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Studie zur Klimaneutralität 20451
Offener Brief und Fragen zur Qualitätssicherung in öffentlichen Publikationen
An die
Autoren der Studie “Klimaneutrales Deutschland 2045”:
PROGNOS AG, WUPPERTAL INSTITUT und ÖKO-INSTITUT
deren Auftraggeber,
AGORA ENERGIEWENDE, AGORA VERKEHRSWENDE und STIFTUNG KLIMANEUTRALITÄT
und deren jeweilige Beiräte
vgl. Verteiler
Die Studie zur Klimaneutralität 2045 lässt wesentliche Fragen unbeantwortet 15. Aug. 2021
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit Interesse haben wir Ihre Publikation gelesen. Die αγορά war bekanntermaßen im antiken
Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt. Im Sinne eines
“wissenschaftlichen Marktplatzes” weisen wir auf unsere offenen Fragen und Unklarheiten hin und
wollen mit Ihnen in einen wissenschaftlichen Dialog auf diesem "Marktplatz" eintreten.
Wir beobachten,
1. dass in Ihrer Studie wesentliche Fragen außer Acht gelassen wurden,
2. dass gestellte Fragen nicht nach dem Stand der Wissenschaft beantwortet wurden,
3. dass der Lösungsraum für Klimaneutralität unnötig eingeschränkt wurde,
4. dass politische Vorgaben unzulässigerweise unhinterfragt blieben, und
5. dass an vielen Stellen wissenschaftliche Mindeststandards nicht erfüllt wurden.
1 Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045. Wie Deutschland
seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann. Zusammenfassung im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität,
Agora Energiewende und Agora Verkehrswende
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Mit den Beobachtungen scheinen wir nicht allein: Vgl. dazu
● den sehr erhellenden und klar geschriebenen Bericht des Bundesrechnungshofes (BRH)
zur Dysfunktionalität der Energiewende2 oder
● die umfangreiche Stellungnahmen der IASTEC3 und
● anderen4 zu unwissenschaftlichen Vorgehensweisen und signifikanten Rechenfehlern.
Weitere Details zu unseren eigenen Untersuchungen entnehmen Sie bitte
1. der Kurzfassung und
2. den ausführlichen Begründungen zum Peer-Review in den Anlagen.
Aus unserer Sicht drängt sich der Eindruck des Ignorierens weltweiter Standards zum “Stand des
Wissens und der Technik” sowie systematische Fragen bezüglich des wissenschaftlichen
Arbeitsstils auf. Insofern ergeben sich daraus u. E. auch Haftungsfragen im Hinblick auf den
politischen Beratungsprozess und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen und Wirkungen5.
Gerne hören wir dazu Ihre Meinung. Um Ihre Rückäußerung bitten wir bis zum 27. August
2021, um unsere weiteren Projektplanungsschritte zum Evaluationsprozess darauf
abstimmen zu können.
Für Ihre Bemühungen bedanken wir uns recht herzlich und verbleiben
mit freundlichen Grüßen
Dr. Björn Peters
bjoern.peters energie-naturschutz.de
Prof. Dr.-Ing. Holger Watter
holger.watter hs-flensburg.de
Dr.-Ing. Peter Preusser
preusser senior-energy-experts.de
Prof. Dr.-Ing. Thomas Willner
Thomas.Willner haw-hamburg.de
2https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/sonderberichte/2021/bund-steuert-
energiewende-weiterhin-unzureichend
3 https://iastec.org/open-letter-2
4 https://holgerwatter.wordpress.com/2021/04/23/mobilitatskonzept-quo-vadis/
Thess, Andre: Sieben Energiewendemärchen? Springer-Nature, Heidelberg, 2020.
Sinn, Hans Werner: Das grüne Paradoxon - Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik, Weltbuch-Verlag,
2020.
5 https://www.bbaw.de/files-bbaw/user_upload/publikationen/BBAW_Leitlinien_Politikberatung_2008.pdf
https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/
kodex_gwp.pdf
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Klimaneutrales Deutschland 2045
Eine kritische Durchsicht der Studie mit der zentralen Behauptung,
Deutschland könne seine Klimaziele schon vor 2050 erreichen
https://www.agora-energiewende.de/veroeffentlichungen/klimaneutrales-deutschland-2045
Klimaneutrales Deutschland 2045 3
Eine kritische Durchsicht der Studie mit der zentralen Behauptung, Deutschland könne seine
Klimaziele schon vor 2050 erreichen 3
I. Kurzfassung 4
II. Welche Qualitätsmerkmale von Energiewendestudien einzufordern sind 6
II.1 Realistische Abschätzung des Energiebedarfs 6
II.2 Beachtung der vier Bilanzen für technologische Ansätze 6
II.3 Gesellschaftliche Konsequenzen berücksichtigen 7
II.4 Keine Verschlechterung der Artenvielfalt 8
II.5 Ausreichende Datengrundlage schaffen 8
II.6 Beachtung von Ausweichmöglichkeiten 9
II.7 Vollständige Beachtung von wissenschaftlicher Literatur 9
II.8 Auch Langzeitbetrachtungen einschließen 10
II.9 Handlungsempfehlung für Journalisten und Politiker 10
III. Kritikpunkte zur Studie 11
III.1 Bedarfsprognose 11
III.2 Mengen- und Leistungsbilanzen 12
III.3 Bilanz der PV-Anlagen 12
III.4 Langzeitspeicher 13
III.5 Nah- und Fernwärmenetze 13
III.6 Flexibilitäten, insbesondere Industrie 14
III.7 Kohlenstoffbilanz 16
III.8 Ressourcenbilanz 16
III.9 Kostenbilanz 18
III.10 Gesellschaftliche Auswirkungen 18
III.11 Artenvielfalt und Naturschutz 19
III.12 Weitere Fragen 19
IV. Verteiler 22
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I. Kurzfassung
Um sich ein umfassendes Bild über die Erfolgswahrscheinlichkeit der Energie-, Verkehrs- und
Klimawende zu machen, müssen vier Bilanzen beachtet werden. Wieviel Energie, Kohlendioxid,
Rohstoffe und Geld muss investiert werden, um das Ziel zu erreichen (vgl. Abschn. II.2)? Die
Studie sagt hierzu nichts.
