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09.09.21, 19:4810.09.2021: Unabschließbares Werden (Tageszeitung junge Welt)
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Unabschließbares Werden
Raum-gegenständliche Befreiung und die Ästhetik des
Kommunismus. Zum 90. Geburtstag des Philosophen Lothar
Kühne
Martin Küpper
Mit dem Ende des Braunkohleabbaus um Lauchhammer nach 1989, das 15.000 Menschen den
Arbeitsplatz kostete, ging ein 200 Jahre währender, industrieller Zyklus zu Ende. Im nahe gelegenen
Bockwitz wurde 1789 das erste Kohleflöz angebohrt, um Niederlausitzer Braunkohle zu fördern. Der
Brennsto! war bei den Bauern zunächst unbeliebt, da sie ihn nicht – wie die Holzkohle – angemessen
verheizen konnten. Aber mit dem Versiegen der Holzkohlevorräte und verbesserten
Aufbereitungstechniken wurde er zusehends populärer. Bronze- und Eisengießereien siedelten sich
im 19. Jahrhundert in der Region an, was zur Proletarisierung beitrug. Da die Steinkohle jedoch
e!izienter ist und mehr Verarbeitungsmöglichkeiten bietet, gelang es erst in der Weimarer Republik,
die die durch den Versailler Vertrag verlorengegangenen Steinkohlegebiete durch Braunkohle
auszugleichen versuchte, den Abbau in der Lausitz im großen Stil zu intensivieren. Das stärkte die
lokale Arbeiterbewegung. Die Ortscha" Bockwitz galt als »Rotes Ländchen«, war seit Beginn der
1920er Jahre vor allem kommunistisch geprägt und das Zentrum des mitteldeutschen
Braunkohlebergarbeiterstreiks im Oktober 1927.
Mit der forcierten Industrialisierung ging auch eine vorsichtige Urbanisierung einher. Einzelne Dörfer
wurden zusammengefasst, neue Wohnungs- und Verwaltungsbauten wurden errichtet. Um der
Schulraumnot Einhalt zu gebieten, wurde 1931 eine Zentralschule erö!net. Der Architekt Heinrich
Otto Vogel entwarf ein Schulgebäude, das Neues Bauen und Historismus synthetisierte und mit
lokalen Elementen verband. So befinden sich in den drei u-förmig zueinanderstehenden Flügeln, die
mit Lausitzer Klinker verblendet sind, praktisch orientierte Räume mit großen Rundbogenfenstern
wie eine Schwimmhalle, eine Lehrküche, aber auch Wandelgänge und Dachterrassen für
Außenunterricht. Im Innenhof befindet sich dem Süden zugewandt ein Teich. Das Gebäude selbst
liegt in einem Kiefernwäldchen, fernab »vom Lärm und Staub der Landstraße und seiner Unsicherheit
durch den Verkehr, und doch genau im Mittelpunkt der neuen Ortslage (…) ist das neue Reich der
Jugend entstanden«. Das Gebäude »krönt (…) den bewaldeten Bergrücken«¹. In diese Schule wurde
der am 10. September 1931 in Bockwitz geborene Philosoph Lothar Kühne eingeschult. Diese
prägenden architektonischen, industriellen und politischen Einflüsse formten sein Handeln und
Denken.
