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Gesundheitskompetenz und Vulnerabilitäten von Menschen mit komplexen Behinderungen in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Überblick über das Projekt „Communicating(in) the Crisis“ sowie Darstellung erster Zwischenergebnisse.

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Abstract

Bestehende Vulnerabilitäten von Menschen mit komplexen Behinderungen verschärfen sich in der aktuellen Pandemie – insbesondere durch erschwerte Kommunikationssituationen. Im Bereich Gesundheitskompetenz und -kommunikation zeigt sich Bedarf an neuartigen teilhabeorientierten Ansätzen – theoretisch, methodisch wie praktisch -, die die Bedürfnisse und die kommunikative Vielfalt von Menschen mit komplexen Behinderungen anerkennen und das Unterstützer*innenumfeld besonders einbeziehen. Der Posterbeitrag präsentiert das Forschungsprojekt ComCri, seine Ziele, die leitenden Forschungsfragen und die theoretischen und methodologischen Hintergründe.
Ausgangslage und Hintergrund
Menschen mit komplexen Behinderungen erweisen sich in der Corona-Pandemi e (erneut)
als besonders vulnerabel nicht nur in medizi nischer Hinsicht, sondern auc h und
insbesondere hinsichtlich ihrer Teilhabe.
Besondere Benachteilig ung durch institutionalisierte Lebensräume und dami t
einhergehende Herausf orderungen im Zuge der Pandemie (Brennan et al. 2020; Bernasconi
& Keeley 2021)
Im wissenschaftlic hen und medialen Diskurs werden Vulnerabilitäten des Personenkreises
häufig auf individuelle (v.a. medizi nische) Belange reduziert und damit in ihrer tatsächlichen
Komplexität reduziert (Seitzer et al. 2020)
Verstehen von und Verständigen über gesundheitsbezogene Informationen in der
Pandemie-Situation durch unbeständige Informationslagen und Unsicherheiten seitens des
(professionellen und inf ormellen) Umfeldes erschwert (ebd.; Navas et al. 2021)
Trotz besonderer Notwendigkeit in der Pandemie-Situation: Menschen mit komplexen
Behinderungen und ihre kommunikativen Bedarf e werden in Forschung und
Konzeptentwicklung zur Gesundheitskompetenz kaum berücksichtigt (Busch & Fischer-Suhr
2021)
Theoretisches Vorverständnis
Erste Zwischenergebnisse ergeben sich aus der hermeneutischen Analyse z u den drei
inhaltlichen Schwerpunkten v on ComCri:
1. Vulnerabilit ät:
Corona-Pandemie ist für Menschen mit komplexen Behinderungen in erster Linie eine
Zuspitzung und Verschärfung der andauernden Teilhabekrisen drohende
Normalisierung anhaltender Wissens-, Prioritäts-und Werteverschiebungen (vgl.
Foucault 1976/2002)
Sichtbares Beispiel: Triage Diskriminierung (Scully 2020; Zander 2021)
Die (professionelle wie informelle) Un terstützung des Personenkreises beschränkt(e)
sich zunehmend (auch vor der Pandemie) auf die Bewältigung dieser Alltagskrisen
„Krisenalltag“
Analog zum sozialen und kulturellen Modell von Behinderung ist ein um die soziale
und kulturelle Dimension erweitertes Verständnis von Vulnerabilität erforderlich (vgl.
