus
Holzkamp „Wissenschaft als Handlung“ – so der Titel eines erst 1968
veröffentlichten Teils seiner Habilitationsschrift –, so kann gesagt
werden, daß der Handlungscharakter von Wissenschaft sich weder in
72 Erste Überlegungen zu einem adäquaten Erhebungsinstrumentarium
habe ich angestellt in Kölbl (2001).
73 Zum Teil nimmt die angedeutete Kritik geradezu groteske Züge an,
etwa dann, wenn die Legitimität eines variablenpsychologischen
Vorgehens generell in Abrede gestellt und gar eine Art Alleinvertre-
tungsanspruch bezüglich der einzig „wahren“ Art Psychologie zu
betreiben angemeldet wird. Dies geschieht beispielsweise unter dem
Motto „Psychologie ist Historische Psychologie oder sie ist keine“
(vgl. hierzu ein Interview mit Gerd Jüttemann im Journal für Psy-
chologie [Jüttemann 2000]).
74 Sicher ist ein solcher Gedanke in abstracto für jeden qualitativ-
methodisch arbeitenden Sozialforscher prinzipiell zustimmungsfä-
hig. Betrachtet man allerdings die konkrete Forschungspraxis, zeigt
sich schnell ein anderes Bild, das dem kritisierten „variablenpsy-
chologischen“ Vorgehen eben doch nicht ganz unähnlich ist. Für ein
Beispiel, in dem die Entwicklung eines adäquaten methodischen Zu-
gangs ernst genommen wird vgl. demgegenüber Billmann-Mahecha
(1990).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 197
der dauernden Repetition immer schon praktizierter Routinen erschöp-
fen kann – andernfalls wäre wissenschaftliche Innovation nicht denk-
bar –, noch in der täglichen Revolutionierung aller Grundlagen – auch
dann wäre Innovation nicht vorstellbar, setzt diese doch eine gewisse
Kontinuität voraus. Mithin gefordert ist also ein kreatives Handeln.
Dieses ist nach Hans Joas (1992) nicht zuletzt folgendermaßen cha-
rakterisiert: „Das heißt zugleich auch, daß Kreativität hier als Leistung
innerhalb von Situationen, die eine Lösung fordern, gesehen wird, und
nicht als ungezwungene Hervorbringung von Neuem ohne konstituti-
ven Hintergrund in unreflektierten Gewohnheiten“ (ebd.: 190).75
Anhand der Adaptation des Gruppendiskussionsverfahrens (4.1)
und Überlegungen zur Erfassung spezifisch historisch-narrativer
Kompetenzen mit Hilfe eines offenen Interviews (4.2) soll im folgen-
den der Versuch einer „Anschmiegung“ gängiger qualitativer Metho-
den für die Belange der eigenen Fragestellung vorgestellt werden.
4.1 Gruppengespräche76 über Historie
Im deutschsprachigen Raum ist das Gruppendiskussionsverfahren zu-
nächst im Rahmen empirischer Arbeiten des Frankfurter Instituts für
Sozialforschung entwickelt und angewandt worden (vgl. Pollock
1955; Mangold 1960; Wiggershaus 1997: 484-491). Anders als der
Einsatz von Einzelinterviews fand die Gruppe als Methode außerhalb
der Frankfurter Arbeiten keine große Verbreitung.77 Dies änderte sich
75 Dieser Gedanke findet sich auch in zahlreichen Variationen in eini-
gen Arbeiten des schon erwähnten Phänomenologen Bernhard Wal-
denfels (etwa 1999).
76 Ich werde im folgenden die Termini Gruppengespräch und Gruppen-
diskussion synonym verwenden. Zwar meine ich, daß es sich bei den
durchgeführten Erhebungen eher um Gruppengespräche denn um
Gruppendiskussionen handelt, der fest eingebürgerten sozialwissen-
schaftlichen Redeweise von der Gruppendiskussion wegen behalte
aber auch ich im weiteren diesen Terminus bei. Zu den unterschied-
lichen begrifflichen Fassungen des in Frage stehenden Erhebungsin-
struments vgl. Lamnek (1998: 26-29).
77 Diese Aussage ist allerdings nur für den akademischen Bereich zu-
treffend und hier auch nur für empirische Studien, in denen dem
Gruppendiskussionsverfahren ein zentraler Platz im Untersuchungs-
design gegeben wird. Was die außeruniversitäre kommerzielle
Marktforschung einerseits und die Verwendung von Instrumenten im
Vorfeld der eigentlichen empirischen Studie anbelangt andererseits,
werden Gruppendiskussionen nämlich schon seit längerem häufig
benutzt. Darüber hinaus ist die Situation im angloamerikanischen
Raum zugunsten der Gruppendiskussion gegenüber dem deutsch-
sprachigen Bereich verschieden (vgl. Morgan 1988). Für den anglo-
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
198
auch in den nachfolgenden Jahren nicht wesentlich, wenngleich durch
die Arbeiten von Nießen (1977), Volmerg (1977) und Krüger (1983)
eine gewisse Neubelebung des Verfahrens verzeichnet werden konnte.
Mit der stärkeren Verankerung qualitativ-methodischer Vorgehens-
weisen in den unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen,
wird nun aber auch die Gruppendiskussion vermehrt in Lehrbüchern
und empirischen Forschungsprojekten bedacht. Davon zeugen etwa
die Monographien von Lamnek (1998) und Loos und Schäffer (2001)
sowie einzelne Kapitel in Handbüchern und Einführungstexten (vgl.
etwa Bohnsack 2000a: 123-142; Dreher und Dreher 1995; Flick 1999:
131-142).
Die Einsatzmöglichkeiten des Verfahrens sind vielfältig und rei-
chen von der Marktforschung über die Erforschung politischer Ein-
stellungen bis hin zur Untersuchung des Naturverständnisses bei Kin-
dern, um nur einige Beispiele aus dem breiten Anwendungsspektrum
zu nennen.78 Wenn die folgende Aussage Karl-Ernst Jeismanns zutref-
fend ist, dann ist auch für die empirische Untersuchung des Ge-
schichtsbewußtseins der Einsatz des Gruppendiskussionsverfahrens
als sinnvoll anzusehen:
„Geschichtsbewußtsein ermöglicht nicht nur, es verlangt die Fähigkeit zum
kontroversen Diskurs, der auf der Einsicht in die Partialität und Irrtumsan-
fälligkeit der eigenen Deutungen und Wertungen beruht. [...] Geschichts-
bewußtsein dieser Art macht die Kommunikation verschiedener Personen
oder Gruppen, Völker oder Religionen möglich, ja erforderlich und erweist
sich in diesen Spannungen und Kontroversen als tendenziell ‚weltbürgerli-
amerikanischen Bereich differenziert Bohnsack (2000b: 372-374)
zudem zwei Entwicklungsstränge. Der eine sei mit Arbeiten wie de-
nen von Morgan abgedeckt. Solche Arbeiten räumten der Gruppen-
diskussion letzten Endes doch wieder bloß heuristischen Wert ein.
Den anderen Strang machten Arbeiten aus dem Center for Contem-
porary Cultural Studies, wie die von Paul Willis zu Stil- und Milieu-
analyse, aus (vgl. etwa Willis 1979). In diesen komme dem
Gruppendiskussionsverfahren ein zentraler Platz in der empirischen
Arbeit zu. Auch seien dort wichtige Überlegungen zur Datenaus-
wertung angestellt worden.
78 Für den Einsatz in der kommerziellen Marktforschung vgl. Lamnek
(1998: 60 f.), für die Analyse politischer Einstellungen vgl. die be-
reits erwähnte klassische Arbeit von Pollock (1955) und für das Na-
turverständnis bei Kindern: Gebhard, Billmann-Mahecha und Nevers
(1997). Angesichts dieser hier nur angedeuteten Vielfalt ist es er-
staunlich, daß Bohnsack (2000a: 123-142) noch in der vierten und
neuesten Auflage seiner Einführung in qualitative Methoden das
Gruppendiskussionsverfahren so stark an die Milieuforschung bin-
det.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 199
ches Bewußtsein.‘“ (Jeismann 1988: 22, zit. n. Billmann-Mahecha 1998:
283).79
Eben dies: Der „kontroverse Diskurs“, während dessen die impliziten
und expliziten „Deutungen und Wertungen“ der Diskussions-
teilnehmer deutlich werden, steht im Interessenfokus bei der Durch-
führung und Analyse von Gruppendiskussionen. Man kann auch sa-
gen, daß die Gruppendiskussion eine der Bedingungen der Möglich-
keit zur Artikulation von Geschichtsbewußtsein darstellt. Es handelt
sich dabei also um eine Kompetenz, die immer schon der anderen be-
darf, um zu Tage zu treten. Dabei kann die Zusammensetzung der zu
untersuchenden Gruppe nach den Gesichtspunkten Größe, Homoge-
nität versus Heterogenität und Künstlichkeit versus Natürlichkeit va-
riieren (für nähere Erläuterungen auch zu den folgenden Aspekten, die
in diesem Abschnitt angesprochen werden, s. Lamnek 1998: 80-207).
Des weiteren kann je nach der Art der Diskussionsleitung das Ge-
spräch eher direktiv oder non-direktiv verlaufen, können Interviewleit-
fäden zum Einsatz kommen oder nicht. Besonders wichtig ist ferner
die Wahl des sogenannten Grundreizes. Dieser soll nämlich der Sti-
mulierung einer möglichst engagierten Diskussion unter den Teilneh-
mern dienen. Dabei sind die unterschiedlichsten Stimuli vorstellbar.
Häufige Anwendung finden Film- oder Textausschnitte, die mehr oder
minder provokativen Charakter haben.80 Läßt das Verfahren schon ei-
ne Fülle von Varianten in der Phase der Datenerhebung zu, so setzt
sich dies in der Datenauswertung fort. Hier reichen die Möglichkeiten
von Inhaltsanalysen, die die Quantifizierung des Materials vorsehen,
bis hin zu stärker hermeneutischen Verfahren, die vorwiegend expli-
kativ-rekonstruktiven Charakter haben.
Hat Billmann-Mahecha (1998) in ihrem breiten Überblick über
mögliche Erhebungsinstrumente zur Erfassung des Geschichtsbewußt-
79 Angesichts dieser Ausführungen ist es schon verwunderlich, daß das
Gruppendiskussionsverfahren heute vergleichsweise selten zum Ein-
satz bei der Exploration des historischen Bewußtseins kommt. Den-
noch ist es nie ganz als methodisches Instrument ausgeschlossen ge-
wesen (vgl. etwa Steudel und Wrangel 1960). Mit Abstrichen kann
man auch die von Küppers 1966 durchgeführten Unterrichtsgesprä-
che beispielsweise zu der Frage „Was ist Geschichte?“ als Gruppen-
diskussionen bezeichnen.
