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Angst! 153
Zwischen rinks und lechts. Angstpolitik in Zei-
ten des Populismus
Veith Selk
Einleitung: Angstpolitik in der politischen Gesell-
schaft
Unsere Gesellschaft ist eine »politische Gesellschaft«.1 In ihr kön-
nen alle Institutionen und Handlungen politisiert werden. Die dem
Feminismus entstammende Parole »Das Private ist politisch« bringt
diese Erfahrung zum Ausdruck. Im Sinne dieses Slogans haben
die Protestbewegungen der Siebzigerjahre und die »partizipative
Revolution«2 der Achtzigerjahre zu erweiterten Beteiligungschan-
cen und einem umfassenden Politisierungsprozess geführt. In den
von der politischen Klasse dominierten Parteiendemokratien3 ging
Politisierung vor allem vom Staatsapparat aus, in der politisierten
Demokratie der Gegenwart wird sie auch von der Bürgerschaft
vorangetrieben.4
Der US-amerikanische Philosoph John Dewey hatte bereits am
Anfang des 20. Jahrhunderts beobachtet, dass in der modernen Ge-
sellschaft mehr und mehr Bürger von den Folgen des Handelns ihrer
Mitbürger betroen sind, weshalb jene ein Interesse an der Regu-
lierung dieser Folgen haben.5 Er schlussfolgerte daraus, dass in der
Demokratie der Bereich des als regulierungsbedürftig Angesehenen
1 Michael Th. Greven, Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Pro-
bleme des Regierens und der Demokratie, Wiesbaden 22009.
2 Max Kaase, The challenge of the »participatory revolution« in pluralist democracies,
in: International Political Science Review 5 (1984), 299–318; Russel J. Dalton, Citi-
zenship Norms and the Expansion of Political Participation, in: Political Studies 56
(2008), 76–98.
3 Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt am Main 1993;
Gerhard Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958.
4 Politisierung geht damit auch von der nicht zur politischen Elite gehörenden Mit-
telklasse und deren »Gelegenheitspolitikern« (Max Weber) aus. Diejenigen, die sich
im sozialstrukturellen Sinne »unter« der Mittelklasse benden, partizipieren hingegen
weniger an Politik; siehe Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum
ungleiche Beteiligung der Demokratie schadet, in: Staatstätigkeiten, Parteien und De-
mokratie, hg. v. Klaus Armingeon, Wiesbaden 2013, 547–566.
5 John Dewey, The Public and its Problems, New York 1927.
DOI 10.51686/HBl.2020.1.11
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wächst und die Öentlichkeit immer mehr Handlungen umfasst.
Das Politische berührt nun Bereiche, die vormals als unpolitisch und
privat galten.
Die beteiligungsorientierte Linke der zweiten Hälfte des letzten
Jahrhunderts bewertete diesen Politisierungsprozess positiv. Sie sah
in ihm die Möglichkeit angelegt, Partizipationsmöglichkeiten auszu-
weiten und die Demokratisierung der Gesellschaft voranzutreiben,6
während die etatistische Rechte ihn als eine Bedrohung bewährter
Institutionen beurteilte.7 Heute hingegen scheinen vor allem Popu-
listinnen und ihre Anhänger von der Politisierung der Gesellschaft
eine nachhaltige Demokratisierung zu erwarten; die Antipopulisten
aus allen Lagern wiederum deuten Politisierung als ein Problem, das
zu mehr Polarisierung führe, die Europäische Union gefährde und
die Stabilität der liberalen Demokratien bedrohe.
Die rasch voranschreitende Digitalisierung der Kommunikations-
technologie beschleunigt den Prozess der Politisierung. Sie weitet
die Beteiligung an politischer Kommunikation im Kontext digitaler
Politikformen aus. Das ist folgenreich, weil die politisch relevante
Kommunikation von den politischen Eliten nun nicht mehr so
leicht kontrolliert, geltert oder auch nur antizipiert werden kann.8
Deren Mitglieder in Parteien, Wirtschaft und Journalismus scheinen
zudem überrascht darüber zu sein, was für Meinungen über sie »im
Volk« kursieren, die nun durch die Önung politischer Kommuni-
kation zu Tage befördert werden.