Das ist wie bei einer Marsmission, in der eine Studie über den Treibstoffbedarf befriedigend gelöst
ist, jedoch Aussagen zum Sauerstoffbedarf und zum Nahrungsbedarf fehlen - es droht das
Scheitern der Mission.
Dies ist deswegen problematisch, weil sich die Politik darauf verlässt, dass ihre Zielvorgaben
tatsächlich erreichbar sind. Fehlen Studien, die die Erreichbarkeit von Klimazielen auf methodisch
belastbare Weise untersuchen, gerät die Politik in einen Blindflug. Im Ergebnis drohen
volkswirtschaftlich extrem teure Fehlentscheidungen, die private und öffentliche Haushalte
nachhaltig belasten, ohne dass Treibhausgasemissionen so stark absinken wie vom Gesetzgeber
angestrebt. Ferner entstehen hohe Risiken für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit,
der kritischen Infrastruktur, mit unabsehbaren Folgen bei einem langandauernden und
großflächigen Stromausfall mit einer Gefährdung von Gesundheit und Leben der Bevölkerung.
Um die Orientierung darüber, welchen Mindestanspruch wissenschaftliche Institute anstreben
sollten, zu erleichtern, haben wir in Abschnitt II einen Katalog von sieben Forderungen an
Energiesystemstudien formuliert. Danach formulieren wir ausführliche Fragen, um deren
Beantwortung wir bis zum 27. Aug. 2021 bitten. Exemplarisch benennen wir hier einige offene
Fragen, die Ihre Studie aufwerfen.
Es fehlen weitere, unabdingbare Gesichtspunkte zur ganzheitlichen Bewertung, ohne die
eine derartige Studie zur Klimaneutralität leider nur ein Mosaikstein darstellt, anhand
dessen das Gesamtbild bestenfalls erraten werden kann. Exemplarisch seien genannt:
1. Die zugrunde gelegten Bedarfsprognosen an elektrischer Energie und Wasserstoff liegen
deutlich unter den Prognosen anderer Institute und den Angaben der Chemie- und Stahl-
Hersteller (vgl. Ziffern II.1 und III.1). Sie lässt keinen Raum für das Aufkommen neuer
Technologien und deren potenziellen Energiebedarf. Von einer zu niedrigen Prognose
gehen erhebliche Risiken für die Versorgungssicherheit und die Wirtschaft aus.
Sensitivitäten werden nicht diskutiert.
2. Der technologische Lösungsraum wird viel zu eng definiert. Bestimmte, international
anerkannte Methoden zur Erreichung von Klimaneutralität werden nicht im Ansatz
diskutiert. Betrachtungen zur Wirtschaftlichkeit, zu den sozialen Auswirkungen, zur
Versorgungssicherheit und zum Risikomanagement werden daher nicht am Stand der
Technik diskutiert oder fehlen völlig. Es fehlt eine Gesamtkostenanalyse der verschiedenen
Szenarien. Damit bleibt Politik und Bürgern unklar, ob das vorgestellte Szenario überhaupt
finanzierbar ist, oder ob es mit dem weitgehenden Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der
deutschen Wirtschaft einherginge.
3. Die Autoren ignorieren vollständig, dass auch die Nutzung der Umgebungsenergien mit
schädlichen Auswirkungen auf die Biosphäre und den Menschen verbunden sind. Die
Gefahren für den Erhalt der Artenvielfalt und für die Gesundheit der Bevölkerung
beispielsweise durch Infraschall aus Windkraftanlagen werden außer Acht gelassen und
unzureichend erforscht (vgl. Abschn. II.4). Auch die ethische Dimension, dass eine
Versorgung mit Solar- und Windenergie wesentlich von der Größe der verfügbaren Flächen
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abhängt, und Energieverbrauchswachstum dann künftig nicht mehr befriedigt werden kann,
ohne neue Flächen zu besetzen, wird ignoriert. Der Staat übersieht seine Vorsorgepflicht
und seine Berater müssen ihn darauf hinweisen!
4. Die Begriffe der Versorgungssicherheit und Netzstabilität, u.a. im Hinblick auf erhöhte
Leistungsanforderungen, fallen nicht ein einziges Mal in der Studie. Nirgendwo wird
erläutert, dass die Autoren sich umfassend mit den raum-zeitlichen Eigenschaften der
witterungsbedingt stark schwankenden Solar- und Windeinspeisung beschäftigen. Dabei
kommt es gerade bei Energiesystemen, die sich vorwiegend auf wetterabhängige
Umgebungsenergien wie Solar- und Windenergie stützen, zum Erhalt der
Versorgungssicherheit empfindlich darauf an, die Ränder der Häufigkeitsverteilung genauer
zu kennen (vgl. Abschn. II.5).
5. Es fehlen auch grob fahrlässig eine ganzheitliche Risikobewertung und die Abschätzung
von nicht beabsichtigten Nebeneffekten, beispielsweise durch globale
Ausweichbewegungen (Produktionsverlagerungen, Firmenabwanderungen),
Versorgungsengpässe, Black-Out-Ereignisse u.a., nach den DIN-Regeln 69901 zu einem
probaten Projektmanagement oder nach DIN 31000 zum Risikomanagement. Belastbare
physikalische Optionen und Perspektiven sind nicht erkennbar (vgl. Abschn. II.6).
6. Die Studie setzt umfangreiche Verhaltensänderungen der Bevölkerung in Bezug auf
Fleischkonsum und Mobilitätsverhalten voraus. Die Verknüpfung von
Verhaltensänderungen in großem Umfang mit Bedarfsprognosen und Emissionen ist
brisant, weil damit künftige Generationen in ihrem Verhalten eingeschränkt werden, ohne
dass dies problematisiert würde (vgl. Abschn. II.3).