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Hin und wieder Dresche
Kühne, der das Ende des Nazismus herbeigesehnt hatte, wollte schon früh politische Verantwortung
übernehmen und zum Neustart beitragen. Sein Vater, ein Schlosser, trat nach 1945 in die KPD ein und
band den 14jährigen Lothar in die Parteiarbeit ein. Als Mitglied der FDJ agitierte er auf den
umliegenden Bauernhöfen und bezog dafür auch hin und wieder Dresche. Die weiteren Stationen ab
1949 kennzeichnen einen raschen Aufstieg: hauptamtlicher Funktionär der FDJ, zuerst als Sekretär für
Betriebsarbeit in Liebenwerda, dann in der Landesleitung Sachsen-Anhalt und schließlich in
Halle/Saale für Schulen und Hochschulen. Dort studierte er an der hiesigen Arbeiter-und-Bauern-
Fakultät und wurde Leiter der SED-Grundorganisation. Das Studium der Philosophie und
Kunstgeschichte führte ihn 1952 an die Humboldt-Universität zu Berlin, der er mit einer kurzen
Unterbrechung an der Technischen Hochschule Dresden (1958–1960) Zeit seines Lebens treu blieb. Er
wurde Professor für Historischen und Dialektischen Materialismus an der Sektion Marxismus-
Leninismus (1980 versetzt in die Sektion Marxistisch-leninistische Philosophie), bevor er als an
Schizophrenie Erkrankter 1982 invalidisiert wurde. Politische Ämter hatte er während seiner
gesamten Hochschullaufbahn inne – abgesehen von den letzten Jahren der Krankheit und seinem
1953 erfolgten Ausschluss aus der SED (1958 wieder aufgenommen), nachdem er in einem Brief an
das Neue Deutschland die SED für ihren politischen und ideologischen Umgang mit dem Aufstand
vom 17. Juni scharf kritisiert hatte.
Die äußerlichen Lebensstationen verraten nicht viel über den Versuch, Politisches mit
wissenscha"lichem Engagement zu verbinden. Der Lebensweg ist ein typischer der philosophischen
Intelligenz, die den Aufbau der DDR maßgeblich mitgestaltete und im Realisieren des Kommunismus
Maßstab, Gegenstand und Ziel ihres Handelns fand.
Streitfragen
Kühnes Zugang zum Kommunismus war von Beginn an der der Architektur, ihrer theoretischen wie
praktischen Probleme im Sozialismus, dann ab den 70er Jahren eine gesellscha"stheoretisch
fundierte Umweltästhetik. Die philosophische Grundlage für Kühne bereitete eine originelle Analyse
des praktisch-gegenständlichen Verhaltens der Menschen im Kapitalismus und im Sozialismus als
Gelenk zwischen der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx und der Ästhetik.
Den Nährboden hierfür bereitete das Ende der 50er Jahre gestiegene Interesse an der Rolle von Arbeit
und Praxis in Theorie und Gesellscha", das in mehrere zum Teil mit harten Bandagen geführte
Diskussionen innerhalb der Philosophie der DDR mündete. Ausgelöst von Georg Klaus und Dieter
Wittich entfaltete sich zwischen 1961 und 1964 – angesichts der politischen und wirtscha"lichen
Stabilisierung sozialistischer Verhältnisse und der sich ständig intensivierenden Bedeutung der
Technik- und Naturwissenscha"en für die gesellscha"liche Produktion – eine Debatte um die
erkenntnistheoretische Frage, ob Theorie als Praxisform aufgefasst werden könnte. Dies wurde von
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der Mehrheit der Diskutanten verneint, insofern Theorie und Praxis vielmehr zwei unterschiedliche
Formen der Aneignung der Wirklichkeit durch die gesellscha"lichen Individuen seien, wobei das
theoretische Bemühen des Menschen seine Grundlage in der gesellscha"lichen Praxis besitze. Als der
Leipziger Philosoph Helmut Seidel 1966 äußerst provokant Praxis zur Zentralkategorie des Marxismus
erhob, indem er die sinnlich-gegenständliche Tätigkeit des Menschen zum Ausgangspunkt von Marx
deklarierte, rüttelte er an der Dominanz erkenntnistheoretischer Fragestellungen. Diese
Verschiebung – auch stimuliert durch den Einsatz für einen mehr subjektbezogenen Marxismus nach
1945 in den marxistischen Bewegungen von Westeuropa bis in die Sowjetunion sowie durch Stalins
Tod 1953 – markiert den Versuch, den Marxismus einerseits zu di!erenzieren und den besonderen
nationalen Bedingungen der DDR anzupassen. Andererseits sollte ein umfassender marxistischer
Begri! von Geschichte gebildet werden, der den Kapitalismus vom Sozialismus scheidet. Die
Geschichte ist die Form des Werdens des Menschen, deren Akteure bis zum Sozialismus mehr blind
als planmäßig handelten, obgleich sie eine objektiv-systematische, gesetzmäßige Prozesslogik
aufweist. Seidel musste zwar die Schärfe seiner Thesen zurücknehmen und das in diesem Geist unter
der Leitung von Alfred Kosing verfasste Lehrbuch »Marxistische Philosophie« (1967) wurde trotz
internationaler Erfolge nicht zum dritten Mal aufgelegt. Der praxisbezogene Zugang war aber gelegt
und insbesondere in denjenigen Wissenscha"en vielversprechend, die vornehmlich die Produkte
menschlicher Tätigkeit, wie die Ästhetik, zum Gegenstand haben.
