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Aqua Urbanica 2021
13. / 14. September 2021, Innsbruck
Straßenbäume als zukunftsfähige Multitalente -
BlueGreenStreets optimiert das urbane
Regenwassermanagement und die Vitalität von
Straßenbäumen durch multifunktionale Straßenraumgestaltung
Michael Richter1)
1) HafenCity Universität Hamburg, Fachgebiet Umweltgerechte Stadt- und Infrsatrukturplanung, Henning-
Voscherau-Platz 1, 20457 Hamburg, michael.richter@hcu-hamburg.de
Kurzfassung
Durch Multicodierung urbaner Flächen kann den Klimawandelfolgen und der
Nachverdichtung begegnet werden. Die Kombination von
Regenwasserbewirtschaftung mit Stadtbäumen stellt eine vielversprechende Lösung
dar. Damit könnten sowohl urbane Flächen von der Kanalisation abgekoppelt als auch
die an Trockenheit leidenden Stadtbäume mit Regenwasser versorgt werden. Das
Forschungsprojekt BlueGreenStreets entwickelt und testet unterschiedliche Systeme
dieser Kombination und bewertet sie hinsichtlich ihrer Praxistauglichkeit und ihrer
Wirksamkeit bezüglich der Auswirkungen auf den Wasser- und Lufthaushalt der
Baumstandorte und der Auswirkungen auf die Vitalität der Bäume.
Klimawandel, Nachverdichtung und Stadtgrün
Bestehende Herausforderungen der Stadtentwicklung wie z.B. Verkehrskonflikte, urbaner Hitzestress,
Überflutungen durch Starkregenereignisse oder Beeinträchtigungen des Straßengrüns werden sich durch den
fortschreitenden Klimawandel und zunehmende Nachverdichtung noch verstärken. Die bereits bestehende
Flächenkonkurrenz in Städten wird es erforderlich machen, verschiedene Flächennutzungen zu kombinieren, um
Räume effektiv (multifunktional) zu nutzen. Dies gilt insbesondere für Straßenräume, die in innerstädtischen
Quartieren einen großen Teil der Fläche ausmachen, aber traditionell vor allem eine verkehrliche Funktion
erfüllen. Im Rahmen des Verbundprojekts BlueGreenStreets werden konkrete Ansätze zur multifunktionalen
Straßenraumgestaltung („Multicodierung“) erarbeitet, die Anwendbarkeit bisheriger Vorschläge bewertet und
weitere vertiefende Forschung zur technischen Ausgestaltung und der Wirksamkeit durchgeführt. Durch
innovative Ansätze für die Gestaltung und Integration multifunktionaler Grünflächen im Straßenraum kann neben
wasserwirtschaftlichen und stadtklimatischen Belangen auch die Vitalität des Straßengrüns verbessert werden. Zur
langfristigen Sicherung von Stadtgrün ist es ein weiteres Ziel, herauszufinden, welche Techniken sich zur
Vergrößerung des Wasserspeichervolumens in Pflanzgruben, Grünflächen und bepflanzten Bauwerken im
Straßenraum eignen und gleichzeitig die Vitalität und Wasserverfügbarkeit in Trockenzeiten verbessern.
Kombination von Bäumen und Regenwasserbewirtschaftung
Eine wichtige Rolle bei der multifunktionalen Straßenraumgestaltung nehmen Straßenbäume ein. Sie stellen der
urbanen Umwelt eine ganze Reihe Ökosystemleistungen, wie bspw. die Reduzierung des urbanen
Hitzeinseleffekts, Filtern von Luftschadstoffen, Erhöhung der städtischen Biodiversität und positive Effekte auf
die Aufenthaltsqualität, zur Verfügung. Außerdem haben Bäume wichtige Einflüsse auf das urbane
Regenwassermanagement. Sie reduzieren Regenabflüsse und Bodenerosion durch den direkten Rückhalt auf bzw.