7. Die aktuelle Corona-Krise zeigt die Bedeutung eines belastbaren Erwartungsmanagements
und die Missachtung von europäischen Verträgen. Was bei Corona die geschlossenen
Grenzen trotz Schengen-Abkommens war, könnte in der Energiewirtschaft das Aussetzen
von grenzüberschreitenden Stromlieferungen in europäisch gleichzeitig stattfindenden
Mangellagen sein. Auch in dieser Hinsicht fehlen probate Planungsgrundlagen und eine
Risikoabschätzung, so dass Fehleinschätzungen und Enttäuschungen vorprogrammiert
und angelegt erscheinen.
8. Für das Gelingen der Transformation notwendige Fragestellungen, die über eine
oberflächliche ingenieurmäßige Betrachtung hinausgehen, fehlen. Das sind beispielsweise:
Wie muss der Ordnungsrahmen, wie muss das Marktdesign im Sinne des neuen Systems
entwickelt werden? Wie lassen sich die Ziele unter den Bedingungen der deutschen
Planungs- und Genehmigungspraxis zeitlich erreichen? Ist die Transformation im Rahmen
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung umsetzbar oder sind dafür
Grundrechtseingriffe nötig bzw. eine Art Sozialpunktesystem nach chinesischem Vorbild?
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II. Welche Qualitätsmerkmale von Energiewendestudien
einzufordern sind
Wir stellen hier allgemeinere Forderungen an die Einhaltung wissenschaftlicher Standards beim
Abfassen von “Energiewendestudien” vor, also solchen, die sich mit der Machbarkeit einer
Energieversorgung mit wetterabhängigen Umgebungsenergien (vor allem Solar- und Windenergie)
beschäftigen. Wir vermissen einheitliche Standards, welche Forschungsfragen gestellt werden
müssen. Hieraus ergibt sich naturgemäß ein Defizit an Antworten, die bei der umfassenden
Bewertung der Machbarkeit der Energiewende fehlen. Hierdurch kam es wiederholt zu erheblichen
Rügen von staatlichen Institutionen und angesehenen Organisationen wie dem
Bundesrechnungshof, der Monopolkommission, dem Bund der Steuerzahler, der VGB Powertech
und dem Verband der Familienunternehmer. Regelmäßig beklagten diese Institutionen das Fehlen
ausreichender Zielvorstellungen, realistischer Planungsansätze und Maßnahmen des
Durchführungscontrollings, die für den Erfolg der Energiewende unabdingbar sind.
Wissenschaftliche Institutionen, die mit der Untersuchung der Machbarkeit betraut wurden, haben
in der Vergangenheit wiederholt Planvorgaben unkritisch übernommen und naheliegende
Forschungsfragen außer Acht gelassen. Im Ergebnis verspielen sie ihre wissenschaftliche
Reputation und kommen zu für den politischen Beratungsprozess unnützen, buchstäblich
wertlosen (s.u.) Ergebnissen. Das Resultat sind falsche und kostspielige Maßnahmen auf
Grundlage dieser Ergebnisse.
Mit den folgenden Mindestanforderungen an wissenschaftliche Energiewendestudien wollen wir
das Niveau der energiepolitischen Beratungspraxis deutlich auf das notwendige Maß anheben.
II.1 Realistische Abschätzung des Energiebedarfs
In vielen Studien wie auch in der vorliegenden wird vorausgesetzt, dass sich der Energiebedarf
durch Investitionen in höhere Energieeffizienz deutlich reduzieren ließe. Punktuell ist dies
einerseits richtig, denn das Streben nach immer höherer Effizienz ist ein zentraler Treiber
wirtschaftlicher Entwicklung. Tatsächlich zeigt jedoch die Erfahrung, dass durch neue technische
Anwendungen und Rebound-Effekte die Effizienzgewinne in bestehenden Bereichen immer wieder
kompensiert werden. Energiewendestudien sollten den Energiebedarf dementsprechend
realistischer einschätzen und große Fehlermargen zulassen, da der Energiebedarf künftiger
Generationen von zahlreichen nicht bestimmbaren Parametern und noch in Entwicklung
befindlichen Technologien abhängt. Für Deutschland sollten sie mindestens von einem konstanten
Nutzenergiebedarf ausgehen, weltweit von einem deutlich steigenden. Des Weiteren sind
Lastprofile verschiedener Szenarien zu untersuchen, also das zeitliche Verhalten von
Energiebedarfen.
II.2 Beachtung der vier Bilanzen für technologische Ansätze
Viele Studien einschließlich der vorliegenden konzentrieren sich darauf, die technische
Machbarkeit von einzelnen Technologien anhand weniger Bilanzarten zu demonstrieren.
Tatsächlich gibt es insgesamt vier Bilanzarten, in denen technologische Ansätze einen Mehrwert
liefern müssen:
● Energiebilanz: Energietechnologien müssen ein Vielfaches an Energie im Verhältnis zu
eingesetzten Energie freisetzen. Problematisch sind hier zum Beispiel Solar- und Windenergie
in Verbindung mit dem Aufwand für Bau und Recycling sowie den zum Ausgleich der starken
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Produktionsschwankungen benötigten Speichern. Zur Energiebilanz zählen nicht nur die
jährlichen Energiemengen, sondern auch die kurzfristig abgeforderten Energieleistungen mit
einer Analyse von Leistungsspitzen.
● Kohlenstoffbilanz: Sie müssen erheblich mehr CO2 einsparen, als zu ihrem Aufbau,
Betrieb und Abbau eingesetzt wird. Offen ist, ob bei starkem Windkraftausbau die notwendigen
Speicher gebaut werden können, ohne temporär die Kohlenstoffbilanz massiv zu belasten. Ob
diese Belastung verträglich ist mit den Klimazielen unter Beachtung der Physik des
Klimawandels insbesondere im Hinblick auf die noch verbleibende Zeit für die Einhaltung eines
bestimmten Erwärmungszieles, ist zumindest fraglich – die Frage wurde noch nicht gestellt und
beantwortet.
