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Völkerkunde zur NS-Zeit
aus Wien (1938–1945):
Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken
Band 1
Andre Gingrich und Peter Rohrbacher (Hg.)
2
Angenommen durch die Publikationskommission der philosophisch-historischen Klasse der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften:
Michael Alram, Bert G. Fragner, Andre Gingrich, Hermann Hunger, Sigrid Jalkotzy-Deger,
Renate Pillinger, Franz Rainer, Oliver Jens Schmitt, Danuta Shanzer, Peter Wiesinger,
Waldemar Zacharasiewicz
Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert
unter der Creative Commons Lizenz Namensnennung 4.0
Open access: Except where otherwise noted, this work is licensed
under a Creative Commons Attribution 4.0 Unported License.
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Bildnachweis für das Cover:
Röcks Skizzen zum Hakenkreuz um 1935, Universitätsarchiv Wien;
Plakette zur Wiener Reichskolonialtagung 1939, Der Samstag 2, Folge 15 (15. April 1939), 9;
Gedenkstein von Marianne Schmidl 2017, Foto: Mehmet Emir;
Widerstandszeichen O5 am Stephansdom, Foto: Mehmet Emir;
Künstlerische Gestaltung: Mehmet Emir.
Diese Publikation wurde einem anonymen, internationalen Begutachtungsverfahren unterzogen.
die Voraussetzung für eine dauerhafte Archivierung von schriftlichem Kulturgut.
Bestimmte Rechte vorbehalten.
Copyright © Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2021
ISBN 978 -3-7001-8670-0
Lektorat: Martina Paul und Christine Kanzler, Wien
Druck: Prime Rate, Budapest
https://epub.oeaw.ac.at /8670-0
https://verlag.oeaw.ac.at
Made in Europe
Ve r öf f en t l ic h t m i t U n te r s tü t z un g de s F o n ds z ur F ör d e ru n g d e r w i ss e n-
schaftlichen Forschung (FWF): PUB 809 – Z sowie der Fakultäten für
Lebenswissenschaften und für Sozial wissenschaften gemeinsam mit
dem Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien
und dem „Altreich“ 1938–19451
Katja Geisenhainer
Durch die neuen politischen Rahmenbedingungen in Österreich ab März 1938 änderten sich
auch die Verbindungen zwischen Wiener und deutschen Völkerkundlerinnen und Völkerkund-
lern. Eine Auswahl dieser Beziehungen soll auf der Grundlage von Primärliteratur und unter
Heranziehung weiterführender Publikationen, insbesondere aber auf Basis von Archivquellen
(in erster Linie Korrespondenzen) beleuchtet werden. Inwiefern, warum und unter welchen
Bedingungen einzelne österreichische und deutsche Gelehrte der Völkerkunde miteinander
kooperierten, sich mieden oder sogar diffamierten, wird meist erst bei der näheren Betrach-
tung der jeweiligen Biographien und theoretischen Ausrichtung und in diesem Zusammen-
hang eben auch durch die Auswertung von Briefwechsel zumindest ansatzweise transparent.
Die einen oder anderen Verbindungen mögen mitunter bekannt sein – auf die entsprechende
Sekundärliteratur wird an den jeweiligen Stellen verwiesen –, diese Kontakte sollen jedoch im
vorliegenden Beitrag in den speziellen „Ostmark-“ bzw. „Groß-Wien-“ und „Altreich“-Kon-
text gesetzt werden.
Zwischen deutschen und österreichischen Akademikerinnen und Akademikern bestand
schon vergleichsweise lange ein intensiver Austausch, der sich nicht zuletzt auf eine gemein-
same Sprache zurückführen lässt. Diese Vernetzungen beruhten vielfach auf persönlichen
Kontakten und waren für institutionelle Verbindungen zwischen völkerkundlichen Einrichtun-
gen ebenso zu konstatieren wie zwischen der Völkerkunde und ihren Nachbarwissenschaften
bzw. jenen Disziplinen, die eine Rolle bei der Etablierung der Völkerkunde gespielt hatten.
Eine Reihe von namhaften österreichischen Gelehrten aus jenen Bereichen war zeitweise oder
langfristig im Deutschen Reich beschäftigt wie auch umgekehrt.2
-
richtungen und Förderstellen wie beispielsweise in der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(bzw. deren Vorgänger-Einrichtung) und der ihr angegliederten Österreichisch-Deutschen
Wissenschaftshilfe kultur- und wissenschaftspolitische Zusammenarbeit mit besonderer Vor-
sicht: Infolge des 1919 auferlegten „Anschlussverbotes“ durften Kooperationen keinen Rück-
schluss auf derartige Ambitionen zulassen. In dieser Zwischenkriegszeit kooperierte man auch
innerhalb der österreichischen und deutschen Völkerkunde auf persönlicher und institutioneller
1 In Kürze wird eine ausführliche Studie zu den Verbindungen zwischen Wiener und deutschen Gelehrten der Völ-
kerkunde publiziert, die gleichfalls die Zeit zwischen 1933 und 1938 beleuchtet.
2 Hierzu zählten etwa Felix von Luschan, Rudolf Pöch, Pater Wilhelm Schmidt (jedoch: österreichischer Staatsbür-
ger seit 1902), Richard Thurnwald, Otto Reche und Marianne Schmidl.
744 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Ebene weiterhin grenzüberschreitend miteinander, stand im Kontext internationaler Zusam-
menkünfte im Austausch und hielt mehr oder weniger regelmäßig gemeinsame Versammlun-
gen ab.3
Auch während der Jahre, als in Deutschland bereits die Nationalsozialisten an der Macht
waren und in Österreich der „Ständestaat“ proklamiert wurde, änderte sich daran zunächst
wenig. Museen für Völkerkunde tauschten über die Grenze hinweg Informationen aus und
boten Exponate zum Tausch oder Kauf an. Über Museen, Institute und andere Bildungsein-
richtungen lud man einander zu Vorträgen ein.4 Der Wiener Völkerkundler Hugo Adolf
Bernatzik (1897–1953) beispielsweise stand seit Mitte der 1930er Jahre mit einigen Kollegen
in Deutschland in Kontakt, die Beiträge für seine „Große Völkerkunde“ verfassten. „Die
Große Völkerkunde“ erschien schließlich 1939, ein Jahr nach dem „Anschluss“.5 Die Intensi-
tät der individuellen Kontakte innerhalb der deutschen und österreichischen Völkerkunde
blieb zunächst wenig berührt von den politischen Rahmenbedingungen. Zogen sich deutsche
Fachgelehrte oftmals von ihren jüdischen Kolleginnen und Kollegen im eigenen Land zurück
oder grenzten sie bewusst aus, waren sie gleichzeitig weiterhin in Kontakt etwa mit Robert
Heine-Geldern (1885–1968).6 Hier in Wien war der Antisemitismus gleichfalls schmerzlich zu
spüren, nicht zuletzt an den Universitäten; anders als in Deutschland war die Ausgrenzung der
jüdischen Bevölkerung jedoch noch nicht gesetzlich verankert und lief daher auf einer weniger
7 Der österreichische Asienexperte Otto Mänchen-Helfen
(1894–1969), der sich zu Beginn des NS-Regimes noch in Berlin habilitiert hatte, entschied
sich früh für eine Rückkehr nach Wien. Die Ehe mit seiner jüdischen Frau Anna (1902–1991),
seine sozialdemokratischen Aktivitäten sowie die Nähe zum Kreis der Psychoanalytiker waren
drei schwerwiegende Gründe, nicht in Deutschland zu bleiben.8
Jene Wiener Fachgelehrten, die mit der NSDAP sympathisierten oder gar seit ihrem Ver-
-
sicht gegenüber ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen zur NS-Bewegung. In der Korre-
österreichische NS-Sympathisanten – überwiegend junge, oft arbeitslose Männer, darunter
auch Akademiker – wollten sich jedoch mit ihrer Situation nicht zufriedengeben und zogen in
das Deutsche Reich in der Hoffnung auf eine in ihrem Sinne bessere Zukunft. In Folge dieser
Bewegung wurden in Deutschland zunächst „Flüchtlingslager“ eingerichtet, in denen sie
neben einer Schlafstätte auch eine militärische Ausbildung erhielten. Schließlich gründeten
die Nationalsozialisten im August 1934 das NSDAP-„Flüchtlingshilfswerk“ und schufen
damit Strukturen, die treue Parteigänger aus Österreich bei ihrer Eingliederung in der neuen
Heimat unterstützen sollten. Im Gegenzug dienten diese Flüchtlinge sowie ihre Verbindungen
3 Beispielsweise tagten die Wiener Anthropologische Gesellschaft und die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte (kurz: Deutsche Anthropologische Gesellschaft) wiederholt gemeinsam, wobei auch
Im Juli 1933 verschickte in Deutschland Bolko von Richthofen eine vorgedruckte Karte an seine Kollegen, der zu
entnehmen war: „Angesichts der augenblicklichen politischen Lage in Oesterreich sieht sich der Vorstand der
Wiener und der Deutschen Anthropologischen Gesellschaft im beiderseitigen Einvernehmen veranlaßt, die für den
13. bis 16. September geplante Tagung in Wien abzusagen.“ (MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1854).
4 Vgl. z.B. MFK München, „Wien“ Inv.Nr. SG-39; Staatsarchiv Ludwigsburg, EL 232 Bü 551. HAStK, Best. 614,
A51; Korrespondenz zwischen Martin Heydrich, Josef Wastl und Fritz Röck. Ferner werden einige Beispiele im
Text kurz erwähnt.
5 Zu Bernatzik vgl. Byer 1999; Stifel 2005 sowie Matczak in diesem Band. Explizit zu „Die Große Völkerkunde“
vgl. Byer 1999, 163 ff.
6 Zu Heine-Geldern vgl. z.B. Kaneko 1970 sowie Neller in diesem Band.
7 Vgl. z.B. Enderle-Burcel/Reiter-Zatloukal 2018; Taschwer 2015a.
8 Dazu detailliert in dem angekündigten Band, siehe Fn 1.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 745
in ihr Heimatland auch den Vorbereitungen des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche
Reich.9
Als im März 1938 der „Anschluss“ vollzogen wurde, konnten also an vielen Verbindungen
eines bereits bestehenden Netzes innerhalb der österreichischen und deutschen Völkerkunde
weiter geknüpft werden, während andere Beziehungen, insbesondere zu jüdischen Fachge-
Reichsdeutsche eingesetzt, um den „Anschluss“ auch auf administrativer Ebene zu vollziehen
und den personellen, inhaltlichen und strukturellen Umbau nach nationalsozialistischen Maß-
stäben kontrolliert gestalten zu können.
Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf der Phase 1938 bis 1945. Bei der Darstellung
der Beziehungen dient eine Auswahl einzelner deutscher Städte zunächst als äußerer Rahmen.
Es handelt sich dabei um Berlin, Dresden, Jena, Leipzig, Hamburg, Göttingen, Köln, Frank-
furt und München. Dabei wird der Ortswechsel verschiedener Völkerkundlerinnen und Völ-
-
einstimmung hinsichtlich des wissenschaftlichen Ansatzes herrschte. Dies erscheint zwar
selbstverständlich, in Wien bemühten sich jedoch einzelne Fachgelehrte gegenüber ihren
„reichsdeutschen“ Kolleginnen und Kollegen wiederholt, ihre Distanz zur „Wiener Schule“
herauszustreichen. Sie fühlten sich manchmal – möglicherweise zu Recht – aufgrund ihres
Lebens- und Arbeitsmittelpunktes allzu schnell dem Kreis um Pater Wilhelm Schmidt zuge-
ordnet. Den nach einzelnen Städten strukturierten Passagen folgt ein längerer Abschnitt zu der
„österreichisch-deutsche Zusammenarbeit innerhalb nationaler und internationaler Vereini-
gungen und Interessengruppierungen“, gefolgt von „Anmerkung zu den Netzwerken in der
Emigration“.
Dass der Umfang der jeweiligen Städte-Abschnitte mitunter stark variiert, kann zum einen
an der unterschiedlichen Intensität der Verbindungen nach Wien liegen, zum anderen aber
auch an der ungleichen Quellenlage. So liegen nicht für jedes Institut und Museum oder gar
für alle Personen umfassendes und aussagekräftiges Quellenmaterial vor; letztendlich konnten
dennoch zahlreiche Akten eingesehen werden. Vorab sei auch erwähnt, dass selbstverständlich
ebenso die Tragweite der einzelnen Verbindung mitunter stark differierte. Auch waren nicht
alle Kontakte für die unmittelbar involvierten Akteurinnen und Akteure von positiver Bedeu-
tung bzw. veränderte sie sich in manchen Fällen vom Positiven zum Negativen, was zurzeit
des NS-Regimes fatale Folgen haben konnte. Im Verlauf des vorliegenden Beitrags werden
einige Personen genannt, die bislang in der Fachgeschichte keine oder nur eine geringe Rolle
spielten. Zwei von ihnen werden hier ausführlicher vorgestellt: Anton Rudolf Em (1902,
Sterbe datum unbekannt) und Elisabeth Sturm (1895–1960).
Berlin: Die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte
Für die Völkerkunde in Berlin zurzeit des NS-Regimes war in erster Linie das 1886 als
Königliches Museum für Völkerkunde eröffnete Museum von Bedeutung. In der damaligen
Königgrätzer Straße, Ecke Prinz-Albrecht-Straße, befand sich das Museum in unmittelbarer
Nachbarschaft zum Hauptquartier der Gestapo und nur einen Steinwurf entfernt von der Zen-
trale des Sicherheitsdienstes (SD) der SS, ab 1939 auch des Reichssicherheitshauptamtes.
9 Vgl. BArch, NS 51/4 und Gehmacher 1996, 222–232; Volsansky 2001, z.B. 117–118, 185–199. Das NSDAP-
Flüchtlingshilfswerk wird in dem Band zu den Verbindungen zwischen Wiener und deutschen Gelehrten der Völ-
kerkunde (1933–1945) ausführlicher behandelt werden.
746 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität gab es zu dieser Zeit noch kein eigenstän-
diges Institut für die völkerkundliche Disziplin. Wie auch andernorts boten hier jedoch eine
Reihe von Museumsangestellten völkerkundliche Lehrveranstaltungen an.10 Aufgrund des
ausgeprägten interdisziplinären Charakters der Völkerkunde waren je nach Ausrichtung für
die einzelnen Fachgelehrten in und außerhalb der deutschsprachigen Länder weitere Berliner
Institutionen von Bedeutung, wie beispielsweise das Seminar für Orientalische Sprachen an
der Universität, das 1935 zur Auslandshochschule umbenannt und schließlich in der Auslands-
wissenschaftlichen Fakultät aufging,11 und das Institut für Lautforschung unter der Leitung
des Afrikanisten Diedrich Westermann (1875–1956).12 Westermann gehörte seit 1938 auch der
Preußischen Akademie der Wissenschaften an. In die hier im Mai 1941 gebildete „Weiss-
Afrika-Kommission“ war der Wiener Völkerkundler Dominik Josef Wölfel (1888–1963) ein-
gebunden.13
Für Völkerkundlerinnen und Völkerkundler, die sich auf Mittel- und Südamerika speziali-
siert hatten, konnte das Ibero-Amerikanische Institut eine wichtige Adresse sein.14 Insbeson-
dere diejenigen, die sich auch der Physischen Anthropologie widmeten, standen zuweilen in
Verbindung mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und
Eugenik, das bis 1942 Eugen Fischer (1874–1967)15 und anschließend Otmar von Verschuer
(1896–1969) leiteten.16
Als gemeinsames Forum für alle Gelehrte, die sich mit völkerkundlichen, „rassen-
kundlichen“ und archäologischen Fragestellungen oder auch mit außereuropäischen Sprachen
beschäftigten, diente die Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschich-
te (BGAEU). Sie vereinte zahlreiche in- und ausländische Mitglieder wie auch Institute.
Verbindungen über die BGAEU und die „Zeitschrift für Ethnologie“ nach Wien
Einige Wiener Fachvertreter kamen nach Berlin, um in der Gesellschaft Vorträge zu halten. So
sprach Christoph Fürer-Haimendorf (1909–1995)17 über „Ethnologische Forschungen bei den
Konyak-Naga von Assam“ (25. März 1939),18 der seit 1935 an der Universität Göttingen tätige
Paläontologe Othenio Abel (1875–1946) über „Vorzeitliche Tierreste im deutschen Mythus,
Brauchtum und Volksglaube“ (15. Februar 1940),19 Martin Gusinde (1886–1969)20 über „Ras-
seform und Umwelt der Ituri-Pygmäen (Ergebnisse einer Forschungsreise durch den belgi-
schen Kongo)“ (14. März 1940),21 Dominik Wölfel über „Hauptprobleme von Weiss-Afrika,
ethnologisch und sprachlich“ (26. Juni 1941)22 und Hans Becker (1895–1948)23 über „Neuere
Forschungen bei den Chacostämmen“ (25. Juni 1942).24
10 Zum Berliner Museum und seinen Mitarbeitern während der NS-Zeit vgl. Schindlbeck 2013.
11 Vgl. Stoecker 2008, 39–121.
12 Vgl. ebd., 122–146 sowie Gingrich zur LFVO in diesem Band. Zu Westermann vgl. auch Mischek 1996; 2000b.
13 Zu Wölfel siehe Rieger 2002 sowie Rohrbacher in diesem Band.
14 Vgl. Liehr/Maihold/Vollmer 2003.
15 Zu Eugen Fischer vgl. Lösch 1997.
16 Vgl. z.B. Schmuhl 2003; Schmuhl 2005. Zur Bedeutung von Westermann und Eugen Fischer für die Völkerkunde
zu jener Zeit vgl. Mischek 2000b.
17
18 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 71 (1939), 139.
19 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 72 (1940), 154; zu Abel siehe Taschwer
2015b.
20 Zu Gusinde vgl. Gütl 2010 sowie Rohrbacher in diesem Band.
21 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 72 (1940), 154.
22 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 73 (1941), 110.
23 Zu Becker vgl. Feest in diesem Band.
24 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 74 (1942), 163.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 747
Ihr Presseorgan, die „Zeitschrift für Ethnologie“ (ZfE), in dem Fachgelehrte aus Deutsch-
land wie aus dem Ausland bis heute publizieren, versandte die BGAEU auch im Austausch
gegen andere Periodika. Der Zeitschriftenaustausch mit dem Anthropos-Institut brach auch
nicht ab, als sich dieses Institut ab 1938 gezwungenermaßen eine neue Bleibe in der Schweiz
einrichtete. Das lief nicht immer ganz reibungslos ab, da offensichtlich auch Sendungen an die
„frühere Adresse gegangen [waren] und infolge des Überganges dieses Hauses in andere
Hände nicht [...] weitergeleitet worden sind“.25
Das Wiener Anthropologische Institut beantragte am 3. Oktober 1941, „rückwirkend ab
Jänner 1940 Mitglied Ihrer Gesellschaft zu werden“26 und bat um Zusendung der entsprechen-
Tuáreg (Ímohag) der Sahara“ des Wieners Ludwig G. A. Zöhrer (1906–1983)27 und ein Bei-
trag „Der prähistorische Mensch von Sumatra“ des Niederländers Frederic Martin Schnitger
(1900–1945)28, der in Wien lebte und am Völkerkundemuseum wirkte.29
Der „Fall Krickeberg“ und seine Bedeutung für die Verbindung Berlin–Wien
Schriftleiter der ZfE war seit 1927 Hermann Baumann (1902–1972)30, der 1934 ferner die
Geschäftsleitung der BGAEU übernommen hatte. Baumann nutzte die ZfE, um sich in der
Auseinandersetzung um das „Lehrbuch für Völkerkunde“, das 1937 erschien, zu positionie-
ren. Dieses Lehrbuch war zwar von dem Rechtswissenschafter und Völkerkundler Leonard
Adam (1891–1960) konzipiert worden, wegen seines jüdischen Familienhintergrunds wurde
jedoch nicht er, sondern Konrad Theodor Preuss (1869–1938) als Herausgeber genannt. Auf
theoretischer Ebene standen sich in der Debatte Kulturhistoriker und Funktionalisten gegen-
über.31 Darüber hinaus warf Richard Thurnwald (1869–1954)32 Baumann sowie dem Ameri-
ka-Experten Walter Krickeberg (1885–1962) vor, sie gehörten „der ‚Volksfront‘ einer von
Herrn Pater Wilhelm Schmidt geleiteten Schule“ an und dieser habe „eine gegen den Natio-
nalsozialismus gerichtete Propaganda entfaltet“,33 womit Thurnwald gleichfalls seine Hal-
tung zu seinem Fachkollegen in seiner eigenen Geburtsstadt Wien zum Ausdruck brachte.
Auch sein Schüler Wilhelm Emil Mühlmann (1904–1988)34 stellte sich vehement gegen die
in Wien vertretene „Kulturkreislehre“ und hatte keineswegs vor, „Schmidt zu schonen“.35 In
der ZfE distanzierte sich Baumann zunächst politisch von Pater Wilhelm Schmidt (1868–
1954)36, er sei weder ein „‚verbrieften Anhänger‘ P. W. Schmidts“ noch bilde er mit Kricke-
berg und Schmidt „eine ‚Volksfront‘“. Von „politischen Gemeinsamkeiten“ zwischen ihnen
25 Archiv der BGAEU, PUB 798; Josef Henninger, 25. September 1942, an die BGAEU.
26 Archiv der BGAEU, MIT 448; Tuppa, 3. Oktober 1941, an die „Anthropologische Gesellschaft, Berlin“.
27 Zu Zöhrer vgl. Dick/Stoecker in diesem Band.
28 Zu Schnitger siehe Anderl/Mittersakschmöller in diesem Band.
29 Vgl. Schnitger 1940; Zöhrer 1940. In jenem Jahr wurde auch die Dissertation „Zur Physiologie und Anthropologie
der Zigeuner in Deutschland“ des Mediziners Gerhart Stein (1910–1979), zeitweise Mitarbeiter in der Rassenhy-
gienischen Forschungsstätte unter Robert Ritter (1901–1951), in der ZfE abgedruckt (Stein 1940).
30 Zu Baumann vgl. Braun 1995; Heintze 2001 und 2007; Straube 1972 sowie Gohm-Lezuo und Gohm/Gingrich in
diesem Band.
31 Die als „Fall Krickeberg“ in die Geschichte der Ethnologie eingegangene Angelegenheit wurde bereits wiederholt
behandelt und soll hier nicht erneut im Detail erläutert werden (vgl. z.B. Alvarado/Bramscher 2006; Braun 1995,
54–61; Díaz de Arce 2005; H. Fischer 1990, 63–67; Kisch 1947).
32 Zu Thurnwald vgl. Melk-Koch 1989 und 1995; Timm 1977.
33 Thurnwald 1938, 301–302.
34 Zu Mühlmann vgl. Michel 1992, 1995.
35 Mühlmann 1937, 38.
36 Zu Schmidt vgl. z.B. Brandewie 1990; Conte 1987; Mischek 2008; Rohrbacher 2016.
748 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
und Schmidt könne „auch nicht im Entferntesten die Rede sein“.37 Ausführlicher stellte Bau-
mann seinen eigenen kulturhistorischen Ansatz dem Schmidt’schen gegenüber und fasste
zusammen: „Jeder Fachmann weiß, daß die von mir aufgestellten afrikanischen Kulturen von
jener stark abweichen und die Faktoren Rasse und Umwelt zur Grundlage haben, daß es sich
z. T. um völlig neue Konzeptionen handelt, wenn sie nicht an Frobenius oder Ankermann
anknüpfen.“ Außerdem wies Baumann auf „Bemühungen der in der Arbeitsweise verwand-
ten jüngeren historischen Ethnologen“ – darunter auch Walter Hirschberg (1904–1996)38 –
hin, „das veraltete Kulturkreissystem durch Neues zu ersetzen und lebensvollere Kulturein-
heiten – von den einzelnen Erdgebieten ausgehend – in Einklang mit Rasse und Umwelt zu
erarbeiten. [...] Es geht im Jahre 1938 nicht mehr an, alle kulturhistorischen Arbeiten unter
das Stichwort ‚Wiener Schule‘ zu rubrizieren!“39 Als Baumann in dieser publizierten Erklä-
rung seinen politischen und wissenschaftlichen Standpunkt klar darstellte, war er bereits als
favorisierter Nachfolger des entlassenen Pater Wilhelm Koppers (1886–1961)40 in Wien im
Gespräch. Auf jene Stelle hofften gleichfalls Mühlmann sowie der Wiener Völkerkundler
Bernatzik.
Wie bereits bei Michel nachzulesen,41 sah Mühlmann noch viel weniger als Baumann für
sich irgendwelche „Übereinstimmungen“ mit den Patres in Wien. Auch er hatte sich positioniert
und – vermutlich im Jahr 1937 – eine mehrseitige Denkschrift verfasst, in der er sich unter
anderem auch dem „Anschluss Österreichs“ und der Bekämpfung der Wiener Schule widme-
te. Ihre Gefahr sah er in der Vernachlässigung des „Rassegedankens“, der Annahme einer
„asiatischen Urheimat der Indogermanen“ und der klerikalen Ausrichtung, die allesamt dem
Nationalsozialismus zuwiderliefen.42 Konkret stellte sich Mühlmann das Vorgehen so vor:
„Im Falle des Anschlusses Deutsch-Österreich könnte der klerikale Betrieb der Völker-
kunde in St. Gabriel-Mödling und an der Wiener Universität schon aus staatspolitischen Grün-
den nicht in der bisherigen Form bestehen bleiben. Er müßte also ersetzt, mindestens völlig
umorganisiert werden. Es gilt daher zeitig im Reich der Völkerforschung eine ansehnliche
Stätte zu schaffen, die sich im Falle des Anschlusses selbst oder mit einem Tochterinstitut an
die Stelle des Anthropos-Instituts in St. Gabriel und des Uni.-Instituts in Wien setzen kann.“43
An wen diese Denkschrift adressiert war und ob sie überhaupt abgesandt wurde, ist bislang
nicht geklärt. Als 1938 Mühlmanns „Methodik der Völkerkunde“ erschien, datierte er sein
Vorwort auf den „13. März 1938“ mit dem Zusatz „am Tage der Rückkehr Österreichs ins
Reich“.44
An diesen Querelen um politische und wissenschaftliche Zuschreibungen beteiligte sich
auch Bernatzik, für dessen „Große Völkerkunde“ Baumann den Abschnitt über Afrika (süd-
lich der Sahara) übernommen hatte.45 Während in Wien über die Nachfolge von Koppers
beraten wurde, beschuldigten Bernatzik und Baumann einander gegenseitig der Intrige.
37 Baumann 1938, 124, Herv. im Orig.
38 Zu Hirschberg vgl. Dick 2009; Wernhart 1997 sowie Baldwin in diesem Band.
39 Baumann 1938, 124.
40 Vgl. Burgmann 1961; Haekel 1961 und die Beiträge von Gohm-Lezuo und Gingrich sowie zu Koppers Rohrba-
cher in diesem Band.
41 Michel 1992.
42
W. Schmidt stünden (Denkschrift Mühlmann, zit. nach Michel 1992, 82), seien folgende Personen in Wien jener
Schule zuzurechnen: Die Patres Damian Kreichgauer (1859–1940), Koppers, Gusinde, Schebesta, Höltker, Rudolf
Rahmann (1902–1985), Fritz Bornemann (1905–1993), außerdem Lebzelter „(katholischer Jude) kürzlich verstor-
ben“, R. Heine-Geldern „(katholischer Jude)“, Röck, „Pater Wölfel [sic]“, Hirschberg, Bleichsteiner, Walk, Meng-
hin und Wolfgang Amschler (1893–1957) (Denkschrift Mühlmann, zit. nach Michel 1992, 108).
43 Denkschrift Mühlmann, zit. nach Michel 1992, 83.
44 Mühlmann 1938, IV.
45 Vgl. WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.3.2.1.1.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 749
Bernatzik versuchte sich im Oktober 1938 mit Mühlmann zu verbünden und bat ihn um ein
„Seperatum Ihrer Stellungnahme zu den Arbeiten von Baumann“ sowie „um eine Darstellung
Ihrer letzten Zusammenstöße mit Baumann“.46 Wenige Tage später brachte Mühlmann seine
„Erwiderung gegen Krickeberg“ und noch „einige andere Sonderdrucke, soweit vorhanden“
auf den Postweg.47 Baumann seinerseits bezog in der sogenannten „Causa Gerlach“ deutlich
Stellung gegen Bernatzik, dem unter anderem bis hinauf zur Ministerebene wissenschaftliche
Fälschung und Sensationshascherei vorgeworfen wurde.48 Ein entsprechendes explizites
Schriftstück von Baumann liegt etwa vom 18. Februar 1939 vor.49 Weder Mühlmann noch
Bernatzik konnten sich gegen Baumann durchsetzen.50 Anfang 1940 legte Baumann schließ-
lich in Berlin alle Ämter nieder, folgte dem Ruf nach Wien und setzte dort nun – wenngleich
mit vollkommen anderen Prämissen als Koppers – den kulturhistorischen Ansatz fort. Sein
regionaler Schwerpunkt lag dabei weiterhin auf Afrika.
Kunz Dittmer, Hans Nevermann und ihre Verbindungen nach Wien
In Berlin übernahm Kunz Dittmer (1907–1969)51 bis 1941 die Geschäftsführung der BGAEU.
Der in Leipzig geborene Dittmer hatte in München, Berlin und Leipzig studiert, bevor er im
Oktober 1929 sein Studium in Wien fortsetzte.52 Hier promovierte er 1933 mit einer Arbeit
über „Die Herkunft der Spiralornamentik in Ozeanien“ bei dem Kunsthistoriker Josef Strzy-
gowski (1862–1941) und dem Prähistoriker Oswald Menghin (1888–1973)53 im Fach „Kunst-
geschichte in Verbindung mit Urgeschichte und Ethnologie“.54 Strzygowski schrieb in seinem
Gutachten, Dittmer habe bei „Heine-Geldern und Menghin [...] durch Vorlesungen und Übun-
gen“ methodische Ergänzung auf dem Gebiet der Kunstgeschichte erfahren, „weil die ethno-
logische z.B. eines Gräbners versagte“.55 Bald nach Abschluss seiner Promotion kehrte Ditt-
mer nach Deutschland zurück, um im Mai 1934 in Berlin die Stelle am Völkerkundemuseum
antreten zu können.