Führt die kommunikativ »oene Gesellschaft« damit zur Wieder-
kehr der Angst der Eliten vor der populistisch gestimmten Masse?
Gerade die politisch sichtbaren Mitglieder der Eliten haben durch-
aus Grund zur Angst, denn aus Mordphantasien im Netz wurden
bereits Anschläge im wirklichen Leben. Einige derjenigen, die sich
in Fundamentalopposition zu den »korrupten Eliten« sehen, wür-
den dies womöglich damit rechtfertigen, dass sich die happy few den
Volkszorn nicht ohne Grund zuzögen. In diesem Kontext wirkt die
Honung auf eine Verbesserung der öentlichen Debatten durch
digitale und allseitig vernetzte Kommunikation im Internet illu-
sorisch. Zudem entsteht der Eindruck, dass »die da oben« auf den
Kommandohöhen von Politik, Wirtschaft und Kultur zunehmend
6 Fritz Vilmar, Strategien der Demokratisierung, 2 Bände, Darmstadt 1974.
7 Wilhelm Hennis, Demokratisierung. Zur Problematik eines Begris, Köln/Opla-
den 1970.
8 Stephen Coleman/Deen Freelon, Introduction: conceptualizing digital politics, in:
Handbook of digital politics, hg. v. Stephen Coleman/Deen Freelon, London 2015,
1–13.
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Unbehagen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verspüren,
während »die da unten« sowohl den Eliten als auch ihren Mitbürge-
rinnen und Mitbürgern nicht über den Weg trauen. Hinzu kommen
die um sich greifende Krisensemantik und die sich eintrübenden
Aussichten auf eine Verbesserung der westlichen Demokratien.9 In
Anbetracht dieser Lage kann man Angst eine steile politische Kar-
riere vorausagen.
In dieser Konstellation erfährt ein Politikmodus eine Renais-
sance, den ich im Folgenden als Angstpolitik bezeichnen will. Meine
These ist, dass er insbesondere im Rechtspopulismus wirkmächtig
ist. Er tritt dort als Angstpolitik auf, die zwischen links und rechts
changiert. Die Antipopulisten in Parteien und Gesellschaft reagieren
hierauf mit einer anderen Form von Angstpolitik. In ihr kehrt der
Topos der Angst vor der irrationalen Masse wieder.
Angstpolitik zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr politische For-
derungen mit Angst begründet werden und armativ auf Angst Be-
zug genommen wird, zum Beispiel auf die Angst vor der Klimaka-
tastrophe, die Angst vor muslimischen Migranten oder die Angst vor
dem wirtschaftlichen Abstieg. Angstpolitik unterscheidet sich damit
von zwei anderen Typen politischen Handelns, Identitätspolitik und
Interessenpolitik. Identitätspolitik ist das Politikmachen mit Bezug
auf Identitäten, während in der Interessenpolitik mit Interessen Po-
litik gemacht wird. Wer hingegen Angstpolitik treibt, der setzt Angst
an den Anfang.10
Interessenpolitik folgt dem principal-agent-Model. Politikerinnen
und Interessenvertreter nehmen gesellschaftlich relevant gewordene
Interessen auf, organisieren sie und bringen sie im politischen Aus-
handlungskonikt zur Geltung. Das Ergebnis ist in der Regel ein
Kompromiss, der von den Prinzipalen bilanziert werden kann. Im
Unterschied dazu besteht Identitätspolitik aus der Repräsentation
von Identitäten (zumeist der Identität des »großen Ganzen« oder der
Identität von Gruppen). Sie kann von den jeweiligen Adressaten zwar
dahingehend bewertet werden, ob diese sich in der repräsentativen
Inszenierung wiedernden, aber im Unterschied zur Interessenpo-
litik ist die Repräsentation von Identität symbolisch, sie ist deshalb
nicht zweckrational bilanzierbar und insoweit ideologieanfälliger.11
9 David Runciman, How Democracy Ends, London 2019.
10 Oder fordert diese ein, so wie Greta Thunberg mit ihrem Aufruf »I want you to
panic!«.