Sinnliche Vergegenständlichung
Auch hier dominierte bis Ende der 60er Jahre noch ein Zugri!, der erkenntnistheoretisch geprägt und
außerdem auf Kunst zentriert war. Erwin Pracht, Gutachter von Kühnes Qualifikationsarbeiten,
bezeichnete Wissenscha" und Kunst als zwei komplementäre Erkenntnisweisen des Menschen. Die
auch heute noch populäre Ansicht geht davon aus, dass Künstler Wissen über Wirklichkeit im
Kunstscha!en generieren, das dann bei der Rezeption des Kunstwerks sinnlich vermittelt wird. Kühne
gri! hingegen die Impulse des praxisbezogenen Ansatzes auf, indem er die Kunst nicht auf das
Erkennen verengte. Sie erfasst den gesellscha"lichen Lebensprozess breiter, weil sie auch die
historischen Empfindungsweisen der Menschen miteinbezieht. Im Kunstscha!en und der Rezeption
ihrer Produkte wird die gesellscha"lich bedingte Einheit von Erkennen und Emotionsbildung sinnlich
vergegenständlicht. Seine Gegenthese untermauerte Kühne programmatisch-weltanschaulich: »Der
Marxismus-Leninismus zeigt, daß die Menschen praktisch-geistige und darin gesellscha"liche Wesen
sind, daß ihr wirkliches Sein nicht mit ihrem Bewußtsein identisch und daß ihr Sein ihr wirklicher
Lebensprozeß ist.«²
Die Arbeit als Aneignung von Natur und von gesellscha"lichen Verhältnissen wird von ihm zum
Ausgangspunkt seiner Ästhetik gemacht: Der »als Naturkra" raum-gegenständliche Mensch
verwirklicht und verdoppelt sich in einer von ihm gescha!enen raum-gegenständlichen Welt«³, heißt
es in seinem Hauptwerk »Gegenstand und Raum« (1981). Kühne rückt hierin den Gegenstand eng an
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die Gestalt und verknüp" Arbeit mit Gestaltung. Das reflektiert nicht nur die mit der Massenindustrie
verbundene Ausweitung von innerbetrieblichen Vorbereitungs- und Hilfsprozessen, die den
eigentlichen Produktionsprozess initiieren, stützen, regeln sollen usw. Vielmehr seien alle Inhalte
unserer Kulturwelt, um praktisch und sinnlich-rational begri!en und konsumiert zu werden, nun mal
gestaltet. »Was der Mensch aus der Natur an sich heranzieht, wird ihm zur Gestalt.«⁴ Die Alltagswelt
macht das sinnfällig, die Waren in ihr präsentieren sich uns – je näher sie an den Gebrauch und ihre
Nutzung heranrücken – als gestaltete Ganzheiten. Bevor wir das Haus am Morgen verlassen,
begegnen sie uns in Form des Bettes, der Schlafsachen, des Frühstücksgeschirrs, des Badinterieurs
und sogar, wenn wir den Schlüssel nutzen, um die Tür hinter uns abzuschließen.