Burghardt et al. 2018)
2. Kommunikative Bedürfnisse
Menschen mit komplexen Behinderungen werden häufig besondere kommunikative
Bedürfnisse unterstellt, u.a. aufgrund alltagsweltlicher (und mitunter auch
sozialwissenschaftlicher) Engführungen des Kommunikationsbegriffes (vgl. Bernasconi
& Böing 2015, 152):
Gleichsetzung von Kommunikation mit einzelnen Kommunikationsmodalitäten,
z.B. Schrift und Sprache bzw. allgemeiner: Symbole
Reduktion einer Kommunikationsstörung auf einzelnen
Kommunikationspartnerin
Konsequenzen:
Vielfalt und Individualität der Körpersprache (an-)erkennen; auch
Verhaltensweisen als Ausdrucksmittel verstehen
Non-verbale, leiblich vermittelte Kommu nikation „nicht nur eine Begleitmusik
zur eigentlichen, verbal-sym bolischen Kommunikati on“ (Fuchs 2003)
Rolle der Unterstützenden in der Verständigung über gesundheitsbezogene
Informationen und Erfordernisse (Navas et al. 2021)
3. Gesundheitskompetenz
Obwohl mittlerweile viele Theorien und Modelle von Gesundheitskompetenz
gesellschaftlichen und organisationalen Kontext berücksichtigen (vgl. Bitzer &
Sørensen 2018), werden überwiegend individuelle verbal-und schriftsprachliche
Kompetenzen fokussiert (Latteck & Bruland2020)
Zugänge zu gesundheitsbezogenen Informationen bei Menschen mit komplexen
Behinderungen mit besonderen Herausforderungen verbunden (z.B. Leichte Sprache
häufig nicht ausreichend) (Rathmann & Nellen 2020; Busch & Fischer-Suhr 2021)
Zusätzliche Kommunikations-und Informationsbarrieren in der Pandemie, u.a. durch
wechselnde Informationslagen, Gebote körperlicher Distanznahme (Navas et al. 2021)
Forschungsdesign
Das Proj ekt verfolgt einen methodenpluralen, triangulären Ansa tz (Bergmann et al. 2 010)
1. Hermeneutische Analyse (Reichertz 1991)
Literaturreview
Entwicklung eines Vorverständnisses der einzelnen theoretischen Konstrukte
Zusammenführung der verschiedenen Perspektiven; Transfer auf Personenkreis
2. Delphi-St udie (Trevelyan & Robinson 2015)
Beteiligte: Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis
Entwicklung & Vali dierung eines theoretischen Vorverständnisses
Erste Erkenntnisse zu Handlungs möglichkeiten
Erkenntnisse zur Konstituierung der Online-Befragung
3. Online-Be fragung (Bandilla 2015; Diekmann 2007)
Beteilig te: Fachkräfte und profession elle Unterstützer*i nnen
Transfer des theoretischen Vorvers tändnis auf die lebensweltliche Situation von
Menschen mit komplexen Behinderungen
Erkenntnisse zu Handlungs möglichkeiten
4. Ethnographische Feldphase (Hitzler & Eisewicht 2016)
Beteiligte: Menschen mit komplexen Behinderungen und ihre professionellen
Unterstütz er*innen
Untersuchung von drei exemplarisc hen institutionellen Settings (g eschützte
Werkstätten, Tagespfl egeeinrichtungen, stationär e Pflegeeinrichtungen)
Multimethodisches Vorgehen: Teilha beorientierte Beobachtung, Interviews,
narrative Foto-oder Videomethoden
Fazit und Ausblick
Bestehende Vulnerabilitäten von Menschen mit komplexen Behinderungen verschärf en sich
in der aktuellen Pandemie insbesondere durch erschwerte Kommuni kationssituationen.
Ausgehend von dieser Grundannahm e ist davon auszugehen, dass sich auch bzw. vor allem
im Bereich der Gesundheitskompetenz und -kommunikation spezif ische Bedarfe und
Bedürfn isse zeigen.
Diesen ist mit neuartigen teilhabeorientierten Ansätzen theoretisch, methodisch wie
praktisc h zu begegnen, die die Bedürfni sse und die kommunikative Vielfalt von Menschen
mit komplexen Behinderungen anerkennen und das Unterstützer*innenumf eld besonders
einbeziehen .
Nächster Schritt: Auswertung der Erkenntnisse der ersten (Delphi-)Befragungsrunde und
Vorbereitung der zweiten Befrag ungsrunde (November 2021).
Basierend auf di esen Erkenntnissen wir d die Online-Befragung konstituiert und Ende 2021
durchgeführt.
Informationen über den Projektverlauf fi nden Sie unter https://www.hf.uni -koeln.de/41647
und auf Researc hGate: https://ww w.researchgate.net/project/Communicating -in-the-Crisis-
Kommunizieren-in-der-Krise
Referenzen
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Gesundheitskompetenz und Vulnerabilitäten von Menschen mit komplexen Behinderungen in
Zeiten der COVID-19-Pandemie. Überblick über das Projekt „Communicating (in) the Crisis“
sowie Darstellung erster Zwischenergebnisse.
Timo Dins & Dr. Caren Keeley
Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
Ziele von ComCri
1. Exploration der (besonderen) Vulnerabil itäten und kommunikativen Bedürfnisse und
Bedarfe von Menschen mit komplexen Behinderungen in der P andemie
2. Exploration der Bedeutsamkeit und Zugängli chkeit gesundheitsbezogener
Informationen bei Menschen mit komplexen Behinderungen und deren
Unterstützer*innen in der Pandemie
3. Entwicklung von Handlungsempfehlungen für eine gelingende Unterstützungspraxis in
Krisensituationen
Forschungsfrag en:
1. Welche gesundheitsbezogenen Inform ationen und Erfordernisse sind in der
Pandemie-Situation bei Menschen mit komplexen Behinderungen (und deren
Unterstützer*innen) von Relevanz?