11 Diese Denition von Interessen- und Identitätspolitik folgt Heinz Steinert, Kul-
turindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Darsteller, ihr
Publikum und seine Mobilisierung, in: IPG 4 (1999), 402–413. Die idealtypische
Unterscheidung darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Politikfor-
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Angstpolitik weist in dieser Hinsicht eine gewisse Nähe zur Iden-
titätspolitik auf, denn sie bezieht sich prognostisch auf mögliche Ri-
siken in der Zukunft, die, wenn sie abstrakt formuliert sind, schwer
zu widerlegen sind. In der Angstpolitik werden politische Entschei-
dungen mit Rekurs auf Angst vor einem möglichen, hinreichend
wahrscheinlich erscheinenden Übel gerechtfertigt, das abgewehrt
werden soll. Ihr Ausgangspunkt ist die Prognose einer drohenden
Gefährdung durch kommende Ereignisse und Entwicklungen oder
die Behauptung einer akuten Bedrohung durch das Handeln von
»Feinden« oder »Gegnern«. Eine gesellschaftlich relevante Angst
wird hierbei als ein Indikator für die Korrektheit der Prognose dar-
gestellt und performativ verstärkt.
Angstpolitik ist Politik für Krisenzeiten. Sie kann von ihren
Protagonisten dann besonders authentisch auf die politische Büh-
ne gebracht werden. Die Möglichkeit, Angstpolitik zu treiben ist
zugleich strukturell in unserer Gesellschaft angelegt. In der Angst-
kultur der »üssigen Moderne«12 ist sie immer möglich. Auf die
entfremdete und stabilisierte Ordnung der »spätkapitalistischen
Industriegesellschaft«13 folgte der neoliberale Beunruhigungskapita-
lismus. In ihm ist Angst endemisch. Angstpolitik ist deshalb nicht
auf Situationen angewiesen, in denen sich kurzfristig Gelegenheits-
fenster für Mobilisierung önen. Hinzu kommt, dass die liberale
Demokratie für Angstpolitik empfänglich ist. Mit ihrer nur schwach
restringierten Öentlichkeit institutionalisiert sie eine Sphäre ot-
tierender Angstkommunikation, die sich auf nahezu alle möglichen
Risiken beziehen kann. Sie erlangt leicht eine politische Bedeutung,
weil Angst in der liberalen Öentlichkeit als ein politisches Argu-
ment und als normativer Aufmerksamkeitsmarker fungiert.14 Wer in
der Öentlichkeit Angst artikuliert, der signalisiert damit, die andere
Seite müsse nun erst einmal zuhören.15
men in der politischen Praxis fast nie rein auftreten, sondern in unterschiedlicher
Mischung miteinander verbunden werden. Das gilt auch für Angstpolitik.
12 Zygmunt Bauman, Liquid Fear, Cambridge 2006.
13 Deren Stabilität in den Sechziger Jahren sowohl von links als auch von rechts be-
tont worden ist; siehe Herbert Marcuse, One-dimensional man. Studies in the ideo-
logy of advanced industrial society, Boston 1964 und Helmut Schelsky, Der Mensch
in der wissenschaftlichen Zivilisation [1961], in: Auf der Suche nach Wirklichkeit, hg.
v. Helmut Schelsky, München 1979, 449–486.
14 Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft
sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1990, 237.