80 In diesem Zusammenhang ist eine Studie von Welzer, Montau und
Plaß (1997) zum Geschichtsbewußtsein vom Nationalsozialismus
erwähnenswert. Dort wurden unter anderem Gruppendiskussionen
mit älteren Erwachsenen durchgeführt, wobei als Grundreiz bei-
spielsweise Filmszenen mit Hitler auf dem Obersalzberg, Fackelläu-
fern während der Olympischen Spiele oder Kindern, die einen Hit-
lergruß machen, dienten.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
200
seins im Kindesalter81 unter Rekurs auf den bereits zitierten Jeismann
das Gruppendiskussionsverfahren als einen besonders verheißungs-
vollen Kandidaten ausgezeichnet, gilt es doch, die Möglichkeiten ei-
nes Erhebungsinstruments nicht allein theoretisch, sondern auch empi-
risch auszuloten. Zu diesem Schluß kommt auch Billmann-Mahecha
und fordert nach der ansatzweisen Analyse einer Gruppendiskussion
mit Kindern, in der diese über vorgegebene „historische“ Gegenstände
diskutierten, weitere methodenexplorative Studien. Demnach bedarf
es „selbstverständlich weiterer Pilotstudien, die unter anderem zum
Beispiel auch klären, welche Eingangsstimuli für solche Gruppendis-
kussionen besonders geeignet sind“ (ebd.: 296). Nun sind zahllose
solcher Stimuli denkbar (vgl. hierzu Lamnek 1998: 136-138). Dies
wird schon daran deutlich, daß die Variationsbreite der Medien, in de-
nen ein Stimulus präsentiert wird, sehr groß ist: So können z.B. Text-
auszüge, Filmausschnitte, Tonbandaufnahmen, Gegenstände, Bilder
oder Fotos dargeboten werden. Die Matrix denkbarer Variationen läßt
sich in ihrer Komplexität sofort steigern, wenn man noch inhaltliche
Aspekte des Materials berücksichtigt. (Mindestens) drei Kategorien
sind zur Gliederung vorstellbar: Zeit, Kultur und Thema. Es kann also
ein Stimulus dargeboten werden, der etwas bezeichnet, was schon
„lange her“ ist oder sich erst vor kurzem ereignet hat, der dem eigenen
oder einem fremden Kulturkreis entstammt und schließlich einer der
ein Thema aus der Wirtschafts-, Ideen-, Rechts-, Alltags- oder sonst
einer Bindestrich-Geschichte vorstellt. Schon aus forschungsökonomi-
schen Gründen ist es also nicht möglich, alle nur vorstellbaren Varia-
tionen explorativ zu untersuchen. Die Wahl der Eingangsstimuli muß
somit – so könnte man den Eindruck bekommen – mehr oder minder
kontingent erfolgen. Dieser Eindruck stimmt nur zum Teil. Die Kon-
tingenz der Entscheidung kann nämlich durch das Interesse an den
subjektiven Relevanzsetzungen der Forschungspartner eingegrenzt
werden. Dann wird der Forscher sich nämlich auf die Suche nach
„Grundreizen“ begeben, die eben dies „hervorlocken“ sollen: die
subjektiven Relevanzsetzungen. Auch dies ist allerdings nicht ganz
einfach. Davon konnte ich mich sofort überzeugen, als ich den Ju-
gendlichen vermeintlich für sie subjektiv relevante Grundreize vor-
legte. Es handelte sich dabei um aus meiner Sicht alltagsnahe Text-
81 Billmann-Mahecha diskutiert ganz wesentliche sozialwissenschaftli-
che Erhebungsinstrumente auf ihren Beitrag zu einer Empirie des
Geschichtsbewußtseins hin. Im einzelnen sind dies: Fragebogen, Ex-
periment, teilnehmende Beobachtung, narratives Interview und eben
die Gruppendiskussion. Erörterungen bezüglich des methodischen
Zugangs zum Geschichtsbewußtsein finden sich auch andernorts.
Hingewiesen sei auf die frühe Arbeit Herbert Freudenthals (1933)
und auf Waltraud Küppers (1966: 14-18) einschlägige Ausführun-
gen.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 201
auszüge bzw. Auszüge, die aus meiner Sicht geradezu dazu prädesti-
niert waren, rege Diskussionen auszulösen, Tonbandaufnahmen und
Postkartenmotive. Als Textausschnitte wählte ich die Beschreibung
eines Tages im Leben einer Arbeiterfamilie im ausgehenden 19. Jahr-
hundert, den Erlaß eines kaiserlichen Dekrets zur Tötung von Sklaven
und eine Skizze der je unterschiedlichen Erziehung des Sohnes bzw.
der Tochter von Kaiser Karl dem Großen aus. An Tonbandaufnahmen
spielte ich den Jugendlichen Ausschnitte aus der Rundfunkwerbung
der noch jungen Bundesrepublik sowie aus einer Reportage zum Fuß-
ballspiel zwischen Deutschland und Ungarn im Berner Wankdorfsta-
dion vor. Als Postkartenmotive wählte ich zum einen die Darstellung
eines Arbeiterstreiks, zum anderen ein Bild, auf dem eine „vornehme“
Familie aus dem 17. Jahrhundert, die sich um einen Säugling schart,
gezeigt wird. Schließlich versuchte ich noch dadurch engagierte Dis-
kussionen zu initiieren, daß ich die Forschungspartner darum bat, zu-
nächst für sich einen Zeitstrahl mit den aus ihrer Sicht wichtigsten Er-
eignissen der Geschichte zu erstellen, um die jeweiligen Lösungen
dann miteinander zu besprechen.82 Das Ergebnis all dieser Versuche
kann folgendermaßen charakterisiert werden: Sowohl die Benutzung
der Texte, Tonbandaufnahmen und Postkarten als auch die Bitte, die
Zeitstrahllösungen zu diskutieren, belasteten unabhängig von Schulart
und Kontext83 die Datenerhebung mit einer „Schulhausatmosphäre“,
die der Stimulierung angeregter Diskussionen nicht nur nicht förder-
lich war, sondern zu einem gezwungenen, von langen Pausen beglei-
teten und weitgehend intellektualistischen Gespräch führte. Zwar lö-
sten etwa die Rundfunkaufnahmen wegen ihrer für heutige Verhältnis-
se ungewöhnlichen Machart zunächst Befremden und Belustigung
aus. Dieses Erstaunen setzte sich dann aber in einer gewissen Befan-
genheit und Ratlosigkeit darüber, was denn nun diskutiert werden
solle, fort und nicht etwa in einer lebhaften Diskussion über Unter-
schiede und Gemeinsamkeiten heutiger und damaliger Werbung sowie
heutiger und damaliger Sportreportagen. Als besonders ungünstig er-
wies sich die Zeitstrahlaufgabe. Bereits die Bitte, einen Zeitstrahl zu
zeichnen, hatte die unerwünschte Folge, daß sich die Jugendlichen
nach eigenem Bekunden wie bei einer Prüfung fühlten. Außerdem
dauerte die Bearbeitung dieser Aufgabe an die fünfzehn Minuten, was
wertvolle Zeit für die anschließende Diskussion wegnahm. Und
schließlich entstand auch hier kein Gespräch, welches eine Eigendy-
namik entwickelt hätte und vom Engagement der Teilnehmer durch-
drungen gewesen wäre. Warum war dies so? Der Grund für das
Scheitern dieser Grundreize kann wohl darin gesehen werden, daß sie
82 Diese Anregung verdanke ich dem empirischen Vorgehen Peter
Seixas’ (1998; vgl. auch Kapitel III, 3.3).
83 Die methodenexplorativen Diskussionen fanden nicht nur in Schu-
len, sondern auch in kirchlichen und anderen Jugendtreffs statt.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
202
eben doch nicht den subjektiven Relevanzsetzungen der Untersuchten
entsprachen. Im Nachhinein ist dies beinahe schon trivialerweise ein-
sichtig. Der Rückschluß der forscherischen Interesseneinschätzung auf
das tatsächliche Interesse der Untersuchungsteilnehmer war nicht be-
gründet. Und selbst wenn die Stimuli von Interesse gewesen wären, so
ist die Vorgabe eines bestimmten Stimulus doch auch wieder kontra-
produktiv, suggeriert ein solches Vorgehen bisweilen doch, daß die
entscheidenden Anregungen zum Gespräch von dem Moderator der
Diskussion kommen werden. Nicht umsonst schlägt Bohnsack (2000a:
214) „demonstrative Vagheit“ bei den Fragestellungen des Diskussi-
onsleiters vor:
„Mit der demonstrativen oder demonstrierten Vagheit der Frageformulie-
rung wird den Diskussionsteilnehmern signalisiert, daß die Feldforscher
nicht über ein präzises Wissen hinsichtlich der milieuspezifischen Orientie-
rungen der Gruppe verfügen. Es wird also (milieuspezifische) Fremdheit
und Unkenntnis demonstriert, wie es der methodologischen Grundhaltung
der Fremdheit in der Wissenssoziologie, der Phänomenologischen Soziolo-
gie und der Ethnographie entspricht. Damit wird Respekt gegenüber dem
Relevanzsystem, der Erfahrungswelt der Erforschten bekundet und zugleich
werden die Erforschten aufgefordert, der Unkenntnis der Forschenden ab-
zuhelfen, d.h. es werden Voraussetzungen geschaffen, um ausführliche oder
detaillierte Darstellungen zu generieren [...]“ (ebd.).
Der oben schon geäußerte Verdacht, das zuerst gewählte Vorgehen bei
den Gruppendiskussionen habe zu einer „Schulhausatmosphäre“ ge-
führt, läßt sich anhand eines kurzen Ausschnitts einer solchen fehlge-
schlagenen Diskussion belegen.
Diskussionsleiter: Ähm, als erstes würd ich euch bitten, folgendes zu lesen
[teilt Text aus]. Also ich les den jetzt erst mal vor und ihr könnt mitle-
sen und dann würd mich interessieren, was ihr zu dem Text sagt. Ja,
geht schon wieder gut los [sucht Blätter]. Also, den Text hier. Also, wie
gesagt, es geht mir nicht so um Schulwissen oder so, sondern wie ge-
sagt, was ihr dazu sagt, was euch dazu einfällt. Also ich fang jetzt an zu
lesen und ihr könnt ja mitlesen und dann würd mich interessieren, was
ihr dazu erzählt. Also [liest den Text über eine Arbeiterfamilie zu Ende
des 19. Jahrhunderts vor]. Also das war der Text. Äh, ja worum gehts
da?
Peter: Die meiste Zeit dreht sich da in dem Text um die Sorgen, also, wo
die das alles organisieren müssen, so das kleine Kind, so daß das Geld
hauptsächlich im Vordergrund steht.
Diskussionsleiter: mh
Oliver: Weil es wird immer betont eine Mark für ihn und, was noch betont
wird ist immer wieder die Kartoffeln. Das wird sehr oft wiederholt.
Diskussionsleiter: mh
Markus: Ja also von mir aus: Der geregelte Tagesablauf, daß der gegeben
ist. Daß das Kind untergebracht ist, daß Geld angeschafft wird und daß
alle etwas zu essen haben.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 203
Oliver: Der Alltag von ner Familie so neunzehnhundert rum oder noch frü-
her.
Diskussionsleiter: mh
Dieter: Ich mein eher so achtzehnhundert, so zur Zeit der/
Oliver: Ja/
Dieter: Industrialisierung (Diskutanten aus einem Jugendtreff zwischen 14
und 21 Jahren alt) (Zeilen 11-44).