Benetzung von Blättern und Ästen mit Wasser (Interzeption), die Ableitung von Wasser über Stamm
(Stammabfluss) und Infiltration über die Baumscheibe (Elliott et al. 2018). Zusätzlich filtern die Substrate
Schadstoffe aus dem Regenwasser bevor dieses in das Grundwasser infiltriert (CRWSA 2009). Stadt- und
insbesondere Straßenbäume haben durch verschiedene Umwelteinflüsse allerdings oft erschwerte
Standortfaktoren zu bewältigen. Nach Embrén et al. (2009) gehören zu den häufigsten Problemen für die
Entwicklung urbaner Baumbestände Platzmangel (Wurzelraum), Sauerstoffmangel und Wassermangel.
Insbesondere durch Trockenstress kommt es bereits heutzutage zu Vitalitätseinbußen. Durch den Klimawandel
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kann es durch die Zunahme von Extremereignissen zu erhöhter Mortalität von Straßenbäumen kommen (vgl. Savi
et al. 2015).
Ein möglicher Lösungsansatz ist es Baumarten zu identifizieren, welche urbanen Stress, darunter Hitze und
Wassermangel, gut bewältigen können. Ein anderer Ansatz ist es die Baumstandorte und die Rahmenbedingungen
zu verändern und somit die Vitalität von Straßenbäumen zu erhöhen. Die Anpassung der Pflanzstandorte an den
Bedarf von Stadtbäumen kann vor allem durch die Gestaltung der Pflanzgrube und der Baumscheibe und/oder der
Zusammensetzung und Schichtung von Pflanzsubstraten erfolgen. Die Kombination von Straßenbäumen mit
Maßnahmen zum Regenwassermanagement kann durch Zuleitung von Regenwasser in Baumgruben unter
Umständen sowohl die Baumvitalität erhöhen als auch das Überflutungsrisiko reduzieren (u.a. Balder et al. 2018,
Grey et al. 2018). Bezüglich der technischen Umsetzbarkeit gibt es verschiedene Möglichkeiten, um die dezentrale
Regenwasserbewirtschaftung und Baumgruben miteinander zu kombinieren. Im Rahmen von BlueGreenStreets
werden die unterschiedlichen Systeme, an denen international bereits seit den 1990er Jahren geforscht wird (vgl.
Grabosky & Bassuk 1995), verglichen. Mittlerweile haben sich zwei Systeme etabliert, sogenannte Kasten- oder
Zellensysteme (crate-/cell-systems) und Strukturböden (structural soils). Im europäischen Raum gilt bisher vor
allem das „Stockholmer Modell“, ein Strukturboden mit Grobbodenanteil von Korngrößen von > 100 mm, als
Vorbild. In Deutschland zeigen bisher bereits gebaute Beispiele von sog. Baumrigolen in Bochum (vgl. Pacha
2018) und Berlin (vgl. Geisler et al. 2016) erste vielversprechende Ansätze.
Die Eignung unterschiedlicher Systeme an urbanen Standorten von unterschiedlichen Umweltfaktoren und
Zielsetzungen ab. Die Art der Zuleitung von Regenwasser hängt von der Belastung des Regenwassers ab (z.B.
Straßen- oder Dachwasser). Die verwendeten Substrate oder Pflanzsysteme müssen genügend Luft- und
Wasserspeicherkapazität bereitstellen (Porenverteilung und –Volumen). Außerdem darf es nicht zu einer
Verdichtung kommen, was entweder durch Skelettsubstrate oder Zellensysteme sichergestellt wird.
Oft wird für solche Systeme der Begriff „Baumrigole“ verwendet, welcher jedoch bisher keiner Definition bzw.
Systematisierung unterliegt. Im Projekt BlueGreenStreets wurde um den Begriff zu schärfen und eine Abgrenzung
unterschiedlicher Systeme zu erreichen eine Zusammenstellung unterschiedlicher Systeme im internationalen
Kontext erarbeitet (Dickhaut et al. 2020) und unterschiedliche Kategorien bzw. Elemente für Baumstandorte
entwickelt (Abb. 1). Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ausstattung mit Substraten, unterirdischen
Abdichtungen (Speicherelement) und der Art der Zuleitung von Regenwasser.