15 Jan-Werner Müller, Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, Berlin
2019, hier 83 und 147, meint, in der liberalen Demokratie müssten zuerst die »Opfer«
gehört werden. Allerdings dürfe deren Anspruch auf den Opferstatus nicht nur durch
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Die Kommunikation von Angst lässt sich leicht politisch instru-
mentalisieren. Sie ist »immer authentische Kommunikation, da man
sich selbst bescheinigen kann, Angst zu haben, ohne dass andere
dies widerlegen können«.16 Zwar kann die Behauptung, Angst zu
verspüren nicht widerlegt werden, die Rationalität oder Triftigkeit
von Angst aber schon. Dann liegt der Verdacht nahe, jemand spiele
die Angst nur vor oder sei phobisch. Angstpolitik ist anfällig für den
Ideologieverdacht.
In der englischsprachigen Literatur wird eine ideologische Angst-
politik als »politics of fear« bezeichnet. Es handelt sich um einen
kritischen Begri, der eine Art des Politikmachens markiert, in
der Angst als ein illegitimes Mittel des Machterhalts und der Errei-
chung fragwürdiger Ziele genutzt wird.17 Der Begri transportiert
den Verdacht, mit Angst ließe sich ausschließlich auf eine Art und
Weise Politik machen, die a priori kritikwürdig ist. In Wirklichkeit
erwarten die Bürgerinnen und Bürger aber die Responsivität der
Regierungen und Gesetzgeber gegenüber ihren Ängsten. Und dies
wird von vielen Politikerinnen und Politikern, durch deren gebets-
mühlenartig abgegebene Versprechen, »nah bei den Menschen« und
ihren »Sorgen und Nöten« zu sein, auch anerkannt. Auf eine para-
doxe Weise zeigt sich dies sogar anhand der oft zitierten Forderung
nach »Freiheit von Furcht« (»freedom from fear«). Sie wurde, von
Franklin D. Roosevelt über Willy Brandt bis hin zu Barack Obama,
immer wieder von demokratischen Politikern als eine politische
Parole genutzt. Abgesehen davon, dass sich eine vorgebliche Politik
der Angstüberwindung bei genauerem Hinsehen als Angstpolitik er-
weisen könnte, werden in jedem Fall auch diejenigen Politikerinnen,
die der Maxime »Freiheit von Furcht« folgen, nicht umhinkönnen,
politische Entscheidungen dann und wann mit Blick auf tatsäch-
liche oder vermeintliche Ängste der Bürgerinnen und Bürger zu
treen und zu rechtfertigen. Mit anderen Worten: In Demokratien
ist Angstpolitik ein unvermeidbarer Teil des politischen Prozesses.
die Artikulation von Angst beglaubigt werden, er müsse sich in öentlichen Debatten
bewähren.
16 Luhmann, Ökologische Kommunikation, 240.
17 David L. Altheide, Terrorism and the politics of fear, Lanham 2006; Frank Furedi,
The politics of fear. Beyond left and right, London 2005; Corey Robin, Fear. The
history of a political idea, Oxford 2004.
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Angstpolitik von links und rechts
Idealtypisch lassen sich eine »rechte« und eine »linke« Angstpolitik
unterscheiden. Historisch gehen sie auf die »Entstehung des Poli-
tischen bei den Griechen«18 und deren Erndung der Demokratie
zurück. Bis heute sind sie eine Erscheinung der Politik in Demo-
kratien und damals wie heute haben sie mit dem Konikt zwischen
»oben« und »unten« zu tun.19
Für die Aristokratie der antiken Polis stellte die Erndung der
Demokratie eine Bedrohung dar, denn die Idee der Demokratie
versprach politische Gleichheit. Sie stellte damit Eigentum, Einuss
und Privilegien der aristokratischen Wenigen infrage. Die Mehrheit
der einfachen Bürger hingegen hatte Angst vor den Herrschaftsan-
sprüchen der Aristokraten. Die Vielen befürchteten die Umgehung,
Schwächung oder Abschaung der demokratischen Verfahren durch
die Wenigen. In dieser Konstellation bildeten sich die Grundmo-
tive der »rechten« und »linken« Angstpolitik heraus. Die Angst vor
den demokratisch ermächtigten Vielen ist das Urbild der »rechten«
Angstpolitik, die Angst vor den aristokratischen Wenigen ist die
Grundgur der »linken« Angstpolitik.