Was sich zu Beginn dieser Diskussion abspielt, die stellvertretend für
die anderen derart geführten Gruppengespräche steht, läßt sich mit
Hilfe von Hugh Mehans (1979; zit. n. Holzkamp 1993: 432-435) dis-
kursanalytischen Studien zum Unterrichtsgeschehen in Einklang mit
den bereits vorgebrachten Mutmaßungen weiter erhellen. Mehan hat
mittels Videoanalysen und transkribierter Gesprächssequenzen typi-
sche Interaktionsstrukturen von Schulstunden herausarbeiten können.
Solch eine typische Struktur stellt die Sequenz von „Initiation -> Re-
ply -> Evaluation“ dar. Eines seiner Beispiele soll illustrieren, was
damit gemeint ist (zit. n. Holzkamp ebd.: 434): In der ersten Sequenz
heißt es: „Speaker A: ‚What time is it, Denise‘? Speaker B: ‚Two
thirty‘. Speaker A: ‚Thank you, Denise‘“. In der zweiten Sequenz
heißt es dagegen: „Speaker A: ‚What time is it, Denise‘? Speaker B:
‚Two thirty‘. Speaker A: ‚Very good, Denise.‘“ Wie leicht ersichtlich
ist, handelt es sich bei der ersten Sequenz um eine gewöhnliche All-
tagskommunikation. Eine Person A, fragt eine Person B nach der Uhr-
zeit. Person B gibt die gewünschte Antwort, Person A bedankt sich
dafür. Das zweite Beispiel ähnelt zu Beginn der Alltagskommunikati-
on, nimmt aber eine entscheidende Wendung im letzten Teil der Se-
quenz, die das vorhergehende als etwas ausweist, was außerhalb all-
täglicher Kommunikation stattfindet. Anstatt sich nämlich für die er-
fragte Zeitangabe zu bedanken, lobt Person A Person B. Dieser letzte
Schritt qualifiziert den zitierten Interakt als einen schulischen bzw. er-
zieherischen. Während „Initiation“ und „Reply“ also Bestandteile
vielerlei Arten von Kommunikation sind, bedarf es der „Evaluation“-
Komponente, um aus einer alltäglichen eine schulische Kommunikati-
on zu machen. Nun ist aber zu vermuten, daß schon eine bestimmte
Art der „Initiation“ den Keim einer schulspezifischen Kommunikati-
onssequenz in sich trägt. Einen solchen Fall stellen diejenigen meiner
Gruppendiskussionen dar, in denen die genannten Stimuli verwendet
wurden. All diese sind nämlich in schulischen Kontexten allgegen-
wärtig. Insofern vermute ich, daß das Operieren mit diesen Stimuli
schon genügt hat, um das Skript einer Schulstunde auszulösen, ohne
daß die „Evaluation“-Komponente explizit eine Rolle gespielt hätte.
Implizit mag sie allerdings sehr wohl wirksam gewesen sein, unter-
stellten die Schüler doch möglicherweise, der Diskussionsleiter er-
warte bestimmte als zutreffend oder unzutreffend zu klassifizierende
Antworten von den Befragten. Der oben zitierte Eröffnungszug der
Diskussion beispielsweise initiiert ein Gespräch, das sich im folgen-
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
204
den seines mehr oder weniger stark ausgeprägten Schulstundencha-
rakters nicht mehr entledigen wird. Mit dem Austeilen eines Textes
über eine Arbeiterfamilie aus dem 19. Jahrhundert, seinem lauten
Verlesen und der sich daran anschließenden Frage, worum es da gehe,
reproduziert der Diskussionsleiter eine Rollenverteilung, wie sie den
Gesprächsteilnehmern aus der Schule wohl vertraut ist: Eine Person
bestimmt das Thema und stellt Fragen, die anderen hören zu und ant-
worten. Reihum kommentieren die Diskutanten den verlesenen Text,
so wie sie es wohl auch in einer Geschichtsstunde tun würden. Da
nützt auch die Bekundung des Diskussionsleiters, es gehe ihm nicht
um Schulwissen, nicht viel. Die von Mehan festgestellte Interaktions-
struktur ist bereits „eingerastet“. Um den Eindruck einer unterrichts-
analogen Situation bei den Forschungspartnern nicht mehr entstehen
zu lassen und um damit Gespräche analysieren zu können, die keinen
Schulstunden-Charakter mehr hatten, erprobte ich einen weiteren Ge-
sprächsbeginn.
In Abwandlung des Vorgehens von Billmann-Mahecha84 (s. oben)
bat ich in nachfolgenden Diskussionen die Teilnehmer darum, zu den
Gesprächen einen Gegenstand mitzubringen, den sie im weitesten
Sinne mit Geschichte verbinden würden. Nachdem die Teilnehmer der
Reihe nach diesen vorstellten, bat ich sie sodann – in „demonstrativer
Vagheit“ – darum, ihre jeweiligen Gegenstände zu kommentieren,
wobei sie sich aber auch von den Gegenständen lösen und darüber
sprechen könnten, was sie denn speziell an Geschichte, an histori-
schen Gestalten, Epochen, speziellen Ereignissen oder dergleichen
interessiere. Dabei wurde stets betont, daß Geschichte in einem weiten
Sinne verstanden werden könne und sich nicht auf das Schulfach be-
schränken müsse. Dieses Vorgehen führte nun endlich zu den erhoff-
ten engagierten Diskussionen. Schon die Aufforderung, über die mit-
gebrachten Gegenstände zu sprechen, zeigte, daß die Setzung dieses
Grundreizes eine Involviertheit der „ganzen“ Person nach sich zog.
Dies liegt nicht zuletzt daran, daß es sich bei den Gegenständen in
vielen Fällen um „persönliche Dinge“ im Sinne des Tilmann Haber-
masschen (1999) Entwurfes einer Psychologie der Dinge handelt.85
Mithin war oftmals eine affektive Involviertheit von Beginn der Dis-
kussion an zu beobachten. Der Nachsatz, daß man sich bei der folgen-
den Diskussion dann nicht allein auf die Gegenstände beschränken
müsse, sondern über das, was einen an Geschichte überhaupt interes-
siere, sprechen könne, verhinderte eine alleinige Konzentration auf die
mitgebrachten Dinge. Daß diese aber gleichwohl auch im weiteren
Verlauf der Diskussionen bedeutsam waren, zeigte sich daran, daß die
84 Und wie ich dankend hinzufügen möchte: auf das sanfte, aber be-
harrliche Drängen von Anne Scheloske hin.
85 Eine etwas ausführlichere Analyse der Bedeutung der Gegenstände
findet sich im Auswertungskapitel (Kapitel VI, 1).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 205
jeweils anderen Diskussionsteilnehmer in ihren Beiträgen immer wie-
der von sich aus auf sie zurückkamen. Ein kurzes Beispiel möge die
Wirksamkeit des Grundreizes illustrieren:
Heide: Okay ich fang an ((lacht)). Also, im Krieg da gab/da war ja alles so
ganz teuer und Stoffe und so was auch schwer zu kriegen. Und mein
Opa hat aufm Schwarzmarkt so ne alte Hakenkreuzfahne ergattert. Und
dann, ähm, hat meine Oma da draus, äh, also das ist ja so ne rote, äh,
Rechteck/
Achim: Kreis/
Diskussionsleiter: mh/
Heide: rotes Rechteck mit nem weißen Kreis und n Haken-
kreuz drauf. Da hat die das, den Kreis mit dem Hakenkreuz abgetrennt.
Aus dem roten Stoff hat die so Tischdecken und so was genäht. Und
auch ne Schürze, die hab ich jetzt noch.
Diskussionsleiter: mh
Heide: Und aus dem, äh, Kreis in der Mitte hat die son, äh, Kissen genäht
und dann so Federn reingetan von ihren eigenen, äh, Hühnern oder so
was. Und dann noch n Bezug drum gemacht und das hat die jetzt noch.
Und das find ich also eigentlich ganz toll, weil das, äh, das zeigt immer
noch, was das/wie das früher so war und so und das find ich auch
noch/ähm kann man gut mit Geschichte verbinden. Find ich gut (8.
Klasse, Gymnasium) (Zeilen 5-27).
Die Aufforderung, über einen Gegenstand zu sprechen, den die Teil-
nehmer besonders mit Geschichte verbinden, scheint, wie das Zitat
zeigt und wie auch an anderen Zitaten belegt werden könnte, das per-
sönliche Interesse der Beteiligten besonders gut anzusprechen. Das
drückt sich darin aus, daß die Untersuchungsteilnehmerin über einen
für sie durch und durch bedeutungsvollen Gegenstand spricht. So kann
sie etwa die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, zu denen die
Hakenkreuzfahne verarbeitet worden ist, detailliert beschreiben. Aber
auch die anderen Diskutanten, die gerade nicht ihren Gegenstand zum
Thema machen, sind mit Interesse bei dem Gespräch, kommentieren
sie doch im weiteren Verlauf immer wieder die Gegenstände und auch
die Ausführungen der anderen Diskutanten dazu. Allerdings lösen sich
die Diskussionen regelmäßig von den Gegenständen und wenden sich
anderen, die Teilnehmer gleichermaßen interessierenden, Themen zu.
Somit erfüllt der vorgestellte „Grundreiz“ die ihm zugedachte Funkti-
on eines „Eisbrechers“ und die Auslösung engagierter Diskussionen.
Dies liegt daran, daß die „Iniation ! Reply ! Evaluation“ Struktur
aufgebrochen werden konnte, und somit den Schülern nicht mehr sug-
geriert wurde, der Diskussionsleiter wisse ohnehin besser als sie
selbst, welche Bedeutungs- und Sinngehalte Geschichte für sie habe.
Ich sehe hierin nicht nur zum zuerst gewählten Vorgehen einen deutli-
chen Unterschied, sondern ebenso zu gängigen erhebungsmethodi-
schen Zugängen in der empirischen geschichtsdidaktischen For-
schung. Diese bleibt nämlich oftmals in den Erhebungssituationen, die
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
206
sie zur Erforschung von Geschichtsbewußtsein herstellt, dem Schul-
stundenskript weithin verhaftet. Man sehe sich hier allein die ein-
schlägigen Arbeiten von v. Borries an (vgl. Kapitel III der vorliegen-
den Arbeit). Durch die Verwendung weitestgehend geschlossener Fra-
gebögen (s. Tabelle 3) läßt er den Schülern, deren historische Sinnbil-
dungsleistungen er untersuchen möchte, kaum Artikulationsraum für
ihre jeweiligen subjektiven Relevanzsetzungen in bezug auf Histori-
sches. Dies trifft mutatis mutandis allerdings ebenso auf die dem eige-
nen Selbstverständnis gemäß eher qualitative Zugangsweise zu, wie
sie von Rüsen, Fröhlich, Horstkötter und Schmidt (1994) verfolgt
wurde (s. Tabelle 4). Zwar wurden hier offene Fragen vorgelegt, ihre
Formulierung und die Erhebung sowie Auswertung der Daten im
Rahmen einer Fragebogenuntersuchung lassen es jedoch als unwahr-
scheinlich erscheinen, daß sie im Sinne der historischen Interessen der
Jugendlichen auch extensiv und nicht bloß kursorisch artikuliert und
interpretiert wurden. Damit beschneiden die genannten Autoren aller-
dings die empirische Fülle historischen Denkens Jugendlicher in einer
Weise, die kaum noch Aussagen über die spezifisch jugendlichen
Formen des Geschichtsbewußtseins zuläßt, ist dieses doch durch die
Fragen des Forschers derart präformiert, daß es sich kaum noch Gehör
verschaffen kann. Dieser erhebungsmethodische Zugang bestimmt
dann auch schon in entscheidender Weise darüber mit, was als Ergeb-
nis der empirischen Analysen herauskommt bzw. herauskommen
kann.