Kühne erhebt die Gestalt zur Basiskategorie einer an den industriellen Prozessen orientierten
Ästhetik. Diese findet ihre Untersuchungsgegenstände nicht mehr nur in der Kunst, wie z. T. heute
noch üblich oder in einer an der Funktionsweise des menschlichen Organismus bezogenen
Wahrnehmungsästhetik. Ihr Interesse gilt hingegen den technischen Artefakten, Alltagsgegenständen
und -räumen und ihren gesellscha"lichen Rahmenbedingungen und Funktionsweisen.
Das war nicht gänzlich neu. In den künstlerischen Avantgarden der 1920er Jahre in Westeuropa und
der jungen Sowjetunion brachen sich ähnliche Ansätze Bahn, die sich eng um die Bedeutung der
Funktion drehten, einen progressiven sozialpolitischen Ansatz verfolgten. Die Philosophin Karin
Hirdina hierzu am Beispiel des Bauhauses: »Der Funktionsbegri! in den Bauhauspublikationen –
erstmals 1923 verwendet – bezeichnet stets, über alle Di!erenzierungen in den Einzelau!assungen
hinweg, eine soziale Orientierung: Beherrschung der ›Lebens- und Arbeitsbedingungen‹ (Laszlo
Moholy-Nagy), die ›Lebensgestaltung‹ (Hannes Meyer), die ›Angelegenheit des Massenbedarfs‹ ernst
zu nehmen. (…) Ziel ist bewusstes, planmäßiges Einwirken auf Lebensbedingungen.«⁵
Gegenständlichkeit und Gestaltha"igkeit sind die Form gesellscha"licher Verhältnisse, deren
Objektivationen als Vermittlung von individuellen Bedürfnissen und gesellscha"lichen Bedingungen
fungieren. »Die Frage ist nun«, so Kühne, »ob überhaupt und inwieweit die unterschiedlichen
gesellscha"lichen Charaktere der Gegenständlichkeit auch in ihren Gestalteigenscha"en hervortreten
können«.⁶ Diese Frage zielt nicht darauf ab, eine Lösung dafür zu finden, welche Form der Henkel
einer sozialistischen Tasse hätte. Solch eine Fragestellung hat Kühne abgelehnt. Sie ist
gesellscha"spolitisch gemeint: Unter welchen Voraussetzungen ist es möglich, eine raum-
gegenständliche Welt zu scha!en, die den Kommunismus befördert? Oder reproduziert diese
menschengemachte Welt immer nur die Verhältnisse, die sie hervorgebracht hat? Diese Fragen
können nur beantwortet werden, wenn der eigene historische Standort des Sozialismus und dessen
Perspektive analysiert werden.
Der Übergang
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Die Frage, was Sozialismus bedeutet, ist so alt wie die Arbeiterbewegung selbst. Orientiert man sich
an Marx, Engels und Lenin, wie es auch Kühne tat, folgt der politischen Revolution des Proletariats
eine Übergangsperiode, die in die kommunistische Gesellscha"sformation übergeht, welche
wiederum aus zwei Phasen besteht. Entscheidend ist, dass der Produktionsprozess im
Kommunismus von »frei vergesellscha"ete[n] Menschen unter deren bewusster planmäßiger
Kontrolle steht«⁷ und die Früchte der Arbeit nicht mehr über Waren und den Gebrauch von Geld
vermittelt werden. Worin aber die Merkmale der postrevolutionären Stationen bestehen, ist mit der
Oktoberrevolution zum Streitthema geworden. Der Ökonom Vladimiro Giacché macht drei zentrale
Probleme aus: »1. Die Koexistenz verschiedener Produktionsweisen. (…) 2. Das Problem der Macht, d.
h. die Zentralität des Machtbesitzes. (…) 3. Das Thema ›Staatskapitalismus‹«.⁸ Ist der historische
Sozialismus bereits Kommunismus oder doch eine langanhaltende Übergangsphase? Häufig wurden
und werden Übergang und Sozialismus gar synonym gebraucht.