Man kann gegen diese Herleitung einwenden, dass es in die Irre
des Anachronismus führe, wenn man neuzeitliche Kategorien wie
»links« und »rechts« in die Antike zurückprojiziert, da die damaligen
politischen Konikte von den Zeitgenossen nicht mit diesen Kate-
gorien beschrieben worden sind. Eine Deutung antiker Verhältnisse
mit neuzeitlichen Kategorien verfehlt tatsächlich die Eigenheit der
antiken Politikform. Gleichwohl stellt das, was hier unter »rechter«
und »linker« Angstpolitik verstanden werden soll, eine je eigene
Antwort auf eine politische Grundfrage dar, die nicht nur das antike
politische Denken beschäftigt hatte: Wer ist mehr zu fürchten – die
Vielen oder die Wenigen? Diese Frage ist so alt wie aktuell. Sie treibt
die gegenwärtige Demokratietheorie um und sie gewinnt im zeit-
genössischen politischen Denken durch den Aufstieg des Populismus
an Relevanz. Ihre zeitgenössische Fassung lautet: Stellen die Eliten
18 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am
Main 1980.
19 Vgl. Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie. Von Athen bis zur
Europäischen Union, Köln 32006, 15–80; Moses I. Finley, Das politische Leben in der
antiken Welt, München 1986; Ellen Meiksins Wood, Citizens to lords. A social history
of Western political thought from Antiquity to the Middle Ages, London 2008, 28–98.
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oder die Bürger das größere Risiko für die liberale Demokratie
dar?20
Von Platon über Edmund Burke und Madison bis zu zeitgenös-
sischen Antidemokraten wie Jason Brennan21 besagt die »rechte«
Antwort auf die Frage, wer mehr zu fürchten sei, dass vor allem
die Vielen furchtbar seien, denn es mangele ihnen an Vernunft und
Tugend. Politik solle das exklusive Betätigungsfeld einer weisen Elite
sein, die die Vielen regiert (zu deren eigenem Besten). Werde die Po-
litik der inkompetenten Masse und ihren demagogischen Anführern
überlassen, führe das zu wirtschaftlichem Niedergang, kulturellem
Verfall und politischem Aufruhr. In diesem geistigen Zusammen-
hang des antidemokratischen bis demokratieskeptischen Denkens
stehen auch die Massentheorien des bürgerlichen Zeitalters, die in
der Menge vor allem ein Ordnungsproblem sahen und Zivilisation
zuvörderst mit der Disziplinierung der angeblich zügellosen Vielen
verbanden.22
Auch in der Linken gab es einen massenskeptischen Diskurs. Er
drehte sich um die vermeintliche Führungsbedürftigkeit der Mas-
sen23 und zeigte Überschneidungen mit der »rechten« Denkweise.
Dessen ungeachtet gibt es eine spezisch »linke« Antwort auf die
Frage, die sich von der »rechten« Antwort unterscheidet. Sie ndet
sich sowohl bei antiken Demokraten als auch bei Machiavelli wie
bei neo-populistischen Demokraten wie John P. McCormick.24 Im
Kern besteht sie aus der dem massenskeptischen Denken entgegen-
gesetzten These, dass in der Politik vor allem die Wenigen zu fürch-
ten seien, denn diese seien aufgrund ihrer privilegierten Stellung an
Bevorzugung gewöhnt und herrschsüchtig. In hohem Maße klassen-
und standesbewusst, erkannten sie die Bedrohung ihrer Vorteile und
Vorrechte durch demokratische Aspirationen. Infolge der ewigen
20 Man kann sagen, dass diese Frage falsch gestellt ist, da sie von gesellschaftlichen
Strukturen und politischen Institutionen absieht. Das ändert aber nichts an ihrer po-
litischen Relevanz.