Das endgültige empirische Vorgehen bei der Führung der Grup-
pendiskussionen sah, mit Blick auf die Erfahrungen, die während der
ersten methodenexplorativen Diskussionen gemacht worden waren,
folgendermaßen aus: In den nicht mehr methodenexplorativ angeleg-
ten Diskussionen wurde als Grundreiz das eben dargestellte Vorgehen
des Mitbringens und Kommentierens eines Gegenstandes und der Lö-
sung von diesen hin zu speziellen historischen Interessen gewählt. Die
anderen erprobten Stimuli wurden aber nicht aus den Diskussionen
gänzlich ausgeschlossen, vielmehr wurde die Postkarte mit dem
Streikmotiv und bei noch vorhandener Diskussionszeit der Textaus-
schnitt zum Leben der Arbeiterfamilie den Jugendlichen vorgelegt.
Dies geschah allerdings stets erst dann, wenn die Diskussion sich von
selbst erschöpft hatte. Freilich gibt es kein eindeutiges Kriterium für
eine solche Erschöpfung. Als Anhaltspunkte dienten Äußerungen der
Teilnehmer in dem Sinne, daß ihnen nun nichts mehr einfalle bzw. sie
jetzt alles wichtige gesagt hätten. Diese Bekundungen bieten insofern
keinen sicheren Anhaltspunkt, als ab und an bei weiterem Warten des
Moderators die Diskussion doch wieder ins Laufen kam. Zum Ab-
schluß der Diskussionen wurde den Teilnehmern noch ein kurzer Fra-
gebogen mit vorwiegend demographischen Fragen vorgelegt.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 207
Tabelle 3: Auszug aus einem Fragebogen von v. Borries (1994b:
138, 141, 150)
Woran denkst Du bei Steinzeit zuerst (1), woran zuletzt (5)?
1=Ungebundenes Leben, natürliche Umwelt, aufregende Jagd
2=Grobe Werkzeuge und primitives Denken
3=Hunger, Kälte, Finsternis
4=Große Fortschritte: Sprache, Feuer, Kunst, Landwirtschaft
5=Sammeln von Nahrung zwischen Freizeit und Geselligkeit
[...]
Woran denkst Du bei Kolonialgeschichte zuerst (1),
woran zuletzt (5)?
1=Grausame Ausbeutung überseeischer Länder und Völker
2=Mutige Forschungsreisen weißer Wissenschaftler ins
Unbekannte
3=Großartige Leistungen Europas für den Fortschritt
anderer Erdteile
4=Verachtung und Vorurteile gegenüber schwarzen, gelben
und roten Menschen
5=Mächtige Weltreiche europäischer Mutterländer
[...]
Woran denkst Du bei Kolumbus zuerst (1), woran zuletzt (5)?
1=Ahnherr
2=Zeittyp
3=Völkermörder
4=Vorbild
5=Beschleuniger
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
208
Tabelle 4: Auszug aus einem Fragebogen von Rüsen, Fröhlich,
Horstkötter und Schmidt (1994: 269 ff.)
1. Was fällt Ihnen ohne langes Nachdenken ein, wenn Sie
An Geschichtsunterricht denken?
2. Was fällt Ihnen ohne langes Nachdenken ein, wenn Sie
An Geschichte denken?
3. Was halten Sie von ihrem Geschichtsunterricht, bzw. von
Ihrem früheren Geschichtsunterricht?
4. Warum haben Sie das Fach Geschichte gewählt –
Nicht gewählt?
5. Welche Themen haben Sie (bislang) bearbeitet?
[...]
12a. Sie können mit einer Zeitmaschine in eine beliebige Zeit
der Vergangenheit reisen.
In welche Zeit würden Sie reisen?
Wohin würden Sie reisen?
Was würden Sie dort tun? Warum?
[...]
16. Allerletzte Frage: Sie haben bis zu dieser 16. Frage
schon hart gearbeitet. Bitte sagen Sie uns aber noch,
was Sie von folgender Äußerung halten:
„Geschichtsunterricht ist doch wirklich
überflüssig.“
(bitte kurz begründen)
4.2 Interviews zur Erfassung historisch-narrativer Kompetenz
An Formen mehr oder minder ausgefeilter qualitativer Interviews ste-
hen den Interessierten mittlerweile eine stattliche Reihe zur Verfügung
(einen Überblick gibt z.B. Hopf 2000). Da gibt es das schon vielfach
erprobte, von Fritz Schütze (1976) entwickelte narrative Interview,
das sich auch in der Psychologie spätestens seit Peter Wiedemanns
(1986) einschlägiger Arbeit einer gewissen Verbreitung v.a. in der
psychologischen Biographik erfreut. Zum anderen kann etwa Andreas
Witzels problemzentriertes Interview genannt werden, das sich insbe-
sondere bei Bildungs- und Berufsbiographien bewährt hat. Und
schließlich sei noch auf den Prototyp eines Leitfadeninterviews hin-
gewiesen, dem fokussierten Interview von Merton, Fiske und Kendall
(1984), deren erklärtes Ziel es ist, die „nicht antizipierten Antworten“
(ebd.: 196) aufzuspüren, womit auch eine der Konstituenten qualita-
tiv-methodischen Denkens überhaupt benannt ist.86
86 Zu einigen Kautelen bei der Führung insbesondere von Leitfadenin-
terviews vgl. den bereits erwähnten Aufsatz von Hopf (1978).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 209
Was nun Leitfadeninterviews anbelangt, so ist deren konkretes
Aussehen von Fall zu Fall höchst unterschiedlich. Je nach Fragestel-
lung und methodologisch-methodischer Orientierung wird der Inter-
viewleitfaden eher die Gestalt eines langen Bogens annehmen, in dem
eine Fülle an Fragen aufgelistet ist, oder nur einige wenige Stich-
punkte umfassen. Daß beiderlei Vorgehen seine jeweiligen Vor- und
Nachteile hat, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung. Nicht zu-
letzt aufgrund der Erfahrungen, die ich bei den Gruppendiskussionen
gesammelt habe, entschied ich mich für die letztere Variante, also ei-
nen „Leitfaden“, der nur eine sehr grobe Strukturierung des Interview-
verlaufs vorsah. Dabei hatte dieser „Leitfaden“, den Leitfaden ich zu
nennen mich beinahe scheue, da er tatsächlich in der Hauptsache bloß
aus drei immer wieder gestellten Fragen besteht und eher der Idee ei-
nes offenen „klinischen Interviews“ entspricht, insbesondere eine
Aufgabe zu erfüllen. Diese bestand, darin dem narrativen Interview
analog, in der Generierung von Erzählungen. Anders als beim narrati-
ven Interview aber sollte es nicht notwendigerweise um solche Ge-
schichten gehen, in denen der Interviewpartner einer der Protagonisten
ist. Vielmehr sollten historische Narrationen generiert werden, unab-
hängig davon, ob der Gesprächspartner das Erzählte selbst miterlebt
hat oder nicht. Dazu war eine Anlehnung an das Schema einer narrati-
ven Erklärung sensu Arthur C. Danto (1980) hilfreich.
Zur Erinnerung: Unterschiedliche Formen der Erklärung nehmen
auf Unterschiedliches Bezug. Im Zentrum der Hempel-Oppenheim-
Erklärung (Hempel und Oppenheim 1948) steht der Rekurs auf Geset-
ze oder gesetzesartige Aussagen,87 in der teleologischen Erklärung
sensu v. Wright (1974) erfolgt die Erklärung unter Verweis auf die
Ziele eines Akteurs, bei Winch (1966) wird nach handlungsgenerie-
renden Regeln gefragt und bei Danto schließlich steht die Frage nach
einem erfolgten Wandel im Interessenfokus; zu deren Beantwortung
nun muß eine Geschichte erzählt werden. Dabei können in diese Ge-
schichte wiederum die unterschiedlichsten Elemente eingehen. Nicht
zuletzt können sich dort Gesetzesaussagen und der Verweis auf Re-
geln oder Ziele wiederfinden. Mithin stellt die narrative Erklärung ei-
nen integrativen Rahmen für die anderen Formen der Erklärung dar.88
Solch eine Erklärung kann folgendermaßen schematisiert werden
(vgl. Danto ebd.: 371 f.):
87 In der Psychologie findet das „reine“ Hempel-Oppenheim-Schema
kaum Anwendung. Hier bedient man sich vorwiegend einer liberali-
sierten Version dieses Schemas, hat man es in dieser Wissenschaft
doch so gut wie gar nicht mit deterministischen als vielmehr mit
probabilistischen Zusammenhängen zu tun. Daher kommt zumeist
eine induktiv-statistisch „aufgeweichte“ Abart des H-O-Schemas
zum Tragen (vgl. Groeben und Westmeyer 1975; s. auch Stegmüller
1978: 449-461).
88 Ausführlicher hierzu Straub (1999a, 1999c).
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
210
Tabelle 5: Das Schema einer narrativen Erklärung sensu Arthur
Danto (1980: 371 f.)
(A) x ist F in t1
(B) H ereignet sich
mit x in t2
(C) x ist G in t3
Ein kleines Beispiel möge illustrieren, was es mit dieser Schematisie-
rung auf sich hat: Zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches
„Kritische Psychologie. Vorbereitende Arbeiten“ im Jahre 1972 wurde
Klaus Holzkamp als Kritischer Psychologie bezeichnet (x = Klaus
Holzkamp ist G = Kritischer Psychologe in t3 = 1972). Als Kritischen
Psychologen, in dem spezifischen Sinne der Kritischen Psychologie,
die sich 1968 und in den folgenden Jahren an der FU Berlin entwickelt
hat, hätten seine Kollegen den Ordinarius für Psychologie noch weni-
ge Jahre zuvor, etwa zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches
„Theorie und Experiment“ im Jahre 1964, niemals bezeichnet. Holz-
kamp und Mitarbeiter hätten dafür wohl – nachträglich – die Bezeich-
nung „Bürgerlicher Psychologe“ gewählt. Also: x = Holzkamp ist F =
Bürgerlicher Psychologe in t1 = 1964. Stellt man die beiden Sätze ein-
ander gegenüber, stellt sich sofort die Frage, was zwischen diesen bei-
den Ereignissen geschehen ist. Wie konnte es dazu kommen, daß ein
Lehrstuhlinhaber für Psychologie binnen weniger Jahre sich von ei-
nem „bürgerlichen“ zu einem Kritischen Psychologen wandelte? Dazu
bedarf es der Aufklärung was – H – sich mit x = Holzkamp in t2 er-
eignet hat. Einen möglichen Ansatzpunkt stellen die Studentenunru-
hen der Jahre 1968 und folgende dar. Also: H = die Studentenunruhen
beeinflussen x = Holzkamp in t2 = 1968 und den folgenden Jahre der-
gestalt, daß er sein wissenschaftliches Selbstverständnis und seine
wissenschaftliche Praxis grundlegend revidiert.