Während Dittmers Zeit als Geschäftsführer der BGAEU ging das Manuskript des Wiener
Kollegen Wölfel, „Die Südseekeulen“, bei der ZfE ein. Es handelte sich dabei um Wölfels
Habilitationsschrift aus dem Jahr 1936. Diese Angelegenheit erscheint geradezu wie eine leise
Fortsetzung der Auseinandersetzung um das „Lehrbuch für Völkerkunde“: Zunächst hatte
nämlich Wölfel die Arbeit zur Veröffentlichung beim Archiv für Anthropologie und Völker-
forschung eingereicht – Schriftleiter war Mühlmann, Mitherausgeber Thurnwald. Wölfel hatte
46 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.478.; Bernatzik, 29. Oktober 1938, an Mühlmann.
47 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.478.; Mühlmann, 14. Dezember 1938, an Bernatzik.
48 Vgl. Byer 1999, 183–224.
49 Vgl. Byer 1999, 195–196.
50 Vgl. Gohm/Gingrich 2010 sowie Gohm/Gingrich und Matczak in diesem Band; Michel 1992, 84.
51 Zu Dittmer vgl. Schott 1969; Tietmeyer 2001.
52 Nach eigenen Angaben besuchte Dittmer hier insbesondere Vorlesungen Strzygowski, Koppers, W. Schmidt,
Menghin, Heine-Geldern, Robert Reininger (1869–1955) und Moritz Schlick (1882–1946) (UAW, PH RA 11.629;
Kunz Dittmer: „Curriculum vitae“ (o.D.), am 5. September 1933 eingereicht).
53 Zu Menghin vgl. Urban 1996; 2015 sowie Urban in diesem Band.
54 UAW, PH RA 11.629; Kunz Dittmer, 5. September 1933, an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Univer-
sität Wien.
55 Ebd.; Strzygowski: Beurteilung der Dissertation von Kunz Dittmer, 19. September 1933.
750 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
sich jedoch geweigert, die von den Herausgebern geforderten Veränderungen vorzunehmen,
wie z. B. Kulturkreise und bestimmte Namen nicht zu erwähnen.56
Dittmer hingegen, der sich selbst dem kulturhistorischen Ansatz verbunden fühlte, zeigte
gerade wegen dieses Ansatzes großes Interesse, Wölfels Beitrag in der ZfE aufzunehmen. Er
halte es „für besonders begrüßenswert, daß damit wieder einmal eine kulturhistorische Arbeit,
in der bewußt die Gräbner’schen Kriterien angewendet werden, vorliegt“57 und war bereit, die
gesamte Arbeit „ungeteilt“ zu veröffentlichen.58 Wölfel, der im August 1938 handschriftlich
ein positives Gutachten für Baumann, einen der „hervorragendsten und tüchtigsten Ethnolo-
gen Deutschlands“, verfasst hatte59, freute sich über das Interesse und erläuterte, ihm seien als
„Kulturhistoriker“ die „historischen Methoden selbstverständlich“. Er betonte ferner, dass er
„viel engeren Anschluss an historische und archäologische Methoden suche, als Gräbner sel-
ber das tut“. Mit seiner Arbeit, so Wölfel, würde er „gewissermaßen eine Methodenlehre der
Objektforschung“ bieten, indem er „ethnologische Tatbestände erarbeitet“ und nicht „wie bei
Gräbner, Schmidt usw, hauptsächlich [...] interpretiert. Sie sehen ja, welchen Wert ich dem
‚Funktionellen‘ beilege, obwohl ich nichts weniger als ein ‚Funktionalist‘ bin.“60
Schon in Wien hatte sich Dittmer „im Koppers-Seminar“ für Wölfels Kanaren-Forschung
sowie für die „Torriani-Ausgabe“ sehr interessiert. Er erklärte sich mit einer von Wölfel zuge-
sagten späteren Zusendung des zweiten Teils einverstanden.61 Wölfel unterrichtete W. Schmidt
im Schweizer Exil, dass die ZfE seine Arbeit „ohne einen Anspruch auf Aenderungen, zum
Abdruck angenommen“ habe. Dies bedeute sicher nicht nur für ihn selbst, „sondern auch für
Sie eine besondere Genugtuung“.62 Wölfel plante, seinen Beitrag vor dem Antritt seiner Stelle
an der „Universität der kanarischen Inseln [...] im Oktober 1941“ druckfertig abzuliefern. Er
ging noch davon aus, anlässlich seines Vortrages in Berlin im Juni 1941 Dittmer zu treffen,63
dieser wurde jedoch zuvor zum Kriegsdienst eingezogen. Wölfels Ausreise nach Spanien
wurde vom Sicherheitsdienst der SS unterbunden. Seine Arbeit über die Südseekeulen vollen-
dete er dennoch nicht für die ZfE, da er seine Energie für andere Aufgaben und Herausforde-
rungen bündelte.64
Die Schriftleitung der ZfE übernahm 1941 Hans Nevermann (1902–1982).65 In dieser
Funktion stand er im Kontakt zu dem auf Java geborenen Niederländer Schnitger, dessen
Buch „Forgotten Kingdoms in Sumatra“ (1939) Nevermann noch im selben Jahr in der ZfE
rezensiert hatte. Das Buch entspräche, so Nevermann, „einem wirklichen Vielkönnen und
Vielwissen des Verfassers“.66 Jener Band enthielt gleichfalls einen Beitrag von Fürer-Haimen-
dorf über die Megalithenkultur der Naga und Khasi, die nach Schnitger in Verbindung mit den
Megalithen von Nias standen. Schnitger wollte nun „Die nackten Nagas“ von Fürer-Haimen-
dorfs in der ZfE besprechen: „Es ist sehr schön geschrieben und ausserdem bin ich mit F.H.
56 Rohrbacher, E-Mail 2017. Am 19. Juli 1946 sollte Wölfel bescheinigen: Mühlmann „verschaffte mir Vortrags- und
Publikationsmöglichkeiten, obwohl er meine politische und weltanschauliche Einstellung gegen den Nationalso-
zialismus [...] gut kannte. [...] Seine Haltung scheint mir umso bemerkenswerter, als ich ja aus einem ihm entge-
gengesetzten wissenschaftlichen Lager kam und er so seine ehrliche Objektivität umso deutlicher erweisen konn-
te.“ (BArch, N 1450/16).
57 Archiv der BGAEU, PUB 705; Dittmer, 27. November 1940, an Wölfel.
58 Ebd.
59 WMW Archiv; D38/293; Wölfel, 22. August 1938.
60 Archiv der BGAEU, PUB 705; Wölfel, 4. Dezember 1940, an Dittmer, Herv. im Orig.
61 Archiv der BGAEU, PUB 705; Dittmer, 12. Dezember 1940, an Wölfel.
62 AG SVD, NL Schmidt 1938–1953, Ordner 18; Wölfel, 17. Dezember 1940, an P. W. Schmidt; das Dokument
wurde mir dankenswerterweise von Peter Rohrbacher zur Verfügung gestellt.
63 Archiv der BGAEU, PUB 705; Wölfel, 29. Mai 1941, an Dittmer.
64 Siehe Rohrbacher zu Wölfel in diesem Band.
65 Zu Nevermann vgl. Seethaler 2014; Zepernick 1985.
66 Nevermann 1939. Zu Schnitger siehe Anderl/Mittersakschmöller in diesem Band.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 751
befreundet.“67 Zu Schnitgers großen Freude68 war Nevermann gleichfalls der Meinung, Fürer-
Haimendorf habe „es gewiss verdient, dass sein Buch etwas hervorgehoben wird“.69 Dieser
befand sich zu dieser Zeit in Indien angeblich weiterhin in britischer Internierung, de facto
jedoch war er dort längst für die Briten tätig.70
Nevermann kam auch Schnitgers Bitte nach, dessen Text „über den paläolithischen Men-
schen auf Sumatra [...] gleichzeitig mit meinem Nias-Artikel erscheinen“ zu lassen.71 Seine
ebenfalls 1941 publizierte Schrift „Schönes Indonesien“ überreichte Schnitger „als persönli-
ches Geschenk“ Nevermann.72 Rezensiert wurde sie vom Direktor des Museums für Völker-
kunde in Zürich, Alfred Steinmann (1892–1974), in der ZfE.73 Von Schnitger erschienen 1942
und 1943 noch Beiträge in „Paideuma“, dem Journal des Frankfurter Instituts für Kulturmor-
phologie.74 Schnitger wollte Wien verlassen, wo er immer wieder in Schwierigkeiten geriet.75
Im März 1943 wurde er endgültig dem „normalen“ Leben und wissenschaftlichen Wirken
entrissen und von der Gestapo verhaftet. Von verschiedenen Seiten wurden Schnitger unter-
schiedlicher Vergehen, darunter politische Straftaten wie Landesverrat und „Rundfunkverbre-
chen“ vorgeworfen. Seine Verurteilung erfolgte im Dezember 1944.76 Schnitger wurde in das
KZ Mauthausen gebracht, wo er einen Tag nach seinem 33. Geburtstag am 23. April 1945
starb, rund zwei Wochen, bevor die US-Armee das Konzentrationslager befreite.77
Flucht nach NS-Deutschland: Der Wiener Orientalist und
Lappland-Forscher Anton Rudolf Em
Ein Wiener Wissenschafter, der von Österreich in das nationalsozialistische Deutschland
-
entalist und Lappland-Forscher Anton Rudolf Em (1902–unbekannt). Em, 1902 in Wien gebo-
ren und in Wels aufgewachsen, nahm nach der Matura 1922 das Studium an der Universität
Wien auf, um sich der türkischen, armenischen und arabischen Sprache sowie der Philosophie
zuzuwenden.78 1923 und 1924 studierte er an der Universität Greifswald. Zum Wintersemester
1924/25 kehrte Em wieder nach Wien zurück. Entgegen seinen eigenen Angaben von 1937, er
habe „orientalische Sprachkunde, Rassen- u. Völkerkunde und Geopolitik“ studiert,79 besuch-
te er seiner „Nationale“ (universitäre Dokumentation) zufolge zumindest in Wien keine anth-
ropologischen bzw. „rassenkundlichen“ Veranstaltungen. Em hatte sein Studium nach dem
67 Archiv der BGAEU, PUB 777; Schnitger, 24. Juni 1941, an Dittmer.
68 Ebd.; Schnitger, 18. Juli 1941, an Nevermann.
69 Ebd.; Nevermann, 11. Juli 1941, an Schnitger.
70
71 Archiv der BGAEU, PUB 777; Schnitger, 18. Juli 1941, an Nevermann. Der erste Artikel wurde noch in die bereits
Schnitger; vgl. Schnitger 1940). Da Schnitger den Beitrag erst im Juli 1941 eingereicht hatte, kann dies nur bedeu-
ten, dass das Heft 4/6 (1940) der ZfE tatsächlich erst 1941 erschienen ist. Die „Lieder von Nias“ wurde in der
darauffolgenden Ausgabe der ZfE publiziert (vgl. Schnitger 1941).
72 Archiv der BGAEU, PUB 777; Schnitger, 29. Juli 1941, an Nevermann.
73 Steinmann 1940.
74 Vgl. Schnitger 1942 und 1943.
75 Schnitger strebte zeitweise die deutsche Reichsangehörigkeit an und zeigte sich auch bereit, in den Krieg zu zie-
hen. Zum Zeitpunkt seiner Korrespondenz mit Nevermann hatte ihm Bernatzik ein Stipendium des Reichsfor-
schungsrates vermittelt; vgl. Byer 1999, 232–239; siehe dazu auch den Beitrag zum Museum (Plankensteiner) und
Cazan-Simányi sowie Anderl/Mittersakschmöller in diesem Band.
76 Vgl. Gohm-Lezuo 2014, 90–91.
77 DÖW-Datenbank: Liste der Gestapo-Opfer, Schnitger Martin. Näheres dazu siehe Anderl/Mittersakschmöller in
diesem Band.
78 UAW Nationale Philosophen WS 1922/23 D–Fe.
79 ÖStA, AdR, BMfI, GA 323.886; „Eidesstattliche Erklärung“, 18. Februar 1937.
752 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Tod von Rudolf Pöch (1870–1921) begonnen. Als er aus Greifswald zurückgekehrt war, hatte
Otto Reche (1879–1966) die Leitung des Anthropologisch-Ethnologischen Instituts in Wien
übernommen, das sich unter seinem Vorstand zu einer Adresse für nationalistische und völki-
sche Betriebsamkeiten entwickelte.80 Hinweise zu näheren Kontakten Ems zu den Anthropo-
logen am Institut liegen bislang nicht vor. Zu seinen Lehrern in der Völkerkunde zählten
Bleichsteiner, vor allem aber Röck.81 Nach eigenen Angaben unternahm Em während seines
Studiums Reisen in die Türkei, nach Griechenland, in die Schweiz, nach Frankreich und nach
Ungarn.82
1928 promovierte er im Fach Orientalistik bei Friedrich Johann Kraelitz von Greifenhorst
(1876–1932) und Rudolf Geyer (1861–1929)83 mit der Arbeit „Ein Beitrag zur mongolischen
Sprachgeschichte dargestellt aus Ibn Muhannas Arabisch-Mongolischem Vocabular“.84 Im
Herbst 1928 ging Em für zwei Jahre nach Lappland, wo er die Rentierzucht „nicht nur unter-
sucht, sondern selbst als praktische Ausübung erlernt[e] “.85 Nach Wien zurückgekehrt, ar-
beitete er von 1931 bis Anfang 1935 als Bibliothekar am Orientalistischen Institut in Wien.86
Em war Mitglied des Wiener Vereins Völkerkunde, der Anfang Juli 1933 – also wenige
Monate nach Beginn des NS-Regimes in Deutschland – gegründet worden war. Ob dieser
Verein eine Alternative zur Gesellschaft für Völkerkunde darstellen sollte, lässt sich nur ver-
muten. Im Gegensatz zu der in Leipzig gegründeten Gesellschaft für Völkerkunde war jener
Wiener Verein jedoch weniger akademisch ausgerichtet, sondern sah seinen „Zweck“ in der
„Weckung und Belebung des Interesses der Oeffentlichkeit für Völkerkunde bezw. Kultur-
und Kunstgeschichte im weiteren Sinne. Der Zweck des Vereins sollte durch Vorträge, Kurse,
Führungen, Exkursionen und durch Veranstaltungen erreicht werden.“87 Im Vorstand waren
folgende Personen aktiv: Fritz Röck (1879–1953)88 (Obmann), Arthur Haberlandt (1889–
1964) und Andreas Reischek (1892–1965) (Obmannstellvertreter), Anton Rudolf Em, Walter
Hirschberg und Hellmut Wolfram (Lebensdaten unbekannt) (Schriftführer), Hans Kinzl
(1898–1979) (Säckelwart), Adelgard Perkmann (1897–1946)89 (Rechnungsführerin), Richard
Ernst (1885–1955), Robert Bleichsteiner (1891–1954), Josef Wastl (1892–1968), Robert Rou-
(1893–1968) und Aloisia Bierenz (1896–unbekannt) (Beiräte).90 Welche die Tätigkeiten des
Vereins waren, geht aus dem Akt des Vereinsbüros nicht hervor und müsste noch recherchiert
werden. Auffallend ist, dass die Personen, die bei der „gründenden Versammlung des Vereins
Völkerkunde am 5.VIII.“ in den Vorstand gewählt wurden, überwiegend am Naturhistorischen
Museum angestellt waren und großteils nicht als Gegner der nationalsozialistischen Bewe-
gung in Erscheinung traten. Eine Ausnahme bildete hier sicherlich die Volkskundlerin
80 Zu Reche vgl. Geisenhainer 2002 sowie die Beiträge „Gescheiterte Interventionen“, „Rassenkunde und Rassen-
hygiene ... (1923–1938)“ und „Auseinandersetzung um die institutionelle Verortung ... (1938–1943)“ in diesem
Band.
81 UAW Nationale Philosophen SS 1925 und 1926, WS 1926/27, jeweils Buchstaben C–E.
82 BArch, R 9361-III/38569; A. R. Em: „Lebenslauf“ zum Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, o.D.
(ca. 1939, Em gibt unter „jetzt Alter: 37 Jahre“ an).
83 Zu Geyer vgl. die Beiträge von Geisenhainer „Rassenkunde und Rassenhygiene ... (1923–1938)“ und „Auseinan-
dersetzung um die institutionelle Verortung ... (1938–1943)“ in diesem Band.
84 UAW, PH RA 9.926, Beurteilung der Dissertation von Anton Em; Kraelitz, 18. Mai 1928, Geyer 21. Mai 1928.
85 Em 1937, 31.
86 BArch, R 9361-III/38569; A. R. Em, „Lebenslauf“ zum Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, o.D.
(ca. 1939).
87 ÖStA, AdR, BKA BKA-I BPDion Wien VB, XIV 1163; „Satzung des Vereins ‚Völkerkunde‘“.
88 Zu Röck vgl. Rohrbacher in diesem Band.
89 Zu Perkmann vgl. Nikitsch 1999.
90 ÖStA, AdR, BKA BKA-I BPDion Wien VB, XIV 1163; Röck, Wolfram, am 8. Juli 1933, an das Vereinsbüro der
Polizeidirektion Wien.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 753
Adelgard Perkmann, die sich, so Nikitsch 1999 in einem fachgeschichtlichen Beitrag, zwar
„ab 1934 linientreu mit ständestaatlicher Kulturpolitik fühlen konnte“,91 im April 1938 aber
„aus rassischen Gründen“ aus ihrem Dienst am Volkskundemuseum entlassen wurde.92 Neben
Perkmann war eine Reihe weiterer Volkskundler Mitglied des Vereins, während sich hier of-
fensichtlich keine Ordensbrüder aus Mödling einbrachten.
Em trat nach dem Verbot der NSDAP im Oktober 1933 in die Partei ein (österreichische
„Verbotsnummer“ 3.237) und fungierte hier „zuerst als Blockwart, dann als Sprengelleiter und
bis Februar 1935 als Kreisschulungsleiter“.93 In seinem Lebenslauf, den er später für das
Rasse- und Siedlungshauptamt verfassen sollte, heißt es außerdem: „Seit 1934 gehörte ich
auch der SA an, zu der ich schon seit 1931 durch meinen Schwager Brigadeführer Löwe in
Beziehung stand.“94
Einem Zeitungsbericht zufolge meldete sich Em im Februar 1935 am Orientalistischen
Institut krank. Als nach einer Woche weder er persönlich noch eine Nachricht von ihm er-
schien, habe man mit Nachforschungen begonnen. Seine Vermieterin, bei der Em seit rund
fünfzehn Jahren zur Untermiete in der Straußengasse im fünften Bezirk gewohnt hatte, wurde
zitiert: Nichts habe darauf hingewiesen, dass Em geplant habe, nicht mehr zurückzukehren,
als er ohne ein Wort das Haus verlassen habe.
„Ob er sich nach Deutschland gewendet hat? Mir hat er immer wieder nur gesagt: ‚Mich
interessiert nur die Wissenschaft und sonst nichts. Ich stehe in keinem Parteilager‘.“ Ems
„Freundeskreis“ hielt es hingegen für durchaus vorstellbar, dass Em in das nationalsozialisti-
sche Deutschland gegangen war, gemeinsam mit seiner Freundin, die gleichfalls vermisst
wurde. Er habe „wiederholt seine Begeisterung für das Dritte Reich ausgesprochen“.95
91 Nikitsch 1999, 365.
92 Ebd., 367.
93 BArch, R 9361-III/38569; A. R. Em: „Lebenslauf“ zum Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, o.D.
(ca. 1939); vgl. auch Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, UK E 137; Personalnachrichten Anton Rudolf
Em, aufgestellt am 22. Mai 1936. BArch, R 9361-I/652. Parteistatistische Erhebung 1939, von Em ausgefüllt und
am 5. Juli 1939 unterschrieben.
94 BArch, R 9361-III/38569; A. R. Em: „Lebenslauf“ zum Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, o.D.
(ca. 1939); vgl. auch ÖStA, AdR, BMfI, GA 323.886; Personalfragebogen, von Em unterschrieben am 18. August
1938.
95 Der Morgen 1935, Herv. im Orig. (Abb. 22.1).
Abb. 22.1
Zeitungsartikel über den in Wien vermissten Anton Em und seine Lebensgefährtin, 25. März 1935. Em war zu diesem
754 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
-
tet. Bei der Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe der Notgemeinschaft der Deutschen
Wissenschaft beantragte er erfolgreich ein „Stipendium zwecks Fortführung meiner wissen-
schaftlichen Ausbildung“.96
Flüchtlingshilfswerk97 und außerdem, als ihm schließlich eine Anbindung an die Berliner Uni-
versität gelang, auch durch das REM. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche
Schreiben des Gauleiters Franz Hofer (1902–1975), gebürtiger Österreicher und seit 1937
Leiter der „Politischen Leiter- und Mitgliedersammelstelle für Österreicher in Deutschland“,
die mit dem NSDAP-Flüchtlingshilfswerk zusammenarbeitete. In diesem Brief hieß es unter
anderem, man hoffe, Em „beim Aufbau der NSDAP in Österreich wieder aktiv einzusetzen
und dadurch Ihre während Ihres Aufenthaltes im Reiche erworbenen Kenntnisse und Erfah-
rungen weiterhin der Bewegung nutzbar zu machen“.98 Em trug in dem mitgesandten Formu-
lar99 dick auf und gab als Beruf „Institutsleiter“ an.100 Er blieb jedoch in Berlin, wo er offen-
sichtlich auch von Baumann protegiert wurde, wie weiter unten noch aufgezeigt wird. Am
16. Juli 1938 heiratete Em seine Lebensgefährtin Gertrud Goebel.101 Im August 1938 trat er
auch in Deutschland in die NSDAP ein. In jenem Jahr begann er gleichfalls, „ehrenamtlich im
SD tätig“ zu sein102 und bewarb sich nach eigenen Angaben um die SS-Mitgliedschaft.103
Gleichfalls 1938 erschien in der „Zeitschrift für Geopolitik“ Ems Beitrag „Das karelische
Spannungsfeld“, in dem er wohl die ersten Ergebnisse seiner letzten Lappland-Reise präsen-
tierte. Wie vor seiner Reise in einem Schreiben an das NSDAP-Flüchtlingshilfswerk angekün-
digt, bewegten sich seine Ausführungen „in historisch-politischen und menschengeographi-
schen Bahnen“, während die „indogermanisch-karelischen und die germanisch-lappischen
Beziehungen in Ur- und Frühzeit“ nahezu keinen Raum einnahmen, obwohl er sie hatte be-
handeln wollen.104
Den regionalen Schwerpunkt teilte sich Rudolf Em teilweise mit dem Thurnwald-Schüler
Hans Findeisen (1903–1968)105, der gleichfalls überwiegend in Berlin ansässig war. Findei-
sens wissenschaftliche Reputation war umstritten. Krickeberg, Preuß und Baumann hatten
sich 1931/32 schriftlich gegenüber Koppers deutlich von Findeisens Rezension des
Koppers’schen Artikels „Familie“ im von Alfred Vierkandt (1867–1953) herausgegebenen
„Handwörterbuch der Soziologie“ distanziert.106 Bis 1934 war Findeisen am Berliner Museum
für Völkerkunde angestellt. Im selben Jahr wurde er förderndes SS-Mitglied und konnte einen
Lehrauftrag an der Berliner Universität übernehmen, jedoch ohne Vergütung. Es folgte eine
vorübergehende Beschäftigung am Frankfurter Institut für Kulturmorphologie im Winterse-
96 ÖStA, AdR, BMfI, GA 323.886; Em, 17. April 1935, an die Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe der Not-
gemeinschaft der Deutschen Wissenschaft.
97 Siehe ÖStA, AdR, BMfI, GA 323.886 und HUB-Archiv, E 055, PA Em.
98 ÖStA, AdR, BMfI, GA 323.886; Hofer, 28. Mai 1938, an Em.
99 Ebd.; Hofer, 5. Juni 1938, an Em: Es sei „aus organisatorischen, bezw. statistischen Gründen die Erfassung aller
im Reich lebenden ehemaligen österreichischen Politischen Leiter nötig“.
100 Ebd.; Personalfragebogen, von Em unterschrieben am 18. August 1938.
101 HUB-Archiv, E 055, PA Em; Personalbogen, Eing. 1. Juli 1939 (Stempel).
102 BArch, R 9361-III/38569; A. R. Em: „Lebenslauf“ zum Fragebogen des Rasse- und Siedlungshauptamtes, o.D.
(ca. 1939); BArch, R 9361-I/652; Parteistatistische Erhebung 1939, von Em ausgefüllt und am 5. Juli 1939 unter-
schrieben.
103 Landesarchiv Berlin; C Rep. 375-01-08 Nr. 9414 A. 09; „Fragebogen für Parteimitglieder“, von Em ausgefüllt und
am 28. Oktober 1939 unterschrieben.
104 ÖStA, AdR, BMfI, GA 323.886; Em, 30. September 1937, an das NSDAP-Flüchtlingshilfswerk.
105 Zu Findeisen vgl. Habeck/Dudeck 2018; Mosen 1991; hier auch weitere Informationen zu Findeisens geplanten
Eurasien-Abteilung im SS-„Ahnenerbe“.
106 Ausschnitte jener Schreiben zitiert Koppers im Anthropos (vgl. Koppers 1931 und 1932).
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 755
mester 1936/37.107 Im Gegensatz zu Em bemühte sich Findeisen vergeblich um Unterstützung
durch das REM. Ihm wurde Nähe zum Bolschewismus, liberalistische Gedanken und außer-
dem auch Plagiate unter anderen vonseiten Ems vorgeworfen.108
Findeisen hatte für Bernatziks „Große Völkerkunde“ Beiträge verfasst.109 Offensichtlich
äußerte sich Em zu jener Zeit negativ über Findeisens wissenschaftliche Qualitäten, und Bau-
mann nahm dies zum Anlass, Bernatzik vor Findeisen zu warnen. Bernatzik verteidigte
Findeisen, gegen den nach seinen eigenen Recherchen weder politische noch wissenschaftli-
che Bedenken vorlägen. Nach Bernatziks Auffassung konnte sich Em mit Findeisen gar nicht
messen.110
Baumann hingegen hatte „Em als Beirat des Museums nominiert“. Em habe „lediglich in
Wahrung wissenschaftlicher Interessen geschrieben“. Im Übrigen sei „Ems nationalsozialisti-
sche Einstellung“ entgegen Bernatziks Behauptung „über jeden Zweifel erhaben“.111 Findei-
sen, der von Bernatzik den Brief von Baumann erhalten hatte, wollte sich auf eine Auseinander-
setzung mit Em nicht einlassen: „Nein, die ganze Schwere meines Zornes wird ausschließlich
auf Baumann niedergehen.“112 Gegenüber seinem Kollegen Bernhard Struck (1888–1971)113
habe Findeisen „auf ausdrückliche Empfehlung von Dr. Heydrich mit der Arbeit betraut,
nachdem ich mich bei Bleichsteiner sowie Dr. Fürer-Haimendorf näher erkundigt hatte“. Em
habe er nur einmal getroffen und „recht gut mit ihm gesprochen“, er „kenne von ihm nichts
und habe persönlich gegen ihn nicht das Geringste einzuwenden“. Da er Em „als Mitarbeiter
für Nordasien dachte“, habe er sich um dessen Adresse bemüht, jedoch vergeblich:
„Es hieß, er wäre verschollen. Als ich in hiesigen Parteikreisen die Sache besprach [...] hat
Dr. Hirschberg in überzeugender Weise über Ems politische Tätigkeit ausgesagt und ich habe
daraufhin [...] meine Zweifel bezüglich Ems politischer Tätigkeit richtiggestellt. Wir waren in
Wien so gut getarnt, daß ich tatsächlich von ihm nicht [sic] gehört hatte, trotzdem wir für
dasselbe Ziel kämpften. Es sind gerade jetzt merkwürdig viel ‚versteckte’ Freunde des Natio-
nalsozialismus aufgetaucht, daß ich im ersten Augenblick Em in Gedanken Unrecht tat und
dachte, ihn zu diesen rechnen zu müssen. Es freute mich aber aufrichtig, durch Hirschberg, mit
dem er in direktem persönlichen Kontakt stand, eines Besseren belehrt worden zu sein.“114
Als Baumann zwei Jahre später seine Stelle in Wien angetreten hatte, kam Bernatzik er-
neut gegenüber Struck auf diese Angelegenheit zu sprechen:
„Baumann wollte anstelle Findeisen Em als Mitarbeiter zur ‚Völkerkunde‘. Da Em’s
Schwager in hoher Parteistellung nach Wien geschickt wurde, rechnete er damit, daß ihm
derselbe ‚seinen Weg‘ bereiten würde. Er zog ihn an sich heran und machte ihn zum Beirat des
Museums für Völkerkunde in Berlin. Diese Umstände waren mir damals allerdings
unbekannt.“115
107 Vgl. Universität Frankfurt/Main 1936, 41 und Geisenhainer 2016b, 47.
108 Vgl. WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.3.2.1.3.; Bernatzik, 1. März 1938, an Baumann.
109 Vgl. Byer 1999, 171; Habeck/Dudeck 2018, 82.
110 Vgl. Byer 1999, 173.
111 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.3.2.1.1.; Baumann, 18. März 1938, an Bernatzik.
112 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.3.2.1.3.; Findeisen, 1. April 1938, an Bernatzik.
113 Zu Struck vgl. Pittelkow/Hoßfeld 2016.
114 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Bernatzik, 29. März 1938, an Struck
115 Ebd.; Bernatzik, 14. Dezember 1940, an Struck. Bislang konnte nicht bestätigt werden, Em sei im Beirat des Ber-
des Berliner Ethnologischen Museums keinerlei Hinweise auf Anton Rudolf Em). Allerdings bat die Generaldirek-
tion der Staatlichen Museen bei der Gauleitung München-Oberbayern im Februar 1939 um eine „politische Beur-
teilung“ Ems wegen „Ernennung zum Mitglied des Sachverständigenbeirates“. Em konnte jedoch unter der ange-
gebenen ehemaligen Adresse in München nicht ermittelt werden bzw. existierte die Adresse gar nicht (BArch, R
9361-II/207284).