21 Jason Brennan, Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünfti-
gen überlassen dürfen, Berlin 2017.
22 Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeit-
alter, Reinbek bei Hamburg 1992; Joachim Schumacher, Die Angst vor dem Chaos.
Gegenangri durch Geschichte, zugleich Verteidigung der Demokratie, des Christen-
tums, des Mutes des individuellen Mannes u. anderer missachteter Ideale, Paris 1937,
Neuauage Frankfurt am Main 1978.
23 Siehe zur innerlinken Kritik einer Variante dieses Diskurses Hendrik Wallat, Staat
oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik, Münster 2012.
24 John P. McCormick, Niccoló Machiavelli, in: Radikale Demokratietheorie. Ein
Handbuch, hg. v. Dagmar Comtesse u.a., Berlin 27–39.
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Schmeicheleien, die sie bekämen, und ihrer daraus resultierenden
Selbstüberschätzung neigten sie zum Missbrauch von Macht. Lasse
man sie gewähren, machten »die da oben« nur das, was ihnen selbst
nützt.
Der Rechtspopulismus hat diese Trennung zwischen einer »lin-
ken« und einer »rechten« Angstpolitik durcheinandergebracht.
Rechtspopulistinnen treiben eine Form von Angstpolitik, die zwi-
schen links und rechts changiert. Das stellt eine politische Strategie
dar, die Motive der »linken« Angstpolitik mit Motiven der »rechten«
Angstpolitik zu verbinden. Die rechtspopulistische Antwort auf die
Frage, wer ein Risiko für Freiheit und Demokratie ist, lautet: Die
herrschende Elite und die fremden Massen. Antipopulisten aus allen
politischen Lagern reagieren auf diese Strategie unter anderem mit
einer Abwehr populistischer Impulse. Sie aktualisieren dabei Mo-
tive der Angst vor den unvernünftigen Vielen – mit der Folge, dass
elitenkritische »populäre« Politik zum Alleinstellungsmerkmal der
Rechtspopulisten wird.
Angstpolitik lechts und rinks
manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum!
Ernst Jandl, Lichtung
Populisten machen sich symbolisch zu den Fürsprechern des Volks
und seines angeblichen Willens oder Wohls in Abgrenzung zu einer
herrschenden, angeblich korrupten politischen Klasse oder Elite. Sie
etablieren damit eine moralische Wir-Sie-Unterscheidung, in wel-
cher die herrschende Minderheit als unmoralisch verdammt und
das Volk als moralisch höherstehend gloriziert wird. Dabei berufen
sich Populistinnen auf demokratische Prinzipien wie die Volkssou-
veränität und die Responsivität der Regierenden. Das verweist dar-
auf, dass es zwischen Demokratie und Populismus eine Verbindung
gibt. Mit dem Politikwissenschaftler Michael Th. Greven kann man
diese Verbindung im »populistischen Zug« der »Demokratie als Re-
gierungspraxis« sehen:
»Schon immer und legitimerweise besaß die Demokratie als
Regierungspraxis einen populistischen Zug, der sich einerseits
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aus dem Wiederwahlwunsch der auf Zeit Regierenden ergab,
und der andererseits über die Rückkopplung bei den seltenen
Wahlen hinaus für ein gewisses Maß an Responsivität zu sorgen
hatte.«25
Früher haben die sogenannten »Volksparteien«, die mit dem An-
spruch antraten, das gesamte Volk zu repräsentieren, sowie einige
der sozialistischen und kommunistischen Parteien im Sinne dieses
»populistischen Zugs« populistisch agiert. Allerdings trieben in ihrer
Frühphase auch die GRÜNEN populistische Politik, als sie den
»Altparteien« vorwarfen, abgehoben und undemokratisch zu sein.