Die hier vorgeführte Erklärung ist aufgrund ihres gewissermaßen
technischen und didaktischen Charakters natürlich bewußt einfach ge-
halten. Um allerdings das Phänomen einer narrativen Erklärung nicht
vollkommen „unterkomplex“ abzuhandeln, sind einige weitere An-
merkungen nötig. Das erscheint nicht zuletzt deshalb als sinnvoll, weil
die weiteren Spezifikationen auch die Analyse des empirischen Da-
tenmaterials mit anleiten können.
1. Narrative Erklärungen können in ihrer Elaboriertheit stark von-
einander variieren. Um auf das Beispiel zurückzukommen, ist es ja
durchaus denkbar, daß das Explanandum (H ereignet sich mit x in t2)
nicht jeden zufriedenzustellen vermag. Manch einer wird einwenden,
daß schon in dem genannten Buch von 1964 sich deutlich kritische
Tendenzen im wissenschaftlichen Selbstverständnis Holzkamps aus-
findig machen ließen, die die Wandlung zum Kritischen Psychologen
plausibler werden lassen als der alleinige Hinweis auf die Studenten-
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 211
unruhen. Gefordert würde hier also eine – wenn man so möchte –
„dichtere“ Erzählung. 2. Es kann stets danach gefragt werden, aus
wessen Perspektive und mit welcher Zielsetzung eine Erklärung vor-
genommen wird. Vergewissert sich Holzkamp biographisch seiner
selbst oder bemüht sich ein Historiograph der deutschen Nachkriegs-
psychologie um historische Klärungen? Und wenn das letztere der
Fall ist, welcher und warum? Solche Fragen dienen dazu, die Reich-
weite der Geltung einer historischen Erklärung zu bestimmen und
mögliche ideologiekritische Einwände zu formulieren. 3. Sind eigent-
lich die Explanantien in ihrer Deskription einfach als gültig anzuer-
kennen? Es kann ja möglicherweise schon bestritten werden, daß die
Exposition eines zu erklärenden Tatbestandes triftig ist. Wieder auf
das Beispiel bezogen: Was soll das eigentlich heißen: Klaus Holz-
kamp war 1964 noch ein „bürgerlicher“ und 1972 ein „Kritischer“
Psychologe. Auch können – wie weiter oben schon angedeutet – die
zeitlichen Markierungen Anlaß zur Debatte sein: War Holzkamp nicht
schon viel früher „Kritischer“ Psychologe, vielleicht recht eigentlich
besehen, nie „wirklich“ ein „bürgerlicher“ Psychologe? Oder aber ge-
nau andersherum, etwa aus der Perspektive einer radikal linken Psy-
chologiekritik: War Holzkamp eigentlich jemals „Kritischer“ Psy-
chologe? Ist er im Grunde nicht immer ein „bürgerlicher“ Psycholo-
gieprofessor geblieben? 4. Was für die Explanantien gilt, gilt für das
Explanandum natürlich gleichermaßen (vgl. 1.). 5. Worauf müssen wir
eigentlich bei einer historischen Erklärung Bezug nehmen? Ist viel-
leicht ein Gesetzeswissen nötig? Also etwa dergestalt: Psychologie-
professoren, die zur Zeit der Studentenunruhen an der FU Berlin ge-
lehrt haben, wurden mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Kritische Psy-
chologen. Dieses Risiko erhöht sich dann beträchtlich, wenn man jah-
relang Experimentelle Psychologie betrieben hat, um ihre Grenzen
weiß, diese auch noch wissenschaftstheoretisch ausgelotet hat, und
feststellen muß, daß der Hinweis auf solche Grenzen kaum Konse-
quenzen zeitigt? 6. In welcher Terminologie sind Explanans und Ex-
planandum zu formulieren? Welcher Denkform (Laucken 1989) soll
man sich bei der Erklärung bedienen? Ist es sinnvoll, von Akteuren zu
sprechen oder ist es nicht viel wissenschaftlicher eine physiologische
Begrifflichkeit zu wählen? Man mag gerade für das angeführte Bei-
spiel die letztere Strategie für absurd halten, tatsächlich aber werden
bekanntermaßen nicht so selten physiologische Reduktionen in der
Psychologie versucht (vgl. Laucken 1998).
Die angerissene Problematisierung narrativen Erklärens zeigt, daß
bei solch einem Erklären vielerlei alles andere als selbstverständlich
ist. Die Einbeziehung möglicher Alternativen vermag einem histori-
schen Narrativ zusätzliche Plausibilität, Komplexität und Erklärungs-
kraft zu verleihen.
Zurück zur Interviewführung: Wie erwähnt war eine Anlehnung an
das Dantosche Schema nützlich. Wie sah nun die Gestaltung des In-
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
212
terviews konkret aus? Zunächst wurden die Gesprächspartner darum
gebeten, historische Ereignisse, Gestalten, Epochen oder dergleichen,
die sie besonders interessierten, zu nennen. Damit verknüpfte sich die
Hoffnung, wie bei den Gruppendiskussionen auch, an den subjektiven
Relevanzsetzungen der Forschungspartner und nicht an denen, die der
Forscher dafür hält, anzuknüpfen. Wo dies nicht ohnehin schon ge-
schah, wurde eine genauere Beschreibung dieser Gestalt, Epoche etc.
erfragt (also: was ist x in t1). Sodann wurde gefragt, was es heute mit
dem beschriebenen Phänomen auf sich hätte (was ist x in t3) und wie
es denn dazu gekommen wäre, daß x heute anders als früher sei, oder
aber identisch – Stabilität kann ja auch erklärungsbedürftig sein. Die
Nachfragen fanden immer wieder auf verschiedenen Ebenen statt.
Wurde beispielsweise die Entstehung technischer Hilfsmittel damit
erklärt, daß die Menschen immer bequemer würden, so wurde gefragt,
warum die Menschen denn immer bequemer würden. Solche Nachfra-
gen wurden solange gestellt, bis sich eine Erklärung herauskristalli-
sierte, die nicht weiter hintergehbar erschien.89 Dies konnte etwa die
Annahme einer anthropologischen Grundkonstante sein. In dem Bei-
spiel: Die Menschen werden immer bequemer, weil es in ihrer Natur
liegt, sich die Welt so einfach wie möglich zu gestalten. Wenn keine
weiteren Themen mehr genannt wurden, wurde den Interviewpartnern
noch die schon für die Gruppendiskussionen verwandte Streik-
Postkarte vorgelegt, mit der Bitte zu erzählen, worum es da gehe. Au-
ßerdem wurden die Schüler gefragt, was sich denn vor der Darstellung
auf der Postkarte wohl ereignet hätte und was sich noch weiter ereig-
nen werde. Als letztes Element des Interviews wurden die Befragten
gebeten, einen Zeitstrahl mit den aus ihrer Sicht wichtigsten Ereignis-
sen der Geschichte zu zeichnen und zu kommentieren. Zum Schluß
wurde ihnen derselbe knappe demographische Fragebogen wie den
Gruppendiskussionsteilnehmern vorgelegt.
Auch hier soll kurz demonstriert werden, daß die Interviewgestal-
tung die erhofften historisch-narrativen Ausführungen generiert. Im
vorliegenden Fall äußert sich eine Interviewpartnerin zu der Frage,
wie es zu dem Ersten Weltkrieg gekommen ist:
89 Freilich kann auch hier kein eindeutiges Abbruchkriterium angege-
ben werden. Es mußte von Fall zu Fall entschieden werden, ob die
gehörten explanativen Leistungen durch weitere Nachfragen noch
weitere Komplizierungen erfahren würden. Wesentlich war es auch,
den Rapport der Forschungspartner dabei nicht zu sehr zu beein-
trächtigen. Ein ähnliches Vorgehen berichten Kohlberg und Mitar-
beiter für ihre „mäeutischen“ Befragungen zum moralischen Urteil in
scherzhafter Weise: „[Es ist] die Kunst, einen Interviewten oft genug
‚warum‘ zu fragen, um gründliche Antworten zu bekommen, aber
nicht so oft, daß man herausfindet, wie er ‚sauer‘ wird“ (Colby,
Gibbs, Kohlberg, Speicher-Dubin und Candee 1979: 38 f., zit. n.
Garz 1996: 82).
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 213
Waltraud: Ja. Und Erster Weltkrieg, ja, wie kann man nur so, na ja, sagen
wir mal so, bescheuert, kann man schon fast sagen, nur wegen, das/gut
das Kaiserpaar, das war halt hoch angesehen und so, da hätte man den
Student glaub ich war das, ich mein das warn Student, hätte man den
Student dafür/ich mein wegen Exekutieren könnt man doch kein Krieg
anzetteln, nur weil dat Kaiserpaar erschossen wurde. Also det is für
mich irgendwie wahnsinnig (10. Klasse, Hauptschule) (Z. 358-366).
Dieses Zitat ist charakteristisch für die geführten Interviews und zeigt,
daß in ihnen das vorkommt, was durch die Interviewführung beab-
sichtigt war, eben historische Erklärungen. Hier handelt es sich dabei
offensichtlich um eine, die in ausschließlicher Weise auf die Rolle von
Akteuren in einer eng umgrenzten Situation Bezug nimmt, um die
Entstehung des Ersten Weltkriegs nachvollziehbar zu machen. Daß es
mit der Nachvollziehbarkeit nicht ganz leicht ist, wird am letzten Satz
„Also det is für mich irgendwie wahnsinnig“ deutlich. Selbstverständ-
lich fördern die Interviews, was ja ihr Zweck ist, auch ganz anders
„gebaute“ Erklärungen historischer Phänomene zutage, nicht zuletzt
solche, die überpersonalen Strukuren ein höheres Gewicht verleihen.
Dies empirisch zu rekonstruieren und zu erklären, ist allerdings schon
Aufgabe des nächsten Kapitels.
4.3 Beschreibung der Stichprobe
Es wurden sechs Gruppendiskussionen mit je vier Teilnehmern ge-
führt. Mit einer Ausnahme handelte es sich dabei zur Hälfte um Jun-
gen bzw. Mädchen. In einem Fall nahmen drei Mädchen und ein Jun-
ge an einem Gruppengespräch teil. Zwei der Diskussionen fanden an
einem Gymnasium, eine in einer katholischen Gemeinde und drei an
einer Hauptschule statt. Die Forschungspartner stammten aus sech-
sten, achten und zehnten Klassen. Bis auf die Diskussion in der ka-
tholischen Gemeinde, an der Gymnasiasten einer achten Klasse in ih-
rer Freizeit teilnahmen, hatten sich die übrigen Untersuchungsteil-
nehmer zu Gruppengesprächen, die während der Unterrichtszeit statt-
fanden, freiwillig gemeldet. Diese Diskussionen wurden allesamt in
Räumlichkeiten der jeweiligen Schule geführt. Die Dauer der Diskus-
sionen betrug zwischen eineinhalb und zwei Stunden.