756 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Nachdem Em schon im Februar 1935 Kontakt zur BGAEU hatte, trat er am 8. Februar
1939 der Gesellschaft bei, als Baumann noch Herausgeber der ZfE war.116 Im Mai desselben
Jahres sah sich der Reichserziehungsminister veranlasst, „nach eingehender Prüfung der Vor-
gänge mit Rücksicht auf die außerordentlich starke Beanspruchung der Förderungsmittel“ Em
ein geringeres Gehalt auszuzahlen.117 Em schien dennoch als besonders förderungswürdig zu
gelten. Im Dezember 1939 zahlte das REM wiederum eine einmalige Beihilfe in der Höhe von
vierhundert Reichsmark aus.118 Sein Personalakt an der Berliner Universität wurde am
15. Jänner 1940 geschlossen. In seiner „Sippenakte“ beim Rasse- und Siedlungshauptamt
den Großeltern einwandfrei“ sei.119 Auf der Mitgliedskarteikarte der BGAEU ist handschrift-
lich „1940 bez., danach Soldat?“ vermerkt.120 1943 ist Em noch im Berliner Adressbuch ein-
getragen, dann verliert sich bislang seine Spur.121
Dresden: Die Völkerkunde tritt in den Hintergrund
Das 1875 gegründete Dresdner Museum für Völkerkunde war Teil der Staatlichen Museen für
Tier- und Völkerkunde Dresden und unterstand seit 1935 dem Ornithologen, schon früh über-
zeugten Nationalsozialisten und NSDAP-Mitglied Hans Kummerlöwe (1903–1995).122 Kum-
merlöwe lenkte die Tätigkeiten am Museum in Eigeninitiative in entsprechende Bahnen, nicht
zuletzt in Zusammenarbeit mit dem Rassenpolitischen Amt der Gauleitung Sachsen.123 Zu
seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern zählten Martin Heydrich (1889–1969)124 und bis 1936
der Kustos Bernhard Struck, der anschließend einem Ruf nach Jena folgte. Heydrich wurde
1937 bis zu seinem Wechsel nach Köln stellvertretender Direktor des Museums in Dresden,
während Otto Reches (1879–1966)125 Assistent für „Rassenkunde“ und SS-Unterscharführer
Michael Hesch (1893–1979)126 1938 die Anthropologische Abteilung unterstellt bekam. Nach
dem „Anschluss“ Österreichs übernahm Kummerlöwe im Juni 1939 als kommissarischer
Leiter die wissenschaftlichen Staatsmuseen in Wien und wurde dort im September 1940 zum
Ersten Direktor ernannt.127 Heydrich schrieb im Juni 1939 an Struck:
„[Kummerlöwe] ist ab 1. Juni nach Wien berufen als Direktor, wie er mir sagte, aller na-
turwissenschaftlichen Museen, die im Naturhist. Staatsmuseum vereinigt sind, weiter des
Völkerkunde-Museums, des Volkskundemuseums von Haberlandt und des Techn. Museums.
Hauptaufgabe: Ordnung personeller Verhältnisse und Neuorganisation des ganzen Museums-
wesens, ausgenommen die Kunstmuseen.“
116 Seethaler, E-Mail 16. Mai 2017. Vgl. auch Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte
1939.
117 HUB-Archiv, E 055, PA Em; REM, 19. Mai 1939, an den Universitätskurator Berlin, Herv. im Orig.
118 Ebd.; REM, 21. Dezember 1939, an den Rektor der Universität Berlin.
119 BArch, R 9361-III/38569.
120 Seethaler, E-Mail 16. Mai 2017.
121 Weder der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes noch die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der
nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht konnten zum Verbleib von Em Aus-
kunft geben (Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, am 17. Mai 2017, Brief an Verf.; Deutsche Dienststelle für
die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, am
24. August 2017, Brief an Verf.).
122 Zu Kummerlöwe vgl. Teschler-Nicola 2012.
123 Ebd., 283–285.
124 Zu Heydrich vgl. Fröhlich 1960; Geisenhainer 2005a, 215; Kreide-Damani 2010, insb. 63–67, 119–120 und 185–
187; Pützstück 1995, insb. 306–342; Pützstück 1996, 278–287.
125 Zu Reche vgl. Geisenhainer 2002.
126 Zu Hesch vgl. Geisenhainer 2002, insb. 367–371, 477–478; Geisenhainer 2010, 227–231.
127 Vgl. Berner 2005, 180; Teschler-Nicola 2012, 285 ff.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 757
Nach Heydrichs Informationen war Kummerlöwe „gleichzeitig aber noch bis Ende August
in Dresden unabkömmlich gestellt“. Aus seinem Schreiben lässt sich Heydrichs persönliche
Sicht auf Wien ermitteln und dass seiner Ansicht nach hier der reichsdeutsche Kummerlöwe
eventuell für eine entsprechende „Ordnung“ sorgen könnte. Heydrichs Mitgefühl, sofern er
darüber verfügte, galt also keineswegs den Wiener Kolleginnen und Kollegen: Kummerlöwe
bekäme in Wien „zwei Dienstautos, einen 6 Sitzer mit Fahrer nur für eignen Gebrauch hat er
bereits. Er ist also in seinem Element, vielleicht ist es sogar die richtige Lösung für den S.,
nein ich will nicht lästern, aber einfach wird es wirklich nicht sein.“128
Mit den Direktionsgeschäften betraut, seit Juli 1939 vertreten durch Hesch, übernahm
Heydrich parallel zunächst vertretungsweise die Leitung des Rautenstrauch-Joest-Museums
129 Mit Wirkung vom September 1941 wurde
Hesch zum Direktor der Staatlichen Museen für Tierkunde und Völkerkunde Dresden ernannt
und setzte die Umbenennung der Dresdner Museen in „Staatliche Museen für Tierkunde, Ras-
senkunde und Völkerkunde“ durch. Zu diesem Zeitpunkt also, als Österreich zur „Ostmark
des Großdeutschen Reiches“ wurde, war die Völkerkunde in Dresden nur schwach vertreten
und die entsprechenden Objekte des Museums ausgelagert.130
Jena: Bernhard Struck und seine Kontakte nach Wien
In Jena hatte bereits 1930 die in Thüringen regierende NSDAP eigens für den nichthabilitier-
ten Philologen und „Rassentheoretiker“ Hans Friedrich Karl Günther (1891–1968)131 einen
Lehrstuhl für Sozialanthropologie geschaffen. Als Günther 1935 eine Professur in Berlin für
„Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie“ annahm, schlug er persönlich als
seinen Nachfolger Bernhard Struck vor, der in Jena sowohl Anthropologie als auch Völker-
kunde vertreten könne.132 Struck, der schon lange auf einen Ruf an eine Universität gehofft
hatte,133 erhielt zum 1. Dezember 1936 zunächst vertretungsweise und schließlich ab 5. Febru-
ar 1938 eine ordentliche Professur für Anthropologie und Völkerkunde an der Mathematisch-
Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Jena.134 Hier leitete er das Seminar für Anthro-
pologie und Völkerkunde, das er ab dem Wintersemester 1937/38 als „Anstalt für Anthropologie
und Völkerkunde“ und ab dem 1. Trimester 1940 als „Institut für Anthropologie und Völker-
kunde“ führte.135 Günther und Struck hielten den Kontakt zueinander aufrecht. So teilte
Günther etwa Struck seine Gedanken über die „Verschiebungen“ mit, die „sich durch den
Anschluss Österreichs“ ergeben würden.136
128 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Heydrich, 7. Juli 1939, an Struck.
129 Vgl. Martin (unpubl.).
130 Vgl. Martin 2015. Hesch war zwar der einzige, der beispielsweise im Sommersemester 1943 an der Dresdner TH
unter „Völkerkunde und Rassenkunde“ Lehrveranstaltungen anbot; unter dem Titel „Rassenkunde und Rassenge-
schichte des Menschen [...]: Afrika, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien“ wurden jedoch si-
cherlich ebenso wenig völkerkundliche Themen behandelt wie unter „Anleitung zu rassenkundlichen Untersu-
chungen mit rassenkundlicher Bildbetrachtung“ (Technische Hochschule Dresden 1943, 79). Nach bisherigen
-
kundlerinnen und Völkerkundlern. Im Museum angestellt war zwar der Anthropologe, Volks- und Völkerkundler
Robert Herbert Bellmann (1903–1961), jedoch nur für die Anthropologische Abteilung. In diesem Sinne hatte er
sich 1939 auch an der Festschrift für Otto Reche beteiligt (vgl. Bellmann 1939). Bellmann wurde 1943 in den
Kriegsdienst einberufen (Martin, E-Mail 2018).
131 Zu Günther vgl. Geisenhainer 2000; Hoßfeld 1999; Schwandt 2008.
132 Vgl. Hoßfeld 1999, 68–69. Zu Struck vgl. Pittelkow/Hoßfeld 2016.
133 Vgl. den Beitrag von Geisenhainer „Gescheiterte Interventionen ...“ in diesem Band.
134 Vgl. Pittelkow/Hoßfeld 2016.
135 Vgl. Hoßfeld 2003, 526–527.
136 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Günther, 23. März 1938, an Struck (Abb. 22.2).
758 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Abb. 22.2a, b
Günthers Stellungnahme über personelle „Verschiebungen“ in Österreich nach dem „Anschluss“, 23. März 1938.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 759
Abb. 22.2b
760 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Strucks Verbindungen nach Wien waren vor Beginn des NS-Regimes in Deutschland rela-
tiv umfangreich. An erster Stelle ist hier sein Kontakt zu Bernatzik zu nennen. Gemeinsam
hatten sie 1930/31 eine Forschungsreise nach dem damaligen Portugiesisch-Guinea unter-
nommen, und sie standen die folgenden Jahre in einem, wenn auch nicht immer einträchtigen,
Austausch.137 Oft ging es hier nicht nur um wissenschaftliche oder organisatorische Angele-
genheiten; wiederholt wurde die politische Lage kommentiert und Stellung bezogen. Einen
Tag nach den Wahlen in verschiedenen deutschen Landtagen, aus denen die NSDAP erfolg-
reich hervorging, beendete Bernatzik am 25. April 1932 ein kurzes Schreiben an Struck mit
den kruden Zeilen: „Juda verrecke! Oder irre ich mich, wenn ich annehme, dass dies der neue
deutsche Gruss ist?“138
den frühen 1920er Jahren schickte der fast gleichaltrige Arthur Haberlandt (1889–1964),
„selbst Familienvater“,139 nicht nur seine Gedanken zu der Wiener Volks- und Völkerkunde in
schriftliche Form nach Dresden, sondern half Struck auch mit Lebensmitteln durch die Hun-
gerzeiten.140 In der bis 1928 nachgewiesenen Korrespondenz mit Marianne Schmidl (1890–
1942) zeigte sich Struck seiner Kollegin gegenüber ausgesprochen wohlwollend, bis offen-
sichtlich der Kontakt vollkommen abbrach;141 dem Wiener Anthropologen Josef Weninger
(1886–1959)142 sprach Struck persönlich seine Wertschätzung der „Morphologie der Nase“
aus;143 an Gusinde schickte Struck Maße von Schädeln aus Feuerland,144 Koppers holte im
Vorfeld von Bernatziks Promotion Strucks Meinung ein;145 mit Heine-Geldern wechselte
Struck zwischen 1926 und 1928 wiederholt Briefe.146 Viktor Lebzelter (1889–1936) gegen-
über gab sich Struck in zahlreichen Schreiben freundlich,147 während er ihn dem Geographen
Carl Uhlig (1872–1938) in Tübingen als „herausfordernd hebräische Type“ schilderte.
Lebzelter zeige sich „im privaten und Briefverkehr rassenhaft klebrig-aufdringlich“, obwohl
er bewiesen habe, dass „seine Aszendenz judenfrei“ sei.148 Für Robert Stigler (1878–1975)
vom Physiologischen Institut der Wiener Hochschule für Bodenkultur las Struck dessen Arti-
kel Korrektur,149 Stigler versprach, für Strucks Berufung nach Wien „Stimmung zu machen,
schon aus purem Egoismus“.150 Mit Hella Pöch-Schürer (1893–1976), die Struck gerne einen
Teil des Pöch-Nachlasses zur Bearbeitung überlassen hätte, tauschte sich Struck von Beginn
der 1920er Jahre an über die nächsten zwanzig Jahre wiederholt aus.151
Nach Beginn des NS-Regimes in Deutschland schien der Briefverkehr mit Wiener Fach-
gelehrten zurückzugehen. Walter Hirschberg vertraute Struck an, er habe seine Mitgliedschaft
bei der NSDAP beantragt und ließ Struck „gewisse Informationen“ zukommen, „die den
137 Dies wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels deutlich und wurde bereits von Byer (1999) thematisiert, siehe auch
Matczak in diesem Band.
138 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Bernatzik, 25. April 1932, an Struck.
139 Ebd.; A. Haberlandt, 31. Oktober 1923, an Struck.
140 Vgl. SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Korrespondenz zwischen Struck und A. Haberlandt.
141 Vgl. den Beitrag von K. Geisenhainer „Jüdische Lebenslinien ...“ in diesem Band.
142 Zu Weninger vgl. die Beiträge von Geisenhainer „Rassenkunde und Rassenhygiene ... (1923–1938)“ und
„Auseinandersetzung um die institutionelle Verortung ... (1938–1943)“ in diesem Band.
143 Vgl. SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Struck, 28. Juli 1928, an Weninger.
144 Vgl. ebd.; Korrespondenz zwischen Struck und Gusinde.
145 Vgl. ebd.; Korrespondenz zwischen Struck und Koppers im Jänner 1932.
146 Vgl. ebd.; Struck, 3. Dezember 1931, an Lebzelter.
147 Vgl. ebd.; Korrespondenz zwischen Struck und Lebzelter. Zu Lebzelter vgl. S. Lebzelter 2005.
148 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Struck, 7. August 1932, an Uhlig.
149 Vgl. ebd.; Stigler, 1. September 1923, an Struck.
150 Ebd.; Stigler, 13. August 1927, an Struck. Zu Struck als Kandidat für die Nachfolge Reches in Wien vgl. den
Beitrag von Geisenhainer „Gescheiterte Interventionen ...“ in diesem Band.
151 Vgl. SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Korrespondenz zwischen Struck und Hella Pöch-Schürer.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 761
Wiener Betrieb beleuchten“.152 Paul Schebesta (1887–1967) diskutierte mit Struck u. a. das
„Pygmäen-Buschmann-Problem“,153 und Arthur Haberlandt kündigte 1935 nach einigen Jahren
ruhender Korrespondenz seinen Besuch in Dresden an; allerdings sollte es nicht zu einem
Treffen kommen.154
Für die Zeit nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich liegt nur noch
wenig Korrespondenz von Struck mit einzelnen Wiener Gelehrten vor. Der Kontakt zum An-
thropos-Institut brach offensichtlich ab. Hingegen tauschte sich Struck weiterhin wiederholt
mit Pöch-Schürer insbesondere zu anthropologischen Fragen aus. An sie schrieb Struck außer-
dem im Dezember 1938: „Wie sehr haben meine Frau und ich Ihrer in den Frühlingstagen
gedacht, als Oesterreich endlich heimkehren durfte!“155
Strucks Beziehung zu Bernatzik veränderte sich in den folgenden Jahren. Während Bernat-
zik, seit 1936 als Privatdozent für Völkerkunde an der Universität Graz,156 wiederholt in sei-
nen Briefen Struck gegenüber seine ganze Anerkennung zollte – „[...] weil Sie immer recht
haben und da lässt man sich gerne alles sagen“157 –, war Strucks Einstellung zu Bernatzik
keineswegs so positiv.158 Im Jänner 1939 verfasste Struck auf Anfrage des Brigadeführers im
NS-Kraftfahrkorps, Kurt von Barisani (1895–1970), ein Gutachten zu Bernatzik, das den
Vorwurf entkräften sollte, Bernatzik sei „lediglich Journalist und wissenschaftlich nicht
159 Nun holte Struck weiter aus, wollte sich dabei jedoch um Objektivität bemü-
hen: Bernatziks als ,Journalismus‘ verunglimpfte Publikationen hätten nur dem Nebenerwerb
gedient und belegten ferner Bernatziks ausgezeichnete Beherrschung „photographische[r ]
Technik“. Dennoch sei Bernatzik „weder Gelehrter noch Gelehrtennatur“, habe jedoch „durch
Intelligenz und Energie sowohl Promotion wie Habilitation hinter sich gebracht“ und seine
Arbeiten wiesen zunehmend wissenschaftlichen Charakter auf. Darüber hinaus habe er „die
Wissenschaft durch neues, gut beschriebenes, im Ganzen jedenfalls zuverlässiges und vor
umfangreich aus, da Bernatzik „als Mensch eine so durchaus eigene Prägung zwischen aller
-
lungen“ beistehen wolle. Er selbst sei, so Struck, mit Bernatzik „nicht eigentlich befreundet
– dazu bestehen doch zu grosse Charakterverschiedenheiten“; es bestünde jedoch, „zumal seit
der gemeinsamen Reise, ein gutes kameradschaftliches Verhältnis, das auch gelegentlich nicht
ausgebliebene Spannungen immer überstanden“ habe. Ihre Beziehung habe Struck selbst und
Bernatzik „für die Mängel des anderen nicht blind“ gemacht und die „Vorzüge und Leistun-
gen“ des jeweils anderen „schätzen und zwar richtiger einzuschätzen ermöglicht“.160 Dieses
Schriftstück leitete Barisani zusammen mit weiteren Gutachten anderer Urheber dem Reichs-
ministerium für Wissenschaft in Berlin weiter, um Bernatziks Bewerbung um die Direktoren-
stelle am Museum für Völkerkunde in Wien zu bekräftigen.161
152 Ebd.; Hirschberg, 10. April 1933, an Struck.
153 Ebd.; Schebesta, 17. Dezember 1935, an Struck.
154 Vgl. ebd.; Korrespondenz zwischen Struck und Haberlandt im Herbst 1935.
155 Vgl. ebd.; Struck, 6. Dezember 1938, an Pöch-Schürer.
156 Kernbauer, E-Mail 2018.
157 SMVD, NL Struck; Struck, 6. Mai 1940, an Bernatzik.
158 Dies thematisierte Doris Byer in ihrem Werk (1999) bereits eingehend.
159 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Barisani, 12. Jänner 1939, an Struck. Nach Byer hatte Barisani für seinen
langjährigen Bekannten Bernatzik eine Reihe von Auskünften auf dessen Bitte hin eingeholt, um etwas gegen
zahlreiche Anschuldigungen in die Hand zu bekommen, die gegen Bernatzik aus verschiedenen Kreisen erhoben
wurden. Struck, dessen Gutachten in jenen Kontext gehörte, hatte sich zuvor darüber mit Bernatzik ausgetauscht
(vgl. SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Struck, 22. Jänner 1939, an Bernatzik; siehe auch Rohrbacher über
Röck sowie Matczak in diesem Band).
160 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Struck, 19. Jänner 1939, an Barisani.
161 Vgl. Rohrbacher zu Röck in diesem Band.
762 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Am selben Tag, an dem Struck dieses Gutachten verfasste, schrieb Bernatzik an Struck, in
Wien nutzte man seine vorübergehende Abwesenheit, um ihm „mit einem Schlag ‚das Genick
umzudrehen‘“.162 Vier Monate später, im Mai 1939, holte Bernatzik noch einmal aus: „Bau-
mann tritt seine Stelle im kommenden Wintersemester an. Damit dürfte jeder Forschungstätig-
keit von hier aus wohl ein Riegel für die Zukunft vorgeschoben sein.“163 Bernatzik informierte
ein Jahr später Struck, es habe Hirschberg seine Zusage, in der Endphase an Bernatziks drei-
bändigen „Völkerkunde“ mitzuwirken, zurückgezogen, da Baumann ihm „eine Zusammenar-
beit“ mit Bernatzik „verübeln könnte“.164 Diese Information zu Hirschberg empfand Struck als
besonders interessant:
„Sie wissen, dass ich bisher grosse Stücke auf ihn hielt. Nun hörte ich kürzlich auch von
anderer Seite Bedenkliches, dass er, Ethnologe und ausgerechnet Afrikanist, z.B. jetzt vom
Neger in den abfälligsten Wendungen rede. Also dieselbe Liebedienerei gegen – natürlich nur
vermeinte – rassische Propaganda. Nein charakterlich hat H.[irschberg] eben nicht gehalten,
was man sich hatte versprechen dürfen.“165
Welche Konsequenz dies für Hirschberg und seine weitere Entwicklung im nun „Groß-
deutschen Reich“ haben könnte, deutete Struck nur an: „Er wird sich sehr herauspauken müs-
sen, wenn man ihn noch für bessere Stellen begutachten sollte.“166 Auch Strucks Einstellung
gegenüber Bernatzik gestaltete sich zunehmend negativ, wenn auch nicht, wie für Struck kei-
neswegs untypisch, im unmittelbaren Kontakt zu Bernatzik klar erkennbar. Gleichzeitig ko-
operierte Struck mit Baumann, während dieser in Wien wirkte. Dabei ging es überwiegend um
koloniale Aktivitäten, in denen sowohl Struck als auch Bernatzik und Baumann federführend
eingebunden waren und auf die weiter unten noch eingegangen wird.
Otto Reche hatte bis 1927 dem Wiener Anthropologisch-Ethnographischen Institut vorgestan-
den, bevor er dem Ruf nach Leipzig folgte und hier das Ethnographische Seminar gemäß sei-
ner Ausrichtung zunächst in „Ethnologisch-Anthropologisches Institut“ und 1933 in „Institut
für Rassen- und Völkerkunde“ umbenannte. Dass er in Wien unter vielen Kollegen einen
zweifelhaften Ruf hatte, belegt die Diskussion um seine Nachfolge.167 Besonders unerbittlich
trat Reche in seinem Vorgehen gegen Marianne Schmidl hervor.168 Seine Verbindungen nach
Wien gingen dennoch zum großen Teil auf die Zeit zurück, die er dort auch über die Universi-
tät hinaus gewirkt hatte, wie etwa in diversen völkischen Organisationen.169
Die Reche’sche Festschrift „Kultur und Rasse“ – Beiträge aus der „Ostmark“
1939 erschien eine Festschrift für Reche anlässlich seines 60. Geburtstags mit dem Titel „Kul-
tur und Rasse“, herausgegeben von seinen Assistenten Michael Hesch und Günther Spannaus
(1901–1984). Eine Reihe von Fachgelehrten aus dem In- und Ausland erklärte sich bereit,
162 SMVD, NL Struck; Bernatzik, 19. Jänner 1939, an Struck. Vgl. dazu auch Byer 1999, z.B. 253 ff. Neben dem
Vorwurf, lediglich Journalist zu sein, behaupte man in Wien, Bernatzik habe sich „Eingeborenen“ gegenüber
derart brutal verhalten, dass alle „Weissen“, die nach ihm kämen, Gefahr liefen, umgebracht zu werden.
163 SMVD, NL Struck; Bernatzik, 15. Mai 1939, an Struck.
164 Ebd.; Bernatzik, 8. April 1940, an Struck, Herv. im Orig.
165 Ebd.; Struck, 13. April 1940, an Bernatzik.
166 Ebd.; Struck, 13. April 1940, an Bernatzik, Herv. im Orig.
167 Vgl. Geisenhainer über „Gescheiterte Interventionen ...“ in diesem Band.
168 Vgl. die beiden Beiträge von Geisenhainer zu Schmidl in diesem Band.
169 Zu Reche vgl. Geisenhainer 2002.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 763
Reche zu Ehren einen Beitrag zu senden. Eigentlich waren auch Pöch-Schürer, die Reche „als
Mitarbeiterin nahe gestanden“ hatte, Fritz Röck und Anton Rolleder (1910–1976) als Beitra-
gende vorgesehen. Pöch-Schürer sagte jedoch aus „Krankheitsgründen“ ab,170 und auch Röck
war „durch Krankheit und längeres Ausspannen auf allen Gebieten, [...] verhindert“ und bot
christlichen Heiligen-Zeitbuche, ein Beitrag zur vergleichenden Kalender- und Sinn bild-
erforschung“.171 Die Herausgeber legten schlussendlich doch keinen sehr großen Wert auf
einen Beitrag von Röck, da dieser kein Schüler von Reche gewesen sei, im Gegensatz zu
Robert Routil, zu jener Zeit Assistent am Anthropologischen Institut in Wien, der von sich aus
einen Text anbot.172
Zu den beitragenden Völkerkundlern aus Wien zählte Reches ehemaliger Schüler Hirsch-
berg. Dieser hatte sich Reche wiederholt in vereinzelten Briefen anvertraut und bekam aus
Leipzig Sonderdrucke zugesandt.173 Hesch und Spannaus bestärkten Hirschberg darin, für die
Festschrift „einen Beitrag zur Geschichte der afrikanischen Kulturkreise zu liefern“, da auf
diese Weise „eine deutliche Absage an die Kulturkreisauffassung der dogmatischen Wiener
Schule“ erteilt werden könne.174 In seinem Beitrag „Zur Geschichte der afrikanischen Kultur-
kreise“ für die Reche’sche Festschrift erläuterte Hirschberg zum einen die verschiedenen An-
sätze, den afrikanischen Kontinent in unterschiedliche Kulturen oder Kulturkreise einzuteilen,
zum anderen stellte er zwei Richtungen innerhalb der kulturhistorischen Schule gegenüber,
namentlich die stärkere Berücksichtigung des „Rasse- und Völkergedanken[s]“175 einerseits
sowie des „universalistischen Kulturkreisgedankens“176 andererseits. Hirschberg hatte bereits
im April 1934 Baumann gegenüber seine Position erklärt, die annähernd mit dessen Ansatz
übereinstimme.177 Baumann hatte ihm nun „die Korrekturen seiner neuesten Arbeit ‚Völker-
kunde Afrikas‘ lesen“ lassen, sodass sich Hirschberg in der Festschrift für Reche unmittelbar
auf Baumann beziehen konnte.178
Den zweiten Beitrag aus Österreich zur Völkerkunde steuerte Bernatzik bei. Zwischen
Bernatzik und Reche bestand schon seit einigen Jahren eine Verbindung, so etwa durch Re-
ches Beteiligung an Bernatziks Werk „Zwischen weissem Nil und Belgisch-Kongo“ (1929).179
Die Expedition von Bernatzik und Struck in das damalige Portugiesisch-Guinea in den Jahren
1930/31 wurde mit Finanzmitteln des Staatlich-Sächsischen Forschungsinstitutes unter Reche
subventioniert. Bernatzik hatte seine Studie über „Die Kolonisation primitiver Völker unter
besonderer Berücksichtigung des Mokenproblems“ bereits auf dem Internationalen Kongress
in Kopenhagen vorgetragen.180 Dem zugrunde lag ein gemeinsamer Aufenthalt von Bernatzik
und seiner Frau Emmy im Herbst 1936 und im Frühjahr 1937 bei den Moken in Südostasien.
Der Text, der nach Bernatziks eigenen Angaben „sehr aktuell“ sei,181 entsprach seinen damali-
gen Bemühungen, für eine Völkerkunde einzutreten, die den kolonialen Bestrebungen zuträg-
lich war. Unter Berücksichtigung seiner abschließend schematisch aufgelisteten, „kolonialeth-
nologischen“ Empfehlungen könnten „die Erträgnisse eines volkswirtschaftlich fast wertlosen
170 UAL, Ethnologie Re Festschrift; Hesch, 24. März 1939, an Spannaus.
171 Ebd.; Röck, 17. Jänner 1939, an Spannaus.
172 Vgl. ebd.; Hesch, 24. März 1939, an Spannaus und Hesch, 28. März, an Routil.
173 Vgl. Korrespondenz zwischen Reche und Hirschberg in UAL, Ethnologie Re VII.1 und Re IX.2.
174 UAL, Ethnologie Re Festschrift; Spannaus, 1. Februar 1939, an Hirschberg.
175 Hirschberg 1939, 320.
176 Ebd., 318.
177 Vgl. FI, NL Baumann; Hirschberg, 24. April 1934, an Baumann.
178 Hirschberg 1939, 321 Fn. 1.
179 Bernatzik 1929.
180 Bernatzik 1939b.
181 UAL, Ethnologie Re Festschrift; Bernatzik, 24. Dezember 1938, an „Herrn Doktor“.
764 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Gebietes beträchtlich gesteigert und gleichzeitig die Ureinwohner eine wesentliche Besserung
ihrer Lebensverhältnisse im Rahmen des ethnologisch Möglichen erfahren. Der Vorteil käme
somit sowohl dem Kolonisator wie dem kolonisierten Volk zugute.“182 Reche bedankte sich
bei Bernatzik für die „große Liebenswürdigkeit“, sich an der zu seinem „60. Geburtstag her-
ausgekommenen Festschrift zu beteiligen“. Bernatzik habe in seinem Beitrag „wichtige Pro-
bleme behandelt“ und Reche habe „sehr viel Neues gelernt; das betreffende Gebiet ist mir ja
durchaus fremd“.183
184 –, das 1943 erschien.185 Als die Arbeits-
tagung zur „Kolonialen Völkerkunde, Sprachforschung und Rassenforschung“ im Jänner
1943 in Leipzig stattfand, sprach Bernatzik mit Reche über seinen Plan, auch sein Werk „Der
-
zung bei der Suche nach passenden Fotos aus der Sammlung von Spannaus.186 Im September
1943 schickte Bernatzik „2 Exemplare von ‚Nil-Kongo‘ als Beleg, ferner ein Exemplar der
187 Danach scheint die Verbindung
zwischen Bernatzik und Reche zu versiegen.
Die Wiener Anthropologen, die einen Artikel für die Festschrift beitrugen, waren alle drei
ehemalige Schüler von Reche gewesen. Eberhard Geyer, Routil und Josef Wastl verband nicht
nur die Anthropologie, sondern auch eine völkische Ausrichtung mit Reche.188 Geyer trat im
Juni 1933 der NSDAP bei, Routil war von Februar 1933 bis zum Verbot der Partei in Öster-
reich Mitglied der NSDAP189, und Wastl gehörte bereits seit 1932 der NSDAP an und gründe-
te 1934 eine illegale Betriebszelle der NSDAP am Naturhistorischen Museum Wien.190 Geyer,
Routil und Wastl beteiligten sich gleichfalls, wie die meisten Anthropologen zu jener Zeit in
Österreich und Deutschland, an der Erstellung von Vaterschafts- oder Abstammungsgutach-
ten. Im Jänner 1939 hatte Geyer den Herausgebern mitgeteilt, er habe sich „nunmehr trotz
aller Ueberlastung entschlossen“, einen Beitrag für die Festschrift für Reche zu leisten. Es
handelte sich dabei um „einen kurzen Bericht über den Stand der rassenkundlichen Untersu-
chungen in der Ostmark“.191 Routil reichte in Eigeninitiative einen Text mit zahlreichen For-
meln und einigen Tabellen ein, der sich inhaltlich „der Erwartung des blutartlichen Ausschlus-
ses der Vaterschaft bei verschiedenen Völkern“ widmete.192 Wastl, mittlerweile Leiter der
Anthropologischen Abteilung am Naturhistorischen Museum, hatte bereits im Herbst 1938
„als alter Schüler“ Reche seine „eben erschienene Arbeit über die Baschkiren“ geschickt.