Walter Ulbricht versuchte den ersten Problemkomplex zu lösen, indem er den Sozialismus Ende der
60er Jahre als langanhaltende, »relativ selbständige sozialökonomische Formation in der
historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab«⁹
definierte. Warenproduktion, Wertgesetz und Ware-Geld-Beziehungen »existieren auch im
Sozialismus objektiv, weil sie zutiefst in den gegenwärtigen konkreten Bedingungen des
Wechselverhältnisses von Produktivkrä"en und Produktionsverhältnissen verwurzelt sind«.¹⁰
Der Fokus von Kühne gilt auch dem ersten Problemkomplex. Teilweise wendet er sich aber gegen
Ulbrichts These. Für ihn ist der Sozialismus als erste Phase des Kommunismus ein werdender. Seine
Besonderheit bestünde nun – in Anlehnung an Marx – darin, dass diese Phase des Kommunismus sich
nicht auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt, sondern aus dem Kapitalismus hervorgeht. Das bedingt
eine spezifische Widerspruchsdialektik. Bürgerliches und Kommunistisches stehen sich (global)
gegenüber, und zugleich muss sich das dominierende Kommunistische mittels bürgerlicher Formen
durchsetzen, denn »das kommunistische Verhältnis kann gesellscha"lich als allgemein herrschendes
nicht rein einsetzen, es muss sich durch Strukturen der Bürgerlichkeit oder durch dieser analoge
Strukturen vermitteln«.¹¹ Es sind vor allem die sozialen Di!erenzierungen und die Funktion der
Warenbeziehungen, die zwar dem Sozialismus entspringen, aber »nicht ihre dem kommunistischen
Inhalt der Produktion entgegengesetzte Tendenz«¹² eingebüßt hätten.
Entscheidend ist, dass Kühne den Sozialismus immer von seiner noch zu erlangenden Reife her
dachte. Das bedeutet jedoch nicht, dass Kommunismus eine administrative Angelegenheit sei, in der
eine Idee des Kommunismus den Rahmen vorgibt, sondern Kühne denkt ihn als variable Struktur
konkreter Freiheit: »Es ist im Wesen des begründenden Reichtums kommunistischer Verhältnisse, der
Persönlichkeit als konkrete gesellscha"liche Universalität des menschlichen Individuums, gesetzt,
dass dessen Werden unabschließbar ist. Die Fähigkeit der Individuen und ihr Drang, den Widerspruch
von Ideal und Wirklichkeit unablässig neu zu setzen, ist eine subjektive Reproduktionsbedingung
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kommunistischer Verhältnisse.«¹³ Die Entwicklung der kommunistischen Individualität war ihm Maß
und Ziel einer »als Totalität herausgebildete(n) Einheit von Subjektivität, Universalität und
Charakteristischem«.¹⁴ Grundbedingung hierfür war die Erhöhung der verfügbaren Zeit und der
gestaltbaren raum-gegenständlichen Lebenswelt. Die kommunistische Persönlichkeit auf einzelne
empirische Merkmale festzulegen, scheute der Philosoph, was ihm gelegentlich Unverständnis
einbrachte. Wichtiger war es, die kommunistische Perspektive für das gesellscha"liche Bewusstsein
zu gewinnen, um das Handeln zu stimulieren.