Außer den Gruppengesprächen wurden zwölf Einzelinterviews
durchgeführt. Auch hier stammten die Forschungspartner anteilig aus
sechsten, achten und zehnten Klassen und auch hier wurden sowohl
Jungen als auch Mädchen gleichermaßen befragt. Es wurden also je
ein Mädchen und ein Junge aus den genannten Klassen interviewt.
Wie bei den Gruppendiskussionen wurden sowohl Hauptschüler als
auch Gymnasiasten untersucht. Die Dauer der Interviews schwankte
zwischen einer halben und einer Stunde. Die meisten Untersuchungs-
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
214
teilnehmer sind aus einer größeren Stadt in Nordrhein-Westfalen, vier
Forschungspartner sind aus einer größeren Stadt in Rheinland-Pfalz.
Die Untersuchungsteilnehmer stammen aus Elternhäusern unter-
schiedlichen Bildungs- und Einkommensgrades sowie beruflichen
Hintergrundes. Erwartungsgemäß sind die Eltern der Gymnasiasten
eher in Berufen tätig, die einen höheren Bildungsabschluß erfordern,
als die Eltern der Hauptschüler. Während sich bei letzteren vor allem
ungelernte Kräfte (Putzfrau oder Bedienung in der Gastronomie), Ar-
beitslose, Sozialhilfeempfänger, Arbeiter (auf dem Bau) und Hand-
werker (Dachdecker, Schreiner) finden, umfaßt das Berufsspektrum
der erstgenannten insbesondere akademische (Lehrer, Richter, Psy-
chologin, Architekt), kaufmännische, unternehmerische (Transport-
unternehmer) oder Tätigkeiten im Angestelltenverhältnis (Buchhalter).
Tabelle 6: Zusammensetzung der Stichprobe
Schulart
Gymnasium Hauptschule
Schulklasse
6. Kl. 1 GD90, 2 Int.91 1 GD, 2 Int.
(6 Schüler) (6 Schüler) 12 6. Kläßler
8. Kl. 1 GD, 2 Int. 1 GD, 2 Int.
(6 Schüler) (6 Schüler) 12 8. Kläßler
10. Kl. 1 GD, 2 Int. 1 GD, 2 Int.
(6 Schüler) (6 Schüler) 12 10. Kläßler
18 Gymnasiasten 18 Hauptschüler 36 Teilnehmer
90 GD: Gruppendiskussion
91 Int.: Interview
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 215
5 Die Auswertung der Daten
5.1 Die Datenkonstitution
Sowohl die Gruppendiskussionen als auch die Interviews wurden
elektroakustisch aufgezeichnet. Von den Tonbandaufnahmen erfolgten
sodann verbatim Transkriptionen. Der Hinweis auf eine wörtliche
Verschriftung läßt die Frage nach der genauen Transkription des Ma-
terials noch unbeantwortet. Man sehe sich nur einmal die Protokolle
der Konversationsanalytiker im Vergleich zu den meisten anderen
gängigen Formen der Transkription an, um zu bemerken, wie unter-
schiedlich Wortwörtlichkeit je nach Erkenntnisinteresse aufgefaßt
wird. Für den vorliegenden Zusammenhang wurde ein sehr einfaches
Transkriptionssystem präferiert, das zwar auch paraverbale Aspekte
mitumfaßt, allerdings in sehr geringem Maße. Diese Wahl ist for-
schungsökonomischen Gründen geschuldet, aber auch der Überzeu-
gung, daß eine weitergehende Protokollierung für die eigenen Belange
unnötig ist. Mehr noch: Ist eine mehr oder weniger genaue Transkrip-
tion unter dem Aspekt einer sichereren Datengrundlage und damit ei-
ner Erhöhung der Validität zwar unbedingt zu begrüßen, erweckt je-
doch möglicherweise die immer ausführlichere Protokollierung des
empirischen Materials geradezu „Exaktheitsfiktionen“, die sich
gleichwohl oftmals nicht in einem interpretativen „Surplus“ ausdrük-
ken.
Vorschläge zur Transkription finden sich etwa bei Bohnsack
(2000a), Ehlich und Rehbein (1976), Ehlich und Switalla (1977),
Kallmeyer und Schütze (1976) und Riemann (1987). Die in der nach-
folgenden Tabelle zusammengestellten Regeln stellen eine Kompilati-
on aus den Hinweisen der genannten Arbeiten dar, die ich von Sche-
loske (1997, vgl. Tabelle 7) übernehme, da sie auch für die hier ver-
folgten Zwecke optimal ist.
Außerdem wurde in allen Fällen eine Maskierung von Orts- und
Personennamen vorgenommen, um die den Forschungspartnern zuge-
sicherte Anonymität zu garantieren. Handelte es sich in den Redebei-
trägen um Namen größerer Städte, deren Nennung für das Verständnis
der Äußerungen notwendig erschien, wurden sie allerdings nicht mas-
kiert. Ein Beispiel dafür wäre etwa der Beitrag einer Diskussionsteil-
nehmerin, in dem diese berichtet, Austausch-schüler, die Trier zum er-
sten Mal besuchen würden, seien von den antiken Stätten, wie dem
Amphitheater oder der Porta Nigra, beeindruckt.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
216
Tabelle 7: Transkriptionssystem (aus: Scheloske 1997: 55)
Transkriptionssystem
Kennzeichnung des/r Erzählers/in: E
Kennzeichnung der Interviewerin: I
Kurzes Absetzen einer Äußerung: -
kurze Pause: ..
mittlere Pause: ...
längere Pause .....
manchmal genaue Zeitangabe der Pause: ((5 Sek.))
betont: nein
unverständlich: ( )
vermuteter Wortlaut: (also dann)
nichts
p
rachliche Handlun
g
en:
((
zündet sich Zi
g
arette an
))
Charakterisierung von Sprechweise,
Tonfall, Modulation:
(((
ironisch
)))
,
(((
laut
)))
etc.
Rezeptionssignale: hm, mhm
(Selbst- und Fremd-)Unterbrechung: Ich schwänzte/also ich
Überlappung von Redebeiträgen: I: ein Blatt drauf
gefallen, ne.
E: Ein Blatt/ich ich
Ist die Verschriftung der Daten noch kein Spezifikum der hier be-
nutzten Methode, so trifft dies für die im folgenden darzulegenden
Schritte der Dateninterpretation sehr wohl zu. Ich halte mich bei ihrer
Darstellung weitgehend an die Vorschläge, die von Bohnsack (etwa
2000a) und Straub (1989, 1999a) zu einer dokumentarischen Methode
unterbreitet werden. Die dokumentarische Methode, die in wesentli-
chen Aspekten auf Überlegungen des Wissens- und Kultursoziologen
Karl Mannheim zurückgeht, kann mittlerweile als eines der ausge-
reiften methodologisch-methodischen Programme innerhalb der qua-
litativen Sozialforschung gelten. Darstellungen der Methode finden
sich in Einführungs- und Handbüchern (vgl. z.B. Bohnsack 2000a,
insbesondere Kapitel 3, Kapitel 5, Kapitel 7-11; Bohnsack 2000b;
Lamnek 1998: 189-196). Sie läßt sich im gleichen Atemzug wie etwa
Oevermanns strukturale Hermeneutik oder Schützes soziologischer
Narrativismus nennen. Wie diese, ist auch die dokumentarische Me-
thode nun schon in einer Vielzahl von empirischen Studien angewandt
worden (vgl. z.B. Appelsmeyer 1996; Bohnsack 1989; Loos 1998;
Schäffer 1996; Straub 1993).92 Daß sie dabei reflektiert, variiert und
92 Aus diesem Grund, also der bereits häufig erfolgten Anwendung der
dokumentarischen Methode, verzichte ich auch auf eine detaillierte
exemplarische Vorstellung der weiter unten eher allgemein beschrie-
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 217
modifiziert wurde, dürfte evident sein. Auf einige Modifikationen
methodologischer Art (vgl. Straub 1999a) gehe ich unten ein.93
5.2 Basale Schritte der Textanalyse
Die Verbatim-Protokolle der Gruppendiskussionen und Interviews
werden nach ihrer Konstitution zunächst mit Hilfe eines Stichwortre-
gisters grob gegliedert. Dabei wird eine sequentielle Untergliederung
vorgenommen (vgl. Straub 1989: 235 ff.). Hierzu wird jeder Text in
einzelne voneinander unterscheidbare Segmente unterteilt. Die Krite-
rien hierfür können unterschiedlicher Art sein: Formale Auffälligkei-
ten wie ein Sprecherwechsel, die Variation der Textart (beschreibende
Passagen werden von erzählenden abgelöst) oder sogenannte „Rah-
menschaltelemente“, die anzeigen, daß ein neuer Abschnitt beginnt;
Kriterium können auch inhaltliche Aspekte eines Textes sein, wie et-
wa ein Themenwechsel. Am Ende dieses Auswertungsschrittes steht
eine mehr oder weniger ausführliche Gliederung des Textes, die einen
ersten Überblick fixiert, wobei die Fixierung als eine vorläufige zu
betrachten ist, die bei Bedarf in weiteren Lektüredurchgängen abge-
ändert werden kann.
Als ein weiterer – immer noch basaler – Analyseschritt ist die sich
anschließende reformulierende oder paraphrasierende Interpretation
anzusehen. In dieser Phase gilt es sicherzustellen, daß der Interpret das
Deutungs- und Relevanzsystem der Forschungspartner in deren Im-
manenz rekonstruieren kann. Dabei können bereits Selektionen vorge-
nommen werden, da ja nicht jedes Textsegment für eine bestimmte
Fragestellung von Interesse ist. Wie schon für das Stichwortregister
gilt auch hier wieder die prinzipielle Revidierbarkeit der vorgenom-
menen oder unterlassenen Analyseprozeduren. In diesem Schritt kann
eine Entsprechung zum Vorgehen in einer Gesprächspsychotherapie
gesehen werden, bei dem ja auch unter anderem die Äußerungen des
Gegenübers zur Gewährleistung eines adäquaten therapeutischen Ver-
stehens paraphrasiert werden. Bliebe es allein dabei, erhielte man im
benen Auswertungsschritte und verweise auf die genannten Arbeiten.
Darüber hinaus sollte mein konkretes Vorgehen bei der Datenanalyse
im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit plastisch und nachvoll-
ziehbarer werden.
93 Im vorliegenden Zusammenhang konzentriere ich mich auf die Ope-
rationen des Interpretierens, wie sie in der dokumentarischen Metho-
de unterbreitet worden sind. Dabei sehe ich weitgehend von ihrer
methodologischen Verankerung in der Kultursoziologie Karl Mann-
heims ab. Die für Bohnsack in diesem Zusammenhang so wichtigen
Konzepte des konjunktiven und kommunikativen Erfahrungszusam-
menhangs oder das der Generation werden hier daher nicht themati-
siert.
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
218
günstigsten Fall eine nacherzählte Version des ursprünglich Gesagten,
im schlimmsten Fall betriebe man – polemisch gesagt – lediglich
„Echolalie“. Daß dies bisweilen in gesprächspsychotherapeutischen
Zusammenhängen geschehen ist, dürfte, am Rande bemerkt, einen der
Gründe für negative Stereotypen in bezug auf dieses Therapieverfah-
ren darstellen. Es ist offenkundig, daß die Paraphrase einen zu analy-
sierenden Text noch keinesfalls zureichend in seinem Sinn- und Be-
deutungsgehalt aufschließt, sondern „lediglich“ eine notwendige Vor-
stufe dazu darstellt.