Wastl wollte Reche „für die vielen geistigen Anregungen auf diesem Wege nochmals bestens
danke“ sagen.193 In seinem Festschrift-Beitrag „Prähistorische Menschenreste aus dem Mu-
182 Bernatzik 1939a, 264.
183 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.581.; Reche, 16. Juni 1939, an Bernatzik.
184 Ebd.; Bernatzik, 30. August 1941, an Reche.
185 Bernatzik 1943.
186 Vgl. UAL, Ethnologie Re XVIII; Korrespondenz zwischen Bernatzik und Reche im Februar 1943. Das Werk
wurde allerdings erst nach dem Krieg im Jahr 1950 neu aufgelegt.
187 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.581.; Bernatzik, 25. September 1943, an Reche.
188 Zum Verhältnis Reche-Geyer vgl. die Beiträge von Geisenhainer „Rassenkunde und Rassenhygiene ...“ und
„Auseinandersetzung um die institutionelle Verortung ...“ in diesem Band.
189 Seine Anträge auf erneute Aufnahme in die Partei im Mai 1938 und Juni 1942 wurden abgelehnt (BArch, R 9361-
II/857248, PK, Robert Routil; Personalfragebogen zum Antragschein auf Aufnahme in die Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei, 20. Mai 1938 und NSDAP Zentralkartei; Mitgliederkarteikarte von R. Routil). Siehe au-
ßerdem den Beitrag von Geisenhainer „Auseinandersetzung um die institutionelle Verortung ...“ in diesem Band.
190 Vgl. Spring 2005, 106 Anm. 57.
191 UAL, Ethnologie Re Festschrift; Geyer, 11. Jänner 1938, an Spannaus; vgl. Geyer 1939.
192 Routil 1939.
193 UAL, Ethnologie Re XIII, Wastl, 5. September 1938, an Reche.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 765
schelhügel von Bindjai-Tamiang in Nord-Sumatra“ beschrieb Wastl Reche zu Ehren mensch-
liche Knochenfunde aus Nord-Sumatra und stellte zum Ende hin „rassenkundliche“ Thesen zu
den frühen Menschen auf Sumatra auf.194 Reches Wiener Anthropologie-Schüler deckten
somit drei seiner wesentlichen Interessenbereiche ab: Anthropologische Erhebungen an leben-
den Menschen, Vaterschafts- und Abstammungsgutachten sowie Untersuchungen menschli-
cher Knochen in der Annahme, auf diese Weise Hinweise auf eine vermeintliche Rassenzuge-
hörigkeit und ihre geographische Verbreitung erhalten zu können.
Den vierten Wiener Beitrag zur Anthropologie verfasste der Mediziner und „Rassenphy-
siologe“ Robert Stigler.195 Ein Jahr älter als Reche, zählte er nicht zu dessen Schülern, sondern
war vielmehr Professor für Anatomie und Physiologie der Haustiere an der Wiener Hochschule
für Bodenkultur, als Reche in Wien dem Anthropologisch-Ethnographischen Institut vorstand.
Stiglers zahlreiche Beiträge zur „Rassenphysiologie“ verdeutlichen bereits ein Interessenge-
biet, das er sich mit Reche teilte.196 So trat Stigler auch unmittelbar in die 1926 von Reche in
Wien mitbegründeten Gesellschaft für Blutgruppenforschung ein, deren Organ „Zeitschrift für
Rassenphysiologie“ auf den Forschungsschwerpunkt der Gesellschaft hinwies.197 Wie Geyer,
Routil und Wastl bekannte sich auch Stigler schon früh zur NSDAP, der er 1932 beigetreten
war. 1934 entlassen, konnte er 1938 wieder an die Hochschule zurückkehren und die Leitung
des Instituts für Anatomie und Physiologie der Haustiere übernehmen. Ebenso wie Reche hielt
auch Stigler Vorlesungen zur „Rassenhygiene“. Stigler hatte sich 1911 bis 1912 an einer
Uganda-Expedition beteiligt. Eine Reihe von Publikationen resultierte aus Untersuchungen,
die er dort an Menschen durchgeführt hatte.198 Auch der vergleichsweise lange Beitrag für die
Festschrift zu „Altersermittlung und Alterserscheinungen bei Negern in Uganda“ beruhte auf
Studien, die Stigler während dieser schon länger zurückliegenden Reise unternommen hatte.199
Stigler nutzte für sich den Zweiten Weltkrieg, um erneut demütigende und sicherlich auch
physisch schmerzhafte Untersuchungen an Kriegsgefangenen vorzunehmen. Im Dezember
1940 schrieb er an Reche: „Ich habe mit einigen Aerzten im Kriegsgefangenlager Kaiserstein-
bruch an Negern, Tonkinesen, Marokkanern, Tunesiern und Juden ein paar rassenphysio-
logische Untersuchungen durchgeführt: Ueber Blutsenkungsgeschwindigkeit, Gerinnungs-
zeit; Blutabumin-, globulin, ferner über die psychische Reaktionszeit, obere Hörgrenze,
Blutdruck, Viskosität des Blutes.“ Reche freute sich, dass es Stigler „in jeder Beziehung zu-
friedenstellend geht“. Auch Stiglers „Fleiß [...], mit dem Sie dankenswerter Weise in Kriegs-
gefangenenlage [sic] rassenphysiologische Untersuchungen durch geführt haben“, sei darauf
ein Hinweis. „Die Dinge interessieren mich sehr“, schrieb Reche.200 Stigler konnte 1943 seine
Ergebnisse – 31 Seiten inklusive mehrerer Tabellen und photographi scher Aufnahmen unbe-
kleideter Kriegsgefangener – in der von Reche herausgegebenen „Zeitschrift für Rassen-
physiologie“ publizieren.201
194 Vgl. Wastl 1939, 243.
195 Vgl. Stigler 1939.
196 Vgl. Pack 2010.
197 Vgl. Reche 1928, 2–4.
198 Vgl. Pack 2010; Loidl 2014.
199 Wie sehr Stigler bei seinen Untersuchungen die Intimsphäre der Menschen missachtete sowie psychische und
physische Verletzungen tolerierte, hat Simon Loidl (2011) dargelegt.
200 UAL, Ethnologie Re XV; Reche, 9. Dezember 1940, an Stigler. Zu den Erhebungen in Kaisersteinbruch siehe
Berner in diesem Band.
201 Vgl. Stigler u.a. 1943.
766 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Elisabeth Sturm, ehemals Studentin in Wien und Leipzig
Eine spezielle fachliche Verbindung zwischen Wien und Leipzig soll im Folgenden dargestellt
werden. Im Zentrum steht Elisabeth Sturm (1895–1960), eine ehemalige Studentin von Kop-
pers und Reche, die ihr „rassenkundliches“ Wissen während des Zweiten Weltkriegs in einem
oberösterreichischen Industriebetrieb anzuwenden versuchte. Elisabeth Sturm, am 30. Juni
1895 im damals österreichisch-böhmischen Oderberg (heute: Bohumin in Tschechien) als Eli-
sabeth Wessely geboren202, besuchte in Wien die Schule und ging nach ihrer Matura im Jahr
1912 zunächst sozialen Tätigkeiten nach: Ihren eigenen Angaben zufolge absolvierte sie einen
dessen Leitung sie selbst übernahm, ließ sich als Kindergärtnerin und „für die Schulung von
Schwachbegabten“ ausbilden und übernahm Blinden- sowie „Taubstummenunterricht“. Au-
ßerdem bildete sie sich im Bereich Obst- und Gemüseanbau und Kleintierzucht weiter. Wäh-
rend ihrer Zeit als „Konsulentin für Frauenarbeit im Ministerium für Soziale Verwaltung in
Wien“203 heiratete sie den vierzehn Jahre älteren, in Mähren geborenen Oberstleutnant Eduard
Sturm.204 In der folgenden Zeit änderte sich der Tätigkeitsschwerpunkt von Elisabeth Sturm.
Sie arbeitete als Sekretärin, legte eine „Chauffeurprüfung“ ab, widmete sich verschiedenen
Sprachen,205 absolvierte auch einen Latein-Kurs an der Universität und schrieb sich im Alter
von 31 Jahren für das Wintersemester 1926/27 an der Wiener Medizinischen Fakultät ein. Ihr
Studium setzte sie jeweils in den Wintersemestern bis 1929/30 an der Philosophischen Fakul-
tät fort.206 Elisabeth Sturm belegte eine Reihe von Vorlesungen unterschiedlicher Fächer wie
beispielsweise Philosophie, Pädagogik und Psychologie. In jenem letzten Wintersemester
1929/30 besuchte sie auch Vorlesungen im Fach Völkerkunde bei Koppers zur „Soziologie
(Familie, Staat, usw.) der Naturvölker“ und über „Die Sprachen und Völker der Erde“.207 In
der folgenden Zeit trennte sich offenbar das Ehepaar Sturm. Elisabeth Sturm wechselte öfter
den Wohnsitz sowie ihre Tätigkeit und zog nach dem „Anschluss“ nach Sachsen.208 Im südlich
von Leipzig gelegenen Rehmsdorf bei Zeitz stellte Sturm am 27. Dezember 1940 einen Antrag
auf NSDAP-Mitgliedschaft, dem am 1. Jänner 1941 entsprochen wurde.209 Fünf Tage darauf
inskribierte sie „in ziemlich vorgerückten Jahren“210 an der Universität Leipzig.211 Ob sie even-
tuell Reche aus Wien her kannte, der jedoch nicht mehr gelehrt hatte, als sie sich dort an der
Philosophischen Fakultät einschrieb, ist unklar. Durchaus vorstellbar wäre aber, dass Elisa-
beth Sturm ihn auf irgendeiner völkischen Veranstaltung in Wien kennengelernt oder erlebt
studierte sie jedoch am Institut für Psychologie. In dieser Zeit hatte sie wohl „in Leipziger
Universitätskreisen ein Gespräch über Mitarbeit an Zeitungen und Zeitschriften“, woraufhin
Sturm bei der Reichsschriftumskammer um Mitgliedschaft anfragte. In diesem Schreiben
202 N-Z-O invc 2787 sig F VII 1 1875–1900, Novy Bohumin, fol. 57, Nr. 33.
203 BArch, R9361/V 37469; Elisabeth Sturm: Lebenslauf, 1941.
204 Wiener Stadt- und Landesarchiv, E-Mail 28. Februar 2017.
205 BArch, R9361/V 37469; Elisabeth Sturm: Lebenslauf, 1941.
206 Brachmann, E-Mail 28. Februar 2017.
207 Brachmann, E-Mail 1. März 2017; ergänzt durch die Angaben im Vorlesungsverzeichnis der Universität Wien
1929, 52.
208 Zuvor war Sturm zeitweise als Hotelleiterin, als Sekretärin im großen Privatsanatorium Löw und als „Privatbeam-
tin“ in Wien gemeldet und hielt sich wohl länger auch in Salzburg auf (Wiener Stadt- und Landesarchiv, E-Mail
2017).
209 BArch, R 9361-IX Kartei/43841109.
210 UAL, Ethnologie Re XVIII; Sturm, 18. Februar 1943, an Reche.
211 UAL, Rep. B 089, S. 203.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 767
nannte sie ferner zahlreiche Länder, die sie bereist bzw. in denen sie „teils wochenlang gelebt
habe“.212
Lange hat Sturm jedoch nicht in Leipzig studiert, wo sie als „ewige Studentin“ u. a. bei
Reche „im Seminar über Much und Kossina sprechen musste“. Sie wurde schon bald in der
Zellwolle- und Papierfabrik in Lenzing (im Hausruckviertel, im heutigen Oberösterreich)
„eingesetzt, um die Abteilung Sozialreferat zu übernehmen, d. h. aufzubauen“, wie sie im
213 Diese Fabrik war 1938 an die Thüringische Zell-
wolle AG angegliedert und dem SS-Brigadeführer Walther Schieber (1896–1960) unterstellt
worden.214 Da mit Kriegsbeginn viele Mitarbeiter eingezogen wurden, rekrutierte man zahlrei-
che Arbeitskräfte aus dem Ausland, die, je nach Herkunftsland und „rassischer Zugehörig-
keit“, unterschiedliche Behandlungen erfuhren, „wobei sich das Beschäftigungsverhältnis
zunehmend von Freiwilligkeit in Richtung Zwang veränderte“.215 Kriegsgefangene stellten
unter den Lenzinger Arbeitern einen vergleichsweise geringen Anteil.
Elisabeth Sturm teilte der Reichsschriftumskammer im Juni 1941 mit dem Absender „Zell-
wolle Lenzing Aktiengesellschaft“ mit: „Das laufende Semester arbeite ich für mich, jedoch
bin ich an der Universität Wien gemeldet.“216 Tatsächlich inskribierte Sturm für das Sommer-
semester 1941 und das Wintersemester 1941/42 wieder an der Wiener Universität und ent-
schied sich unter anderen für die Vorlesungen über „Brauchtum des Lebenslaufes“ bei Richard
Wolfram und „Bevölkerungspolitik“ bei Karl Tuppa sowie für Lehrveranstaltungen in Psy-
chologie und Philosophie insbesondere bei Friedrich Kainz (1807–1977) und Hans Eibl
(1882–1958).217 Sturm schrieb: „Mein Studium gilt der Rassen und Erblehre, sowie der Ar-
beits- und Kinderpsychologie, endlich soziologischen Problemen.“218
Elisabeth Sturm ließ Reche 1943 in einem Brief wissen, man habe ihr in Lenzing nun zu-
sätzlich „die Verwaltung der Ausländerinnen-Baracken [...] angehängt“. Neben ihrer Bürotä-
tigkeit sei sie „oft noch bis gegen 10 Uhr nachts in den Baracken der Ukrainerinnen“.219 Nach
Sandgruber bildeten unter den „ausländischen Zivilarbeiter/innen“ die Arbeitskräfte aus der
Sowjetunion das „Schlusslicht in der rassischen Hierarchie“, wobei jene Arbeitskräfte wiede-
rum je nach Herkunft unterschiedlich behandelt wurden. Dies schürte sicherlich zusätzlich die
„gefährlichen Spannungen zwischen verschiedenen Volksgruppen“. Im Jahr 1942 – Anfang
Juli waren die meisten „Neuzugänge“ an „Ostarbeitern“ verzeichnet worden – hatte die diskri-
minierende Behandlung jener Menschen wohl einen negativen Höhepunkt erfahren.220 Sturm
beklagte nun als Leiterin der „Abteilung Sozialreferat“ und „Verwalterin der Ausländerinnen-
baracke“ neben der langen Arbeitszeit ferner „die sich widersprechenden Weisungen in Bezug
auf deren Behandlungen – man braucht Nerven wie Stricke und ein absolut unbeugsames
Rückgrat“.221 Während die Arbeitskräfte aus dem Osten die wenige Zeit, die sie nicht im Werk
arbeiten mussten, unter widrigen Umständen in den Baracken zu verbringen gezwungen
waren, wusste Sturm sich in ihrer freien Zeit zu erholen und zu „studieren“:
„Sonntags umgebe ich mich mit den Dingen die ich liebe, als: Bücher, Bauernschmuck,
den ich hier gesammelt habe, Biedermeier Stickereien, auch aus der hiesigen Gegend, und
212 BArch, R9361/V 37469; Sturm, 18. Februar 1941, an die Reichsschriftumskammer.
213 UAL, Ethnologie Re XVIII; Sturm, 18. Februar 1943, an Reche.
214 Vgl. Sandgruber 2010.
215 Sandgruber 2010, 178.
216 BArch, R9361/V 37469; Elisabeth Sturm, 14. Juni 1941, an den Präsidenten der Reichsschriftumskammer.
217 UAW, Nationale Philosophen 1941 St-Z und WS 1941/42 S.
218 BArch, R9361/V 37469; Elisabeth Sturm, 14. Juni 1941, an den Präsidenten der Reichsschriftumskammer.
219 UAL, Ethnologie Re XVIII; Sturm, 18. Februar 1943, an Reche.
220 Sandgruber 2010, 196–199.
221 Ebd.; Sturm, 18. Februar 1943, an Reche.
768 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
dann lese ich so lange, bis ich nicht mehr kann und dann be’handle’ ich im wahrsten Sinn des
Wortes meine alten Volkstumszeugen, die ich nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den
Fingerspitzen geniesse. Die Worte ‚behandeln’ und ‚begreifen’ sind sooo wahr!“222
Aufgrund der Lebens- und Arbeitsbedingungen in Lenzing war der Gesundheitszustand
der Menschen katastrophal.223 Extrem bedrohlich waren ansteckende Krankheiten, die sich bei
den herrschenden Umständen schnell zur Epidemie entwickeln konnten. Dies betraf auch die
übertragbare Augenkrankheit Trachom, die bei Nichtbehandlung zur Erblindung führen kann.
Offensichtlich wurden diesbezüglich Kontrollen durchgeführt. Da sich Sturm sowohl für diese
Krankheit als auch für „Völker- und Rassenkunde“ interessierte, sah sie in Lenzing Gelegen-
heit, sich beidem zu widmen – zumindest an „freien Sonntagen“:
„Ich hab auch sehr interessante Gelegenheiten, die Volksdeutschen Lager und die Fremd-
völkerlager des Gaues kennen zu lernen, weil ich mich für Trachom interessierte und da eine
ständige Kontrolle eingerichtet ist. Ich begleite an freien Sonntagen die Primarius Dr. L., die
dafür eingesetzt ist, helfe bei der Behandlung und sehe da ungeheuer viel Praktisches.“224
Zu den Ostarbeiterinnen und -arbeitern zählten auch die „Kalmücken“, die als eigene Na-
tionalität verzeichnet wurden,225 möglicherweise, weil sich im Krieg eine größere Anzahl kal-
mückischer Männer in Opposition gegen stalinistische Zwangsmaßnahmen der Wehrmacht
angeschlossen hatten. Auch bei Sturm fanden diese Menschen besondere Erwähnung: „Die
grosse Volksgruppe der Kalmücken, die wir haben, nötigt mir immer neue Hochachtung
ab.“226
Der eigentliche Grund, warum Sturm im Februar 1943 diesen Brief an Reche schrieb, war
ihr großes Anliegen, ein Exemplar seines Buches „Rasse und Heimat der Indogermanen“ zu
bekommen. Sie habe „vergeblich bei so vielen Buchhandlungen gefragt“. Sie benötige es
dringend, da sie der „Gefolgschaft im hiesigen Heimatmuseum immer wieder kleine Einblicke
in die Vorgeschichte oder auch Geschichte und Kunstgeschichte geben muss, seit die Leute
wissen, dass ich mich mit diesen Dingen beschäftige – und mich dies Interesse unserer ein-
fachsten Arbeiter und Bauern sehr freut, möchte ich soo gern in Ihrem Buch nachlesen, immer
wieder! Denn die Leute fragen – glücklicherweise und – docende disco – hoffentlich.“227
Es gab einen weiteren Anlass für Sturm, die im Mai 1942 in die NS-Frauenschaft eingetre-
ten war,228 Reches Buch zu erhalten, nämlich, dass sie „hier im Werk die erste ständig laufende
rassenpolitische Schulung für unsere Frauen und Mädchen mit Unterstützung des Gauamtes
und durch dessen Rednerin eingerichtet“ hatte.229 Ihren zweiseitigen Brief an Reche hatte sie
mit folgenden Worten eingeleitet: „Ich habs [...] noch nicht aufgegeben, zu studieren, sondern
ich stehe mitten drin, obwohl sooo weit vom Schuss und doch so sehr an der Front. Das klingt
etwas paradox.“ Es sei zwar nun schon zwei Jahre her, dass sie sich von Reche und dem Ins-
titut verabschiedet habe, ihre „Treue zur Universität überhaupt und zur alten Leipziger Uni-
versität ist jedoch die gleiche geblieben“.230 Gegen Ende des Briefes kam sie nochmals auf das
Studium zurück:
222 Ebd.
223 Im Werk wurden Betriebsärzte eingestellt, Unfallstationen und eine spezielle Augen-Heilstube eingerichtet, da
219).
224 UAL, Ethnologie Re XVIII; Sturm, 18. Februar 1943, an Reche.
225 Vgl. Sandgruber 2010, 197.
226 UAL, Ethnologie Re XVIII; Sturm, am 18. Februar 1943, an Reche.
227 Ebd.
228 BArch, R 9361-IX Kartei/43841109; Aufnahme-Erklärung, NS-Frauenschaft. Hier gab Sturm an, verwitwet zu
sein.
229 UAL, Ethnologie Re XVIII; Sturm, am 18. Februar 1943, an Reche.
230 Ebd., Herv. im Orig.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 769
„Es wird nicht bald ein Student, der noch nicht mal fertig ist, so viel Gelegenheit haben, in
weite Schichten hinaus praktisch zu wirken, wie ich. Sie glauben sicherlich nicht, wie unend-
lich dankbar ich der Universität Leipzig bin, die mir durch Sie, Volkelt und Gadamer so viel
in so kurzer Zeit gegeben hat, und in der ich hoffe, doch noch einmal zu promovieren und
wenn ich darüber 50 Jahre alt wird [sic].“231
Reche freute sich sehr über das „freundliche Schreiben“. Er empfahl seiner ehemaligen
Studentin zu versuchen, sein Indogermanen-Werk in einem Antiquariat zu erhalten. Dem üb-
rigen Inhalt ihres Briefes hatte Reche auch Interesse entgegengebracht:
„Sehr interessant ist sicher Ihre Arbeit bei deutschen Volksgruppen, aber auch in den Aus-
länderinnenbaracken. Sie schreiben übrigens, daß die Volksgruppe der Kalmücken immer
neue Hochachtung abnötigen; es würde mich interessieren darüber Näheres zu erfahren, auch
über das Rassische der Leute.“232
Sturm kam tatsächlich noch einmal für das Sommersemester 1943 zum Studium nach
Leipzig.233 Für die sich anschließende Zeit lag Sandgruber eine „Mitteilung der Sicherheitsdi-
rektion für Oberösterreich vom 12. 5. 1966“ vor, es habe „eine ‚gewisse Elisabeth Sturm‘, geb.
30.6.1895 [...] das Frauenlager in Lenzing geleitet“.234 Welches „Frauenlager“ genau gemeint
sein könnte, ist noch nicht geklärt. Bei Sandgruber erscheint diese Aussage im Kapitel „Das
Frauen-Konzentrations-Außenlager“. Dieses „Außenlager“ wurde im Herbst 1944 in Len-
zing-Pettighofen als Nebenlager des KZ Mauthausen eingerichtet. Ende Oktober 1944 und im
Jänner 1945 wurden mindestens 577 Frauen überwiegend aus dem KZ Auschwitz in Viehwa-
gons gezwungen und in dieses Lager gebracht. Täglich mussten sie in die rund fünf Kilometer
entfernte Lenzinger Zellwolle-Fabrik zu Fuß gehen, um dort zu arbeiten. Ab Jänner 1945
wurden die Frauen zu Reparatur- und mitunter schweren Bauarbeiten auf dem Werksgelände
oder in der Umgebung herangezogen. Die entsprechenden Akten in der „Zentralen Stelle zur
Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen Ludwigsburg“, die eine Reihe von Zeu-
ginnenaussagen beinhalten, vermitteln einen Eindruck von den grausamen Verhältnissen,
unter denen die Frauen dort leben und arbeiten mussten, bis das Lager am 8. Mai 1945 von der
US-amerikanischen Armee befreit wurde.235
Die unmittelbaren Nachkriegsjahre verbrachte Sturm vermutlich im südlich von Lenzing
gelegenen Attersee, wo sie auch 1942 in die NS-Frauenschaft eingetreten war.236 Von hier aus
stellte sie am 3. Juni 1948 ein „Nachsichtsgesuch gemäß §27 Verbotsgesetz 1947“. Im Akt
heißt es: „Seit 1941 hat Frau Elisabeth Sturm die Fürsorgemaßnahmen in der Lenzinger Zell-
wolle- und Papierfabrik organisiert und praktisch durchgeführt.“237 Sturm strebte nun „eine
Wiederverwendung in einem sozialen Berufe“ und „die Aufhebung der Pensionskürzung an“.
Unter „Begründung des Gnadengesuchs“ steht zu lesen:
231 Ebd.; Sturm, am 18. Februar 1943, an Reche. Es handelt sich hier um Hans Volkelt (1886–1964) und Hans-Georg
Gadamer (1900–2002).
232 UAL, Ethnologie Re XVIII; Reche, 26. Februar 1943, an Sturm.
233 UAL, Rep. B 091, S. 233.
234 Zit. in Sandgruber 2010, 258. Das Originaldokument liegt bislang nicht vor. In den Akten BArch, Außenstelle
Landesarchiv Linz hat sich bisher kein entsprechendes Dokument gefunden (Goldberger, E-Mail 2020). Laut
schriftlicher Mitteilung von Roman Sandgruber enthält jenes Schreiben über diese Information hinaus keine wei-
teren Angaben zu Elisabeth Sturm (Sandgruber, E-Mail 2017).
235 Vgl. die Akten BArch, Außenstelle Ludwigsburg B 162/3729, B 162/3730 und B 162/3731; vgl. Sandgruber 2010,
227–286; verfügbar unter: <https://www.mauthausen-guides.at/aussenlager/kz-aussenlager-lenzing> (Zugriff
4. April 2020).
236 BArch, R 9361-IX Kartei/43841109; Aufnahme-Erklärung, NS-Frauenschaft.
237 ÖStA, AdR, PK 2Rep AR NS Buchstabe R-Z 14/8.424/1948. Unter „Name, persönliche und Familienverhältnisse,
Vorleben, Einstellung zur Republik Österreich“, o.D. (3./4. Juni 1948).
770 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
„Sturm Elisabeth hat ihre Zugehörigkeit zur NSDAP niemals mißbraucht und war inner-
lich stets antinationalsozialistisch eingestellt. Ihrer Einstellung entsprechend hat sie politisch
und rassisch Verfolgte in aufopferndster Weise und nicht zuletzt materiell unterstützt.“238
Während die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter Jahrzehnte allein auf die An-
erkennung ihrer Forderungen nach „Entschädigung“ warten mussten und die meisten dies gar
nicht mehr erlebten, bewilligte im Falle von Elisabeth Sturm der damalige Bundespräsident
Karl Renner schon einen Tag nach Antragstellung „die Ausnahme von der Behandlung nach
den Bestimmungen der Artikel III u. IV VG 1947 und von den in besonderen Gesetzen enthal-
tenen Sühnefolgen“ mit den entsprechenden Einschränkungen.239
Sturm zog – wie schon in den Jahrzehnten zuvor – immer wieder um. Sie starb schließlich
in Innsbruck im Februar 1960 im Alter von 64 Jahren.240
Viele Fragen zu Elisabeth Sturm bleiben offen. Aus ihrem einen Brief an Reche geht je-
doch unter anderem Folgendes hervor (vorausgesetzt, dass er weitgehend die Wahrheit wie-
derspiegelt): Das während des Studiums der „Rassen“- und Völkerkunde angeeignete Wissen
konnte durchaus auch in der Industrie gefragt sein, zumindest insofern das Werk NS- bzw.
SS-Funktionären unterstellt war und ausländische Arbeitskräfte – oftmals unter Zwang – ein-
gesetzt wurden. Sturm konnte ihre „Kenntnisse“ in vielfältiger Weise einbringen: als Muse-
umsführerin, in der „rassenpolitischen“ Ausbildung des heimischen Personals und in der di-
rekten „Verwaltung der Ausländerinnen-Baracken“, wobei sie offensichtlich in unmittelbarer
Berührung mit den Frauen stand. Darüber hinaus nutzte sie für sich ihre Anstellung, um sich
auch „fortzubilden“. Offensichtlich bar jeden Skrupels, stattdessen voller Stolz berichtete sie
ihrem ehemaligen Lehrer Reche von ihren abwechslungsreichen Tätigkeiten und den vielen
Gelegenheiten, „in weite Schichten hinaus praktisch zu wirken“.241 Reche brachte ihren Aus-
führungen Interesse entgegen und zollte Elisabeth Sturm Anerkennung.
Leipzig: Fritz Krause, Schmidls Fürsprecher und Koppers’ potenzieller Nachfolger
In Leipzig hatte Reche in dem Amerika-Spezialisten Fritz Krause (1881–1963)242 einen Kon-
trahenten in führender Position. Nach dem Tod Karl Weules (1864–1926) hatte Krause vorü-
bergehend die Leitung des Leipziger Museums für Völkerkunde, des Ethnographischen Semi-
nars und des Staatlich-Sächsischen Forschungsinstituts für Völkerkunde inne. 1927 übernahm
Reche das Seminar und das Forschungsinstitut, während fortan Krause als Museumsdirektor
amtierte. Im Gegensatz zu Reche wollte Krause die Völkerkunde von der „Rassenkunde“
trennen und hatte sich in diesem Kontext 1929 auch maßgeblich an der Gründung der „Gesell-
schaft für Völkerkunde“ beteiligt.243 Während seiner Interimszeit hatte Krause im November
Korbstudien durch das Staatlich-Sächsische Forschungsinstitut zugesagt.244 Mit Reches Beru-
fung nach Leipzig war Krause künftig nicht mehr für die Subventionierung des Projekts von
238 ÖStA, AdR, PK 2Rep AR NS Buchstabe R-Z 14/8.424/1948.
239 Ebd.; Renner, 4. Juni 1948: „Diese Ausnahme erstreckt sich nicht auf Sühnefolgen, die auf Grund einer Verurtei-
lung nach dem Kriegsverbrechergesetz [...] eintreten.“
240 Nach dem Krieg war Sturm nach Mödling gezogen, wo sie als „Sozialreferentin“ gemeldet war, anschließend nach
Wels, nach Seefeld, ab 1951 immer wieder nach Innsbruck, aber auch nach Nörting (Kreis Freising, nördlich von
München), wieder nach Wien in den siebenten Bezirk, abermals nach Nörting und wieder nach Innsbruck (Wiener
Stadt- und Landesarchiv, E-Mail 2017; Rubsch, E-Mail 2017 und Sakine, E-Mail 2017).