Gegenwärtig wird der »populistische Zug« von der politischen
Klasse nicht mehr sonderlich überzeugend auf die politische Bühne
gebracht; einigen Bürgerinnen und Bürgern scheint er überhaupt
nicht mehr vorhanden zu sein. Zudem haben sich viele linke Partei-
en und Bewegungen von der Mobilisierung mittels elitenkritischen
Kollektivbegrien verabschiedet und infolgedessen die Angst vor
mächtigen Eliten nicht politisiert. Dies ermöglicht es populistischen
Parteien, Bewegungen und Politikerinnen, sich in Abgrenzung zur
politischen Klasse in Stellung zu bringen, die Angst vor übermächti-
gen Eliten zu artikulieren und im Namen von Volk und Demokratie
aufzutreten.26 Es ist bemerkenswert, dass es vor allem dem Rechtspo-
pulisten gelingt, diese Rolle für sich in Anspruch zu nehmen.
Rechtspopulistinnen fügen der populistischen Dierenz zwischen
korrupter Elite und gutem Volk eine weitere Unterscheidung hin-
zu. Sie unterscheiden zwischen dem guten Eigenen (dem eigenen
Volk, der eigenen Nation, der eigenen Gemeinschaft) und dem
bedrohlichen Fremden. In ihrer Mobilisierung konstruieren sie
das »eigene Volk« als eine gute Gemeinschaft, die von zwei Seiten
bedroht werde, von einer »korrupten Elite« und von »massenhaft
einwandernden Fremden«. Damit verbindet der Rechtspopulismus
in einer angstpolitischen Querfrontstrategie »rechte« mit »linken«
Topoi. Die Angst vor einer herrschenden Minderheit verknüpft er
mit der Angst vor einer gefährlichen Masse Fremder (die durch die
herrschende Minderheit ins Land gelassen werde). Dabei sind auch
interessen- und Identitätspolitische Topoi von Bedeutung, denn
25 Michael Th. Greven, Kampagnenpolitik, in: Kontingenz und Dezision. Beiträge
zur Analyse der politischen Gesellschaft, hg. v. Michael Th. Greven, Opladen 2000,
137–152, hier 130.
26 Ausführlich Dirk Jörke/Veith Selk, Theorien des Populismus zur Einführung,
Hamburg 2017; Veith Selk, Revolte von rechts. Der Aufstieg des Retropopulismus
als Reaktion auf gegenwärtige Demokratieprobleme, in: Fromm Forum 24 (2020),
124–149.
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die rechtspopulistische Mobilisierungsstrategie basiert auch auf der
Behauptung, sowohl die Interessen als auch die Identität »des Volks«
würden von der Elite und den Fremden bedroht. Diese Strategie
entspricht der Stimmungslage. Die jährliche Umfrage der R+V
Versicherung nach »Den größten Ängsten der Deutschen« listet für
das Jahr 2019 auf Platz eins die Angst vor Ȇberforderung des Staats
durch Flüchtlinge«. Die Angst vor »Spannungen durch Zuzug von
Ausländern« folgt auf dem zweiten Platz. Auf dem vierten Platz liegt
die Angst vor der »Überforderung der Politiker«.27
Die Antipopulisten aus allen Lagern reagieren auf diese Herausfor-
derung mit einem Programm, das man als postdemokratischen Liberalis-
mus bezeichnen kann.28 Der postdemokratische Liberalismus nimmt
Abschied von der Idee von Demokratie als der Verwirklichung eines
demokratisch gebildeten Mehrheitswillens. Er setzt stattdessen auf
ein gutes Regieren im Dienste liberaler Werte wie privater Freiheit
und Wachstum. Es solle vor allem durch Expertenwissen geleitet
werden, könne aber auch durch die Beteiligung gut informierter
Bürgerinnen und Bürger, »im Dialog«, unterstützt werden.