Dieses unablässige Vorwärtsschreiten, diese o!ene Suche nach progressiven Entwicklungen brachte
Kühne dort in Opposition zum Status quo des Sozialismus, wo der Kommunismus seine Dominanz
zusehends einzubüßen drohte: in den Hemmnissen seiner materiell-technischen Basis; in der
stockenden Herausbildung kommunistischer Produktionsverhältnisse; dem Ausbleiben der weiteren
Entwicklung kommunistischer gesellscha"licher Beziehungen. »Im Sozialismus gibt es noch
Faktoren, welche der sinnlichen Bejahung der Produktionsökonomie in den individuellen
Lebensbedingungen entgegenstehen. Das ist nicht nur unzureichendes Angebot von Produkten
moderner Gestaltung sowie Monotonie- und Ödeerleben in architektonischen Räumen. Neben der
Macht der Gewohnheit und der Erziehung bildet auch der durch die Verhältnisse für die Individuen
objektiv gesetzte Tauschwertstandpunkt ihre ästhetischen Orientierungen. Durch den
Tauschwertcharakter ihres Sachhabens sind sie zu egozentrischer Berechnung, täuschender
Darstellung und stauender Aneignung geleitet.«¹⁵
Gebauter Vorgri!
Das Gegenmittel bot ihm die Transformation des historischen Funktionalismus, dem seit den 70er
Jahren verstärktes wissenscha"liches Interesse entgegengebracht wurde. In dem Bemühen der
Akteure des Neuen Bauens und des Funktionalismus sah Kühne die Suche nach einer Perspektive, die
ihm für die Entwicklung des Kommunismus unabdingbar war: »Über die Einfachheit als Wesenszug
funktionaler Gestaltung schrieb (Adolf) Behne, diese sei ›Verzicht auf Verteidigungsstellung, auf
Misstrauen, auf Festungsbauten, ist Abbau der Barrieren. Sie ist menschliche O!enheit und
menschliche Solidarität.‹ Und das bedeutet, (…) sie ist eine Bedingung des Kommunismus.«¹⁶
Der gebaute Vorgri! kommunistischer Verwirklichung, in der die Ökonomie den Anforderungen des
Lebens subsumiert ist, bot ihm die von Hannes Meyer und Hans Wittwer entworfene Bundesschule
des Allgemeinen Deutschen Gewerkscha"sbundes in Bernau, die 1930 fertiggestellt wurde und heute
zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Der Gebäudekomplex in einem Kiefernwald, der ein Zentrum für
Weiterbildung und Erholung war, besteht aus verschiedenen funktional gestalteten Baukörpern für
Wohnen, Lehre und Gemeinscha". Die Gebäude orientieren sich vor allem zum nahe gelegenen See
und sind behutsam in die Landscha" eingelassen.
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Hannes Meyer beschrieb sein Konzept: »zu guter letzt ist alle gestaltung schicksalsbedingt / durch die
landscha": / dem sessha"en ist sie einzig und einmalig, / sein werk ist persönlich und lokalisiert. /
fehlt flottantem volk dieser heimatkomplex, / wird das werk leichthin typisch und standard. / ein
bewusstes erleben der landscha" / ist bauen als schicksalsbestimmung. / als gestalter erfüllen wir
das geschick der landscha".«¹⁷
Kühne kommentiert: »Nach dieser Konfession hat Hannes Meyer die Gewerkscha"sschule bei Bernau
gebaut. Leise Töne, keine Gestik, der Schulbau der Straße entrückt, eingefühlt in den Boden und mit
dem Walde verwoben.«¹⁸ Sie verkörpert das, was Kühne Landscha" nannte: »In der Landscha" ist das
Individuum nicht nur mit einer bestimmten Gemeinscha" zusammengeschlossen, durch das Haus,
das die Landscha" krönt, es hat in der Landscha" auch die einsetzende räumliche Form seines
Zusammenschlusses mit der Menschheit, weil die Landscha" wohl durch das Haus ist, aber in ihrem
Grunde Natur, Erde.«¹⁹ »›Der fortschrittliche Architekt‹«, zitiert Kühne Meyer weiter, »›tritt als aktiver
Kämpfer in die Front des revolutionären Proletariats.‹ Dieses gestaltungsprogrammatische und uns
gestaltha" gegebene und dieses politische Vermächtnis sind ein Ganzes.«²⁰
Diese Verbindung von proletarischem Kampf mit raum-gegenständlicher Befreiung tritt in Relation zu
Kühnes Kindheit. Das kommunistisch gesinnte Proletariat der Niederlausitz und die Waldschule in
Lauchhammer haben Kühnes Denken in Gang gesetzt. Die Aufhebung dieses Zusammenhangs im
Funktionalismus ist seine Leistung. An der allgemein verbindlichen Verwirklichung fand das
Gestaltungskonzept seine vorläufige historische Grenze. Mit dem Funktionalismus von Kühne ist
dennoch eine Philosophie erwachsen, die weit über das Lokale und seine Zeit hinausweist, denn
»(a)uch wer nicht mit seiner Lösung übereinstimmt, andere Wege versucht«, mahnte der Philosoph
Wolfgang Heise an seinem Grab, »um ihn herum kommt niemand, der zur Sache reden will. Das ist
sehr viel …«.²¹ Diesen Freitag wäre Lothar Kühne 90 Jahre alt geworden.