2. Welche besonderen Vulnerabilitäten und welche kommunikativen Bedürfnisse zeigen
sich in diesem Z usammenhang?
3. Welche besonderen Anforderungen ergeben sich daraus hinsichtlich der
Unterstützung von Menschen mit komplexen Behinderungen?
Projektlaufzeit: 01.04.2021
30.09.2022
Projektle itung: Dr. Caren Keeley
Projektmanagement: Timo Dins
Projektmit arbeite nde:Michaela Naumann,
Pia Mairho fer
Kommunizier en (in) der Kr ise
[Communicating (in) the Crisis]
Gesundheitskompetenz und (besondere)
Vulnerabilitäten von Menschen mit komplexen
Behinderungen in der Corona-Pandemie
Gefördert durch die
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Disability rights during the pandemic. A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor
  • C S Brennan
  • S Allen
  • R Arnold
  • I Bulic Cojocariu
  • D C Milovanovic
  • S Gurbai
Gesundheitswesen [Health Literacy], 80(8-09), 754-766. https://doi.org/10.1055/a-0664-0395 • Brennan, C. S., Allen, S., Arnold, R., Bulic Cojocariu, I., Milovanovic, D. C., Gurbai, S. et al. (2020). Disability rights during the pandemic. A global report on findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. Zugriff am 03.09.2021. Verfügbar unter: https://covid-drm.org/assets/documents/Disability-Rights-During-the-Pandemic-report-web.pdf • Burghardt, D., Dziabel, N., Höhne, T., Dederich, M., Lohwasser, D., Stöhr, R. et al. (2017). Vulnerabilität. Pädagogische Herausforderungen (1. Aufl.). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. • Busch, M. & Fischer-Suhr, J. (2021). Gesundheitskompetenz bei Menschen mit geistiger Behinderung.
Inclusion of People with Intellectual Disabilities in Health Literacy: Lessons Learned from Three Participative Projects for Future Initiatives
  • P Navas
  • A M Amor
  • M Crespo
  • Z Wolowiec
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Lebensweltanalytische Ethnographie. Im Anschluss an Anne Honer. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. • Latteck, Ä.-D. & Bruland, D. (2020). Inclusion of People with Intellectual Disabilities in Health Literacy: Lessons Learned from Three Participative Projects for Future Initiatives. International Journal of Environmental Research and Public Health, 17(7). https://doi.org/10.3390/ijerph17072455 • Navas, P., Amor, A. M., Crespo, M., Wolowiec, Z. & Verdugo, M. Á. (2021). Supports for people with intellectual and developmental disabilities during the COVID-19 pandemic from their own perspective. Research in Developmental Disabilities, 108, 103813. https://doi.org/10.1016/j.ridd.2020.103813 • Rathmann, K. & Nellen, C. (2019).
Der Hermeneut als Autor: zur Darstellbarkeit hermeneutischer Fallkonstruktionen
Gesundheitskompetenz von Menschen mit Behinderung. Prävention und Gesundheitsförderung, 14(4), 375-383. https://doi.org/10.1007/s11553-019-00704-9 • Reichertz, J. (1991). Der Hermeneut als Autor: zur Darstellbarkeit hermeneutischer Fallkonstruktionen. Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 16(4), 3-16. • Scully, J. L. (2020). Disability, Disablism, and COVID-19 Pandemic Triage. Journal of Bioethical Inquiry, 17(4), 601-605.
COVID 19 und Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung
  • P Seitzer
  • T Dins
  • M Busch
  • L Grüter
  • T Stommel
  • J Fischer-Suhr
https://doi.org/10.1007/s11673-020-10005-y • Seitzer, P., Dins, T., Busch, M., Grüter, L., Stommel, T., Fischer-Suhr, J. et al. (2020). COVID 19 und Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung. Teilhabe, 59(2), 50-54. • Trevelyan, E. G. & Robinson, N. (2015). Delphi methodology in health research: how to do it? European Journal of Integrative Medicine, 7(4), 423-428. https://doi.org/10.1016/j.eujim.2015.07.002 • Zander, M. (2021).