Abbildung 1: In BlueGreenStreets entwickelte „Elemente der vitalen Baumstandorte“ (© BlueGreenStreets, bgmr
Landschaftsarchitekten).
Hydrologisch optimierte Baumstandorte (Abb. 1a) und Bodenverbesserung (Abb. 1d) unterscheiden sich in der
Kategorisierung von Baumrigolen, da es nicht unbedingt zu einem Austausch oder zum Einbau eines speziellen
Substrats kommt. Erstgenannte werden definiert als Pflanzgruben, die im oberflächennahen Bereich baulich
verändert wurden, um den Bäumen Wasser zuzuführen. Diese oberflächennahen Veränderungen zielen auf die
Zuführung von Regenwasser aus den angrenzenden versiegelten Nebenflächen und somit auf eine erhöhte
Wasserversorgung der Bäume ab. Als Baumrigole (Abb. 1b, 1c) wird nach der BlueGreenStreets-Kategorisierung
ein Baumstandort definiert, dem aktiv Regenwasser zugeleitet wird und dessen Wurzelraum mit einem
strukturreichen, den Wasser- und Lufthaushalt optimierenden Substrat, gefüllt ist. Dieses verhindert Verdichtung,
speichert Regenwasser, und soll die die Wasserverfügbarkeit für Bäume verbessern sowie die verzögerte
Versickerung des Überschusswassers sicherstellen. Baumrigolen können unterirdisch mit einer technischen oder
naturnahen Konstruktion (z.B. Lehm) abgedichtet werden und somit eine höhere Wasserspeicherkapazität
aufweisen (Abb. 1c). Sie können aber auch ohne Speicherelement gebaut sein (Abb. 1b), wie es bspw. beim sog.
Stockholmer Modell die Regel ist. Die Speicherelemente ermöglichen die langfristige Wasserspeicherung, ohne
jedoch dauerhaft wassergesättigte Verhältnisse in der gesamten Baumgrube zu fördern. Überschusswasser kann
seitlich in umgebende Bodenbereiche versickern. In der praktischen Umsetzung ist der Bau von Baumrigolen meist
nur bei Neupflanzungen möglich. Hydrologisch optimierte Baumstandorte können im Neubau und unter
Umständen auch im Bestand realisiert werden. Die Veränderung des hydrologischen Regimes von
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Bestandsbäumen kann jedoch auch schädlich wirken, sodass zu besonderer Vorsicht in der Planung geraten wird.
Für die Verbesserung der Standortbedingungen für Bestandsbäume eignet sich somit vor allem das Element
Bodenverbesserung mit unterschiedlichen Maßnahmen.