241 UAL, Ethnologie Re XVIII; Elisabeth Sturm, 18. Februar 1943, an Reche.
242 Zu Krause vgl. Wolfradt 2011, 96–131.
243 Auf die Gesellschaft für Völkerkunde wird weiter unten eingegangen.
244 UAL, Ethnologie Re XXXV.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 771
Schmidl verantwortlich. In den folgenden Jahren verteidigte Krause sie wiederholt gegenüber
Reches Vorwürfen, für eine solche Arbeit nicht fähig zu sein, auch dann, wenn Krause nach
eigener Aussage selbst bisweilen daran gezweifelt hatte. Gewiss fühlte er sich auch genötigt,
sich dafür zu rechtfertigen, Schmidl einst die Unterstützung zugesagt zu haben, denn von
-
gung zu stellen. Als Reche ab 1938 in jener Angelegenheit auch die nationalsozialistische
Gesetzgebung gegen Schmidl einsetzte, verteidigte Krause gegenüber Reche ganz deutlich die
Fähigkeiten und Kenntnisse Schmidls im Allgemeinen sowie ihre gesamten Aufzeichnungen
im Speziellen, die sie im Frühjahr 1939 gezwungenermaßen nach Leipzig geschickt hatte.
Reche hatte Krause erneut um eine Beurteilung gebeten,245 und Krause war nach zweimaliger
Durchsicht des Manuskripts und sicherlich auch in Kenntnis der tragischen Situation, in der
sich Marianne Schmidl befand, zu dem Ergebnis gekommen: „Fräulein Dr. Sch.[midl] ist un-
bedingt fähig, diesen Stoff wissenschaftlich zu bearbeiten, und sie ist wohl auch die Einzige,
die das auf Grund des von ihr gesammelten Materials vermag.“246 Krause gehörte neben Bern-
hard Ankermann zu jenen Kollegen von Marianne Schmidl, die sich 1939 nachweislich noch
für sie einzusetzen versuchten, als sie bereits aus ihrer Arbeit entlassen war und massiv unter
den Repressalien der Nationalsozialisten litt.
Im Jahr zuvor hatte im Juni 1938 der Hamburger Museumsdirektor Franz Termer (1894–
1968)247 eine Liste möglicher Kandidaten erstellt, die in Wien als Nachfolger für den entlasse-
nen Koppers infrage kämen.248 Er hatte neben Baumann und Hermann Trimborn (1901–1986)
gleichfalls Krause empfohlen. Termer, Trimborn und Krause waren alle auf Amerika speziali-
sierte Völkerkundler. Zu Krause bemerkte Termer unter anderem, er lehne zwar die Lehre W.
Schmidts ab, nicht aber die gesamte kulturhistorische Richtung. Dem verhältnismäßig positi-
ven Gutachten Termers über Krause stand jedoch die Auskunft des Anatomen Max Clara
(1899–1966) gegenüber. Der gebürtige Südtiroler Clara war nach seinem Studium in Inns-
bruck und Leipzig und anschließenden Tätigkeiten in Italien 1935 in das nationalsozialistische
Deutschland gezogen. Im selben Jahr war er der NSDAP beigetreten, hatte die deutsche
Staatsbürgerschaft erhalten und wurde Direktor der Anatomischen Anstalt in Leipzig.249 Zu
dem Zeitpunkt, als er um eine Beurteilung Fritz Krauses gebeten wurde, war Clara kommissa-
rischer Dozentenführer der Universität Leipzig. Vermutlich bezog sich Clara auf Krauses Tä-
tigkeit als nichtplanmäßiger außerordentlicher Professor für Völkerkunde, eine Position, die
Krause seit 1925 neben der Leitung des Museums innehatte. Jedenfalls leide Krauses Lehre,
so Clara, unter einer „trockenen Vortrags- und Redeweise“. Wohl sei er politisch zuverlässig,
wenngleich er keine „politische Mitarbeit“ leiste. Krause habe „jedoch durch Halten von
Vorträgen im Volksbildungshaus seine Einsatzbereitschaft gezeigt“.250 Im Herbst 1938 bat
Viktor Christian (1885–1963), Dekan der Philosophischen Fakultät und kommissarischer
Leiter des Wiener Instituts für Völkerkunde, Krause um einen Lebenslauf und eine Veröffent-
lichungsliste und nannte ihn im Oktober 1938 in der Kommissionssitzung gleichwertig neben
Baumann an erster Stelle als potenziellen Nachfolger von W. Koppers. Letztendlich erhielt
den Ruf nach Wien bekanntlich Baumann, der im engeren Kontakt mit Christian stand, weit
245 UAL, Ethnologie Re XXXV; Reche, 12. Mai 1939, an Krause.
246 MVL, SES, NL Krause 16.Q.; Krause, 3. Juli 1939, an Reche. Detailliert hierzu und allgemein zu Marianne
Schmidl siehe Geisenhainer 2005 und die beiden Kapitel in diesem Band.
247 Zu Termer vgl. H. Fischer 1990, 197–203; Kophamel 2017.
248 Die Diskussionen um einen Nachfolger für den 1938 entlassenen P. W. Koppers in der Leitung des Wiener Instituts
sind in dem Beitrag von Gohm/Gingrich (2010) sowie Gohm/Gingrich in diesem Band ausführlich dargelegt,
worauf im Folgenden grundlegend und weiterführend verwiesen sei.
249 Zu Clara vgl. Rau 2015.
250 Zit. nach Gohm/Gingrich 2010, 179.
772 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
mehr als Krause einen kulturhistorischen Ansatz vertrat und dessen Spezialisierung auf Afrika
den damaligen, nicht zuletzt kolonialrevisionistischen Interessen eher entsprach als Krauses
Amerika-Schwerpunkt.
Hamburg: Franz Termer, Martin Gusinde und der 27. Internationale
Amerikanisten-Kongress
Der im vorherigen Abschnitt bereits erwähnte Franz Termer fungierte seit 1935 als Leiter des
Hamburger Museums für Völkerkunde und außerdem als Vorsitzender der Fachgruppe Ame-
rika innerhalb der Gesellschaft für Völkerkunde. Er war oftmals Ansprechpartner für all die-
jenigen, die diesen regionalen Schwerpunkt innerhalb der Ethnologie in Deutschland vertra-
ten.251 Weder war Termer ein streitbarer Charakter noch schien seine anthropogeographische
Ausrichtung vollkommen unvereinbar mit den meisten anderen theoretischen Orientierungen
zu sein.252 Auch diese Zuschreibungen prädestinierten ihn für die Rolle als Mittler für Völker-
kundlerinnen und Völkerkundler mit eben jener regionalen Ausrichtung.
Den überlieferten Dokumenten nach war es in Wien insbesondere Gusinde, der den Kon-
Amerikanisten-Kongress.253 Im Vorfeld des für 1938 angesetzten Kongresses schrieb Gusinde
im Juli 1937 an Termer, er habe bisher noch nichts über den Kongress erfahren; es würden die
„europäischen Mitglieder des Committé sozusagen ganz versagen“, ihm seien „nicht einmal
mehr deren Namen“ bekannt – und daher hätten sich die „Südamerikaner des ganzen Kongres-
ses bemächtigt und seitdem zieht jede Republik an ihrem eigenen Strick“. Gusinde prophezei-
te, „[w]enn Europa nicht wieder die Führung in die Hand nimmt, ist es mit den Amerikanisten-
Kongressen für immer zu Ende“.254
österreichischen, schweizerischen und deutschen Mitglieder zählten zu ihnen aus Wien neben
Gusinde auch Georg Höltker (1895–1976), W. Koppers, Eugen Oberhummer (1895–1944),
auch der in Wien geborene Arthur Posnansky (1873–1946), ferner Röck und W. Schmidt.255
Rund zwei Wochen nach dem NS-Einmarsch in Österreich schrieb Gusinde an Termer, er
habe erfahren, dass dieser „den ehrenvollen Auftrag vonseiten der Deutschen Regierung erhal-
ten“ habe, „die Führung der deutschen Amerikanisten zum nächsten Amerikanisten-Kongress
zu übernehmen“. Zum einen bat Gusinde um Details bezüglich des Kongresses, und zum
anderen eruierte er erstmals auch die Möglichkeit, sich dieser Delegation anzuschließen, der
auch Krickeberg und Trimborn angehörten:
„Sollte die Deutsche Regierung die genannten Herren beauftragt haben zur Teilnahme am
Kongress, wird sie wohl auch einige Mittel bereitgestellt haben. Von den wenigen, die hier im
österreichischen Lande sich mit Amerikanistik beschäftigen, wäre ich der einzige, der sich
bewerben möchte, dass mir die Teilnahme am Kongress durch eine Subvention vonseiten der
Regierung ermöglicht würde.“256
251 Vorstand der Gesellschaft für Völkerkunde 1933, 2.
252 Nach Hans Fischer hatte sich Termer nicht deutlich wissenschaftstheoretisch positioniert bzw. „nicht eine einzige
theoretische, methodische oder wissenschaftstheoretische Arbeit“ publiziert, „die allgemein-ethnologisch wäre“
(H. Fischer 1990, 200). In seiner publizierten „Werkbiographie“ bezeichnete der Politologe Wolfgang Kophamel
hingegen Termer mit dessen anthropogeographischen Ausrichtung als einen „Wegbereiter“ der nationalsozia-
listischen Blut-und-Boden-Ideologie (Kophamel 2017). Zu Termer vgl. auch Penny 2019, insb. 157–200.
253 -
treter unterschiedlicher Disziplinen mit Schwerpunkt auf dem gesamten amerikanischen Kontinent kommen hier
zusammen, um ihre jeweiligen Forschungen vorzustellen und zu diskutieren.
254 MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455; Gusinde, 10. Juni 1937, an Termer.
255
256 MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455; Gusinde, 27. März 1938, an Termer.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 773
Gusinde bat Termer um vertrauliche Mitteilung, „ob mein Gesuch noch günstig beantwor-
tet werden könnte; von hier aus würde es jedenfalls durch den jetzigen Unterrichtsminister
noch bestens befürwortet werden, damit eben auch die Ostmark auf dem Kongress vertreten
sei“.257 Bei der Planung, welche deutsche Wissenschafter am Amerikanisten-Kongress teilneh-
men sollen, wurde sicherlich noch nicht der mögliche „Anschluss“ Österreichs und die damit
verbundene Zuständigkeit des Deutschen Reiches auch für Wiener Wissenschafter einkalku-
liert. Diese hatten jetzt möglicherweise das Nachsehen. Dementsprechend antwortete Termer,
dass zwar ein „Gesuch [...] wegen Teilnahme am Amerikanisten-Kongreß empfehlenswert
wäre“, er aber „nicht versichern könne, „ob die knappen Mittel, die für uns drei, Krickeberg,
Trimborn und mich, in Aussicht gestellt wurden, vergrößert werden können, sodaß Sie noch
als Vierter dazukommen. Aber da ja jetzt alles durch die Eingliederung Österreichs verändert
worden ist, würde ich Ihnen doch raten, den Versuch zu machen.“ Termer unterrichtete außer-
Jahr 1939 verschoben würde und empfahl ihm, am Internationalen Kongress in Kopenhagen
teilzunehmen, „wo ja eine amerikanistische Sektion tagen wird“.258
Gusinde wollte sowohl am Internationalen Kongress in Kopenhagen als auch am nächsten
-
te.259 Im Oktober 1938 und abermals im Mai 1939 fragte er Termer erneut, ob dieser meine,
dass er sich „den Herren anschliessen könnte, die bereits von der Deutschen Regierung als
Delegierte in Aussicht genommen worden sind und die von Ihnen geführt werden?“. Gusinde
plante in diesem Fall, „im Anschluss an den Kongress noch in Ekuador, Chile & Argentinien
allgemeine Vorträge zu bieten“. Er sei jedoch vollkommen auf „eine Beihilfe von seiten der
Regierung“ angewiesen.260 Seine „kleine Hoffnung [...], in Wien auf die theolog. Fakultät ge-
rufen“ zu werden, bestünde kaum noch. Die Situation in der Leitung des Völkerkundlichen
und des Anthropologischen Instituts in Wien fasste Gusinde in einem Satz zusammen: „Vor-
-
logie (früher Weninger) besetzt werden.“261 Vermutlich wusste Gusinde nicht, dass Termer im
Juni 1938 dem Wiener Dekan Christian mögliche Kandidaten für die Nachfolge von Koppers
empfohlen hatte.262
257 Ebd.; Gusinde, 27. März 1938, an Termer.
258 Ebd.; Termer, 29. März 1938, an Gusinde.
259 Ebd.; Gusinde, 13. Mai 1938, an Termer. Zu Gusinde siehe Rohrbacher in diesem Band.
260 Zu jener Zeit bemühte sich Gusinde zunächst vergebens um einen Druckkostenzuschuss für die Publikation seiner
„Anthropologie der Feuerländer“. Er müsse sich, so schrieb Gusinde, „jetzt nach einer Unterstützung und Beihilfe
umsehen, da er diesem Werke möglichst viele Bildbeigaben anfügen“ wolle (MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455;
Gusinde, 6. Oktober 1938, an Termer). Im Februar 1939 sollte ihm seitens der Wiener Akademie der Wissenschaf-
ten schließlich eine Subvention gewährt werden (vgl. Rohrbacher in diesem Band).
261 MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455; Gusinde, 6. Oktober 1938, an Termer (Abb. 22.3).
262 Termer hatte Baumann, Krause und Trimborn vorgeschlagen (vgl. Gohm/Gingrich 2010, 174–179 sowie Gohm/
Gingrich in diesem Band).
774 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Abb. 22.3a, b
Gusindes Bemühungen um eine Teilnahme am Amerikanisten-Kongress 1939.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 775
Abb. 22.3b
776 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Gleichsam nebenbei, aber in Gusindes Augen wohl doch von Bedeutung, erwähnte dieser
gegenüber Termer noch, er gehöre dem Reichskolonialbund „selbstverständlich an“ und habe
sich „zur Mitarbeit angeboten“, wenngleich er „nur einen kleinen Teil der deutschen Kolonien
aus eigenem Erleben kenne“. Es seien ohnehin „hierzulande [...] vorwiegend die ‚Theoretiker
in Kolonialfragen‘ vorherrschend, die erst seit ganz wenig Zeit sich damit beschäftigen; da ist
für einen ‚alten Praktikanten‘ kein Platz“.263 Offensichtlich zog Gusinde in Betracht, wieder
nach Chile zurückzukehren. Hier war er von 1912 bis 1924 tätig gewesen, und von hier aus
hatte er seine vier Expeditionen im Süden Südamerikas durchgeführt.264
Wie des Öfteren in jener Zeit nach dem „Anschluss“ österreichische Wissenschafter ihre
deutschen Kollegen um Rat in administrativen Fragen baten, so holte nun auch Gusinde bei
Termer konkrete Auskünfte ein, an „welche behördlichen Stellen“ er sich wenden müsse, oder
ob Termer sein „Gesuch vermitteln“ könne. Es seien ja wohl „die Behörden in Wien“ nun
nicht mehr „zuständig“. „Empfehlungen könnte ich allerdings z. B. von der Akademie der
Wissenschaften in Wien beibringen.“265 Außer ihm selbst, schob Gusinde nochmals nach,
käme für eine Angliederung an eine „von der Deutschen Regierung schon bestimmten Dele-
gation“ aus „dem ehemaligen Österreich“ niemand in Betracht. Röck hätte „rundweg“ abge-
lehnt. „Allein schon sein Gesundheitszustand verbietet ihm diese Reise.“ Er, Gusinde, habe
„mit den Herren, die bisher für diesen Kongress von der deutschen Regierung bestimmt wor-
den sind [...] gute Beziehungen“; Gusinde erwartete also „auch von dieser Seite keine
Schwierigkeiten“.266 Termer, der gerade von einer siebenmonatigen Reise aus Guatemala zu-
rückgekehrt war und wohl daher länger nicht auf die Schreiben von Gusinde reagiert hatte,
empfahl diesem, direkt „eine entsprechende Eingabe an das Reichsministerium“ in Berlin
zusammen mit der „Empfehlung der Akademie der Wissenschaften Wien“ zu senden. Termer
äußerte abermals, Gusinde könne nicht mit einer „Unterstützung vom Reich“ rechnen und
müsse sich diese „von anderer Seite her beschaffen“.267 Nach Erhalt des Briefes machte sich
Gusinde „keine Hoffnungen mehr“ auf Subventionierungen268 und nahm am Amerikanisten-
Kongress nicht teil.269 Zur deutschen Delegation zählten schließlich der 83-jährige Max Uhle
(1856–1944) und Trimborn.270 Wie an anderen internationalen Kongressen nahmen auch an
diesem Amerikanisten-Kongress Emigranten aus Deutschland teil. Zu ihnen zählte Max Ku-
czynski (1980–1967), Bakteriologe, Pathologe und Anthropologe, der noch vor seiner Entlas-
sung aus dem Berliner Universitätsbetrieb im Sommer 1933 über einige Zwischenstationen
nach Peru emigriert war.
Göttingen: Verbindungslinien nach Wien
In Göttingen hatte sich seit 1928 der auf Entdeckungsgeschichte spezialisierte Hans Plischke
erfolgreich für die Etablierung des Faches Völkerkunde eingesetzt: Die geschichtsträchtige
263 MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455; Gusinde, 6. Oktober 1938, an Termer.
264 „Was mich noch zurückhält ist die Notwendigkeit, meine Pygmäen-Arbeit fertigzustellen. Nach Santiago de Chile
kann ich ja jederzeit zurück und ich erhalte dort sofort meinen früheren Posten als Abteilungsleiter im staatl. Mu-
seum; das ist mir erst vor 2 Monaten erneut versichert worden,“ (MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455; Gusinde,
6. Oktober 1938, an Termer; vgl. hierzu auch Rohrbacher zu Gusinde in diesem Band.
265 MARKK-Archiv, 101-1, Nr. 1455; Gusinde, 9. Mai 1939, an Termer.
266 Ebd.; Gusinde, 11. Mai 1939, an Termer.
267 Ebd.; Termer, 11. Mai 1939, an Gusinde.
268 Ebd.; Gusinde, 15. Mai 1939, an Termer.
269 Rohrbacher, 13. September 2019, schriftliche Mitteilung. Im Tagungsband ist Gusinde jedoch als Teilnehmer
genannt (International Congress of Americanists (Hg.) 1942, XXIV, XXVIII).
270 Uhle war zugleich Repräsentant des Berliner Ibero-Amerikanischen Instituts und außerdem Vizepräsident im
Vorstand (vgl. International Congress of Americanists (Hg.) 1940, XIII, XV, XVIII.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 777
ethnographische Sammlung wurde der Lehre und Forschung zugänglich gemacht, die Völker-
kunde als Hauptfach eingerichtet und ein Seminar für Völkerkunde gegründet. Seit Mai 1933
NSDAP-Mitglied, stellte sich Plischke bereitwillig in den Dienst des NS-Staates und richtete
seine Veranstaltungen entsprechend aus.271 Eigens für die ethnographische Sammlung und die
Lehre war im Herbst 1933 mit der Errichtung eines neuen Gebäudes begonnen worden. 1940
übernahm Plischke außerdem die Vertretung des Prorektors und von Herbst 1941 bis Herbst
1943 das Rektorat der Universität Göttingen. Ferner war er Mitglied im Universitätssenat und
der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen.272 Mit diesen Positionen in einer der ange-
sehensten Universitätsstädte Deutschlands zählte Plischke in universitätspolitischer Hinsicht
sicherlich zu den ranghöchsten Völkerkundlern im gesamten Dritten Reich.
Verbindungen nach Wien bestanden sicherlich zu Baumann, nachweisbar aber auch zu
Bernatzik. Aus dessen Nachlass ist zu erfahren, dass zwar Plischke und Bernatzik schon in den
1920er Jahren miteinander korrespondierten, bis zu einem ersten persönlichen Treffen vergin-
gen jedoch noch einige Jahre. Wenige Tage vor dem „Anschluss“ Österreichs äußerte Bernat-
zik gegenüber Plischke, er habe sich „sehr gefreut, Sie endlich einmal persönlich kennenge-
lernt zu haben und das schöne Institut bewundern zu können, das Sie in so ausgezeichneter
Weise aufgebaut haben“.273 Bernatziks eigentliches Anliegen beinhaltete die Anfrage, ob
Plischke Interesse an einer ethnologischen Sammlung habe, die Bernatzik auf seiner geplanten
Reise nach Ostasien anlegen wollte.274 Offensichtlich antwortete Plischke nicht, was Bernatzik
in seinem nächsten Schreiben am 4. Mai 1938 – und damit nach dem „Anschluss“ – zu der
Äußerung veranlasste: „Da ich alter Pg. bin, können Sie jetzt ruhig auf mein Schreiben vom
5. III zurückkommen.“ Es begänne nun, nach „dem Taumel der Begeisterung, in dem wir uns
alle befunden haben, nach dem sich die Ideale, für die wir so lange gekämpft haben, verwirk-
lichen“, so Bernatzik, „wiederum langsam die nüchterne Arbeit des Alltags“. Dieses Mal bat
er Plischke um eine Empfehlung, wer für Bernatziks Werk „Völkerkunde“ den „Beitrag Vor-
derindien“ übernehmen könne.275 Dabei bewies Bernatzik, wie sehr er sich bereits die Weisun-
gen des NS-Regimes zu eigen gemacht hatte:
„Dieses Gebiet sollte von Dr. Meinhard, Berlin, bearbeitet werden. Nach Abschluß des
Vertrages erfuhr ich, daß der betreffende wegen seiner jüdischen Frau, die sich außerdem anti-
nationalsozialistisch betätigte, aus dem Verband des Museums entlassen wurde. Ich möchte
nun, wenn irgend möglich, diesen Beitrag austauschen.“276
Plischke hatte zunächst keinen Vorschlag für einen Ersatz Heinrich Meinhards, zeigte an
einer Sammlung prinzipiell Interesse und schickte ferner die von ihm formulierten „zentralen
Arbeitsziele der Völkerkunde“277 an Bernatzik, die dieser begrüßte. Seine eigene Arbeit, die
Bernatzik gerne auf dem Ethnologen-Kongress vorstellen wollte, liege „durchaus auf Ihrer
Linie“.278 Bernatzik wünschte sich außerdem, in Göttingen einmal ein „wissenschaftliches
Referat“ halten zu dürfen, „z. B. die Ethnologie als Basis der modernen Kolonisation“.279
Bernatzik und Plischke bekräftigten in ihrem Briefaustausch wechselseitig ihr Bekenntnis
zum Nationalsozialismus und zur Einbindung der Völkerkunde in die koloniale Bewegung. In
den nächsten Jahren sandten sie einander wiederholt ihre Schriften zu. Zu einer weiteren
271 BArch, R 9361-VIII Kartei/15910784.
272 Zu Plischke vgl. Geisenhainer 2020a; Kulick-Aldag 2000a; 2000b; Pütz 2009.
273 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.552.; Bernatzik, 5. März 1938, an Plischke.
274 Ebd.; Die geplante Reise konnte Bernatzik letztendlich nicht realisieren.
275 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.552.; Bernatzik, 4. Mai 1938, an Plischke.
276 Ebd.; (Abb. 22.4). Siehe dazu Rohrbacher zu Röck in diesem Band.
277 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.552.; Plischke, 7. Mai 1938, an Bernatzik.
278 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.552.; Bernatzik, 13. Mai 1938, an Plischke.
279 WBR HS, ZPH 1451 NLB, 2.1.552.; Bernatzik, 22. März 1939, an Plischke.
778 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Abb. 22.4
Bernatziks Überlegungen über den Ersatz seines bisherigen Mitarbeiters Meinhard, der mit einer „jüdischen Frau“
verheiratet sei. Der Brief war an Plischke gerichtet, dem er sich als „alter Pg.“ zu erkennen gab.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 779
persönlichen Begegnung sollte es 1940 kommen, als in Göttingen die „Arbeitszusammenkunft
deutscher Völkerkundler“ stattfand, auf die weiter unten noch eingegangen wird.
Am Rande sei ein Zusammentreffen zwischen Plischke und dem Paläobiologen Othenio
Abel erwähnt:280 Abel war 1935 als Ordinarius von Wien nach Göttingen gekommen, nachdem
man ihn in Österreich wegen seiner offenen antisemitischen Haltung in den vorzeitigen Ruhe-
stand versetzt hatte. Seine private Sammlung hatte er mit nach Göttingen genommen. Als er
1940 seinen ordentlichen Ruhestand vorbereitete und am Paläontologischen Institut seine pri-
vaten Unterlagen wie auch Gegenstände zusammentrug, äußerte man an der Universität Göt-
tingen über einige Monate hinweg wiederholt den Vorwurf, Abel habe aus der Sammlung auch
universitätseigene Exponate miteingepackt. Daraufhin betraute der Kurator Plischke als Treu-
händer und interimistischen Leiter des Paläontologischen Instituts, die Loslösung der
Abel’schen Privatsammlung aus dem Institut zu beaufsichtigen. Plischke empfahl, künftig
private Sammlungsstücke nicht mehr in die universitären Institutssammlungen zu integrieren,
da allein durch die Trennung der Exponate schon die gesamte Sammlung vorerst kaum noch
zu nutzen sei.281
Eine weitere Verbindung zwischen Wien und Göttingen bestand durch die Studentin
Susanne Eleonore (genannt Suse) Kälin (geb. 1922)282. In Stuttgart geboren, besuchte Kälin
hier die private Rothert’sche Mädchenrealschule, bis sie 1935 gemeinsam mit ihren Eltern
nach Göttingen zog, wo ihr Vater Josef Kälin (1887–1944) als Verwaltungsjurist dem Arbeits-
amt vorstand. Nach ihrer Reifeprüfung 1940 an der Städtischen Oberschule in Göttingen hatte
Suse Kälin zunächst das Studium der Naturwissenschaften aufgenommen und sich über
Plischke zusätzlich der Völkerkunde zugewandt.283 Für das Sommersemester 1943 ging sie
nach Wien. Hier belegte sie insgesamt zehn verschiedene Lehrveranstaltungen zur Ägyptolo-
gie, Urgeschichte, Philosophie, jedoch überwiegend zur Geographie und Völkerkunde. Zu
ihren Lehrern zählten u.a. Baumann, Röck, Menghin und Czermak.284 Außerdem lernte Suse
Kälin in Wien Erika Sulzmann (1911–1989) kennen, die 1940 von Frankfurt nach Wien gezo-
gen war und zu jenem Zeitpunkt schon den Großteil ihrer Recherchen für die Erstellung einer
„Stammeskarte von Afrika“ abgeschlossen hatte.285 Der Kontakt der beiden Frauen sollte die
nächsten Jahrzehnte überdauern.286
Ähnlich wie Marianne Schmidl (1890–1942) hatte auch Kälin zunächst Mathematik stu-
diert. War Schmidl anschließend mit einer Studie über Körbe in Afrika betraut, plante Kälin
eine „Bearbeitung der gesamtafrikanischen Töpferei“.287 Dieses Thema verfolgte Kälin auch
in Wien. Hier widmete sich die zwei Jahre jüngere Leopoldine Brandtner (1920–2003)288
einem ähnlichen Komplex. Genau auf diese Konstellation wies Baumann 1943 in einem Brief
an Plischke hin: Brandtner würde nun schon seit rund eineinhalb Jahren an ihrer Dissertations-
schrift sitzen und plane, im Sommer des Jahres die Arbeit abzuschließen. Brandtner sei berufs-
tätig und er wolle ihr jetzt nicht noch einen Themenwechsel zumuten. Baumann bedauerte,
dass man nicht „gegenseitig die in Arbeit stehenden Dissertationen kennen würde“, fragte sich
aber, wie das „am praktischsten geschehen“ solle.289
280 Zu Abel vgl. Taschwer 2015b.
281 Zu diesem Vorgang vgl. UAGöttingen, Kur. 1547.
282 Einige Daten zu Kälins Lebensweg bis 1945, siehe Zeugner 2012.
283 Vgl. UAGöttingen, Math. Nat. Prom 0723. Kälin: Lebenslauf, 31. März 1945.
284 Pospichal, E-Mail 2018.
285 Siehe Geisenhainer zu Sulzmann in diesem Band.
286 Rothenhäusler, Telefonat, 18. April 2019.
287 Kälin 1945 (Vorwort).
288 Zu Brandtner und ihrem Promotionsvorhaben vgl. Gohm-Lezuo 2014, 53–55.
289 UAW, IfE, A.1.12, S28; Baumann, 24. Mai 1943, an Plischke.
780 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
„Ich habe nun Frl. Kälin vorgeschlagen, entweder ganz auf das Thema zu verzichten oder
doch eine Beschränkung auf einige Gesichtspunkte vorzunehmen. Frl. Brandtner bearbeitet
nur die Technik der Töpferei. Es wäre somit möglich, dass die übrigen Aspekte des Handwer-
kes in einer Parallel-Arbeit von Frl. Kälin bearbeitet würden (also etwa Form- und Gebrauchs-
zweck, Ornamentik, Bemalung, Graphitieren, soziale und religiöse Bindungen).“290
Vermutlich wäre Kälin länger in Wien geblieben, familiäre Gründe – ihr Vater war krank
und starb 1944 – bewegten sie jedoch zu einer Rückkehr nach Göttingen.291
In Wien nahm sich Sulzmann im Frühjahr 1944 das Manuskript von Brandtner vor, das
diese Baumann zu lesen gegeben hatte. Inwiefern Sulzmanns massive Kritik nicht nur an
Form und Inhalt der Schrift, sondern auch an Brandtners „Grundwissen“ mitausschlaggebend
dafür war, dass Brandtner ihr Studium nie abschloss, kann bislang nur vermutet werden.292
In Göttingen hingegen vollendete Kälin ihre Arbeit. Sie behandelte zwar auch in einem
eigenen Kapitel die „Technik der Töpferei“,293 begrenzte sich jedoch allgemein auf Ostafrika.
Es ergab sich diese regionale „Einengung“, so erläuterte Plischke, „in den Monaten, wo die
völkerkundlichen Museen ihre Sammlungen nicht mehr zugänglich halten konnten und die
Büchereien ihre Bestände ebenfalls sicher stellen mußten“.294 Ihre über zweihundert Seiten
umfassende Dissertationsschrift „Die Töpferei in Ostafrika“ reichte Kälin im März 1945 ein.
