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Heinrich Söbke und Matthias Weise (Hrsg.): Wettbewerbsband AVRiL 2021 48
Theorie begreifbar machen - Immersive Modellbildung im
naturwissenschaftlichen Schulunterricht
Vorteile des Einsatzes von AR-Applikationen in der schulischen Elektrizitätslehre
Florian Frank
1
, Annika Kreikenbohm1, Hagen Schwanke1, Christoph Stolzenberger1,
Nicole Wolf1 und Thomas Trefzger1
Abstract: Im Beitrag werden zunächst Herausforderungen kognitiver, affektiver und
interpersoneller Natur in der naturwissenschaftlichen Lehre im Bereich Elektrizität vorgestellt.
Gestützt auf die Cognitive Load Theory, die Cognitive Theory of Multimedia Learning und die
Selbstbestimmungstheorie wird die Entwicklung von Augmented Reality (AR) Anwendungen für
den Einsatz im Unterricht beschrieben. Verschiedene Studien sollen evaluieren, ob AR durch die
Überblendung von traditionellen Experimenten mit dem zu Grunde liegenden theoretischen Modell
den naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozess und damit die Lehre unterstützen kann.
Außerdem ist geplant zu untersuchen, ob durch den Einsatz von AR fehlerhafte
Schülervorstellungen reduziert und zusätzlich die unterrichtsbezogene Motivation und die
Möglichkeiten der Differenzierung gesteigert werden können.
Keywords: Augmented Reality, Digitalisierung, naturwissenschaftliche Ausbildung,
Elektrizitätslehre, Magnetismus, elektrische Felder, Sekundarstufe I, CLT, Usability
1 Einleitung
Wir leben in einer komplexen, hoch-technologischen Welt, die jeden von uns zwingt, sich
im Alltag mit Technik auseinanderzusetzen, und die große globale Problemfelder wie etwa
die Klimaerwärmung generiert und verschärft. Die Naturwissenschaften können mithilfe
der in Experimenten erhaltenen Erkenntnisse und den daraus abgeleiteten theoretischen
Modellen einen bedeutenden Beitrag dazu leisten, sowohl globale Problemfelder
vorherzusagen und zu bearbeiten als auch die Menschen für einen durchdachten Umgang
mit neuen Technologien zu qualifizieren. Ein gutes naturwissenschaftliches Verständnis
erleichtert dies und befähigt uns, globale, komplexe Wirkmechanismen zu verstehen und
zu beeinflussen.
Eine gelungene naturwissenschaftliche Ausbildung ist nicht nur fachlich korrekt, sie sorgt
auch dafür, dass es bei Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Auszubildenden usw.
nicht zu fehlerhaften Vorstellungen kommt. Außerdem ist es wichtig, Lernende bereits in
jungen Jahren für diese Themen zu begeistern und intrinsisch motiviert an
naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen heranzuführen. Vor allem der Umgang
mit und die Lehre von naturwissenschaftlichen Modellen bringt eine Reihe großer
1
Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Lehrstuhl für Physik und ihre Didaktik, Emil-Hilb-Weg 22, 97074
Würzburg, Kontakt: florian.frank@uni-wuerzburg.de
Immersive Modellbildung in der naturwissenschaftlichen Ausbildung 49
Herausforderungen kognitiver, affektiver und interpersoneller Natur mit sich, denen wir
mittels des Einsatzes von Augmented Reality begegnen möchten.
2 Herausforderungen der Lehre und ihre aus der Theorie
abgeleiteten Lösungsansätze mit AR
Die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Modellen wie etwa des Modells der
magnetischen Feldlinien, das in der Vergangenheit häufig erfolgreich bei der Erklärung
oder Vorhersage verschiedenster naturwissenschaftlicher Phänomene herangezogen
wurde, birgt für die Lernenden ein hohes Maß an Komplexität. Tatsächlich existieren bei
Schülerinnen und Schülern auch nach Ende der Sekundarstufe II eine Vielzahl an
fehlerhaften Vorstellungen zum Magnetismus [As16]. Ebenso zeigen sich in der
elementaren Lehre zu einfachen Stromkreisen nach Abschluss des Einführungsunterrichts
prävalente fehlerhafte Schülervorstellungen [Bu18]. Selbst Studienanfänger*innen der
Physik, also vermeintlich gute und interessierte Lernende, offenbaren noch häufig solche
fehlerhaften Vorstellungen [Fr18].