● Ressourcenbilanz: Die für sie notwendigen natürlichen Ressourcen einschließlich Wasser
müssen nachhaltig verfügbar sein. So ist zum Beispiel die Menge an kostengünstig und
umweltfreundlich abbaubaren Lithiums beschränkt. Für Batterien in dem geplanten Umfang
reichen die abbaubaren Vorräte absehbar nicht aus, zudem schon der geplante massive
Ausbau der Elektromobilität in dieser Hinsicht an Grenzen stößt. Auch wird die Wasserbilanz
durch den derzeitigen Lithiumabbau erheblich belastet.
● Kostenbilanz: Die Investitions- und Betriebskosten dürfen nicht wesentlich höher liegen
als die Kosten des heutigen Energiesystems, ansonsten wird sich die Energiewende weltweit
nicht durchsetzen lassen. Besonders problematisch wird in dieser Hinsicht der Kontinent Afrika
sein mit besonders hohem Bevölkerungszuwachs bei vergleichsweise geringer
Wirtschaftskraft.
Fehlt in einer Energiewendestudie auch nur eine dieser vier Bilanzen, ist sie im Wortsinne
„Wert-los“ und damit untauglich für die Politikberatung.
II.3 Gesellschaftliche Konsequenzen berücksichtigen
Ziele der Energiewende waren auch die Reduzierung der Importabhängigkeit für Energierohstoffe
und die Demokratisierung der Stromproduktion. Die sozialen Folgen sollten minimal sein.
Tatsächlich aber sprechen die meisten jüngeren Energiewendestudien davon, dass Deutschland
auch in Zukunft erhebliche Mengen der Energie in Form von Strom, Wasserstoff oder anderen
Energieträgern importieren müsse. Weil das nicht ohne massive Landnahme möglich ist, werden
bereits seit einiger Zeit Gespräche mit Ländern wie Marokko geführt, deren Potenzial an
erneuerbarer Energie größer als der Eigenbedarf ist. Eine objektive Bewertung dieser
Energieimportpolitik bezüglich Chancen und Risiken für Deutschland ist angeraten.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei Energiesystemen, die wesentlich auf
die wetterabhängigen Umgebungsenergien Sonne und Wind setzen, die erntbare Energie direkt
von der zur Verfügung stehenden, begrenzten, nationalen Fläche abhängt. Dies führt zu dem
regelmäßig übersehenen ethischen Problem, dass unsere heutige Generation Weichen für den
Energieverbrauch künftiger Generationen stellt und sie auf ein Leben mit festem Energiebudget
einengt.
Häufig wird zudem übersehen, dass die Abhängigkeit von Sonne und Wind zu einem Überangebot
an Energie in manchen Zeiten und zu einem Mangel in anderen Zeiten führt. Diese
Strommangelwirtschaft birgt die Gefahr, marktwirtschaftliche Allokationsmechanismen, die im
Einklang mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, auszuhebeln. Sie müssen
durch dirigistische Zuteilungsmechanismen ersetzt werden, wobei eine demokratische Kontrolle
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der Netzbetreiber oder anderer Institutionen, die die Zuteilung von Strom in Mangelphasen künftig
übernehmen werden, noch nicht im Ansatz angedacht sind.
Manche Protagonisten der Energiewende reden gar der umfassenden Änderung der
Lebensgewohnheiten bis hin zur Beendigung der Demokratie zugunsten einer straffen
Verhaltensvorgabe auf Basis ökologischer Begründung durch staatliche Stellen das Wort, aber
sind nicht mutig genug, eine offene gesellschaftliche Debatte darüber anzustoßen6. Über solch
grundlegenden Eingriffe in die Art des menschlichen Zusammenlebens müssen die Bürger in einer
Demokratie jedoch mitentscheiden dürfen. Diese Konsequenz sollte zwingend in allen
Energiewendestudien diskutiert werden.
Zuletzt steht die Windkraft im Verdacht, über den dort erzeugten Infraschall gesundheitliche
Schäden bei Menschen in der auch weiteren Nachbarschaft zu verursachen. Würde es sich um
eine andere Technologie bspw. aus der Chemie handeln, wären die Forderungen nach weiteren
wissenschaftlichen Untersuchungen lautstark zu hören. Doch auch bei den Umgebungsenergien
gilt das Vorsorgeprinzip, und die noch bestehenden Unsicherheiten sollten schnellstens im
Rahmen von Studien verringert werden.
II.4 Keine Verschlechterung der Artenvielfalt
Wiewohl die Nutzung von fossilen Energierohstoffen ökologische Probleme verursacht, auch
Umgebungsenergien tragen durch ihren enormen Flächen- und Rohstoffverbrauch erheblich zu
Umweltschäden und Schädigungen in der Tierwelt bei, nicht nur in Deutschland, sondern auch in
den Ländern, in denen die für die Energiewendetechnologien notwendigen Rohstoffe abgebaut
werden.
Der Erhalt der weltweiten Artenvielfalt ist das mit Abstand drängendste ökologische Problem.
Unsere Generation muss Lösungen entwickeln, wie sich eine weiter prosperierende menschliche
Zivilisation mit den Notwendigkeiten, Grenzen und Möglichkeiten der Ökosphäre in Einklang
bringen ließe. Eine Verengung der ökologischen Perspektive nur auf die Emission von
Treibhausgasen allein mag politisch angehen, im wissenschaftlichen Bereich ist sie unzulässig.
II.5 Ausreichende Datengrundlage schaffen
Der Kern der meisten Energiewendestudien liegt darin, dass eine Energieproduktion beschrieben
werden soll, die sich hauptsächlich auf die wetterabhängigen Umgebungsenergien Sonne und
Wind stützt. Weil deren Produktion im tages- und jahreszeitlichen Zyklus schwankt und überlagert
wird von der Unberechenbarkeit der Witterung, ist es unabdingbar, die raum-zeitlichen
Eigenschaften von Witterung hinreichend genau zu kennen. Bei der Berechnung des
Flexibilitätsbedarfs im Energieversorgungsnetz, also der Dimensionierung von Speichern,
Nachfragemanagement usw., kommt es nicht auf Durchschnittszahlen an, sondern darauf, auch
moderat und stark abweichende Wetterereignisse mit zu berücksichtigen. Hieraus ergibt sich die
Anforderung, möglichst lange Wetterzeitreihen bei der Simulation eines
Energieversorgungssystems zu verwenden, um auch die längste mögliche Dunkelflaute zu
berücksichtigen. Wissenschaftlicher Standard sollte eine 30-jährige Wetterzeitreihe sein,
demgegenüber verwenden viele Studienautoren nur einjährige Datensätze.