Die Promotion fand letztendlich nicht an der Philosophischen Fakultät statt, wie sie beantragt
hatte,295 sondern an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät. Kälin wurde am
3. und 4. April 1945 im Hauptfach Völkerkunde und den Nebenfächern Geographie und Geo-
den US-amerikanischen Streitkräften übergeben wurde.296
Während Schmidl in Wien die erste Frau gewesen war, die im Fach Völkerkunde promo-
viert hatte, legte Kälin als erste Frau in Göttingen ihre Dissertationsschrift im Fach Völker-
kunde vor. Ihre Promotionsurkunde erhielt Kälin am 19. Dezember 1945.297 Nachweisbar
stand Kälin 1946 noch im Austausch mit der Zeichnerin und gleichfalls auf Keramik speziali-
sierten Maria Weyersberg (1886–1987), langjährige Mitarbeiterin am Frankfurter Frobenius-
Institut.298-
solvierte das Staatsexamen in Geographie, Physik und Mathematik und arbeitete als Lehrerin
in Wangen im Allgäu.299 Einen mehrmonatigen Besuch bei ihrer Schwester im Iran, wo diese
gemeinsam mit ihrem Mann als Ärztin tätig war,300 verband Kälin noch einmal mit einer völ-
kerkundlichen Studie: Ihre „Beobachtungen über das bäuerliche Leben und einige Handwerke
im südlichen Chorassan“ publizierte sie 1955 in der Festschrift für Plischke.301 Im Dezember
290 Ebd.
291 Rothenhäusler, Telefonat, 18. April 2019.
292 Zit nach Gohm-Lezuo 2014, 55.
293 Vgl. Kälin 1945, 49–80. Ob Sulzmann eventuell Kälin mit wesentlichen Hinweisen unterstützt haben könnte, die
sie aus Brandtners Arbeit bezogen hatte, ist ungewiss und heute nur schwer zu überprüfen. Sulzmann hatte im
Frühjahr 1944 Brandtners Arbeit in Wien vorliegen. Kälin war zu diesem Zeitpunkt schon wieder in Göttingen, wo
sie ihre Arbeit knapp ein halbes Jahr später „über den Winter“ in den letzten Kriegsmonaten maschinenschriftlich
abfasste (UAGöttingen, Math. Nat. Prom 0723; Gutachten von Plischke o.D.). Kopierer gab es noch nicht, und
aufgrund des Krieges war man an den Instituten und Museen neben den akademischen Tätigkeiten mit Bergungs-
arbeiten und ähnlichen Verrichtungen eigentlich ausgelastet.
294 UAGöttingen, Math. Nat. Prom 0723; Gutachten von Plischke o.D.
295 UAGöttingen, Math. Nat. Prom 0723; Kälin, 31. März 1945, an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Univ.
Göttingen.
296 Kälin 1945 (Lebenslauf auf der letzten Seite ihrer Arbeit).
297 UAGöttingen, Math. Nat. Prom 0723; Promotionsurkunde von Suse Kälin, 19. Dezember 1945.
298 Vgl. FI, VA 0086-04/05. Zu Weyersberg vgl. Stappert 2016, 81; 2019.
299 Rothenhäusler, Telefonat, 18. April 2019; Schröer, E-Mail 2018.
300 Rothenhäusler, E-Mail 24. April 2019.
301 Kälin 1955.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 781
desselben Jahres heiratete sie in Tübingen Ludwig Rothenhäusler und lebte dort fortan als
Hausfrau und Mutter.302
-
ments für die Ausrichtung des Faches auf koloniale Belange, worauf weiter unten eingegan-
gen wird.
Köln: Martin Heydrich und die Wiener Beteiligung am „Ethnologischen Anzeiger“
1933 war Julius Lips aus seinem Amt als Leiter des Rautenstrauch-Joest-Museums303 entlas-
sen worden.304 Der Student Andreas Scheller (1894–1977), seit Februar 1933 NSDAP-
Mitglied,305 hatte die kommissarische Museumsleitung ehrenamtlich übernommen und be-
mühte sich in den folgenden Jahren, den Museumsbetrieb im Sinne der Partei gemeinsam mit
Willy Fröhlich (1907–1971) und vorübergehend mit Kurt Baumgarten (1907–?) fortzuführen.
An der Universität fanden vorerst keine völkerkundlichen Veranstaltungen mehr statt. Im
April 1938 konnte schließlich der Dekan eine Liste mit potenziellen Kandidaten bei den zu-
ständigen Behörden der Stadt einreichen. An erster Stelle stand Struck, gefolgt von Ludwig
Kohl-Larsen (1884–1969), Plischke, Heydrich, Baumann und Paul Germann (1884–1966).306
Letztendlich trat Heydrich 1940 die Stelle in Köln an.
Heydrich war im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten und Mitglied einer Reihe von NS-
Unterorganisationen, vorübergehend auch der SA. Er betätigte sich als Referent unter ande-
rem für das Volksbildungswerk, das Rassenpolitische Amt sowie für den Reichskolonialbund
und beteiligte sich 1939 in Dresden an einer Kolonialausstellung. Im selben Jahr erhielt er das
Treudienst-Ehrenzeichen. Er galt im NS-Regime als politisch zuverlässig.307
Wie schon in seiner Dissertation, widmete sich Heydrich selbst insbesondere kunstethno-
logischen Fragen.308 Er stand kulturhistorischen Ansätzen wesentlich näher als gegenwartsbe-
zogenen Herangehensweisen, obgleich er sich stark für die Einbindung der Völkerkunde in
koloniale Belange einsetzte. Heydrich hatte zu Beginn der 1920er Jahre gemeinsam mit Krau-
se die regelmäßige Herausgabe einer ethnologischen Bibliographie geplant, eine Idee, die
-
trian Science and Art“, vermittelt durch Franz Boas (1858–1942),309 mit der ersten Ausgabe
des „Ethnologischen Anzeigers“ („EA“) umgesetzt wurde. Neben Heydrich fungierte Georg
Buschan (1863–1942) als Mitherausgeber. Experten stellten hierin in „selbstlose[r] Arbeit“
Literaturlisten zusammen, gegliedert nach regionalem Schwerpunkt. Im Anhang wurden
302 Rothenhäusler, Telefonat, 18. April 2019; Schröer, E-Mail 2018.
303 Zur Geschichte des Rautenstrauch-Joest Museums bis zu Beginn des NS-Regimes vgl. Pützstück 1995, 19–186.
304 Nicht zuletzt im Kontext des Plagiat-Vorwurfs gegen Julius Lips bestanden von Köln aus Ende der 1920er/Anfang
der 1930er Jahre Verbindungen nach Wien. Zum einen dienten u.a. die Schriften von Koppers und Schmidt als
Vorlage für die Lips’sche „Einleitung in die Vergleichende Völkerkunde“, die dazu auch – grundsätzlich pro Lips
– Stellung bezogen; zum anderen kam es in diesem Zusammenhang zu einem Prozess zwischen Paul Leser, der auf
zahlreiche Übereinstimmungen hingewiesen hatte, und Fritz Röck, von dem sich Leser verunglimpft fühlte (vgl.
UA, Paul Leser Papers, z.B. Box 56, Folder 21–25, gedankt sei an dieser Stelle Lothar Pützstück, der der Verf.
seine Unterlagen zur Verfügung stellte). Zu Julius Lips vgl. Fleck 2015, 118–119; Harms 2010; Kreide-Damani
2010; Liedtke 2010; Pützstück 1995, 1996.
305 Vgl. Pützstück 1995, 188.
306 Vgl. ebd. 1995, 301–310.
307 Vgl. ebd. 1995, 311–312.
308 Heydrich 1930, 43. Er sah eine enge Gemeinsamkeit von Völkerkunde und Kulturgeschichte und erblickte die
Aufgabe der Ethnologie „unbedingt über die Untersuchung des mehr oder minder wichtigen Einzelfalles hinaus“
in der „allgemeinen Kulturuntersuchung“, wobei Heydrich für eine Konzentration auf die „Naturvölker“ plädierte,
der „eigentliche[n] Domäne der Völkerkunde“ (Heydrich 1930, 28–39).
309 Vgl. BArch, R 73/16162.
782 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
„wichtige sowie durch Sprache und Erscheinungsort schwer zugängliche Arbeiten“ ausführli-
cher besprochen. Ferner fanden hier auch Mitteilungen, „Expeditionsberichte und kleinere
Originalarbeiten“ ihren Platz.310 In Wien begrüßte Koppers unmittelbar das Erscheinen des
„EA“: „Die Herausgeber haben für Arbeit und Mühe Anspruch auf viel Dank und
Anerkennung.“311 Einzelne Hefte erschienen mit fortlaufender Seitenzahl und wurden letzt-
endlich zu vier Bänden zusammengebunden, die jeweils mehr als ein Erscheinungsjahr um-
fassten.312
Heydrich war über den „EA“ mit Fachgelehrten im In- und Ausland und nicht zuletzt auch
in Wien vernetzt, wie beispielsweise von Beginn an mit Heine-Geldern, der Heydrichs „Un-
ternehmen auf das wärmste“ begrüßte313 und für seine Mitarbeit am „EA“ 1929 seinen „Schü-
ler Christoph Fürer-Haimendorf“ als „Helfer“ hinzuzog.314 Im August 1933 hatte Heydrich
dem Arabisten Hans Ludwig Gottschalk (1904–1981) seine Zuarbeiter vorgestellt:
„Mitarbeiter sind beispielsweise Professor Printz, der Bibliothekar der deutschen morgen-
ländischen Gesellschaft für Vorderindien, Professor Heine-Geldern, Wien, für Süd-Ostasien,
Dr. Byhan, Hamburg, und Professor Kagarow, Leningrad, für Nordasien, Dr. Ebeerhard [sic]
und Dr. Nachod für Ostasien. [...] Bisher bearbeitete den Abschnitt Westasien Herr Privatdo-
zent Dr. König Wien, vorher Professor Christian, Wien. Dr. König musste seine Mitarbeit
wegen Krankheit leider einstellen.“315
Gewissermaßen im Kontrast zu seiner Mitgliedschaft in Partei und weiteren NS-Organisa-
tionen bat Heydrich den entlassenen Gottschalk um Mitarbeit316 und ließ den emigrierten Mu-
sikethnologen Erich Moritz von Hornbostel (1877–1935) anlässlich seines Todes mit einem
Nachruf über eine dreiviertel Seite würdigen.317 Der Kontakt zu Heine-Geldern hingegen en-
dete vorerst mit dessen Emigration in die USA knapp vor dem „Anschluss“ Österreichs an das
Deutsche Reich. Bis dahin hatte er Rezensionen geschrieben und sich an der Zusammenstel-
lung der Bibliographie für Assam und für Südostasien federführend beteiligt.318 Da der vierte
und letzte Band des „EA“ die einzelnen Hefte seit Ende 1935 zusammenfasste und in gebun-
dener Form erst 1944 vorlag, enthielt er eben auch jene Beiträge von Heine-Geldern.319 Aus
Wien verfasste außerdem Gusinde eine Reihe von Besprechungen für den „EA“320 wie auch
einen Beitrag über die „Ituri-Pygmäen“321, und Bernatzik konnte über seine „Hinterindienex-
pedition 1936/37“ berichten.322
wandte sich Heydrich im November 1941 auch an den österreichischen Afrikanisten Johannes
Lukas (1901–1980), der 1934 einem Ruf an das Seminar für afrikanische Sprachen nach Ham-
310 Heydrich 1939, 233.
311 Koppers 1927.
312 Aus diesem Grund ist die Eruierung des exakten Erscheinungsjahres der einzelnen Beiträge oft schwierig. Sie
wurden hier aus anderen Quellen, wie z.B. aus Bibliographien ermittelt. Das Publikationsjahr des gesamten
Bandes steht in eckigen Klammern.
313 Vgl. HAStK, Best. 614, A11; Heine-Geldern, 14. Juni 1924, an Heydrich.
314 Vgl. ebd.; Heine-Geldern, 7. Oktober 1929, an Heydrich.
315 Ebd.; Heydrich, 3. August 1933, an Hans Gottschalk. Bei den hier genannten Personen handelt es sich um Wilhelm
Printz (1887–1941), Arthur Byhan (1872–1942), Eugen Kagarow (1882–1942), Wolfram Eberhard (1909–1989),
Oskar Nachod (1859–1933), Friedrich Wilhelm König (1897–1972) und Viktor Christian.
316 Vgl. ebd.; Heydrich, 3. August 1933, an Hans Gottschalk. Gottschalk entstammte einer jüdischen Familie und
wurde 1933 entlassen. Er war ein Schüler des Orientalisten Gotthelf Bergsträßer (1886–1933), der ihn bei Heydrich
empfohlen hatte, wie aus demselben Schreiben hervorgeht.
317 Anonym 1937 [1944], 119.
318 Vgl. HAStK, Best. 614, A6 und A11; Korrespondenz zwischen Heydrich und Heine-Geldern.
319 Vgl. z.B. Heine-Geldern 1935 [1944]; 1937 [1944].
320 Vgl. z.B. Gusinde 1937a [1944]; 1937b [1944]; 1937c [1944]; 1941 [1944].
321 Gusinde 1936 [1944].
322 Bernatzik 1939e [1944].
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 783
burg und damit in das nationalsozialistische Deutschland gefolgt war.323 Lukas, dem der „EA“
„als altem Assistenten und Bibliothekar des Museums für Völkerkunde in Wien wohlbekannt“
war, zeigte sich bereit, an der Bibliographie mitzuarbeiten.324 Darüber hinaus fragte Heydrich
an, ob Lukas nicht in Köln „im Hinblick auf die Vertretung der kolonialen Belange [...] den
afrikanischen Sprachen eine Vertretung zu geben“ bereit sei.325 Lukas teilte jedoch schließlich
mit, er habe „einen Ruf nach Berlin erhalten und angenommen“.326
Etwa zu jener Zeit begann auch der in Wien tätige Japanologe Alexander Slawik (1900–
1997) bis zu seiner Einberufung zu Beginn des Jahres 1942 eine Bibliographie zu Japan für
den „EA“ zu erstellen.327 Im März 1942 klagte Heydrich hinsichtlich dieser Tätigkeit über den
„Ausfall von Wien. Wie mir Baumann schrieb, sind z.Zt. dort alle Kräfte einberufen worden.“328
Auf Slawiks Vorschlag hin begann eine Studentin, die bereits für Masao Oka (1898–1982)329
gearbeitet hatte, „Frau Baronin“ Maria von Stackelberg (1903–1980), an der Bibliographie
über Japan und Korea mitzuwirken.330
Was die Patres Koppers und Schmidt betraf, zeigte sich Heydrich ihren Schriften gegen-
über nicht grundsätzlich abgeneigt, mit Koppers stand er auch weiterhin in Briefkontakt und
half ihm etwa mit Literatur aus.331
jedoch vermeiden: Im Jänner 1941 hatte er auf Anfrage von Koppers noch erklärt, er nehme
einen Bericht „über die Expedition nach Indien [...] im Ethn. Anz. natürlich gerne auf“332,
woraufhin Koppers seinen „Erstbericht über meine Forschungsgreise nach Indien“ rund zwei
Monate später an Heydrich sandte.333 Im Juli 1941 bat Heydrich beim Reichspropagandami-
nisterium „vertraulich“ um „eine Auskunft in einem zweifelhaften Fall“: Der für den Abdruck
im „EA“ eingereichte Artikel von Koppers „über seine ‚Völkerkundliche Forschungsreise zu
den Primitivstämmen Central-Indiens“ sei „rein wissenschaftlich und ohne politische Bemer-
kungen“ und eine Veröffentlichung würde „zweifellos eine Bereicherung“ bedeuten. Koppers
sei bis „zur Wiedervereinigung [...] Professor an der Universität Wien“ gewesen. Heydrich
gab an, nicht darüber „orientiert“ zu sein, ob Koppers „als Emigrant zu gelten hat“ und „ob es
aus politischen Erwägungen heraus angängig ist den erwähnten Artikel [...] aufzunehmen“. Er
gab zu bedenken, „daß der Artikel, falls er in einer deutschen Zeitschrift nicht erscheint, im
Ausland untergebracht wird“.334 Offensichtlich wurde der Abdruck des Koppers’schen Textes
von übergeordneter Stelle abgelehnt. Heydrich sandte das Manuskript an Koppers zurück und
ließ über Fröhlich mitteilen, der Beitrag könne „aus technischen Gründen [...] nicht aufgenom-
men werden“, obwohl er „dies sehr gerne getan hätte“.335 Andere Beiträge wurden in der Zwi-
schenzeit jedoch angenommen. Koppers konnte seinen Beitrag jedenfalls im Jahr 1942 in
323 HAStK, Best. 614, A11; Heydrich, 14. November 1941, an Lukas. Zu Johannes Lukas vgl. Rohrbacher 2010.
324 HAStK, Best. 614, A11; Lukas, 18. November 1941, an Heydrich.
325 Ebd.; Heydrich, 14. November 1941, an Lukas.
326 Ebd.; Lukas, 18. Februar 1942, an Heydrich.
327 Vgl. ebd.; Korrespondenz zwischen Heydrich und Slawik zwischen März 1941 und Februar 1942 sowie Heydrich,
19. Juni 1941, an Printz, der allerdings wenige Monate zuvor, am 23. Februar, gestorben war.
328 Ebd.; Heydrich, 16. März 1942, an Günter Wagner.
329 Zu Oka vgl. Scheid in diesem Band.
330 HAStK, Best. 614, A11; Slawik, 17. Juli 1941, an Heydrich. Vgl. auch HAStK, Best. 614, A 217; Korrespondenz
zwischen Heydrich und Maria von Stackelberg zwischen 1942 und 1944. Zu Beginn des Jahres 1943 wechselte sie
an das Osteuropa-Institut in Breslau (zu Maria von Stackelberg vgl. Arend 2009, 208–209).
331 Vgl. HAStK, Best. 614, A51; Korrespondenz von Heydrich mit Koppers.
332 Ebd.; Heydrich, 14. Jänner 1941, an Koppers.
333 Ebd.; Koppers, 6. März 1941, an Heydrich.
334 HAStK, Best. 614, A11; Heydrich, 30. Juli 1941, an den Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda,
Hauptreferat Zeitschriften (Abb. 22.5). Vgl. auch HAStK, Best. 614, A51; Koppers, 15. April 1941, an Heydrich.
335 HAStK, Best. 614, A51; Fröhlich, 21. September 1941, an Koppers.
784 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
„Internationales Archiv für Ethnographie“ publizieren, eine Zeitschrift, die das niederländi-
sche Museum für Archäologie in Leiden herausgab.336
Heydrich publizierte im „EA“ hingegen eine ausführliche Besprechung des „Handbuchs
der Methode der kulturhistorischen Ethnologie“ von Schmidt. Rezensent war der in der
Schweiz lebende deutsche Ethnologe Hans-Eberhard Kauffmann (1899–1986). Kauffmann
war in Mannheim aufgewachsen und wurde 1917 nach seinem Abitur im Ersten Weltkrieg an
der Westfront eingesetzt. Nach Kriegsende begann er in Heidelberg Recht und Politikwissen-
schaften zu studieren, folgte jedoch dem Wunsch der Eltern und schlug vorübergehend eine
„kaufmännische Laufbahn“ ein. Dem Umzug in die Schweiz, dem Herkunftsland der Mutter,
folgte 1926 die Einschreibung an der Universität Zürich für Geographie und Ethnographie im
Hauptfach und Anthropologie und Geschichte in den Nebenfächern.337 1934 promovierte
Kauffmann mit einer Arbeit über die „Landwirtschaft bei den Bergvölkern von Assam und
Nord-Burma“. Im März 1933 war er in Zürich in die Auslandsorganisation der NSDAP einge-
treten und übernahm im folgenden Jahr bis 1935 die Leitung der NSDAP-Sportgruppe in
Zürich.338 Um sich auf seine Feldforschung im Nordosten Indiens vorzubereiten ging Kauff-
mann 1935 nach Wien, wo er unter anderem Lehrveranstaltungen von Schmidt, Koppers,
Menghin und Pittioni besuchte339 und sich von Heine-Geldern in die Kunstgeschichte „Hinter-
indiens“ und dessen Sicht auf die „Megalithenfrage“340 einweisen ließ. Kauffmann traf in
Wien ebenso den zehn Jahre jüngeren Fürer-Haimendorf. Beide interessierten sich für diesel-
be Region in Indien, und beide planten eine entsprechende Forschungsreise, auf die sie sich
nun teils gemeinsam einstimmten.341 1936 brachen sie nach Indien auf, um dort die Region
aufzusuchen, die überwiegend von der Bevölkerungsgruppe der Naga besiedelt war.342 Nach
seiner Rückkehr reiste Kauffmann von Zürich aus in deutsche Städte, um hier Vorträge über
die Naga zu halten. Kaufmann bemühte sich bei dieser Gelegenheit, Kontakte zu NSDAP-
Funktionären zu knüpfen, die seiner Karriere dienlich sein könnten. Auch in Zürich engagierte
sich Kauffmann weiter für die Partei. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs begegneten die
Schweizer Behörden ihm zunehmend mit Misstrauen.343
Kauffmann hatte nach seinem Aufenthalt in Wien und seiner Indien-Reise weiterhin Kon-
takt zu Fürer-Haimendorf, zu Heine-Geldern und zu Baumann, als dieser bereits in Wien den
Lehrstuhl von Koppers übernommen hatte, sowie zu Koppers selbst, der ab 1940 in der
Schweiz lebte.344 Einige seiner Informationen gab Kauffmann nach Köln weiter. So hatte er im
April 1939 an Scheller geschrieben: „Hörten Sie schon, dass Bernatzik nach den Philippinen
will, v. Fürer-Haimendorf vor der Ausreise nach ‚Indien‘ (?) steht, Baumann Ordinarius in
Wien wurde, die grosse Bibliothek von St. Gabriel-Mödling bei Wien nach der Schweiz ver-
legt werden soll?“345
336 Koppers 1942.
337 Kauffmann 1934, 112.
338 Vgl. Stockhausen 2014, 164; HAStK, Best. 614, A19; Kauffmann, 24. April 1938 und 12. Oktober 1942, an
Heydrich.
339 Vgl. Kauffmann 1940 [1944], 275; Stockhausen 2014, 164–165.
340 Vgl. z.B. Heine-Geldern 1928.
341 Vgl. Stockhausen 2014, 164-173.
342 Vgl. Stockhausen 2014.
343 Vgl. Stockhausen 2014, 166–168.
344 Vgl. HAStK, Best. 614, A19; Kauffmann, 16. Juni 1943, an Heydrich. Siehe auch Stockhausen 2014, 168–173.
Von 1960 bis 1967 war Kauffmann als Honorarprofessor am Münchner Institut für Völkerkunde unter Baumann
tätig.
345 HAStK, Best. 614, A19; Kauffmann, 27. April 1939, an Scheller.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 785
Abb. 22.5
Heydrichs Anfrage beim Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda um Publikationsgenehmigung eines
Beitrags von Koppers, 30. Juli 1941. Heydrich war Herausgeber des „Ethnologischen Anzeigers“.
786 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Kauffmann teilte auch Heydrich mehrfach mit, was er über Fürer-Haimendorf erfahren
hatte, der sich wieder in „Vorderindien“ aufhielt, 346 und sandte Heydrich mitunter Briefe von
Fürer-Haimendorf abschriftlich zu.347 Kauffmann selbst reiste im Herbst 1943 nach Berlin.
Von seinem Plan, dort zu habilitieren, ließ er jedoch schließlich ab. Die Rückreise in die
Schweiz, wo seine Frau, seine Eltern und seine Schwester weiterhin lebten, wurde ihm indes-
sen aufgrund seiner Tätigkeiten für die NSDAP verwehrt.348 Im November 1943 bemerkte
Kauffmann im Hinblick auf Fürer-Haimendorf: „Es ist immerhin nicht ganz uninteressant,
dass in der heutigen Zeit ein deutscher Forscher von den Briten gleichsam als Regierungseth-
nologe beschäftigt wird.“ 349 Heydrich zog als Herausgeber des „EA“ daraus Konsequenzen –
nach seinen Angaben aus Rücksicht auf Fürer-Haimendorf:
„Ein deutscher Professor als englischer Regierungsethnologe in jetzigen Zeiten ist aller-
dings grotesk. Um aber keine politischen Schwierigkeiten für F. zu provozieren, habe ich mich
des EthnA zu bringen, obwohl ich dies natürlich gern getan hätte. Vielleicht können wir uns
einmal über den Fall mündlich unterhalten.“350
eine Stelle in Deutschland anstreben kann“.351
Solange Kauffmann noch in der Schweiz lebte, waren Schmidt und Koppers zu Kollegen
im eigenen Land geworden. Kauffmann unterrichtete Heydrich darüber, dass Koppers nun „in
Freiburg (Schweiz) mit Professor W. Schmidt Vorlesungen hält und daran herumbaut, ein
neues Anthroposinstitut zu errichten“.352 Im Sommer 1943 berichtete Kauffmann, er habe von
Koppers erfahren, es sei „das Institut St. Gabriel-Mödling beschlagnahmt [worden] für irgend-
welche staatl. Zwecke, doch haben die Herren die ganze grosse völkerkundliche Bibliothek
nach dem neuen Anthropos-Institut in Froideville-Posieux bei Freiburg/Schweiz zu schaffen
verstanden“.353
Kauffmanns Besprechung des Schmidt’schen „Handbuch der Methode der kulturhistori-
schen Ethnologie“ erschien 1940 im „EA“. Er übte zwar an einigen Stellen Kritik; letztendlich
zeige das Werk jedoch, „wie die Ethnologie bei konsequenter Durchführung der kulturhistori-
schen Methode der Erwartung und dem Rufe der anderen Wissenschaften zu entsprechen
vermag“.354 In seiner Rezension zeigte sich Kauffmann solidarisch mit Schmidt in dessen
Haltung gegenüber dem jüdischen Anthropologen Paul Radin (1883–1959): Radins „nieder-
trächtige Beschimpfung (nebst anderen Flegeleien) ist derart empörend, daß sie selbst einem,
schon aus der Priesterwürde heraus so zurückhaltenden Manne wie Pater Schmidt heftige an-
tisemitische Äußerungen in öffentlicher Vorlesung im Wien von 1936 (!) abnötigte“.355
Walter Hirschberg rechnete derweil einige Seiten weiter unter dem Titel „Die Urkultur im
Lichte der Schule St. Gabriel“ mit „Schmidt-Koppers und ihrem Mitarbeiterstabe“ ab, die
„nur allzu oft das Feld der sachlichen Forschung verließen“.356
346 Ebd.; Kauffmann, 2. September 1941, an Heydrich.
347 Vgl. ebd.; z.B. Fürer-Haimendorf, 11. September 1941, an Kauffmann; Kauffmann, 24. März und 12. Oktober
1942, an Heydrich.
348 Vgl. ebd. Kauffmann, 26. August 1943, an Heydrich. Erst Ende der 1940er Jahre durfte er sich besuchsweise in
seinem ehemaligen Wohnort aufhalten (vgl. Stockhausen 2014, 168–171).
349 Ebd.; Kauffmann, 5. November 1943, an Heydrich.
350 Ebd.; Heydrich, 25. November 1943, an Kauffmann.
351 Ebd.; Kauffmann, 7. Dezember 1943, an Heydrich.
352 Ebd.; Kauffmann, 2. September 1941, an Heydrich.
353 Ebd.; Kauffmann, 16. Juni 1943, an Heydrich.
354 Kauffmann 1940 [1944], 280.
355 Ebd., 275; vgl. auch Fischer 1990, 58.
356 Hirschberg 1940 [1944], 292–293.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 787
Finanzielle Probleme, die in Verbindung mit dem „EA“ auftraten, wurden teilweise durch
Subventionierung seitens des Reichsforschungsrat (RFR) aufgefangen.357 Weitere Schwierig-
keiten entstanden dadurch, dass mitunter Manuskripte, deren Veröffentlichung im „EA“ ge-
358 Dennoch plante Heydrich noch im März
1944, ein weiteres Heft herauszugeben359, für den beispielsweise Etta Becker-Donner (1911–
1975) „eine kleine Arbeit über Stilverschiebungen in der modernen Kunst Afrikas“ verfasst
hatte.360
Heydrich hatte sich 1941 um einen erneuten Austausch der Ethnologica gegen die „Mittei-
lungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien“ bemüht361 und stand außerdem in Muse-
umsangelegenheiten in Kontakt mit Wiener Kollegen. Beide Seiten zeigten sich hier sehr ko-
operativ. Bereits in den Tagen des „Anschlusses“ hatte Röck einige Vorträge im „Altreich“
gehalten, unter anderem am 9. März 1938 in Köln, wo er persönlich mit Heydrich zusammen-
gekommen war. Heydrich wiederholte ein paar Tage später schriftlich die Fragen, mit denen
er in Köln an Röck herangetreten war, d. h. welche Wiener Sammlungsobjekte und welche
Schriften ihn interessieren würden.362 Warum er anschließend fast drei Wochen auf eine Ant-
wort warten musste, erklärte ihm Röck in einem überschwänglichen Brief:
„Im Freudentaumel der neuen Zeit, den wir nach schweren Leidensjahren, wenn auch von
der Ferne am Rundfunk sitzend miterleben durften und bis heute in Wien mitmachen, war Ar-
beit nicht möglich. Dazu wäre Herz und Gefühl zu übervoll und überglücklich gewesen [...]. Ich
werde Ihre Wünsche nicht aus den Augen lassen. Zuvor muss aber unser Museum wieder mehr
zu Ruhe kommen. Der Erste [sic] Direktor H. Michel ist Gott sei Dank! abgesägt [...].
Heil Hitler! Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“363
Nach dem Krieg ehrten die Wiener Völkerkundler Koppers, Fürer-Haimendorf, Heine-
Geldern und Josef Haekel (1907–1973)364 ihren Kollegen Heydrich anlässlich seines 70. Ge-
burtstags im Jahr 1959 mit jeweils einem Beitrag in seiner Festschrift.365
Frankfurt: „... um die Verbindungen zwischen Wien und Frankfurt
enger zu knüpfen ...“366
Leo Frobenius (1873–1938)367, dessen Name eng mit der Frankfurter Völkerkunde verbunden
ist, unterhielt schon von München aus Verbindungen zu Wiener Gelehrten wie beispielsweise
zum gleichaltrigen Afrikaforscher Friedrich Julius Bieber (1873–1924) und dem Prähistoriker
Oswald Menghin. Auch nachdem Frobenius 1925 mit dem Institut für Kulturmorphologie von
hier Vorträge wie beispielsweise in der Urania368 und führte Heine-Geldern in den Kreis um
den ehemaligen Kaiser Wilhelm II. ein, der sich im niederländischen Doorn im Exil befand.369
357 Vgl. Pützstück 1995, 336–337.
358 Vgl. z.B. HAStK, Best. 614, A11; Heydrich, 7. März 1944, an Plischke.
359 HAStK, Best. 614, A11; Heydrich, 2. März 1944, an Becker-Donner.
360 Ebd.; Becker-Donner, 16. Februar 1944, an Heydrich.
361 Vgl. HAStK, Best. 614, A592; Heydrich, 9. Dezember 1941, an die Anthropologische Gesellschaft in Wien.
362 HAStK, Best. 614, A51; Heydrich, 14. März 1938, an Röck.
363 Ebd.; Röck, 4. April 1938, an Heydrich (Abb. 22.6).
364 Zu Haekel vgl. Feest 1977; Slawik 1977 sowie Stachel in diesem Band.
365 Vgl. Fröhlich 1960.
366 IfS Ffm, MA 5.708; Bericht über die Besprechung, 14. Mai 1938, gez. Willi Emrich (1893–1963), Oberverwal-
tungsdirektor in Frankfurt.