Nach der Cognitive Load Theory [Pl10] (vgl. Abb.1) kann man bei Lernprozessen drei
Arten auftretender kognitiver Belastung unterscheiden: Intrinsische Belastung ist für einen
Lerngegenstand unveränderlich und resultiert aus der Komplexität desselben. Extrinsische
Belastung ist abhängig von der Darstellung der Lerninhalte und allgemein nicht
lernförderlich. Lernbezogene Belastung entsteht durch die Aufnahme, Verarbeitung und
Speicherung der Lerninhalte in das Langzeitgedächtnis und ist damit lernförderlich.
Lernende haben nur eine begrenzte kognitive Kapazität – bei hoher extrinsischer
Belastung wird die lernbezogene Belastung verringert und damit der Lernvorgang
gehemmt, was vermieden werden sollte [Pl10]. Ziel muss es also sein, diese Art der
Belastung zu reduzieren.
Abb. 1: Arten kognitiver Belastung, angelehnt an [Pl10]
Zur Reduktion der extrinsischen Belastung kann nach den Prinzipien der räumlichen und
zeitlichen Kontiguität der Cognitive Theory of Multimedia Learning [Ma14] die Nutzung
von erweiterter Realität (Augmented Reality, AR) einen entscheidenden Beitrag leisten.
Grundannahme ist, dass eine räumliche und zeitliche Trennung aufeinander bezogener
Lerninhalte die extrinsische Lernbelastung erhöht. Diese Trennung findet im Unterricht
etwa statt, wenn die Lehrperson nach der Durchführung eines naturwissenschaftlichen
Experiments in Kleingruppen das theoretische Modell entkoppelt vom Experiment im
50 Florian Frank et al.
Lehrervortrag näher erläutert, um die gewonnenen Erkenntnisse in die Theorie zu
überführen. Durch die Nutzung einer AR-Applikation kann in diesem Szenario das
theoretische Modell während des Experimentierens in der Kleingruppe über den
experimentellen Aufbau geblendet werden, um eine höhere räumliche und zeitliche
Kontiguität zu gewährleisten und damit die extrinsische Lernbelastung zu reduzieren.
Eine weitere Herausforderung der naturwissenschaftlichen Lehre stellt die Abnahme der
Motivation im Verlauf der Schulzeit dar [Fi18]. Nach der Selbstbestimmungstheorie
[De08] kann die intrinsische Motivation durch die Erfüllung der drei psychologischen
Grundbedürfnisse nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit
erhöht werden. Der Einsatz von AR-Applikationen zur Vermittlung theoretischer Modelle
direkt während des Experimentierens ermöglicht es, mehr Unterrichtssegmente in
Kleingruppen durchzuführen, was eine im Vergleich zum Lehrervortrag erhöhte
Befriedung der psychologischen Grundbedürfnisse mit sich bringen kann.
Durch die schülerzentrierte und erforschende Auseinandersetzung mit den physikalischen
Modellen wird eine stärkere individuelle Passung des Unterrichts ermöglicht, was auch
Lehrkräften zugutekommt, die Schwierigkeiten haben, ihren Unterricht hinreichend zu
differenzieren [Le19]. Lernenden können in ihrem eigenen Tempo arbeiten und Lehrende
werden von Dozierenden zu Lernbegleiter*innen, die auf individuelle Fragen eingehen
und bei Problemen unterstützen können.
Ziel des Einsatzes von AR in Unterrichtssituationen kann es also sein, die Vermittlung
komplexer Lerninhalte (z.B. theoretischer Modelle) in den Naturwissenschaften durch
eine bessere räumliche und zeitliche Kontiguität zu vereinfachen, die unterrichtsbezogene
Motivation der Lernenden durch die Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse
nach Autonomie, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit zu steigern und den
Lehrpersonen Möglichkeiten zur Binnendifferenzierung zu bieten.
3 Design der AR-Applikationen
Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen wurden AR-Anwendungen für die
naturwissenschaftliche Lehre entwickelt. Diese sollen im Unterricht als Bindeglied
zwischen den zur Erklärung und Vorhersage genutzten theoretischen Modellen und den
durchgeführten (Schüler*innen-)Experimenten fungieren. Der naturwissenschaftliche
Erkenntnisweg ist ein iterativer Prozess, der zu Beginn aufgestellte Hypothesen mit Hilfe
von Experimenten überprüft und die dabei gewonnenen Ergebnisse in theoretische
Modelle überführt. Aus diesen Modellen werden dann wiederum Hypothesen generiert,
die es zu überprüfen gilt [St20]. Die Applikationen sollen ebendiesen Prozess qualitativ
begleiten und den Lernenden so die Möglichkeit bieten, selbständig die Theorien am
Experiment konstruktiv zu erarbeiten.