Anmerkungen
1 Heinrich Otto Vogel [1931], zit. n.: Ulf Jacob: »Das Haus, das die Landscha" krönt«. Der
Raumtheoretiker Lothar Kühne und die Waldschule in Lauchhammer, in: Jürgen Hohmuth et al (Hg.):
Moderne in Brandenburg: Licht – Spiel – Haus. Film, Kunst und Baukultur, Leipzig 2011, S. 132
2 Lothar Kühne: Kunst, Wissenscha" und gesellscha"liches Leben. Ein Diskussionsbeitrag, in:
Weimarer Beiträge, He" 6/1972, S. 92
3 Lothar Kühne: Gegenstand und Raum. Über die Historizität des Ästhetischen, Dresden 1981, S. 9
4 Ebd., S. 17
5 Karin Hirdina: Zur Ästhetik des Bauhausfunktionalismus, in: Wissen. Zeitschri" der Hochschule für
Architektur und Bauwesen Weimar, He" 5/6, 1976, S. 521
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6 Kühne: Gegenstand und Raum, S. 182
7 Karl Marx: Das Kapital. Band 1, in: MEW, Band 23, Berlin 1962, S. 94
8 Vladimiro Giacché: Wirtscha" und Eigentum. Staat und Markt im heutigen China, Essen 2020, S. 26–
28
9 Walter Ulbricht: Zum ökonomischen System des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen
Republik. Band 2, Berlin 1969, S. 530
10 Ebd., S. 531
11 Lothar Kühne: Über die Beziehung von Lebensweise und Lebensbedingungen im Sozialismus, S. 7
12 Kühne: Gegenstand und Raum, S. 173
13 Ebd., S. 166
14 Lothar Kühne: Denkübungen zu Marx: Gestaltungen des Reichtums, in: Sinn und Form, He" 3/1985,
S. 629
15 Ebd., S. 632
16 Lothar Kühne: Funktionalismus als zukun"sorientierte Gestaltungskonzeption, in: Haus und
Landscha", Dresden 1985, S. 179
17 Hannes Meyer: Bauhaus und Gesellscha", in: Bauhaus: Zeitschri" für Gestaltung, He" 3/1929, S. 4
18 Lothar Kühne: Funktionalismus als zukun"sorientierte Gestaltungskonzeption, in: Haus und
Landscha", Dresden 1985, S. 185
19 Haus und Landscha". Zu einem Umriß der kommunistischen Kultur des gesellscha"lichen
Raumes, in: Weimarer Beiträge, He" 10, 1974, S. 90
20 Lothar Kühne: Funktionalismus als zukun"sorientierte Gestaltungskonzeption, in: Haus und
Landscha", Dresden 1985, S. 185
21 Wolfgang Heise am 18.12.1985, in: angebote. organ für ästhetik, He" 1, 1988, S. 118
Martin Küpper schrieb an dieser Stelle zuletzt in der Ausgabe vom 8. Juli 2015 über den Philosophen
Ernst Bloch anlässlich dessen 130. Geburtstages.
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