5.3 Intra- und intertextuelle Vergleiche:
die reflektierende Interpretation
Der nächste Auswertungsschritt, die „reflektierende Interpretation“, ist
von herausgehobener Bedeutung für das Verstehen eines Textes (dazu
v.a. Straub 1999a, Teil II). In ihm geht es um die besondere Rolle, die
der kognitiven Operation des Vergleichens zukommt (s. hierzu auch
Joachim Matthes’ Aufsatz von 1986, der den bezeichnenden Titel
„The operation called ‚Vergleichen‘“ trägt). Wie sieht dies aus? Um
die fraglichen Interview- oder Gruppendiskussionsprotokolle besser
zu verstehen, können zunächst Segmente ein und desselben Textes
miteinander verglichen werden. Dies ermöglicht eine genauere Be-
stimmung der Besonderheiten der entsprechenden Textstelle sowie
Ähnlichkeits- und Unterschiedsrelationen in bezug auf andere Stellen.
Miteinander verglichen werden können aber auch Segmente unter-
schiedlicher Interviewtexte. Diese intertextuellen können mit demsel-
ben Zweck wie die zuvor beschriebenen intratextuellen Vergleiche
durchgeführt werden. Für beide Arten des Vergleichens ist es glei-
chermaßen wichtig, minimale und maximale Vergleiche anzustellen.
Erst durch die Kontrastierung auch mit Heterogenem kann die Eigen-
art bestimmter Passagen adäquat herausgearbeitet werden. Da sich
Interpretationen aber nicht aus dem Nichts ergeben, ist es – einerlei ob
es sich dabei um intra- oder intertextuelle Vergleiche handelt – nötig,
auf Vergleichshorizonte (VH) zurückzugreifen. Diese dienen dem In-
terpreten als Interpretationsfolien, die es ihm erleichtern, empirische
Phänomene auf den Begriff zu bringen. Solche Vergleichshorizonte
können empirisch fundierte VH, das Alltagswissen des Interpreten als
VH, wissenschaftlich fundierte bzw. vermittelte VH und imaginative,
fiktive und utopische VH sein. Dabei lassen sich die wissenschaftlich
fundierten bzw. vermittelten VH in theoretische oder empirisch-
materiale Erkenntnisse als VH unterscheiden, wobei die theoretischen
sich wiederum in formaltheoretische oder bereichsspezifische theore-
tische VH trennen lassen. Auf die vorliegende Untersuchung ange-
wandt können die genannten VH folgendermaßen veranschaulicht
werden: Alle Textsegmente aus den verschrifteten Interviews bzw.
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 219
Gruppendiskussionen, die ich zu Interpretationszwecken einem aus-
gewählten Abschnitt gegenüberstelle, sind empirisch fundierte VH.
Wenn ich die Äußerungen der Schüler mit Erfahrungen vergleiche, die
ich selbst zu meiner eigenen Schulzeit gemacht habe, und diese dann
an interpretationsbedürftige Stellen herantrage, so handelt es sich da-
bei um Alltagswissen als VH. Gedankenexperimente, wie etwa die
Frage „wie hätte diese oder jene Situation auch anders geschildert
werden können?“, „was hätte wohl eine andere Person an der Stelle
des Erzählers getan?“ oder „welche anderen Bedingungen müßten in
schulischen Kontexten existieren, damit bestimmte Deutungsmuster
so nicht mehr auftauchen?“, sind imaginative, fiktive und utopische
VH. Die theoretischen Überlegungen im Anschluß an Autoren gene-
tisch-strukturalistischer bzw. kulturhistorischer Provenienz sind vor-
wiegend formaltheoretische VH. Ein – noch nicht vorfindliches –
Entwicklungsmodell des Geschichtsbewußtseins wäre ein bereichs-
spezifischer VH. Die referierten und kritisierten empirischen Studien
zur historischen Sinnbildung im Jugendalter schließlich sind empi-
risch-materiale VH. (Für die Rolle von Vergleichshorizonten im For-
schungsprozeß vgl. auch Tabelle 8).
An dieser Stelle ist nun der Platz, auf die oben genannten Modifi-
kationen methodologischer Art hinzuweisen, die Straub (1999a) an
der dokumentarischen Methode, wie sie ursprünglich von Bohnsack
(vgl. etwa 2000a) eingeführt wurde, vorgenommen hat.94 Die eben ex-
plizierten Vergleichshorizonte finden sich auch in neuesten Veröf-
fentlichungen Bohnsacks und seiner Mitarbeiter nicht (vgl. erst wieder
Bohnsack, Nentwig-Gesemann und Nohl 2001). Im Gegensatz zu
Straub betont letzterer nämlich den besonderen Wert empirisch fun-
dierter VH. An theoretischen VH möchte Bohnsack lediglich grundle-
gende theoretische Konzepte, wie Handlung, Identität, Rolle und der-
gleichen gelten lassen. Der Grund hierfür liegt wohl in der Angst, bei
Hinzuziehung auch anderer Gegenhorizonte doch wieder subsumpti-
onslogisch zu verfahren, die Eigenarten des zu untersuchenden Phä-
nomens zu destruieren und damit dem Prinzip „Offenheit“ (vgl. Ab-
schnitt 2.1) nicht Rechnung zu tragen. Diese Befürchtung halte ich
durchaus für begründet, da sich tatsächlich jede in Anspruch genom-
mene Interpretationshilfe in ihr Gegenteil verwandeln, mithin also ei-
nen mehr oder minder unvoreingenommenen Blick auf die empiri-
schen Phänomene eher verstellen denn befördern kann. Zugleich gilt
allerdings auch, daß ohne diese Hilfen nichts „gesehen“ wird, das em-
pirische Material also „dunkel“ bleibt. Wenn sozialwissenschaftliches
Interpretieren zumindest in einigen Aspekten auch den Charakter einer
„Kunstlehre“ hat, dann wäre wohl eben hierin eine Kunst zu sehen:
Möglichst elaborierte Vergleichshorizonte zur Verfügung zu haben,
94 Vgl. auch meinen Rezensionsaufsatz zu Bohnsacks (1999) Einfüh-
rungstext (Kölbl 2000b).
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
220
diese aber gleichsam bedarfsweise stärker oder lockerer zügeln und
zudem fallweise verändern zu können. In gewisser Weise konterka-
riert Bohnsack (2000a: Kapitel 8) mit der Privilegierung der genann-
ten Gegenhorizonte auch seine zutreffenden Ausführungen wider die
Möglichkeit einer induktiv verfahrenden Sozialwissenschaft (vgl.
ebd.: Kapitel 2). Das birgt die Gefahr, einer „Emergenzmythologie“
qualitativen Denkens das Wort zu reden, wie sie Kelle (1994, insbe-
sondere: 115-132; vgl. auch Kelle und Kluge 1999) in detaillierter und
schlüssiger Weise für einige prominente interpretative Methodologien
herausgestellt hat. Mit Bohnsack (Kapitel 2) möchte ich gegen Bohn-
sack (Kapitel 8) auf der Theoriegeladenheit empirischer Analysen be-
harren und dazu abschließend einen entsprechenden Gedanken Dah-
mers (1989: 294) zitieren, der nicht allein für den Prozeß klinisch-
psychoanalytischen Verstehens Gültigkeit beanspruchen kann: „Ein
Psychoanalytiker, der nicht mit Geschichte und Politik, Kulturge-
schichte und Religionswissenschaft, Literatur und Mythologie vertraut
ist, der kann auch seine Patienten nicht verstehen, der kann nicht deu-
ten – weil ihm eben nichts einfällt.“
Die Berücksichtigung von Vergleichshorizonten allein macht aber
noch nicht den Akt des Interpretierens aus. Um die kognitiven Opera-
tionen zu beschreiben, die bei der Interpretation von Texten zur Gel-
tung kommen, kann mit Straub (1999a) auf Kants „Kritik der Urteils-
kraft“ (1977) zurückgegriffen werden. Kant unterscheidet dort zwi-
schen zwei Arten der Urteilskraft. Die eine nennt er die bestimmende,
die andere die reflektierende Urteilskraft bzw. Vernunft. Während jene
empirische Phänomene unter bereits bestehende Schemata oder Kate-
gorien subsumiert, ist diese durch Kreativität ausgezeichnet. Die re-
flektierende Urteilskraft wird immer dann nötig, wenn sich einzelne
Aspekte den bekannten Begrifflichkeiten nicht fügen. Tritt ein solcher
Fall ein, wird es nötig, nach neuen Termini, Schemata, Kategorien und
dergleichen zu fragen. Damit entstehen sodann wiederum Begriffe, die
für spätere Untersuchungen Interpretationsfolien bestimmender Ver-
nunft abgeben können. So dient reflektierende Urteilskraft letztlich
wieder der bestimmenden Vernunft.95
95 Wie sieht diese Unterscheidung bei Kant selbst aus? „Die Urteils-
kraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vor-
stellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem
gewissen Prinzip zu reflektieren, oder als ein Vermögen, einen zum
Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vorstel-
lung zu bestimmen, angesehen werden. Im ersten Fall ist sie die re-
flektierende, im zweiten Fall die bestimmende Urteilskraft. Reflek-
tieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit
andern, oder aber mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf
einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu
halten. Die reflektierende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 221
Tabelle 8:Vergleichende Interpretationen im Forschungsprozeß
(Tabelle nach Straub 1999a: 221)
Projekt-Vorbereitung und Arbeit im Feld
Datenerhebung
↓
Verschriftung/Transkription nicht schriftlich fixierter Daten
Textkonstitution
↓
Textanalyse
↓
Formulierende Interpretation
↓
Vergleichende Interpretation
Interpretation durch Referenz auf Vergleichshorizonte
↓↓↓
↓
Explizit empi- Alltagswissen Wissenschaftlich Imaginative,
risch fundierte des Interpreten fundierte/ver- fiktive, utopi-
VH als VH mittelte VH sche VH
↓
Konstruktion von
Ähnlichkeitsrelationen und Differenzrelationen
durch bestimmende und reflektierende Interpretationen
↓
Typisierungen und Typenbildungen
Konstruktion von Typiken und Typologien
Ein solches Konzept komparativer Analysen entspricht der Program-
matik der grounded theory von Glaser und Strauss (1967; vgl. Ab-
schnitt 3) und weist mit dem abduktiven Schluß sensu Peirce Ähnlich-
keiten auf (Reichertz 2000: 276-285). In deren Konzeption ist das
Vergleichen auch die grundlegende Operation bei einer empirisch
fundierten Theoriebildung. Das beständige Vergleichen wird natürlich
nicht um seiner selbst willen durchgeführt oder bloß, um eine einzige
Textstelle besser zu verstehen, sondern soll letztlich der Typisierung
des Datenmaterials dienen. Damit wird die Windelbandsche Unter-
scheidung zwischen einer nomothetischen und einer idiographischen
Wissenschaft (vgl. Windelband 1894) für so durchgeführte empirische
Studien unterlaufen. Zwar nimmt die vorliegende interpretative Arbeit
ihren Ausgang beim Einzelfall. Die Konfrontierung des am Einzelfall
gewonnenen Datenmaterials mit anderen Fällen und die Heranziehung
unterschiedlicher Vergleichshorizonte, wie oben beschrieben, dienen
das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt“ (Kant 1977:
25, zit. n. Straub 1999a: 222 f.).