Um die AR Anwendungen auf die beschriebene Weise in die Lernprozesse zu integrieren,
ist es wichtig, dass sie auf die vorhandene Hard- und Software abgestimmt sind. Da eine
großflächige Nutzung von AR-Brillen in Unterrichtssituationen aufgrund der Kosten und
Immersive Modellbildung in der naturwissenschaftlichen Ausbildung 51
der schlechten Usability bisher nicht realistisch erscheint, wurden die erstellten
Applikationen für Tablets bzw. Smartphones optimiert. Sobald AR-Brillen bezahlbar und
handlicher werden, ist eine Erweiterung auf diese aber problemlos möglich.
Im Folgenden werden zwei der aktuell entwickelten Anwendungen näher beschrieben:
„Magneto“ – eine Applikation, die Magnetfelder sichtbar macht, und „profiBrille“,
welche die Vermittlung einfacher Stromkreise in der Elektrizitätslehre unterstützen soll.
Die Entwicklung beider ist, abgesehen von der gleichen theoretischen Basis, dabei
unabhängig voneinander.
Beide Applikationen wurden so entworfen, dass sie sowohl in Verbindung mit
Experimenten von Schüler*innen als auch von Lehrkräften eingesetzt werden können.
Dafür wurden Experimentierkästen der Firma Mekruphy mit Bildmarken versehen und
können während des Experiments mit digitalen Zusatzinformationen angereichert werden.
Der Applikation Magneto liegt das Feldlinienmodell des
Magnetismus zu Grunde. Häufig wird dieses in der
unterrichtlichen Praxis nur zweidimensional betrachtet.
AR bietet nun die Möglichkeit, das Modell um eine
Dimension zu erweitern (vgl. Abb. 2). Dafür werden die
Magnetfelder von Stab- oder Hufeisenmagneten räumlich
dargestellt und mit dem Realexperiment in Deckung
gebracht. Mit der Anwendung können auch Phänomene
des Elektromagnetismus genauer visualisiert werden, so
etwa die Interaktionen von Magnetfeldern mit Elektronen
einer Spule, was eine anschaulichere Erklärung der
elektromagnetischen Induktion ermöglicht.
Insgesamt liefert die Anwendung dabei die Grundlage für
sechs verschiedene AR-gestützte Experimente. Weitere
Themen sind unter anderem die magnetische Influenz, der
Versuch von Oersted, die Regel von Lenz oder die
Funktionsweise eines Weicheiseninstruments [Sc21].
Die Applikation profiBrille überblendet den realen Experimentieraufbau eines
Stromkreises mit sich bewegenden Elektronen (vgl. Abb. 3). Deren Verhalten,
Geschwindigkeit und Dichte orientiert sich am Elektronengasmodell [Bu18]. Zusätzlich
können Visualisierungen zur Ansicht verschiedener Widerstandsarten eingeblendet
werden, in denen auf Teilchenebene die Wechselwirkungen der Atomrümpfe und der
Leitungselektronen beobachtbar sind. Mit der Applikation können grundlegende
Untersuchungen an einfachen Stromkreisen mit Parallel- und Reihenschaltungen von
mehreren Widerständen und Lampen durchgeführt werden. Das theoretische Modell wird
am Experiment direkt erfahrbar und kann von den Schüler*innen eigenständig erprobt und
validiert werden.
Die Design-Philosophie beider Apps ist dabei dieselbe: es soll ein zugleich einfaches und
vielseitig einsetzbares Werkzeug für den Unterricht zur Verfügung gestellt werden, dessen
AR
Real
Abb.2: Durch Magneto
augmentiertes Realexperiment
52 Florian Frank et al.
Bedienung und Handhabung für die Schüler*innen möglichst einfach und intuitiv ist. Die
komplexen Lerninhalte sollen durch den Einsatz von AR leichter nachvollziehbar werden.
Abb. 3: Durch profiBrille augmentiertes Realexperiment
4 Geplante Studien
Zur Unterstützung der weiteren Entwicklung werden prozessbegleitend qualitative
Studien durchgeführt. Hierfür werden Prototypen der Anwendungen Lehrkräften an
bayerischen Schulen sowie freiwilligen Teilnehmer*innen einer ausgeschriebenen
Umfrage zur persönlichen Testung zur Verfügung gestellt. Die Teilnehmenden der
Studien werden anschließend in leitfadengestützten Interviews gebeten, Aussagen zur
Usability, zur didaktischen Umsetzung und zu den Einsatzmöglichkeiten der
Applikationen im Unterricht zu machen. Die ersten Ergebnisse der Befragungen liegen
bereits vor und werden in der Weiterentwicklung der Applikationen berücksichtigt. Auf
Grundlage der Interviewergebnisse sollen auch die Konzepte erstellt werden, nach denen
die Applikationen in den Unterricht eingebunden werden können.