Pilotprojekte in BlueGreenStreets
BlueGreenStreets ist durch die Projektkooperation mit kommunalen Partnern in verschiedenen deutschen Städten
tätig. Dort werden verschiedene Baumrigolensysteme geplant, gebaut und evaluiert. Zusätzlich werden neben dem
Unterhaltungsaufwand die Wirkungszusammenhänge zwischen Einleitung von zusätzlichem Regenwasser und der
Vitalität der darin gepflanzten Bäume durch Messungen untersucht. Um Aussagen zur Funktionalität hinsichtlich
Regenwasserversickerung und Baumvitalität zu treffen, wird bei den Pilotprojekten ein Monitoring des Wasser-
(Pegel, Wassergehalt und –Spannung) und Bodenlufthaushalts (O2, CO2) betrieben. Langzeitergebnisse, die
belegen, dass die Vitalität der Bäume in solchen Elementen oder die Effektivität als
Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahme vor allem bei Starkregenereignissen verbessert wird, sind derzeit noch
nicht vorhanden. Die Diversität der Pilotprojekte bezüglich Substrate, Zuleitungen und technisch-konstruktiver
Aufbauten sollen langfristig dazu beitragen, die Wissenslücken hinsichtlich der Wasser- und Sauerstoffversorgung
der Baumwurzeln zu schließen. Dabei werden insbesondere auch Planung und Bau der Baumstandorte begleitet
und evaluiert. Zusätzlich werden neben dem Unterhaltungsaufwand die Wirkungszusammenhänge zwischen
Einleitung von zusätzlichem Regenwasser von Verkehrs- und/oder Dachflächen und der Vitalität der darin
gepflanzten Bäume durch Messungen untersucht. In 2020 und 2021 wurden in Hamburg verschiedenen Typen von
Baumrigolen mit und ohne Abdichtungen gebaut. Die baulich ähnlichen Typen in der Hölertwiete in Hamburg-
Harburg (Abb. 2) und Am Beckerkamp (Abb. 3) in Hamburg-Bergedorf werden über einen vorgeschalteten
Schacht mit Regenwasser vom Dach bzw. von der Straße versorgt. Die Abdichtung besteht jeweils aus
Bentonitmatten.
Abbildung 2:Typskizze der Baumrigole in der Hölertwiete
Abbildung 3: Typskizze der Baumrigole in der Straße Am Beckerkamp
Als Substrat wurde in der Hölertwiete ein sog. überbaubares FLL-Substrat (Typ II) und Am Beckerkamp ein
Strukturbodensubstrat nach einer vom Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer Hamburg (LSBG)
entwickelten Mischung verwendet. Die Baumrigolen in der Hölertwiete (Abb. 2) werden über Fallrohre vom Dach,
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die in den vorgeschalteten Schacht geführt wurden, bewässert. Die Zuleitung von (Straßen-)Regenwasser wurde
Am Beckerkamp über einen Straßenablauf realisiert, welcher in einem Schacht im Mittelstreifen entwässert. Von
dort wird das Wasser in drei Baumrigolen verteilt. An diesem Standort wird durch die zu erwartenden
Schadstoffeinträge besonderes Augenmerk auf das Monitoring der stofflichen Belastungen gelegt.
Ein weiter Typ, welcher sich an einem von der Ingenieurgesellschaft Sieker entwickelten Modell anlehnt, wurde
an zwei weiteren Standorten in Hamburg-Harburg in 2021 gebaut (Abb. 4). Diese sind mit einer
Rigolenkiesschicht, die unterhalb der etwa 1,00 m mächtigen Baumsubstratschicht anschließt, ausgestattet. Diese
dient als Wasserspeicher bzw. Rigolenelement. Um den kapillaren Aufstieg zu gewährleisten, wird bei diesem
Typ eine Kapillarsäule aus einem sog. Schwammsubstrat eingebaut, wodurch im unteren Teil gespeichertes
Wasser nach oben in den Wurzelbereich transportiert werden soll.
Abbildung 4: Typskizze der Baumrigole in der Straße Alter Postweg
Baumrigolen sind derzeit ein kontrovers und viel diskutiertes Thema, das Interesse ist vor allem in der
Planungspraxis groß. Gleichzeitig bestehen noch große Unsicherheiten und Befangenheiten aufgrund fehlender
Langzeiterfahrungen bezüglich Bau, Unterhaltung und der Funktionalität dieser zumindest in Deutschland
neuartigen technischen Elemente. Das Projekt strebt mit dem Bau von Pilotanlagen und der messtechnischen
Begleitung an, die Unsicherheiten bezüglich wasserwirtschaftlicher Effektivität und des baumbiologischen
Nutzens zu verringern.
Literatur
Balder, H., Goll, L., Nickel, D., Rehfeld-Klein, M. (2018) Befunde zur Verwendung von Bäumen in
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Strategie zur Klimafolgenanpassung: Wissenstand 2020. HafenCity Universität Hamburg.
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