In seiner »linken« Variante hebt der postdemokratische Libera-
lismus den Wert der Chancengerechtigkeit stärker hervor; in der
»rechten« Variante sitzt sein Akzent eher auf individueller Leistungs-
gerechtigkeit. Beide Spielarten des postdemokratischen Liberalismus
teilen jedoch die Stoßrichtung der wettbewerblichen Anpassung an
den globalen Kapitalismus und die vermeintlichen »Sachzwänge«
der Marktgesellschaft, die sie als im Ganzen nicht steuer- und be-
herrschbar auassen. Önungsprozesse in der Politik (Europäisie-
rung, Globalisierung), in der kapitalistischen Ökonomie (Freihandel,
Flexibilisierung und Innovation) und in der Kultur (Toleranz und
Vielfalt) werden in dieser Denkweise als miteinander zusammenhän-
gende Mittel der Anpassung im »globalen Wettbewerb um Märkte,
Köpfe und Kapital« begrien.
Postdemokratische Liberale beschreiben den Rechtspopulismus
als eine Gefahr für die liberale Regierungsweise und dessen Werte.
Von ihm seien sowohl Minderheiten als auch das Große und Ganze
des liberaldemokratischen Kapitalismus bedroht. Sein unvernünf-
tiges protektionistisches Programm und dessen Verkennung von
Diversität und Oenheit als wichtigen Standortfaktoren bedrohten
27 https://www.ruv.de/static-files/ruvde/Content/presse/die-aengste-der-deut-
schen/aengste-graken/ruv-aengste-graken.pdf (20.12.2019). Auf Platz drei liegt
die Angst vor einer »gefährlicheren Welt durch Trump-Politik«.
28 Dirk Jörke/Veith Selk, Was ist postdemokratischer Liberalismus?, in: Journal für
politische Bildung 1 (2019), 24–27.
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den Wohlstand. Die illiberale Politik des Rechtspopulismus ziele auf
»bloße« Mehrheiten.
Schluss: Keine Demokratie ohne Mehrheitspolitik
Rechtspopulistische Angstpolitik geht auf Kosten von schwachen
Minderheiten, deshalb ist die antipopulistische Kritik an ihr in dieser
Hinsicht berechtigt. Jedoch ist die Strategie des postdemokratischen
Liberalismus, Mehrheitspolitik als prinzipiell gefährlich darzustellen
und in der Auseinandersetzung mit der rechtspopulistischen Her-
ausforderung auf eine anti-majoritäre Angstpolitik zu setzen, riskant.
Auf lange Sicht stellt der angstpolitische Anti-Majoritarismus eine
unkluge Strategie dar, denn sowohl der Anspruch auf eine demo-
kratische Politik für die Mehrheit als auch die Repräsentation der
Angst vor starken Minderheiten wird hierdurch zu einem Allein-
stellungsmerkmal rechtspopulistischer Parteien. Und diese wissen
ihre Chance zu nutzen. Zur Demokratie gehören schließlich, wie
Margaret Canovan gezeigt hat,29 nicht nur die Erwartung guten Re-
gierens seitens professioneller Politikerinnen und Politiker, sondern
auch das Versprechen, mittels Stimmzetteln mächtige Minderheiten
in ihre Schranken zu weisen und die Lebensverhältnisse der Mehr-
heit zu verbessern.
– Dr. Veith Selk arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische
Theorie und Ideengeschichte des Instituts für Politikwissenschaft der TU Darmstadt.
Zu seinen Schwerpunkten gehören unter anderem Demokratie, Populismus, Angst &
Politik.
29 Margaret Canovan, »Trust the people!« Populism and the two faces of democracy,
in: Political Studies 47 (1999), 2–16.