Am Ende der Entwicklung ist für beide Applikationen im Rahmen von
Dissertationsarbeiten je eine Interventionsstudie an bayerischen Gymnasien in den
Sekundarstufen I/II geplant. Mit einem Pre/Post-Test-Design mit Kontroll- und
Testgruppe unter Vorgabe der Unterrichtskonzepte sollen der Einfluss des Einsatzes der
Anwendungen im Unterricht auf den kognitiven Lernzuwachs, die Auftretens-
wahrscheinlichkeit von Schülervorstellungen und die Änderung der intrinsischen
unterrichtsbezogenen Motivation untersucht werden. Über den Zeitraum der
Interventionen hinweg können dabei mit Begleitfragebögen an geeigneten Zeitpunkten
Daten zur momentanen kognitiven Belastung und zur von den Lernenden
wahrgenommenen Befriedung der psychologischen Grundbedürfnisse erhoben werden,
was Rückschlüsse auf die Validität der eingangs dargestellten, aus der Theorie
abgeleiteten Annahmen zur Wirkung von AR in der schulischen Lehre ermöglicht.
Real
AR
Immersive Modellbildung in der naturwissenschaftlichen Ausbildung 53
5 Ausblick und Übertragbarkeit
Ziel der Forschung ist es zu untersuchen, wie der Einsatz von AR zur Vermittlung
naturwissenschaftlicher theoretischer Modelle kognitive und motivationale Aspekte der
Lernenden beeinflusst. Prototypisch wird dies an Anwendungsbeispielen aus der
Elektrizitätslehre im Rahmen des schulischen Physikunterrichts durchgefürt. Im
Anschluss an die Feldexperimente sollen die Applikationen über die Internetseite der
Physikdidaktik der Universität Würzburg für den Einsatz im Unterricht zur Verfügung
gestellt werden. In diesem Rahmen können die Applikationen auch auf andere
Experimentierkästen angepasst werden.
Hat sich im Laufe der Testung dieses Prinzip der Unterrichtsgestaltung bewährt, können
die Erfahrungen sowohl auf andere Bereiche der Physik (Optik, Mechanik, etc.) als auch
auf andere Schulfächer und Disziplinen übertragen werden. Ebenso ist ein Einsatz in
Bereichen der Hochschullehre oder der Erwachsenenbildung denkbar.
6 Literaturverzeichnis
[As17] Aschauer, W.: Elektrische und magnetische Felder. Eine empirische Studie zu
Lernprozessen in der Sekundarstufe II, Logos-Verlag, Berlin, 2017.
[Bu18] Burde, J.-P.: Konzeption und Evaluation eines Unterrichtskonzepts zu einfachen
Stromkreisen auf Basis des Elektronengasmodells. Logos-Verlag, Berlin, 2018.
[De08] Deci, E.; Ryan, R.: Self-Determination Theory: A Macrotheory of Human Motivation,
Development, and Health. Canadian Psychology 49/3, S.182-185, 2008.
[Fi18] Finkenberg, F.: Flipped Classroom im Physikunterricht. Logos-Verlag, Berlin, 2018.
[Fr18] Fromme, B.: Fehlvorstellungen von Studienanfängern: Was bleibt vom Physikunterricht
der Sekundarstufe I?. In (Nordmeier, V. & Grötzebauch, H., Hrsg.): PhyDid B –
Didaktik der Physik – Beiträge zur DPG-Frühjahrstagung. Würzburg, S. 205-215, 2018.
[Le19] Letzel, V.; Otto, J.: Binnendifferenzierung und deren konkrete Umsetzung in der
Schulpraxis – eine qualitative Studie. Zeitschrift für Bildungsforschung 9/3, S.375-39,
2019.
[Ma14] Mayer, R. (Hrsg.): The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. Second Edition,
Cambridge University Press, 2014.
[Pl10] Plass, J.; Moreno, R.; Brünken, R. (Hrsg.): Cognitive Load Theory. Cambridge
University Press, 2010.
[Sc21] Schwanke, H.; Kreikenbohm, A.; Trefzger, T.: Augmented Reality in Schülerversuchen
der Elektrizitätslehre in der Sekundarstufe I. In (Habig, S. Hrsg.):
Naturwissenschaftlicher Unterricht und Lehrerbildung im Umbruch?. Gesellschaft für
Didaktik der Chemie und Physik (GDCP), S. 641-644, 2021.
[St20] Stiller, C. et.al.: Erkenntnisgewinnung in den Naturwissenschaften: Von der Hypothese
zur Theorie. PFLB – PraxisForschungLehrer*innenBildung 2/2, S.28-39, 2020.