6 https://www.tagesspiegel.de/politik/ob-corona-oder-klimakrise-reagieren-demokratien-zu-
langsam/27166910.html
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Hieraus lässt sich ableiten, dass die Etablierung eines neuen Fachgebiets der Statistischen
Energiemeteorologie unabdingbar gewesen wäre, bevor politische Weichenstellungen hin zu einer
Energiewendepolitik getroffen wurden. Dass diese elementaren Fragen an die Eigenschaften von
Witterung nicht gestellt wurden, ist für ein Wissenschaftsland eine Blamage. Diese Wissenslücke
muss dringendst geschlossen werden, und die deutschen Wissenschaftsorganisationen müssen
sich hierfür mit starker Stimme einsetzen.
II.6 Beachtung von Ausweichmöglichkeiten
Viele der Energiewendestudien beziehen sich allein auf Europa oder gar nur auf Deutschland.
Dabei wechselwirkt die deutsche / europäische Energie- und Klimapolitik erheblich und komplex
mit dem Geschehen in anderen Industrieländern und besonders in Schwellenländern. Das
Ignorieren dieser Wechselwirkungen ist gefährlich. So hängt der Erfolg unserer Klimapolitik – mit
der ein globales Ziel der CO2-Emissionsminderung erreicht werden soll – empfindlich von den
Reaktionen der Schwellenländer ab. Ohne eine weltweite Synchronisation der Energiepolitik
verbilligt ein sinkender Verbrauch an fossilen Energierohstoffen in den OECD-Ländern die Nutzung
von Kohle, Öl und Gas in den Schwellenländern; hierdurch wird der Anreiz, dort gleichfalls auf
fossile Energierohstoffe zu verzichten, abgeschwächt (“Grünes Paradoxon”)7.
Eine noch so ‘grüne’ Energiepolitik hierzulande kann also in Bezug auf das Ziel der weltweiten
Emissionsminderung komplett verpuffen. In der Politologie etabliert sich hierfür derzeit der
Terminus der “Gartenzwergpolitik”: Eine Politik, die nur innerhalb der Landesgrenzen wirksam ist,
aber „jenseits des Zauns“ zu gänzlich anderen als den beabsichtigten Wirkungen führt, vernichtet
volkswirtschaftliches und politisches Kapital. Wissenschaftler, die mit der Abfassung von
Energiewendestudien beauftragt sind, sollten auf diese komplexeren Zusammenhänge hinweisen
und die Auftraggeber daran hindern, in zu stark vereinfachendem, linearem Denken zu verharren.
II.7 Vollständige Beachtung von wissenschaftlicher Literatur
Viel zu häufig wird sich in Energiewendestudien sehr selektiv auf die eigene Hypothese
bestätigende, aber nicht auf widersprechende kritische wissenschaftliche Literatur bezogen, oder
noch bedenklicher, es wird graue Literatur von interessegeleiteten Lobbyverbänden,
Nichtregierungsorganisationen oder Zeitungsartikel zum Beweis eines wissenschaftlichen Punkts
herangezogen. Es sollte bei der Untersuchung der Energiewende zum Standard gehören, die
weltweit beste, begutachtete Literatur in voller Breite zu würdigen. Gerade bei Themen wie
Kernkraft, Carbon Capture & Storage sowie Elektromobilität verwechseln zu viele Forscher
politische Ziele mit realen, dokumentierten Fakten. Besonders problematisch wird dies, wenn
Elaborate ohne ausreichende Quellenbegründung und ohne wissenschaftliche Begutachtung
veröffentlicht werden. Es gibt zahlreiche Beispiele von solchen Veröffentlichungen, die von
Medien als wissenschaftliche Literatur missverstanden werden, obwohl sie formal
Meinungsäußerungen von Wissenschaftler darstellen.
7 https://www.hanswernersinn.de/de/themen/GruenesParadoxon
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II.8 Auch Langzeitbetrachtungen einschließen
Zuletzt ein Punkt, der gerade bei Energiewendestudien von hoher Relevanz ist. Eine der
Arbeitshypothesen bei der Entwicklung der Energiewende war, dass die Investition in
wetterabhängige Umgebungsenergien dazu führt, dass (variable) Brennstoffkosten durch (fixe)
Investitionskosten ersetzt werden. Dies ist nicht falsch, bedarf aber der Ergänzung, weil die
Kraftwerke aus dem Bereich der Umgebungsenergien nur relativ kurz betrieben werden können
(15 bis 30 Jahre). Daher müssen nach erfolgreichem Umbau der Energieversorgung auf
Umgebungsenergien jährlich 3-6 Prozent der Kraftwerke jeweils zurückgebaut und dann erneuert
werden. Die Aufwände hierfür sollten in seriösen Studien auch über den Zielzeitpunt
(üblicherweise 2050) mit abgeschätzt werden in allen relevanten Dimensionen: Energie,
Treibhausgase, Rohstoffe und Kosten, aber auch die gesellschaftlichen, sozialen und
wirtschaftlichen Folgen sind zu berücksichtigen.
II.9 Handlungsempfehlung für Journalisten und Politiker
Wissenschaftler, Medien und Politiker müssen zwischen allgemeinen Veröffentlichungen
mit privaten Äußerungen von Wissenschaftlern und echter wissenschaftlicher,
begutachteter Fachliteratur besser zu unterscheiden lernen. Gerade Medienvertreter
müssen lernen, dass nur letztere durch einen Prozess gegangen ist, in dem die obigen
Qualitätsmerkmale guter Energiewendestudien überprüft werden konnten. Demgegenüber
werden Veröffentlichung in hauseigenen Medien gerne von den PR-Abteilungen der Studien
publizierenden Wissenschaftsinstitutionen beworben. Leider ist auch festzustellen, dass
eine von Wissenschaftlern verfasste Studie nicht notwendigerweise Wissenschaft in
engerem Sinne ist bzw. wissenschaftlichen Kriterien genügt – sie kann auch Meinungen
über wissenschaftliche Themen transportieren, ohne wissenschaftlichen Ansprüchen zu
genügen. Dies zu unterscheiden ist Aufgabe sowohl von Wissenschaftlern als auch von
Journalisten und Politikern.