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
222
ja nicht der Aufklärung idiosynkratischer Strukturen eines bestimmten
Einzelfalls, sondern sind als ein methodischer Zwischenschritt zur
Gewinnung von Typiken anzusehen. Somit wird aber weder die Be-
schäftigung mit dem Einzelfall zu einer Beschreibung des nur indivi-
duell Interessanten, noch wird die Verallgemeinerung der an Einzel-
fällen gewonnenen Erkenntnisse unbrauchbar für das Verstehen kon-
kreter Einzelfälle. In dem beschriebenen Vorgehen ist der Einzelfall in
den Typisierungsleistungen aufgehoben. Dabei können derlei Typisie-
rungen im bereits zitierten Schützschen Sinne als Konstruktionen
zweiten Grades begriffen werden.
5.4 Aspekte der Geltungsbegründung
Es ist des öfteren die Ansicht vorzufinden, die wissenschaftliche
Überzeugungskraft qualitativer Sozialforschung sei insbesondere
durch die Formulierung und Einhaltung strenger Gütekriterien zu stei-
gern. Zu häufig würden mehr oder weniger gut formulierte Interpreta-
tionen qualitativer Daten unter naiver Absehung ihrer theoretischen
und empirischen Triftigkeit schon für wissenschaftliche Elaborate ge-
nommen. Dies führe im günstigsten Falle ins gehobene Feuilleton,
nicht aber in szientifische Gefilde. Mag diese Einschätzung etwas
überzogen sein, so trifft sie doch einen richtigen Punkt. Anders als in
der nomologischen Sozialwissenschaft, die über ein ausgefeiltes In-
strumentarium zur Geltungsbegründung und -überprüfung verfügt, hat
die Reflexion bezüglich der Güte empirischer Interpretationen in der
qualitativen Sozialforschung nämlich noch eine verhältnismäßig junge
Tradition, eine Tradition zumal, die z.T. noch nicht in die For-
schungspraxis selbst eingedrungen ist. Im Anschluß an Steinke (1999:
43-52; 2000) können drei grundsätzliche Positionen unterschieden
werden, deren Berechtigung zu erörtern sein wird:
1. Die komplette oder zumindest partielle Übernahme
testtheoretischer Kriterien
2. Die Entwicklung eigener spezifischer Kriterien
3. Die Ablehnung von Gütekriterien überhaupt im Zuge
postmoderner Strömungen
Ad 1) Der Idee einer Einheitlichkeit der sozialwissenschaftlichen For-
schung verpflichtet, bemühen sich manche Wissenschaftler (etwa
Mayring, Kelle, Lincoln, Guba, Kirk, Miller) mit unterschiedlicher
Rigorosität, quantitative Gütekriterien an die qualitative Forschung
anzupassen. Dabei handelt es sich um die Kriterien der Objektivität,
Validität und Reliabilität mit ihren unterschiedlichen Ausdifferenzie-
rungen wie etwa der Auswertungsobjektivität, internen Validität oder
Interrater-Reliabilität wie sie aus der klassischen Testtheorie (s. hierzu
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 223
die einschlägige Arbeit von Lienert und Raatz 1994) bekannt sind.
Das letztgenannte Gütekriterium – also die Interrater-Reliabilität –
wird beispielsweise in der qualitativen Inhaltsanalyse verwendet, um
zu überprüfen, inwiefern unterschiedliche Auswerter zu denselben
kategorialen Zuordnungen gelangen.
Ad 2) Forscher, die die Entwicklung eigener spezifischer Kriterien
fordern, lehnen die eben skizzierte Position als unzulässig ab. Durch
die Übertragung quantitativer Gütekriterien – so ihr Argument – wer-
de die Besonderheit eines qualitativen Zugangs letztlich doch wieder
erstickt und die Innovationskraft, dieser Art Sozialwissenschaft zu
betreiben, verschenkt. Gemeinsam ist beiden Gruppen, die hier frei-
lich idealtypisch gegenübergestellt werden, die Überzeugung, qualita-
tive Forschung bedürfe dringend einer Reihe von Kriterien, an denen
die Geltung empirisch gewonnener Aussagen zu beurteilen sei. Der
Unterschied besteht nun eben darin, daß die der zweiten Position zu-
neigenden Wissenschaftler eigene Gütekriterien fordern, die sich
deutlich von den Kriterien der nomologischen Sozialwissenschaft un-
terscheiden. Als solche Kriterien werden beispielsweise die kommu-
nikative Validierung oder die Triangulation (ursprünglich ein Termi-
nus aus der Schiffahrt) diskutiert. Unter dieser wird die Auffassung
verstanden, durch den Rekurs auf unterschiedliche Methoden, Theori-
en, Daten oder Forscher könne man zu einer tieferen Einsicht in einen
Untersuchungsgegenstand kommen. Jenes Kriterium bezeichnet die
Überzeugung, die vom Forscher vorgenommenen Interpretationen
müßten in einem zweiten Schritt den Forschungspartnern vorgelegt
und mit ihnen auf ihre Gültigkeit hin diskutiert werden. Im Rahmen
des bereits mehrfach angesprochenen Forschungsprogramms Subjek-
tive Theorien spielt dieses Kriterium bekanntlich eine entscheidende
Rolle nicht allein in epistemischer, sondern vielleicht sogar noch mehr
in normativ-ethischer Hinsicht.
Ad 3) Die philosophische, literatur- und kunstwissenschaftliche
Strömung, die vage mit dem Sammelnamen der Postmoderne belegt
wird (zu Geschichte, Autoren und Themen der Postmoderne vgl. etwa
Welsch 1988), hat mit einiger Verspätung die Sozialwissenschaften
erreicht, wenngleich ihr Zenit – sollte sie denn hier überhaupt einen
solchen gehabt haben – wie andernorts auch, längst überschritten
scheint. Hier werden ganz heterogene Ansichten zum Problem der
Geltungsbegründung vorgelegt: So wird in bestimmten Spielarten des
Sozialkonstruktivismus dafür argumentiert, die Frage nach der Bezie-
hung zwischen Interpretation und dem, worauf sich die Interpretation
bezieht – also „Welt“ im weitesten Sinne – als mit den Grundlagen
des Sozialkonstruktivismus unvereinbar aufzugeben (vgl. Shotter
1990: 69, zit. n. Steinke ebd.: 321). Oder es wird gefordert, der For-
scher solle seine Texte in der ersten Person Singular schreiben, um die
Kluft zwischen sich und dem Forschungspartner zu überwinden, dann
GESCHICHTSBEWUSSTSEIN IM JUGENDALTER
224
würden sich Fragen nach Reliabilität und Validität gar nicht mehr
stellen.
Mit Steinke halte ich die zuletzt skizzierte Position für unvereinbar
mit den Erfordernissen einer Erfahrungswissenschaft und folge ihr in
dem Plädoyer zur Aufstellung von spezifischen Kernkriterien für die
qualitative Forschung. Solche kann man nun nicht allein bei Steinke
finden, sondern in überzeugender Weise formuliert ebenso bei Bohn-
sack (2000a: Kapitel 9). Dadurch, daß dieser das eine Extrem – Güte-
kriterien in der qualitativen Forschung haben das ganz Andere zu sein
– wie das andere Extrem – Gütekriterien in der qualitativen Forschung
sind an die Gütekriterien in der quantitativen Forschung anzugleichen
– ablehnt, bringt er einen nüchternen und der Sache adäquaten Ton in
die Auseinandersetzung. Daß er dabei nicht zu einem interesselosen
und „kompromißlerischen“ Befürworter einer vermeintlichen golde-
nen Mitte wird, liegt an der wohlüberlegten methodologischen Fun-
dierung seiner Vorschläge in der Mannheimschen Wissenssoziologie,
die – wie bereits oben erwähnt – nicht allein Pate bei der Ausformulie-
rung seiner Auswertungsvorschläge stand, sondern eben auch bei den
Aspekten der Geltungsbegründung von qualitativ-methodisch fun-
dierten empirischen Aussagen. Bohnsack geht im einzelnen auf Vali-
dität, Verallgemeinerbarkeit, Reproduzierbarkeit und Zuverlässigkeit
ein.
Die Validität interpretativ gewonnener Aussagen hängt in ent-
scheidender Weise davon ab, inwiefern der Forscher es vermag zu
zeigen, daß er Daten interpretiert hat, die nach den Regeln der Kunst
erhoben und verschriftet wurden und denen Authentizität zukommt.
Zur Gewährleistung dieses Kriteriums wird er sich also darum bemü-
hen, den eigenen Forschungsprozeß möglichst weitgehend offen zu
legen. Dies betrifft nun nicht allein die Transparenz, was die Rekrutie-
rung der Forschungspartner, ihre genaue Rolle im Prozeß der Da-
tenerhebung sowie überhaupt das gesamte im engeren Sinne empiri-
sche Prozedere anbelangt, sondern ebenso die Plausibilisierung der
Forschungsfrage und der leitenden theoretischen und methodologi-
schen Prämissen.
Verallgemeinerbarkeit bedeutet in der qualitativen Sozialfor-
schung offenkundig nicht dasselbe wie in der quantitativen Metho-
denlehre. Schon aufgrund der oftmals außerordentlich geringen
Fallzahlen ist so gut wie nie statistische Repräsentativität gewährlei-
stet. So muß sich denn Generalisierbarkeit in der interpretativen For-
schung anders ausweisen lassen. Hier wird darunter die Reichweite
und Abgrenzbarkeit bestimmter Typisierungen von anderen verstan-
den. Je schärfer die Konturen der Dimensionen einer Typik voneinan-
der in komparativen Analysen herausgearbeitet wurden, desto höher
wird deren Anspruch auf allgemeine Gültigkeit sein können.
Reproduzierbarkeit „als Voraussetzung für intersubjektive Über-
prüfbarkeit“ (ebd.: 188) bedeutet, den erhebungsmethodischen Zugang
METHODOLOGISCH-METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN 225
so zu gestalten, daß die Forschungspartner ihre subjektiven Relevanz-
setzungen möglichst gut artikulieren oder, wie man auch sagen könn-
te: reproduzieren können sollen. Dabei wird die Annahme getroffen,
die Deutungsmuster der Untersuchungsteilnehmer würden nicht (vor-
wiegend) situativ gesteuert entstehen, sondern sich lediglich in geeig-
neten Situationen reproduzieren. Somit sollten die (grundlegenden)
subjektiven Relevanzsetzungen von Forschungspartnern in unter-
schiedlichen Erhebungssituationen – so denn diese lege artis gestaltet
werden – nicht erheblich variieren.
Zuverlässigkeit schließlich soll dadurch gewährleistet werden, daß
das eigene empirische Vorgehen begrifflich-theoretisch reflektiert und
expliziert wird, so daß die Folie für die eigenen Schlußfolgerungen
deutlich, kritisierbar und veränderbar wird.