367 Zu Frobenius liegt zahlreiche Literatur vor, vgl. z.B. Ehl 1995; Georget/Ivanoff/Kuba 2016; Hammerstein 1999,
45–63; Heinrichs 1998; Münzel 1999; Streck 1999, 2014.
368 Vgl. Frobenius-Institut, LF 1145.
369 Vgl. z.B. Franzen/Kohl/Recker 2012, 583; Streck 2014, 149–157.
788 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Abb. 22.6a, b
Röcks Bericht vom „Freudentaumel“ über den „Anschluss“, 4. April 1938. Der Brief war an Heydrich adressiert.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 789
Abb. 22.6b
790 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Seit 1928 war Frobenius Honorarprofessor für Völkerkunde an der Universität Frankfurt, seit
1935 unterstand ihm neben dem Institut für Kulturmorphologie auch das städtische Museum
für Völkerkunde.370
Auch in den Jahren des NS-Regimes vor dem „Anschluss“ Österreichs reiste Frobenius
nach Wien, um dort Vorträge zu halten,371 darunter auch im deutschnationalen Deutschen Klub
in Wien.372 1934 fand in Wien eine Ausstellung der Felsbildkopien des Instituts für Kulturmor-
phologie statt. Ferner setzte sich Frobenius 1935 mit Erfolg dafür ein, Hermann Niggemeyer
(1908–2005) und schließlich auch Helmut Petri (1907–1986) und Heinz Reschke (1908–1972)
als Assistenten bzw. als Volontäre nach Frankfurt zu holen. Alle drei waren zunächst in Wien
befristet angestellt: Niggemeyer hatte schon in den 1920er Jahren vorübergehend in Wien
studiert, 1932 in Köln promoviert und arbeitete seit 1932 für Koppers in St. Gabriel. Helmut
Petri, der gleichfalls in Köln, aber auch in Berlin studiert und 1933 in Wien bei Koppers pro-
moviert hatte, war nach einem kurzen Aufenthalt in München anschließend als Volontär am
Wiener Museum für Völkerkunde tätig gewesen. Heinz Reschke war nach Wien gezogen,
nachdem er 1934 in Münster seine Promotion im Fach Völkerkunde bei Ferdinand Hester-
mann (1878–1959)373 abgeschlossen hatte.374 In Wien hatte Reschke am Naturhistorischen
Museum unter Lebzelter zu arbeiten begonnen. Niggemeyer und Petri waren im Frühjahr
1933 in Wien in die NSDAP und im Jahr darauf in die SA eingetreten,375 Reschke 1933 in die
SA.376 Sowohl Niggemeyers als auch Petris und Reschkes Dissertationsschriften wurden vom
Anthropos-Institut publiziert.377
Während Niggemeyer im Juli 1934 unmittelbar nach Frankfurt ging,378 führten Reschkes
und Petris Wege im Herbst 1934 für einige Monate nach Leipzig, wo sie am Institut für Ras-
sen- und Völkerkunde bzw. am Grassi-Museum geschult wurden.379 Reschke hielt sich an-
schließend vorübergehend in Münster auf, bevor er im April 1938 als unbesoldeter Volontär
am Frankfurter Völkermuseum angestellt wurde; Petri hingegen zog direkt von Leipzig nach
Frankfurt, um am Forschungsinstitut für Kulturmorphologie seine Arbeit aufzunehmen.
Am 5. April 1938 ging beim Frankfurter Oberbürgermeister Friedrich Krebs (1894–1961)
ein Telegramm des Wiener Bürgermeisters Hermann Neubacher (1893–1960) ein:
370 Zur Situation der Frankfurter Völkerkunde während der NS-Zeit vgl. Ehl 1995; Geisenhainer 2005b, 2008, 2016b,
2019a; Thiel 2006; Voges 2004.
371 Vgl. BArch, R 2/17722; Auslandsvorträge von Geheimrat Frobenius und seinen Mitarbeitern (1927–1937).
372 Vgl. PAAA, R65650, Kult W. 4442; Deutsche Gesandtschaft Wien, 25. März 1937, mit dem Hinweis, Frobenius
habe sich „jeder politischen Äusserung oder Anspielung“ enthalten. Zum „Deutschen Klub“ in Wien siehe Huber/
Erker/Taschwer 2020.
373 Ferdinand Hestermann (1878–1959) war 1893 der Steyler Mission beigetreten und hatte im Februar 1907 die
Priesterweihe erhalten. 1915 verließ Hestermann die Gesellschaft und heiratete. Im Jahr darauf promovierte er in
Wien. 1929 habilitierte er sich an der Universität Münster für das Lehrgebiet „Allgemeine Sprachwissenschaft und
Völkerkunde“. Hier war er bis 1948 als Privatdozent tätig. 1949 zog er nach Jena, wo er den neu eingerichteten
Lehrstuhl für Allgemeine Sprach- und Kulturwissenschaften besetzte (vgl. Geisenhainer 2005, 86 f.).
374 UAMünster; Bestand 65, Nr. 2898 (Promotionsakt von Reschke). Petri rezensierte Reschkes Dissertationsschrift
1935 in der Zeitschrift „Anthropos“. In einer anderen Besprechung hieß es, Reschkes „Untersuchung schließt sich
dabei, so weit die Mythologie in Betracht kommt, den von W. Schmidt vorgetragenen Theorien an und sucht sie zu
sichern und zu erweitern“ (Boehme 1937, 467).
375 -
karte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich“, von Niggemeyer am 22. Mai 1938 unter-
schrieben; FI, PA Helmut Petri; Personalbogen Stadtverwaltung Frankfurt a.M. o.D. (zwischen Herbst 1944 und
Ende des NS-Regimes) u. Fragebogen unterschrieben am 22. September 1935.
376 FI, PA Heinz Reschke; Fragebogen, unterschrieben am 4. April 1938.
377 Niggemeyer 1933; Petri 1936; Reschke 1935.
378 Wiener Stadt- und Landesarchiv, schriftl. Mitteilung 2013.
379 NHM Wien; Korrespondenz AA 1933-1934; Fritz Krause, 15. November 1935, an Lebzelter; FI, PA Helmut Petri;
Petri: Lebenslauf, 12. September 1935; FI, PA Heinz Reschke; Reschke: Lebenslauf, 12. Juli 1937.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 791
„Die alte nationalsozialistische Kaiserstadt Wien dankt der Kroenungsstadt Frankfurt fuer
Ihre Gruesse anlaesslich unserer Befreiung stop was vor 90 Jahren die Paulskirche nicht zu-
stande brachte hat Adolf Hitler jetzt geschaffen stop Heil unserem Fuehrer.“380
Schon bald darauf wurde im Mai 1938 in Frankfurt auf höherer Ebene ein intensiver Aus-
tausch mit Wien angestrebt. Honoratioren aus Frankfurt381 sowie Hannes Dietl, Organisations-
leiter im Landeskulturamt der NSDAP Österreich, und der Wiener Landeskulturleiter Albert
von Jantsch-Streerbach kamen zu dem Ergebnis, es sei „von beiden Seiten alles zu tun, um die
Verbindung zwischen Wien und Frankfurt enger zu knüpfen und einen regen Kultur- usw.
Austausch [...] durch gegenseitige Vermittlung von Tagungen, Kongressen usf.
durchzuführen“.382 An einer der folgenden Besprechungen, bei der neben anderen auch der
„Austausch von Professoren beider Universitäten“, zumindest für „Gastvorträge, Einzelvor-
träge oder zusammenhängende Vorträge (Zyklus)“ diskutiert wurde,383 merkte Frobenius an,
„dass die Wiener Professoren überaus in Anspruch genommen seien. Durch die aus Anlass der
Rückgliederung Österreichs an das Deutsche Reich vorgenommenen Veränderungen im Lehr-
körper der Wiener Universität seien schwere Lücken entstanden. [...] Er halte es daher für an-
gebracht, dass die Frankfurter Universität soweit als möglich Professoren nach Wien entsende.
Auch auf dem Gebiete der Ethnologie seien einige bedeutende Fachkräfte von Wien
weggegangen.“384
Unter diesen „Fachkräften“ befand sich auch der von Frobenius geschätzte Kollege Heine-
Geldern, der 1933 noch ein positives Gutachten über das Institut für Kulturmorphologie ver-
fasst385 und sich als einziger Wiener Kollege an der Festschrift für Frobenius beteiligt hatte.386
Aufgrund seines jüdischen Familienhintergrunds kehrte er gar nicht erst von seiner USA-
Reise zurück.387
„40 Jahre kulturmorphologische Forschung“388 und der 65. Geburtstag von Leo Frobenius
Von Frankfurt aus wurde nun die schon lange bestehende Verbindung zu Menghin in Wien
aufrechterhalten. Menghin war als Unterrichtsminister im sogenannten Anschlusskabinett
mitverantwortlich für die Entlassung von rund vierzig Prozent der Universitätslehrkräfte, dar-
unter auch Heine-Geldern. Der „Herr österreichische Unterrichtsminister“ sollte nun „auf
380 IfS Ffm, MA 5.709; Neubacher, 5. April 1938, an Krebs.
381 Unter ihnen befanden sich Oberbürgermeister Friedrich Krebs, Oberverwaltungsdirektor Willi Emrich und Stadt-
rat Rudolf Keller.
382 IfS Ffm, MA 5.708; Bericht über die Besprechung, 14. Mai 1938, gez. Emrich, Oberverwaltungsdirektor in Frank-
furt.
383 Ebd.; Bericht über die „Besprechung über den kulturellen Austausch der Städte Frankfurt – Wien, Montag, dem
16. Mai 1938, vormittags 9 Uhr, im Sitzungssaal des Hauptverwaltungsamts“, S. 2.
384 Ebd., Herv. im Orig.
385 Vgl. UAF Abt. 50 Nr. 1537.
386 Vgl. Heine-Geldern 1933.
387 Unklar bleibt zunächst noch, warum Frobenius im weiteren Verlauf seiner Stellungnahme auf jener Sitzung ausge-
rechnet auf die „Möglichkeit [hinwies], den derzeitigen Dekan der Philosophischen Fakultät in Wien (Christian)
nach Frankfurt zu bekommen. Man solle alle Anstrengungen machen, ihn für Frankfurt zu gewinnen“, so Frobeni-
us, da „an der Frankfurter Universität verschiedene Lehrstühle frei seien oder frei würden“ (IfS Ffm, MA 5.708;
Bericht über die „Besprechung über den kulturellen Austausch der Städte Frankfurt – Wien, Montag, dem 16. Mai
1938 ...“). Bislang deutet nichts auf eine nennenswerte Verbindung zwischen Frobenius und dem überzeugten
NSDAP-Mitglied Christian hin, und auch in den folgenden Jahren bestanden seitens des Instituts für Kulturmor-
phologie keine engeren Kontakte zu Christian. In einem Brief des Ex-Kaisers Wilhelm II an Frobenius vom
24. November 1932 wird Christian lediglich als „Lehrer“ von „jungen Herren“ erwähnt, „die in Wien cultur-
morphologisch ausgebildet werden“ (Franzen/Kohl/Recker 2012, 483–484). Jensen leitete am 9. März 1943 einen
Brief an Christian mit den Worten ein: „Nachdem wir seit Jahren nichts mehr voneinander gehört haben [...].“
(UAW, PH PA 1.672).
388 Städtisches Anzeigeblatt, Frankfurt/M. 1938.
792 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
jeden Fall“ den „Festvortrag“ am 29. Juni 1938 anlässlich des 40-jährigen Bestehens des „For-
schungsinstituts für Kulturmorphologie“ und des 65. Geburtstags von Frobenius übernehmen,
wie Jensen im Mai 1938 an das Kulturamt schrieb. Außerdem sei Menghin „als Prähistoriker
ein Fachkollege von Herrn Frobenius“.389 Vielleicht wähnte man sich mit dieser Empfehlung
auch konform mit der geplanten Städteverbindung. Insofern könnte die Wahl Menghins als
Festredner auch eines der Lippenbekenntnisse des Frankfurter Instituts gewesen sein, zu
denen sich die Institutsangehörigen immer wieder gezwungen fühlten. Menghin als Vertreter
einer „Synthese der archäologischen und ethnographischen Forschung“ im Sinne des kultur-
historischen Ansatzes390 folgte jedenfalls der Einladung.
Mit seinem Vortrag „Geist und Boden“ wollte er die Blut-und Boden-Ideologie um eine
weitere Komponente ergänzen. Außerdem ging es Menghin darum, der „innere[n] Unruhe“
der „viele[n] Menschen“ zu begegnen, die hinter der Behauptung, „Blut und Boden“ seien
„maßgebende Kräfte in der Gestaltung von Kultur und Geschichte“, eine „neue materialisti-
sche Lehre“ witterten.391 „Blut und Boden“ verdeutliche nach Menghin, „daß der Menschen-
geist auf dieser irdischen Welt vor allem mit zwei Wirklichkeiten in Beziehung steht: mit sei-
nem eigenen Körper [...] und mit der tellurischen Umwelt“. Erlitten diese „Wirklichkeiten“
eine „Unterwertung“, zöge dies auch „den Verfall des Geistigen“, insbesondere der „Gemein-
vom Geiste ergreifbaren Umwelt [...] kulturschöpferisch wirken“. Diese Umwelt fände in dem
Wort „Boden“ ihre Umschreibung.392 Frobenius hingegen hatte der „mechanistischen
Forschung“ oder „Weltauffassung“, die „starre Formeln aufstellt“, die „intuitive Forschung“
gegenübergestellt393 und sich ein Ende des Materialismus und eine „Umkehr“ gewünscht.394
Bei Frobenius ist das Geistige beziehungsweise das „Seelenhafte“ vielmehr noch das ent-
scheidende Element, als dies bei Menghin der Fall ist. Das „Seelenhafte“, das Paideuma einer
Kultur, ist nach Frobenius das alles Lenkende, das auch einer vermeintlichen Rasse überge-
ordnet ist.395 Hingegen fand Menghins „großdeutsche“ Nähe zum austrofaschistischen wie
auch zum katholischen Lager seinen Niederschlag in jenem Vortrag in Form verschiedener
Rund sechs Wochen nach dieser Feier starb Frobenius am 9. August 1938 in seinem Som-
merhaus am Lago Maggiore. Die Zukunft des Instituts für Kulturmorphologie beschäftigte in
der folgenden Zeit Befürworter wie Gegner. Letztere erwogen, „ob jetzt nicht der geeignete
Augenblick gekommen ist, das Kulturmorphologische Institut in dieser oder jener Form zum
Verschwinden zu bringen“.396
Ringen um den Status als ehemals „Illegaler“ in Wien: Hermann Niggemeyer
Als Kustos am Frankfurter Museum war Hermann Niggemeyer vorgesehen. Bislang war es
Niggemeyer nicht gelungen nachzuweisen, dass er während seiner Zeit in Wien Mitglied der
NSDAP und der SA gewesen war. Sowohl für das Institut als auch für ihn persönlich wären
389 IfS Ffm, MA 8.091; Jensen, 16. Mai 1938, an das Kulturamt.
390 Menghin 1931, VII.
391 Menghin 1938, 1.
392 Menghin 1938, 1–2.
393 Frobenius 1921, 1–13.
394 Frobenius 1925, 460.
395 „Das Paideuma bildet Rassen. [...] Das Paideuma bedingt die Rasse“ (Frobenius 1921, 94–95, Herv. im Orig.)
1928, 213.
396 FI, Leo Frobenius NL 628; Gauschulungsleiter von Hessen-Nassau, 10. August 1938, an Rosenberg.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 793
damit eventuell Vorteile verbunden gewesen. Nun, nach dem „Anschluss“ Österreichs an das
Deutsche Reich, trat er mit unterschiedlichen Stellen in Wien in Kontakt in der Hoffnung,
seine damals „illegalen“ Tätigkeiten nachweisen zu können. In einem Fragebogen gab
Niggemeyer an, am 2. Mai 1933 in Wien der NSDAP beigetreten zu sein; er habe jedoch
„Mitgliedsnummer und Mitgliedskarte wegen des Verbots der Partei Juni 1933 nicht erhalten“
und „keine Beiträge bezahlt, nur die Aufnahmegebühr“. Ferner gab er an, „Dienst bei der S.A.,
Wien (Universitätssturm)“ geleistet zu haben und „Mitglied des ‚Kampfringes der Deutsch-
Österreicher im Reich‘, Mitgliedskarte No 2417 in der Nummernfolge der Nichtösterreicher“
gewesen zu sein.397 Seine Bemühungen verliefen negativ,398 sodass Niggemeyer schließlich an
den Beauftragten des Führers für die NSDAP in Österreich schrieb, er besäße keine „[s]chrift-
liche Unterlagen für meine Zugehörigkeit zur SA [...], da mir trotz meines ausdrücklichen
Wunsches wegen zu befürchtender Hausdurchsuchung usw. kein Ausweis ausgestellt werden
konnte, als ich Mitte 1934 Wien verließ“.399 Er könne aber „folgende Angaben“ machen:
„Unser Sturm, dem vorwiegend Studenten angehörten (wenigstens unsere Schar bestand
aus Studenten), gehörte zur Standarte 81. Unser Sturmführer hieß Steiner, unser Scharführer
Philippowitsch. Zu meiner Schar gehörten u.a. die Kameraden: H. Petri, H. Reschke, Limper,
Krüger. Unser Verkehrslokal war die ‚Wachauer Weinstube‘, unsere Truppabende fanden öfter
im Keller der Bäckerinnung (Florianigasse? [sic]) statt, der damals von einer Studentenverbin-
dung als Paukkeller gemietet war.“400
Niggemeyers Angaben waren offensichtlich nicht leicht zu überprüfen. Außerdem verwies
man darauf, dass er zwar „am 1. 5. 1933 in der Ortsgruppe Wien seinen Beitritt zur NSDAP
erklärt“ habe; da er „lediglich die Aufnahmegebühr, jedoch keine Mitgliedbeiträge entrichtet
hat“, erfülle er „nicht die Voraussetzungen für eine Aufnahme im Zuge der Erfassungsaktion
in der Ostmark“.401
Während Niggemeyer sich noch bis zum Frühjahr 1941 bemühte, seine NSDAP-Mitglied-
schaft in Wien zu belegen,402 stand er parallel dazu auch in Kontakt zu W. Schmidt, der sich
mittlerweile im Exil in der Schweiz befand. Niggemeyer war es beispielsweise ein Bedürfnis,
im Frühjahr 1939 gegenüber Schmidt ausführlich über die Situation am Frankfurter Institut zu
eine Familiengründung gewährleiste, sowie über die geplante Neukonzeption der Museums-
397 -
karte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich“, von Niggemeyer am 22. Mai 1938 unter-
schrieben.
398 Ebd.; Reichsamtsleiter Meiler beim Beauftragen des Führers für die NSDAP in Österreich, 2. August 1938, an den
kommissarischen Gauschatzmeister des Gaues Wien der NSDAP Wien und Eintrag des Kassenleiters der NSDAP
Hitlerbewegung, Bezirksgruppe Josefstadt auf Niggemeyers „Personal-Fragebogen zum Antragschein auf Aus-
-
stätigung“: „Antragsteller scheint in der Bez. Kartei VIII. nicht auf. War wahrscheinlich bei SA“; und handschrift-
liche Notiz vom 2. August 1938 sowie Schreiben vom Reichsamtsleiter Meiler beim Beauftragen des Führers für
die NSDAP in Österreich, 5. September 1938, an Niggemeyer: bei der „SA Univ. Sturm U39-5-42“ seien „keine
Aufzeichnungen vorhanden“.
399 Ebd.; Niggemeyer, 18. September 1938, an den Beauftragten des Führers für die NSDAP in Österreich, Abt. Mit-
gliedswesen.
400 Ebd.; Bei Limper handelt es sich vermutlich um den Rechtswissenschafter Werner Limper (UAW, J RA St 1.213).
Krüger könnte evtl. Paul Krüger (1886–1964) aus der Zoologie und Vergleichenden Anatomie sein. Krüger hatte
von 1929 bis 1934 eine Lehrkanzel für Zoologie und Physiologie an der Universität Wien inne und war Vorstand
des Zoologischen Instituts. Im Anschluss an ein Disziplinarverfahren gegen ihn im Jahr 1934 ging Krüger nach
Heidelberg. Vgl. <http://www.landesmuseum.at/pdf_frei_remote/ENTAU_0018_0215-0246.pdf> (Zugriff 2. De-
zember 2017).
401 BArch, R 9361-II/761533; Schreiben des Mitgliedschaftsamtes, 14. August 1939, an den Gauschatzmeister des
Gaues Hessen–Nassau der NSDAP.
402 Vgl. BArch, R 9361-II/761533.
794 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
ausstellung. Was nun diesen letzten Punkt betraf, hoffte Schmidt, seinen Neffen als Praktikan-
ten nach Frankfurt senden zu können, ein Anliegen, in dem Schmidt auch von Adolf Ellegard
Jensen (1899–1965) unterstützt wurde. 403
Adolf E. Jensen und seine Verbindungen zu Wiener Völkerkundlern
Wesentlich substanziellere Probleme als Niggemeyer hatte Jensen seit dem Tod von Frobeni-
us. Er wurde nicht, wie viele erwartet hatten, Nachfolger von Frobenius in der Leitung des
Instituts, sondern bekam wegen politischer Unzuverlässigkeit und der Ehe mit einer „Viertel-
jüdin“ schließlich im Juli 1940 die Lehrbefugnis entzogen.404 Aus den zahlreichen Briefen
jener Jahre, die im Archiv des Frobenius-Instituts aufbewahrt werden, geht jedoch hervor, dass
Jensen weiterhin am Frankfurter Institut federführend wirkte.
Als im November 1938 über eine Vortragsreihe mit „in Frage kommenden Herren in Wien
in Verbindung mit den Leitern unserer Institute“ nachgedacht wurde,405 sollte jedoch nach
Anweisung des Frankfurter Oberbürgermeisters Jensen „nicht als Redner herangezogen
werden“,406 obgleich Jensen in OB Krebs einen Befürworter hatte.407
Jensen hielt zu jenen Kontakt, die gleichfalls in den Jahren der NS-Diktatur in Bedrängnis
gerieten. So korrespondierte er mit W. Schmidt, der nach seiner vorübergehenden Verhaftung
den Umzug des Anthropos-Instituts nach Fribourg organisierte. Im August 1938 sandte Jensen
das letzte Werk von Frobenius, „Schicksalkunde“, an W. Schmidt und dankte für einen Brief,
den er am 15. August von Schmidt erhalten habe: „Ich spreche auch im Namen meiner Mitar-
beiter, wenn ich Ihnen sage, daß gerade dieser Brief uns besonders wertvoll gewesen ist.“408
Jensen versicherte Schmidt außerdem, dass sie sich freuen würden, „wenn wir Ihren Neffen
hier hätten“. Er, Jensen, würde „alles versuchen, was im Rahmen unserer Möglichkeit liegt,
um ihm auch wirtschaftlich zu helfen“.409 Zur Einstellung von Schmidts Neffen in Frankfurt
kam es allerdings nicht. Er wurde im Herbst 1939 zum Kriegsdienst eingezogen und schwer
verwundet.
Schmidt und Jensen ließen einander auch in den folgenden Jahren ihre Veröffentlichungen
zukommen.410 Die Publikation eines Beitrags von Schmidt über „Spiele, Feste, Festspiele“ in
der Zeitschrift „Paideuma“ wurde von der Reichsschrifttumskammer verhindert.411
in der Verbindung zwischen Frankfurter und Wiener Fachgelehrten spielte auch in der Bezie-
hung zwischen Jensen und Schmidt der gemeinsame Ansatz, kulturhistorisch zu arbeiten, eine
bedeutende Rolle. Jensen schrieb nach dem Krieg im April 1948 im Anschluss an einen Be-
such von Schmidt in Frankfurt, die von Schmidt in seinem „Vortrag ausgesprochene Ansicht,
dass es genug Gemeinsamkeiten zwischen den von Ihrem und unserem Institut vertretenen
Forschungsrichtungen gebe, war mir so recht aus dem Herzen gesprochen. Gerade solche
403 AG SVD, NL Schmidt 1938–1953, Ordner 14; Jensen, 14. und 25. April 1939, an W. Schmidt.
404 BArch, (ehem. BDC), Wi Adolf Jensen, Adolf; Reichserziehungsminister, 11. Juli 1940, an den Rektor und an die
Philosophische Fakultät der Universität Frankfurt. Vgl. zu Jensen allgemein und dieser Thematik im Speziellen
z.B. Geisenhainer 2005b, 2016b, 49–53; 2019a, 51–54; Schmitz 1965; Streck 2005, 227–232; Voges 2004.
405 IfS Ffm, MA 5.709; Kulturamt Frankfurt, 15. November 1938.
406 IfS Ffm, MA 5.709; Hauptverwaltungsamt Frankfurt, 23. November 1938, an das Kulturamt Frankfurt.
407 Vgl. Geisenhainer 2005b.
408
Etnologico. Jensen hatte das Buch an das Museum in der Vatikan-Stadt geschickt mit der Bitte, es an Schmidt
weiterzuleiten, da ihm dessen aktuelle Adresse nicht bekannt sei. Die Korrespondenz zu Schmidt und Jensen
wurde mir von Peter Rohrbacher zur Verfügung gestellt.
409 AG SVD, NL Schmidt 1938–1953, Ordner 14; Jensen, 14. April 1939, an W. Schmidt.
410 Vgl. die Korrespondenz zwischen Schmidt und Jensen während der Kriegsjahre in AG SVD, NL Schmidt 1938–
1953.
411 Vgl. Rohrbacher zu Schmidt in diesem Band.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 795
wollen.“412
Wie im Fall von Jensen wurde auch bei der Zwangspensionierung Wölfels aus dem Wiener
Museum für Völkerkunde als Grund seine „jüdische Versippung“ angegeben. Während Jensen
bald in das Buchprojekt von Bernatzik eingebunden wurde (worauf weiter unten eingegangen
wird), konnte Wölfel anschließend vom Museum aus arbeiten und durch die Fürsprache von
Eugen Fischer, Struck und Westermann seine Forschungen über Nordafrika fortführen,
Kommission“ an der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin mit kolonialpoli-
tischer Ausrichtung.413
Wölfel war offensichtlich besonders beeindruckt von den Werken Frobenius’, zu dem er
selbst jedoch keinen persönlichen Kontakt gehabt hatte. Aber auch die Korrespondenz von
Wölfel und Jensen aus den Jahren 1944/Anfang 1945 weisen auf eine besondere Verbunden-
heit hin. Während Wölfel in seinen Briefen zu jener Zeit nicht prinzipiell auf den Gruß „Heil
Hitler“ verzichtete, beendete er seine Schreiben an das Frobenius-Institut mit persönlichen
Grüßen, etwa mit: „Herzliche Grüße allen dortigen Kollegen und vor allem Ihnen von Ihrem
ergebensten Dominik Josef Wölfel.“414 Neben den oben erwähnten Parallelen hinsichtlich der
Situationen, in denen sich Wölfel und Jensen befanden, gab es auch inhaltliche Übereinstim-
mungen. Jensen hatte Wölfel seinen Aufsatz „Das Weltbild einer frühen Kultur“ zugesandt, in
dem er an eine letzte Arbeit von Frobenius anknüpfte. Dieser habe in seiner Studie „Denkfor-
men vergangener Menschheit“ vor Augen führen wollen, dass „die Mythe und die mit ihr
verbundenen Kulte [...] in der Tat wesentliche Züge eines geschlossenen Weltbildes offenba-
ren, von dem in irgendeiner frühen Zeit große Teile der Menschheit ergriffen waren“.415 Jensen
rekonstruierte nun, „an dem Beispiel weniger Völker die einheitliche Idee ihres Weltbildes“,
um „den ursprünglichen Zusammenhang zwischen den vereinzelten Kulturerscheinungen und
ihre gemeinsame Abhängigkeit von jener Idee aufzuzeigen“.416 Wölfel sprach Jensen seine
Anerkennung aus:
„Wer nach Ihren Ausführungen noch gegen solche Parallelen Konvergenz und Elementar-
gedanke und dergleichen einwenden will, macht sich lächerlich. Auch haben Sie die psycho-
logischen Erklärungsversuche in ihre berechtigten, aber doch recht engen Grenzen
zurückgewiesen.“417
Im Dezember 1944 schrieb Wölfel an Jensen, als dieser noch als Soldat in Italien war, er
würde sich „sehr freuen“, wenn Jensen „auf der ‚Heimreise‘ aus Italien“ Wölfel in Wien tref-
fen könnte: „Ich hätte Vieles mit Ihnen zu besprechen. Gerade bei Ihrer neuen Arbeit habe ich
die innere Verwandtschaft gespürt. Das ist wirklich ‚kulturhistorische‘ Methode, mehr als das
Meiste, was aus der Wiener Schule kam. Möge Gott, der einzige Aktivposten, auf den noch
halbwegs Verlass ist, Sie schützen und gesund heimbringen. Wir brauchen Sie noch sehr.“418
412 AG SVD, NL Schmidt 1938–1953, Ordner 14; Jensen, 13. April 1948, an W. Schmidt.
413 Vgl. Rohrbacher zu Wölfel in diesem Band.
414 FI, VA 0070; Wölfel 31. August 1944, an Jensen.
415 Jensen 1944, 1–2.
416 Ebd., 82.
417 FI, VA 0070; Wölfel, 31. August 1944, an Jensen.
418 Ebd.; Wölfel, 13. Dezember 1944; an Jensen.
796 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
Verbindungen zwischen dem Institut für Kulturmorphologie und dem Wiener Institut für
Völkerkunde unter Hermann Baumann
In Wien hatte Hermann Baumann zum ersten Trimester 1940 die Leitung des Instituts für
Völkerkunde übernommen.419 Noch in den 1920er Jahren und zu Beginn der 1930er Jahre war
er – trotz teils sehr verschiedener Grundannahmen – dem „bedeutenden Ethnologen“ Wilhelm
Schmidt420 und seinem Werk mit Respekt begegnet. Eine weit größere Rolle als bei Schmidt
und Koppers spielten in Baumanns Schriften „die Faktoren Rasse und Umwelt“.421 Mit der
Berufung Baumanns nach Wien war also zwar eine Kontinuität hinsichtlich des kulturhistori-
schen Ansatzes gewährleistet, dieser wurde jedoch unter recht unterschiedlichen Prämissen
verfolgt. Außerdem war Baumann bereit, aktiv für die Wiederaneignung der ehemals deut-
schen Kolonien einzutreten. Ein engerer Kontakt nach Frankfurt, wo in den Studien der Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Kulturmorphologie „rassentheoretische“ Ansät-
ze nahezu keine Rolle spielten, blieb dennoch bestehen.