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III. Kritikpunkte zur Studie
III.1 Bedarfsprognose
Die Strom-Bedarfsprognose für 2045 weicht erheblich von derjenigen ab, die Fraunhofer ISE
kürzlich in seinem Referenzszenario für 2050 aktualisiert hat8.
● Fraunhofer ISE Installierte Leistung (Wind + PV) 746 GW; Produktion 1570 TWh/a
● AGORA-Studie Installierte Leistung (Wind + PV) 608 GW, Produktion 899 TWh/a
Diese Abweichung sollte kommentiert werden.
Die Studie nimmt einen starken Rückgang des Primärenergiebedarfs von 13,1 EJ im Jahr 2018 auf
6,5 EJ im Jahr 2045 an. Diese Reduktion wird nicht im Einzelnen begründet, was angesichts der
Bedeutung dieser Randbedingung nicht akzeptabel ist. Jahreszeitlich veränderliche Bedarfsprofile
fehlen. Eine verstärkte Nutzung neuer Anwendungen und zu erwartende Rebound-Effekte werden
nicht berücksichtigt. Gerade musste das Bundeswirtschaftsministerium die Stromprognosen für
2030 um 10% nach oben korrigieren9. Es stellt sich die Frage nach der Basis und der Belastbarkeit
der vermeintlichen Prognosen.
Noch wichtiger als über das Jahr kumulierte Energiemengen sind kurzzeitig abgeforderte
Energieleistungen. Die dafür notwendigen Leistungsprofile fehlen vollständig. Einfache
Überschlagsrechnungen (siehe nachfolgende Beispielrechnung und o.g. Grafik) zeigen, dass sich
Leistungsanforderungen an Energieproduktion und Netze durch den zunehmenden
Elektrifizierungsgrad erheblich erhöhen werden. Neue Stromverbraucher im Verkehrs- und
8 Fraunhofer ISE:
https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ise/de/documents/publications/studies/Fraunhofer-ISE-Studie-
Wege-zu-einem-klimaneutralen-Energiesystem-Update-Zielverschaerfung.pdf
9 13.07.2021: Zehn Prozent höher als erwartet - Altmaier korrigiert Strombedarf nach oben
https://www.n-tv.de/wirtschaft/Altmaier-korrigiert-Strombedarf-nach-oben-article22679626.html
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Wärmebereich aber auch zusätzliche strombasierte Wasserstoffproduktion für die Industrie sind in
der Studie nicht unter dem Leistungsaspekt berücksichtigt.
Überschlägiges Rechenbeispiel für Leistungspeaks 2045:
Annahme 36 Mio. E-Autos (Studie KN2045-Annahme Abb. 13)
1. Nur 1 Mio. E-Autos werden gleichzeitig über Schnellladestationen mit
durchschnittlich 200 kW versorgt. Die abgeforderte Stromleistung beträgt 200 GW.
2. Nur 20 Mio. E-Autos laden gleichzeitig über Nacht in 8 Stunden Batteriekapazitäten
von jeweils durchschnittlich 80 kWh. Die abgeforderte Stromleistung beträgt wieder
200 GW.
In beiden Fällen ergeben sich allein für die E-Mobilität Stromleistungen, für die weder
Stromproduktion noch Netz ausgelegt sind. Zusätzliche neue Verbraucher im Wärmemarkt
insbesondere im Winter und für die industrielle Wasserstoffproduktion sowie der heute
schon vorhandene normale Stromverbrauch kämen noch dazu.
III.2 Mengen- und Leistungsbilanzen
● Die Studie rechnet für 2045 mit installierten Windanlagen-Leistungen von 145 GW Onshore
bzw. 70 GW Offshore sowie mit Produktionen von 309 TWh Onshore bzw. 252 TWh
Offshore. Daraus resultieren Volllaststunden von 2100 Onshore bzw. 3600 Offshore. Reale
Werte lagen in den Jahren 2016 bis 2019 bei durchschnittlich 1500 bis 1900 Stunden
Onshore bzw. 2900 bis 3300 Stunden Offshore10. Durch das geplante Repowering ergeben
sich höhere Nabenhöhen und damit geringere Grenzschichteffekte, so dass die
Volllaststunden zwar leicht positiv beeinflusst werden, aber keinen grundsätzlichen
technischen Fortschritt kennzeichnen. In der Studie wird die Verfügbarkeit der Windenergie
demnach deutlich zu hoch angesetzt. Die Situation wird sich tendenziell wegen der
gegenseitigen Abschattung mit zunehmender Dichte von Windanlagen sogar noch
verschlechtern.
● Generell ergeben sich in der Studie die Mengen- und Leistungsbilanzen aus den
Charakteristika der Anlagen (Volllaststunden pro Jahr; Erfahrungs- bzw. Erwartungswerte)
sowie den Absatzerwartungen unter Berücksichtigung von Speichern und Demand-Side-
Management. Die eher “schlechte Verfügbarkeit” und “fehlende Zuverlässigkeit” wird u.E.
nicht ausreichend thematisiert und reflektiert. Es fehlt eine probate Nutzwertanalyse zu den
unterschiedlichen Konzepten11. Wetterbedingte Produktionsschwankungen von Jahr zu
Jahr werden ignoriert, anstatt das System auf das „schlechteste“ Wetterjahr auszulegen.
● Das Thema „Kannibalisierung“ PV gegen PV, Wind gegen Wind und PV gegen Wind
erscheint mit dem Ergebnis, dass 2045 nur 5% der Gesamtproduktion abgeregelt werden
müssen, unrealistisch (s. Punkt III.3) bzw. müsste ausführlicher diskutiert werden.
III.3 Bilanz der PV-Anlagen
● Die Studie rechnet für 2045 mit einer installierten PV-Leistung von 385 GW und einer
Produktion von 355 TWh/a. Die daraus resultierende Volllaststundenzahl von 922 und
entspricht ungefähr dem deutschen Durchschnitt.
● Diese Rechnung berücksichtigt nicht die saisonalen Unterschiede: Im Sommer mit vielen
Sonnenstunden wird man eine relativ hohe „Kannibalisierung“ (s.o.) beobachten können.
Ein großer Teil der Produktion ist damit wertlos, es sei denn, nachgelagerte Anlagen wie
10 BMWi 2020: Erneuerbare Energie in Zahlen – Nationale und internationale Entwicklung im Jahr 2019.
11 https://holgerwatter.wordpress.com/2021/06/09/umgang-mit-zielkonflikten/
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die Elektrolyse werden unwirtschaftlich für Spitzenlasten ausgelegt12. Der Wärmemarkt hat
im Sommer nur ein eingeschränktes Aufnahmevermögen.
● Im Winter muss das Defizit anderweitig ausgeglichen werden (s. Punkt III.4).
III.4 Langzeitspeicher
Die Studie benennt keine technische Lösung für die Langzeitspeicherung von Strom.
Versorgungslücken sollen zunächst mit Erdgas, später mit grünem Wasserstoff über Gasturbinen
(“Power Peaker”) überbrückt werden. Die Herstellung und Zwischenspeicherung der benötigten
erheblichen Mengen an Wasserstoff ist nicht geklärt. Die Nutzungsgrenzen des großen
Erdgasnetzes als bestehende Infrastruktur für die Zwischenspeicherung nach Methanisierung des
Wasserstoffs werden nicht berücksichtigt. Entweder müssten die Zusatzkosten für den Aufbau
einer neuen Speicherinfrastruktur für Wasserstoff, oder der zusätzliche Aufwand für
Methanisierung des Wasserstoffs einkalkuliert werden. Außerdem werden erhöhte Wasserstoff-
Kosten aufgrund begrenzter Volllastbetriebsstunden der Produktionsanlagen nicht berücksichtigt.
Gasturbinen sollen kurzfristig als Ersatz für die stillzulegenden Kern- und Kohlekraftwerke gebaut
werden. Wegen ihrer Schnellstartfähigkeit, der hohen Laständerungsgeschwindigkeiten und der
unsicheren Marktentwicklung werden dies überwiegend offene Gasturbinen (Modell Biblis und
Leipheim) sein. Bei einem Einsatz von 1000 Volllaststunden pro Jahr ergeben sich danach
Durchschnittskosten von 39 ct/kWh. Dieser Wert unterstellt einen Wirkungsgrad der Gasturbinen
von 45%. Tatsächlich dürfte der mittlere Wirkungsgrad wegen der Betriebsbedingungen (häufiges
An- und Abfahren, Teillasten, Verschmutzungen während der Betriebszeit) im Mittel eher bei 30%
liegen. Damit ergeben sich variable Kosten von rd. 45 ct/kWh und Gesamtkosten von 51 ct/kWh.
Die Kosten für den Wasserstoff beruhen auf einer Auslastung der Elektrolyseanlagen von 4000
Volllaststunden pro Jahr. Es sollte erklärt werden, wie man zu dieser optimistischen Annahme
kommt, wenn die vorgelagerten Kraftwerke sehr viel niedrigere Volllaststunden haben.
Wahrscheinlich müssen zusätzlich die Kosten für den Einsatz von Wasserstoff erhöht werden. Die
Kostenrisiken für das Gesamtsystem sind gewaltig, je nachdem wie viel Strom auf diese Weise
erzeugt werden muss (s. hierzu auch Punkt III.3, Winter).
III.5 Nah- und Fernwärmenetze
Zu den Vorschlägen “Fernwärmeerzeugung” in Abb. 21 der Studie:
Fern- und Nahwärme sind verglichen mit anderen Systemen der Wärmeversorgung teuer und
insbesondere festkostenlastig. Die Grundgedanken der Systeme waren Ersatz von Brennstoff
durch Kapital und die Nutzbarkeit verschiedenster Wärmequellen (Heizkraftwerke, Müllkraftwerke,
industrielle Abwärme). Dem stehen auf der Aufwandseite gegenüber: Heizkraftwerke oder
Wärmetauscher auf der Einspeiseseite, Pumpstationen, erdverlegte, isolierte Zweileitersysteme,
Kompensatoren, Wärmetauscher samt Regeleinrichtungen beim Verbraucher. Dazu kommen
thermodynamische Verluste durch die Differenzen zwischen Vor- und Rücklauftemperaturen des
Verteilsystems. Zu beachten ist, je geringer die Temperaturdifferenz, desto größer die
umzuwälzenden Wassermengen und die Pumparbeit13.
12 https://holgerwatter.wordpress.com/2020/10/27/regionalentwicklung-gemeinsam-gestalten/
1. 13Baehr, Kabelac: Thermodynamik - Grundlagen und technische Anwendungen, Springer-Verlag, 16.
Auflage, 2016.
2. Herwig, Kautz: Technische Thermodynamik, Pearson-Verlag, München, 2007.
3. Wagner, Walter: Wärmeaustauscher, 5. Auflage, Vogel-Fachbuchverlag, Würzburg, 2015.
- 14 -
Diese Kostenpositionen müssen durch die thermodynamischen Vorteile der Kraft-Wärme-
Kopplung, durch preiswerte Brennstoffe und / oder sonstige günstige Wärmequellen
überkompensiert werden. Wegen der Festkostenbelastung war es schon in der Vergangenheit
schwierig, selbst ganze mehrgeschossige Häuserzeilen im Wettbewerb mit Erdgas für die
Fernwärme zu gewinnen.14
Das Potenzial für die Überkompensation sollte angesichts der Energiewende im Gebäudesektor
überprüft werden.
1. Neue Gebäude sollen überwiegend als Niedrigenergiehäuser oder gar Passivhäuser
gebaut werden. Bestehende Gebäude sollen in Richtung geringeren Wärmeverbrauchs
modernisiert werden. Damit geht der Divisor für die Festkosten zurück. Entsprechend steigen
die spezifischen Kosten der Fernwärme.