Im August 1940 beendete Erika Sulzmann ihre Arbeit am Frankfurter Institut, um ihr Stu-
dium in der „Ostmark“ fortzusetzen. Nach Baumanns Urteil war sie „eine sehr begabte, fähige
Studentin, die aus Frankfurt wegging, weil sie sich dort nicht mehr wohlfühlte“.422 Vermutlich
hing jedoch Sulzmanns Weggang aus Frankfurt mit Jensens Verlust der Lehrbefugnis und ihre
Entscheidung für Wien mit dem auch dort vertretenen kulturhistorischen Ansatz zusammen.
Hier wurde sie auch Schülerin unter anderen von Frobenius’ langjährigen Bekannten Meng-
hin, und dieser Kontakt sollte auch den Zweiten Weltkrieg überdauern. Darüber hinaus erhielt
sie eine Stelle als Hilfskraft bei Baumann und begann in seinem Auftrag eine „Stammeskarte
von Afrika“ zu erstellen, während sie weiterhin Briefkontakt zum Frobenius-Institut hielt.423
Eine weitere Verbindung vom Frankfurter Institut für Kulturmorphologie zu Baumann in
Wien bestand über Adolf Friedrich (1914–1956), Mitarbeiter am Institut für Kulturmorpholo-
gie. Friedrich hatte nach seinem Abitur und einem Lehrjahr in einer Frankfurter Bank im Jahr
1933 das Studium der Völkerkunde, Alten Geschichte und Philologie aufgenommen und
schließlich das letzte Fach zugunsten der Indologie fallen gelassen. 1938 promovierte Fried-
rich bei Frobenius über „Afrikanische Priestertümer“ und war anschließend als wissenschaft-
licher Assistent am Institut für Kulturmorphologie tätig. Bereits im November 1938 musste
Friedrich zum Wehrdienst und konnte in den nächsten Jahren nur noch bedingt seinen wissen-
schaftlichen Studien und Habilitationsplänen nachgehen.424 Die Situation am Institut für Kul-
turmorphologie erlaubte es Friedrich nicht, hier seine Habilitation zu vollenden und so fragte
er zunächst bei Baumann an.425 Jensen unterstützte Friedrich in dieser Angelegenheit und
tauschte sich gleichfalls mit Baumann aus. Da Baumann Friedrich „aufgrund seiner Artikel
[...] sehr schätze“, war es ihm „ein Vergnügen ihm [Friedrich] in dieser Beziehung helfen zu
419 Vgl. Gohm/Gingrich 2010, 194.
420 Baumann 1928, 167.
421 Baumann 1938, 124.
422 SMVD, NL Struck, Schriftwechsel; Baumann, 19. August 1941, an Struck [Abb. 22.8].
423 Vgl. Geisenhainer 2016a; 2019b und Geisenhainer zu Sulzmann in diesem Band.
424 Zu Friedrich vgl. Jensen 1956; Nachtigall 1956; Stellrecht 2006.
425 Vgl. UAW, IfE, A.1.12, S28; Jensen, 19. November 1942, an Baumann.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 797
können“.426 Friedrich richtete schließlich im Februar 1943 ein „Gesuch um Zulassung zur
Habilitationsprüfung im Fach Völkerkunde“ an den Dekan der Universität Wien.427
Jensen hatte wenige Tage zuvor Baumann auf der gemeinsamen Arbeitstagung der Fach-
gruppen „Koloniale Völkerkunde“, „Koloniale Sprachforschung“ und „Koloniale Rassenfor-
schung“ in Leipzig getroffen und offensichtlich ein interessantes Gespräch mit ihm geführt.
Jedenfalls schrieb Jensen an seine Kollegen nach Frankfurt: „Die Unterhaltung ist doch immer
am fruchtbarsten von allen mit Baumann. Seine gründlichen Kenntnisse und seine Art zu ar-
beiten, liegt uns doch wenigstens auf einigen Gebieten ausserordentlich nahe.“428
Ungeachtet dessen befürchtete Jensen, sowohl Baumann als auch Christian könnten zu
dem Ergebnis kommen, Friedrichs Arbeit sei nicht für eine Habilitation geeignet. Daher bat
Jensen, Friedrichs erschwerte Umstände, nämlich die „Erfüllung seiner vaterländischen
-
ches von Herrn Dr. Friedrich zu kommen, da ein solches Ergebnis ihn in seinem späteren
Fortkommen schädigen würde“.429
Christian und Baumann zeigten sich kooperativ in der Angelegenheit Friedrichs, wenn-
gleich Baumann der Ansicht war, Friedrich habe sich im Rahmen seiner Promotion „noch sehr
stark an manchmal nicht ganz einwandfreie Aufstellungen seines Lehrers Leo Frobenius [ge]
klammert“. Dennoch habe jene Arbeit die „üblichen Doktorarbeiten beträchtlich“ überragt.430
Friedrich konnte sich schließlich im Frühjahr 1943 in Wien mit einer Arbeit über „Knochen
und Skelett in der Vorstellungswelt Nordasiens“ habilitieren, ein „wertvoller Beitrag“, so der
Gutachter Baumann, „zur Geistesgeschichte der Primitiven Nordasiens“.431 Der Zweitgutach-
ter Menghin erklärte sich mit Baumanns Ausführungen „einverstanden“,432 während Robert
Bleichsteiner (1891–1954) ein eigenes Gutachten verfasste. Darin hob er u. a. als „hervor-
ragend“ hervor, „daß der Autor auch mit den historischen Quellen, die so oft zum Schaden der
433 Nach seiner Habili-
tation musste Friedrich wieder in den Krieg ziehen.
Rund 45 Jahre später sollte Sulzmann nebenbei ihre eigene Rolle erwähnen, die sie bei
Friedrichs Habilitation in Wien gespielt habe: „Friedrich, der hatte sich habilitiert in Wien
durch meine Vermittlung bei Baumann. Baumann kannte ihn gar nicht. (Durch meine Vermitt-
lung ist nicht wichtig, aber wahr).“434
426 UAW, IfE, A.1.14; Baumann, o.D., an Jensen, handschriftlicher Entwurf auf einem Brief von Jensen, 24. Novem-
ber 1942, an Baumann.
427 UAW, PH PA 1.672; Friedrich, 26. Februar 1943, an den Dekan Christian. Zwischenzeitlich wurde laut Jensen „der
Habilitationsurlaub für das ganze Ostheer gesperrt“. Allerdings kam Friedrich „mit Gelbsucht in das Lazarett“,
sodass er hoffte, in dieser speziellen Situation seine Habilitation bald nach seiner Genesung abschließen zu können
(UAW, IfE, A.1.12, S28; Jensen, 19. November 1942, an Baumann).
428 FI, HvD 201; Jensen, 10. Februar 1943, an „liebe Soldaten“.
429 UAW, PH PA 1.672; Jensen, 9. März 1943, an Baumann. Seinen Brief an Christian verknüpfte Jensen mit einer
Anfrage, ob dieser nicht auch einmal einen der „regelmäßige[n] Vorträge aus allen Gebieten der Kulturgeschichte“
am Institut für Kulturmorphologie übernehmen wolle (UAW, PH PA 1.672; Jensen, 9. März 1943, an Christian).
Christian antwortete, er sei grundsätzlich bereit dazu, seine Tätigkeit als Dekan ließe jedoch momentan kein wis-
senschaftliches Arbeiten zu (UAW, PH PA 1672; Christian, 12. März 1943, an Jensen).
430 UAW, PH PA 1.672; Baumann: Gutachten zur Habilitation Dr. Phil Adolf Friedrich, 18. März 1943.
431 Ebd.; Baumann: Gutachten über die Habilitationsschrift von Dr. Phil Adolf Friedrich, o.D.
432 Ebd.; Bemerkung Menghins, 19. März 1943, auf dem von Baumann verfassten „Gutachten über die Habilitations-
schrift von Dr. Phil Adolf Friedrich“, o.D.
433 UAW, PH PA 1.672; Bleichsteiner: Gutachten, 18. März 1943.
434 Sulzmann, Interview 1989.
798 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
München: Das Museum für Völkerkunde und seine Wiener Mitarbeiter
Bis 1933 war die Völkerkunde in München wesentlich durch Lucian Scherman vertreten wor-
den. Er war Leiter des Münchner Museums für Völkerkunde und Inhaber des eigens für ihn
eingerichteten universitären Lehrstuhls für Völkerkunde mit Schwerpunkt auf Indien. Bereits
im Mai 1933 hatte Scherman unter Druck sein Entlassungsgesuch eingereicht, war im Oktober
1933 zwangspensioniert worden, hatte seinen Direktorposten verloren und Vorlesungsverbot
erhalten.435 Heinrich Ubbelohde-Doering (1889–1972)436, seit 1930 als Konservator und Be-
treuer der Amerikanischen Abteilung am Münchner Museum für Völkerkunde angestellt,
übernahm die Leitung der Dienstgeschäfte. Als Nachfolger für Scherman für die Besetzung
des Lehrstuhls für die Völkerkunde Asiens schaute man an der Universität nach einem Sino-
logen aus, der außerdem die Leitung des Museums übernehmen sollte. Als potenzieller Kan-
didat war auch der Altmissionar Josef Winthuis im Gespräch, der sich an der Universität Inns-
bruck im Fach Völkerkunde habilitiert hatte.437 Die Diskussionen um die Berufungsfragen
endeten jedoch schließlich damit, dass Ubbelohde-Doering im September 1935 zum Direktor
des Museums für Völkerkunde ernannt und an der Universität der Lehrstuhl für Völkerkunde
gestrichen wurde. Lehraufträge konnten jedoch erteilt werden. Ubbelohde-Doering wurde
umhabilitiert, 1934 als Privatdozent aufgenommen und 1937 zum nichtbeamteten a.o. Profes-
sor für Völkerkunde mit Amerikanistik-Schwerpunkt ernannt.438
Am Museum wurde seit 1932 der Afrika-Schwerpunkt durch den Wiener Maximilian Karl
Feichtner (1905–1977) vertreten.439 Feichtner, in Linz geboren, legte 1923 die Realschulmatu-
ra ab und begann zunächst an der Technischen Hochschule in Wien Maschinenbau und dann
an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien Chemie zu studieren, bevor er sich für
die Fächer Afrikanistik und Ägyptologie entschied. Am Wiener Institut für Ägyptologie und
Afrikanistik war er zunächst als Hilfskraft, dann als Bibliothekar tätig und konnte „im Interes-
se des Phonogrammarchives der Akademie der Wissenschaften in Wien“ einige „phonogram-
matische (rhetorische und musikalische) Aufnahmen“ durchführen. Nach der Ergänzungsprü-
fung für Realschulabsolventen schloss Feichtner 1930 seine Promotion bei dem Afrikanisten
und Ägyptologen Wilhelm Czermak (1889–1953) und dem Ägyptologen Hermann Junker
(1877–1962) mit seiner Dissertationsschrift über „Das Metmata-Kabylische. Eine Berberstu-
die“ ab. Anschließend war Feichtner vertretungsweise Assistent am Wiener Institut für Ägyp-
tologie und Afrikanistik440 und bearbeitete später im Auftrag der Akademie der Wissenschaf-
435 Vgl. Smolka 1994, 273–275; Weigelt 2003, 34–37.
436 Zu Ubbelohde Doering vgl. Trimborn 1977; Gareis 1990, 119–147; Geisenhainer 2018.
437 UAM, O-XV-006, Bd.2, Unterakt II, Winthuis; Dekan Karl Alexander von Müller (1882–1964), 22. Februar 1934,
an P. W. Koppers. Winthuis, Mitglied des Ordens der Herz-Jesu-Missionare und als Missionar in Papua-Neuguinea
tätig gewesen, hatte mit einer Arbeit „Zur Psychologie und Methode der religiös-sittlichen Heidenunterweisung“
trotz Bedenken Schermans und anderer 1929 in München promovieren können (vgl. Smolka 1994, 283; vgl. auch
Goller 2001). Dass ausgerechnet Koppers um ein Gutachten gebeten wurde, war insofern brisant, als zu jener Zeit
noch immer eine ausgedehnte Kontroverse um Winthuis’ Werk „Das Zweigeschlechterwesen bei den Zentralaus-
traliern und anderen Völkern“ (1928) ausgetragen wurde, in die unter anderem auch die Patres von Mödling invol-
viert waren und zwar auf der Gegenseite von Winthuis. Unter diesem Aspekt ist wohl zu würdigen, dass Koppers
nicht die Gelegenheit nutzte, gegen Winthuis Stellung zu beziehen, sondern antwortete, dass er sich „des ge-
wünschten Gutachtens lieber ganz enthalten möchte“ (UAM, O-XV-006, Bd. 2, Unterakt II, Winthuis; P. W. Kop-
pers, 4. März 1934, an den Dekan der Phil. Fak. I. Sektion, Univ. München).
438 Vgl. Smolka 1994, 282–288, Trimborn 1977, 573. Siehe auch Ludwig-Maximilians-Universität München 1934,
31, 34 und 1937, 35.
439 Der folgende Abschnitt über Feichtner ist gleichfalls in Geisenhainer 2018, 14–16, 35–36, 38, publiziert.
440 Zum Wiener Institut für Ägyptologie und Afrikanistik vgl. Gütl 2015.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 799
Ägypten durchgeführten Grabungen.441 Politisch engagierte sich Feichtner in Wien in der anti-
sozialdemokratisch und überwiegend deutschnational ausgerichteten und der Christlichsozia-
len Partei nahestehenden Heimwehr, der er von 1927 bis 1932 angehörte. Außerdem schloss
er sich der Akademischen Legion Wien, dem Steirischen Heimatschutz Wien und dem Studen-
tenfreikorps Wien an, wo er als „Legionsadjutant und Zugführer“ fungierte.442 Alle drei Orga-
nisationen waren der Heimwehr zugehörig.
Laut Smolka443 hatte Junker seinen Schüler Feichtner zunächst dem jüdischen Ägyptolo-
gen Alexander Scharff (1892–1950) empfohlen, der seit 1932 an der Münchner Universität
eine Professur innehatte, bevor Feichtner von Scherman an das Museum geholt wurde. Für
Feichtner sprach u.a., dass er noch relativ jung war und erwog, sich in München zu habilitie-
ren. Im Sommer 1932 zog er in die bayerische Hauptstadt, um im Oktober desselben Jahres
am Museum für Völkerkunde seine Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft anzutreten.444
Feichtner, der sich schließlich vom katholischen politischen Lager abwandte, trat am 2. April
1933 in die NSDAP ein, nach eigenen Angaben nicht in München, sondern in die österreichi-
sche Ortsgruppe Linz (Mitgliedsnummer 1,522.855), demnach rund zweieinhalb Monate
bevor die Partei in Österreich im Juni 1933 verboten wurde. Außerdem war Feichtner seit
August 1933 im Deutschen Luftsportverband, der 1937 aufgelöst wurde. Nachfolgeorganisa-
tion war das NS-Fliegerkorps (NSFK), dem Feichtner gleichfalls angehörte. Seit 1934 war er
Freiwilliger bei der Luftwaffe. Ferner fungierte Feichtner als stellvertretender Gauführer und
Gaupropagandaleiter im Kampfring der Deutschösterreicher im Reich, dem er seit seiner
Gründung im November 1933 angehörte sowie als Vertrauensmann im RDB (Reichsbund der
Deutschen Beamten). Seit April 1937 war er im NSV.445
Als Nicht-Reichsdeutscher war Feichtner in München zunächst nur für zwei Jahre ange-
stellt.446 Feichtner ließ sich jedoch im Juli 1935 in Deutschland einbürgern447 und konnte
genau ein Jahr später am Münchner Museum für Völkerkunde als planmäßiger Assistent
übernommen werden. Er hatte „für sich und seine Ehefrau den Nachweis der deutschblütigen
Abstammung zweifelsfrei erbracht“.448 Während Ubbelohde-Doering von 1937 bis 1939 auf
Forschungsreise in Südamerika war, hatte Feichtner die Direktionsgeschäfte übernommen.
Mittlerweile war Österreich an das Deutsche Reich „angeschlossen“ worden und Feichtner
-
karte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich“ zu seinen verschiedenen
Mitgliedschaften in NSDAP-Unterorganisationen wurden von NS-Funktionsträgern mit di-
versen Ergänzungen bestätigt. Beispielsweise heißt es, dass Feichtner „sich in dieser Zeit nicht
nur um die deutsch-österreichische Reichsorganisation, sondern um den nationalsozialisti-
schen Gedanken überhaupt grosse Verdienste erworben“ habe. Feichtner verfüge über „ausge-
zeichnete Führereigenschaften“, man habe sich „dienstlich wie im privaten Leben von seiner
441 UAW, PH RA 10.643; Max Karl Feichtner, o.D. (vermutl. 1930), Curriculum Vitae.
442 BayHStA, MK 50929, Vorschlagsbogen zur Ernennung von Dr. Feichtner zum Konservator, Mai 1938 (Weber,
E-Mail 2015).
443 Vgl. Smolka 1994, 245, Fn. 267).
444 BayHStA, MK 50929, Vorschlagsbogen zur Ernennung von Dr. Feichtner zum Konservator, Mai 1938 (Weber,
E-Mail 2015).
445 BArch, R 9361-II/226505, PK Max Feichtner; Gauamtsleiter, Gauhauptstellenleiter, NSDAP, Gau München Ober-
bayern, Amt für Beamte, Abt. Politische Beurteilung, 19. Juni 1941.
446 Vgl. Smolka 1994, 246.
447 Stadtarchiv München, Einwohnermeldekarte zu Maximilian Karl Feichtner.
448 BayHStA, MK 50929; Vorschlagsbogen zur Ernennung von Dr. Feichtner zum Konservator, Mai 1938 (Weber,
E-Mail 2015).
800 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
begeisterten nationalsozialistischen Gesinnung [...] überzeugen“ können.449 Noch von Peru
aus hatte Ubbelohde-Doering beantragt, nach seiner Rückkehr Feichtner zum Konservator zu
befördern.450 Nach einer einschlägigen „allgemeinen Beurteilung“, die standardmäßig letzt-
endlich die Abstammung des Betreffenden und seine Haltung zum NS-Staat zum Gegenstand
hatte, wurde Feichtner, wie beantragt, im Herbst 1938 befördert.451 Bereits im Dezember des-
selben Jahres bat er um Beurlaubung für acht Monate ab dem 17. Jänner 1939 „zwecks Teil-
nahme an einer Expedition nach Ostafrika“. Diese Reise diene der „Aufnahme von Filmen
und Reisebeschreibungen für die Presse („Völkischer Beobachter“)“. Dem Museum sei „durch
kostenlose Teilnahme an der Expedition die Möglichkeit wertvoller Erwerbungen gegeben“.452
Die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen befürwortete diesen Antrag453 ebenso
wie das Kultusministerium.454 Feichtner musste seine Reise allerdings schon nach zwei Mona-
ten abbrechen, konnte jedoch eine Sammlung von Objekten mitbringen.455
Im Juni 1939 kam erneut ein Wissenschafter aus Wien, um am Münchner Museum für
Völkerkunde seinen Dienst anzutreten: Werner Vycichl (1909–1999), in Prag geboren, hatte
ab 1928 am Institut für Ägyptologie und Afrikanistik an der Universität Wien studiert, 1932
hier bei Czermak und Christian mit „Untersuchungen über den Hause-Dialekt von Kano“
promoviert und sich von 1934 bis 1938 in Ägypten aufgehalten. Von Dezember 1938 bis Mai
1939 erhielt er ein Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die
„Bearbeitung der Materialien über ägyptische Sprache und Volkskunde“ an der Universität
Wien im Institut für Ägyptologie und Afrikanistik.456 In München trat Vycichl nun die Stelle
eines Bibliothekars an. Zwar wurde im Vorfeld schon bemerkt, dass seine „Ahnenpapiere [...]
nicht vollständig“ seien, es läge jedoch „eine Unbedenklichkeits-Bescheinigung des Amtes für
Sippenforschung der Gauleitung Wien vor“, wie Feichtner am 2. Mai 1939 der Verwaltung der
wissenschaftlichen Sammlungen des Staates in München gegenüber beteuerte.457 Vycichl hatte
im Mai 1938 seine Mitgliedschaft in der NSDAP beantragt,458 sollte jedoch erst im Jänner
1941 aufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte er das Museum schon wieder verlas-
sen. Vycichl wurde zunächst „zum Heeresdienst einberufen und dann [am 1. September 1939]
vom Auswärtigen Amt angefordert“459, das heißt, Vycichl war kein halbes Jahr am Münchner
Museum für Völkerkunde tätig.460
Der Zeitzeuge Andreas Lommel (1912–2005), der bis 1935 am Museum in München war,
beschrieb die Situation – wohl unter Anspielung auf Feichtner – am Münchner Museum für
Völkerkunde in jener Zeit folgendermaßen:
449 ÖStA, AdR, BMfI, GA 54.676.
450 BayHStA, MK 50929; Ubbelohde-Doering, 31. März 1938, an die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlun-
gen des Staates, München.
451 Ebd.; Reichserziehungsminister, 18. Oktober 1938, an Reichstatthalter in Bayern, München.
452 Ebd.; Feichtner, 16. Dezember 1938, an die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates, Mün-
chen.
453 Ebd.; Notiz vom 21. Dezember 1938, auf dem Schreiben Feichtners vom 16. Dezember 1938.
454 Ebd.; Kultusministerium, 14. Jänner 1939, an die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates,
München.
455 Ebd.; schriftl. Mitteilung von Heinz-Jürgen Weber, Archivamtsrat, 16. April 2015.
456 BArch, R 73/15419.
457 BayHStA, MK 50929; Feichtner, 2. Mai 1939, an die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates,
München.
458 Ebd.; Personalfragebogen von Werner Vycichl, 27. April 1939.
459 Ebd.; Doering, 7. Oktober 1939, an die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates, München;
vgl. auch Doering, 30. Dezember 1939, an die Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Staates, Mün-
chen.
460 Ausführlich zu Werner Vycichl vgl. Rohrbacher 2015, 899–948.
Netzwerke der Völkerkunde zwischen Wien und dem „Altreich“ 801
„Am Völkerkundemuseum blieb nur U.-Doering, der jedoch 1937 bis 1939 nach Peru
-
ten. Er führte in Abwesenheit das Regiment und drängte die Belegschaft, einfache Leute,
massiv in die Partei. Als polternder Nationalsozialist, wußte man bei ihm nicht, wie weit seine
Beziehungen in der Partei reichten. Jedoch Widerstand gegen ihn zu leisten, wäre einem
Widerstand gegen die Partei gleichgekommen. U.-Doering Verhältnis zu ihm war schlecht.
U.-Doering mußte vorsichtig argumentieren, und vieles, was ihm als Anpassung ausgelegt
werden könnte, ist Anpassung an diesen ‚Kommissar.“461
Nach dem Krieg zog Feichtner wieder nach Österreich und arbeitete in den Vereinigten
Österreichischen Eisen- und Stahlwerken in Linz. Er starb 1977 kurz vor Weihnachten.462
Österreichisch-deutsche Zusammenarbeit innerhalb nationaler und
internationaler Vereinigungen und Interessengruppierungen
(Deutsche) Gesellschaft für Völkerkunde
Als im März 1929 Fritz Krause „zur Gründung einer Gesellschaft für Völkerkunde“ aufgeru-
fen hatte, standen darunter neben anderen bereits die Namen folgender Wiener Kollegen: Mi-
chael und Arthur Haberlandt, Christian, Koppers und W. Schmidt.463 Es ging um die Etablie-
rung der Völkerkunde als eine eigenständige Wissenschaft, speziell als eine
„Kulturwissenschaft“464, deren genaue Verortung unmittelbar auf der ersten Tagung diskutiert
wurde.465 Weitere Wiener Gelehrte traten frühzeitig der Gesellschaft für Völkerkunde bei.
Neben den oben genannten waren das Leo Bouchal (1877–1936), Richard Dangel (1894–un-
bekannt), Mathilde Fischer-Colbrie (1873/1884–unbekannt), Fritz Flor (1905–1939), Gusin-
de, Heine-Geldern, Richard Lach (1866–1936), Maenchen-Helfen (zu jener Zeit in Moskau),
Röck, Schebesta, Schmidl, Irma Schobel (1893–unbekannt), P. Michael Schulien (zu jener
Zeit in Rom) (1888–1968), Leopold Walk (1885–1949), Wastl und Wölfel.466 Im „Mitteilungs-
blatt der Gesellschaft für Völkerkunde“ vom Juli 1933 wurde allerdings der Austritt von Ar-
thur Haberlandt bekannt gegeben.467 Dieses Mitteilungsblatt diente auch Wiener Kollegen für
ihre Publikationen. So veröffentlichte Schebesta 1936 hier seinen Beitrag „Bei den Ituri-Bam-
buti (1934/35)“468, Fürer-Haimendorf seine Studie über „Die Hochgottgestalten der Ao- und
Konyak-Naga von Assam“469 im Jahr 1938 und in derselben Ausgabe Haekel über den „Pseu-
do-Totemismus“.470
Auf der zweiten Tagung der Gesellschaft für Völkerkunde im Jahr 1936 in Leipzig wies
Krause darauf hin, dass die Gesellschaft „als einzige wissenschaftliche Organisation der Völ-
kerkunde fast achtzig Prozent der reichsdeutschen Ethnologen, fast sämtliche deutschsprachi-
gen und deutschstämmigen Ethnologen Österreichs und der Schweiz und darüber hinaus noch
eine große Zahl von Ethnologen in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern
461 „Stellungnahme eines Zeitzeugen: Ergänzungen von „ Andreas Lommel“ (Gareis 1990, 146), Herv. im Orig.
462 Vgl. Geisenhainer 2018.
463 UAL, Ethnologie Re VI; „Aufruf zur Gründung einer Gesellschaft für Völkerkunde“, gez. Fritz Krause, März
1929.
464 Ebd.
465 Zur Geschichte der Gesellschaft für Völkerkunde, heute Deutsche Gesellschaft für Kultur- und Sozialanthropo-
logie, vgl. Geisenhainer 2011; 2018 [Internetquelle]; Kreide-Damani 2010; Lentz/Thomas 2015; Streck 2009.
466 UAL, Ethnologie Re VI; „Mitgliederverzeichnis nach dem Stand vom 28. September 1929“.
467 Vgl. Vorstand der Gesellschaft für Völkerkunde 1933.
468 Schebesta 1936.
469 Fürer-Haimendorf 1938.
470 Haekel 1938.
802 1938–1945: Ethnologische Netzwerke zum „Altreich“
umfaßt“.471 Es liegen jedoch bisher keine Hinweise vor, dass Wiener Völkerkundlerinnen und
Völkerkundler an jener Tagung im Jahr 1936 in Leipzig teilgenommen haben. 1936 hatte Ter-
mer die Nachfolge von Krause in der Leitung der Gesellschaft für Völkerkunde übernommen.
Hatte man bei der Gründung der Gesellschaft noch auf den Zusatz „Deutsch“ verzichtet, so
wollte man nun 1938 explizit im Kontext des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche
Reich die Gesellschaft umbenennen. Termer richtete sich nun schriftlich an die Mitglieder mit
der Bitte um Stellungnahme bis zum 15. Juli 1938:
„Nachdem der Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich vollzogen worden ist,
steht auch unsere Gesellschaft für Völkerkunde vor neuen Aufgaben im geeinten Gross-
deutschland. Ich nehme dies zum Anlass, unsere Gesellschaft den veränderten Verhältnissen
anzupassen und schlage daher vor, sie neu zu benennen als ,Deutsche Gesellschaft für
Völkerkunde‘.“472
Offensichtlich gab es keine bedeutenden Einwände, und bis zur Umbenennung im Okto-
ber 2017 trug die Gesellschaft diesen Namen. Dann wurde allerdings nicht der Zusatz „Deut-
sche“ gestrichen, sondern Völkerkunde durch „Kultur- und Sozialanthropologie“ ersetzt.
An der Fachgruppe „Südsee“, die F. Rudolf Lehmann (1887–1969) nach dem „Anschluss“
innerhalb der DGV gründete, beteiligte sich auch Georg Höltker.473 Der 1895 in Ahaus gebo-
rene Höltker war seit 1919 dem SVD-Orden zugehörig, hatte 1930 in Wien in Völkerkunde
mit der Arbeit „Die Familie bei den Azteken in Altmexiko. Eine ethnologisch-soziologische
Studie“ bei Koppers und Oberhummer promoviert und befand sich seit 1936 auf Forschungs-
reise in Neuguinea.474
In der „Ostmark“ wurde Ende des Jahres 1939 der Wiener Verein „Völkerkunde“, der
1933 gegründet worden war, „über Antrag des vom Reichskommissar für die Wiedervereini-
gung Österreichs mit dem Deutschen Reich bestellten Stillhaltekommissar für Vereine, Orga-
nisationen und Verbände [...] behördlich aufgelöst“.475 Wie in solchen Fällen üblich, wurde das
Vermögen, sofern vorhanden, „unter Ausschluß der Liquidation eingezogen und zwar 1. 50%
zu Gunsten des Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen und Verbände [...] 2. 50% zu
Gunsten der NSDAP Gau Wien.“476 Auch die Gesellschaft für Völkerkunde, die von Beginn an
auch innerhalb des Faches kritisiert wurde, befand sich zu jener Zeit in einer Krise. Die Ta-
sondern gleichzeitig auch Krause, die Kolleginnen und Kollegen auf eine Linie im Engage-
ment für die Kolonialpolitik zu bringen. Zunächst soll jedoch ein Blick auf den internationalen
Fachkongress geworfen werden.
Zweiter Internationaler Kongress für Ethnologie und Anthropologie, Kopenhagen 1938
Koppers hatte sich 1934 auf dem ersten Internationalen Kongress für Ethnologie und Anthro-
pologie in