2. Nach der Studie sollen die Fern- und Nahwärmesysteme künftig zu 25% mit grünem
Wasserstoff und zu knapp 30 % mit Wärmepumpen betrieben werden. Der Betrieb von KWK-
Anlagen mit grünem Wasserstoff ist wirtschaftlich zu hinterfragen, da ein großer Teil der
Systemvorteile durch die Umwandlung von Ökostrom in Wasserstoff (Wirkungsgrad ca. 75%)
und die thermodynamischen Verluste des Fernwärmekreislaufs (höhere Vorlauftemperatur als
beim Verbraucher nötig, Pumpkosten) aufgezehrt wird15.
3. Gegen den Betrieb mit elektrischen Wärmepumpen sprechen aus hiesiger Sicht nicht nur die
Anlagenkosten der Wärmepumpe selbst und des Verteilsystems, sondern auch die Tatsache,
dass die thermodynamischen Vorteile der Wärmepumpe zu großen Teilen durch das
notwendige Temperaturniveau des Fernwärmekreislaufs und die Kosten der Pumparbeit
beeinträchtigt werden.
In der Summe aller genannten Aspekte sollte geprüft werde, ob nicht – von Sonderfällen
abgesehen – die direkte, schnell und kostengünstig in den Gebäuden einzurichtende, elektrische
Widerstandheizung die bessere Lösung ist.
Dazu wurde um 2000 mit Prof. Dr.-Ing. Klaus Lucas von der RWTH Aachen das Modell der
„dynamischen elektrischen Widerstandsheizung“ diskutiert, die über Oberflächen (Tapeten, Folien)
und Sensoren wie Bewegungsmelder oder akustische Sensoren bedarfsgerecht heizt und die
Kapazitätseffekte des Mauerwerks neutralisiert, damit sich auch ohne die Aufheizung des
Mauerwerks schnell die gewünschte Behaglichkeit einstellt.
Die Auseinandersetzung mit diesem Fragenkomplex halten wir für dringlich, um eventuelle
Fehlinvestitionen zu vermeiden. Die in der vorliegenden Studie KN2045 getroffenen Annahmen
und Thesen erscheinen aus Sicht der Praxis und vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen
nicht belastbar.
III.6 Flexibilitäten, insbesondere Industrie
Im Jahr 2045 soll nach der Studie als regelbare Leistung nur die extrem teure
Gaskraftwerksleistung (“Power Peaker” gemäß Punkt III.4) zur Verfügung stehen. Abgesehen von
der Diskussion um “Methanschlupf” erzeugt die Methode auch CO2. Es ist nicht zu erwarten, dass
14 Quelle: Austausch mit STEAG Fernwärme GmbH
15 Watter, Holger: Regenerative Energiesysteme - Grundlagen, Systemtechnik und Analysen ausgeführter
Beispiele nachhaltiger Energiesysteme, 5. Auflage, Springer-Vieweg-Verlag, 2019.
- 15 -
eine belastbare Kreislaufwirtschaft mit “grünem Wasserstoff” und Methanisierung zur Verfügung
stehen wird.16
Das Autorenkollektiv setzt trotzdem auf Flexibilitäten wie den Austausch innerhalb des
europäischen Verbunds und Demand-Side-Management, wie die nachfolgende Abbildung zeigt:
Dieser Abschnitt ist aus hiesiger Sicht insgesamt sehr dünn. Zum Austausch mit dem Ausland
gehört sicher auch die Diskussion des Anpassungsdrucks, unter dem die Partnerländer stehen,
aber auch der Gleichzeitigkeit insbesondere hinsichtlich Wind- und PV-Produktion.
Bemerkenswert ist der Gedanke an Demand-Side-Management im Bereich der Industrie. Man
spricht von der Inanspruchnahme kurzfristigen Lastverschiebungspotenzials der Industrie. Im
Klartext bedeutet dies, die Industrie möge ihre Produktions- und Personaleinsatzpläne kurzfristig
von Wetterprognosen abhängig machen, eine nicht hinnehmbare und realitätsfremde Aussage für
die meisten Industrieunternehmen, deren Produktionsprozesse häufig auf stetigen Durchfluss hin
optimiert sind. Eine Umstellung von Produktionsprozessen auf stark schwankenden Durchfluss
würde erhebliche Investitionen in die Produktionskapazitäten und stark veränderte Arbeitsabläufe
voraussetzen, deren gewaltige Kosten in der Studie ignoriert werden.
Die Annahme, dass Strommangel in Deutschland aufgrund fehlenden Windes sicher vom Ausland
ausgeglichen werden kann, vernachlässigt aufs Gröbste die Charakteristik der Windverteilung
(WEIBULL) und die damit verknüpfte Charakteristik der Windkraftanlage (3.-Potenz-Gesetz aus
der Strömungslehre). Die bisherigen Erfahrungen aus zwanzig Jahre Energiewende zeigen eher
das Gegenteil: Großwetterlagen betreffen kontinentumspannende Regionen, daher kann obige
These durch die Praxis nicht belegt werden. Im Jahr 2020 hatte der erneuerbaren Energien im
Jahresmittel nur ca. 5 GW von 50 bis 80 GW im Tagesgang oder von 120 GW installierter Leistung
aus Sonne und Wind betragen (ca. 5% “Verfügbarkeit” – vgl. Abschnitt III.12). Damit ergeben sich
16 https://holgerwatter.wordpress.com/2019/09/12/wasserstoff-aus-wind/
- 16 -
bei fehlenden nicht absehbaren Energiegroßspeichern ein Versorgungsproblem. Dieser Aspekt
muss tiefergehend diskutiert werden.
Den Berechnungen liegen auch ungenannte Prämissen zugrunde. Die wichtigste ist, dass die
Funktionsfähigkeit des Europäischen Verbundnetzes, also der Strommarkt in Europa jederzeit so
funktioniert, wie europäische Verträge dies vorsehen. Was aber, wenn aufgrund nationaler Notlage
die Länder entscheiden, zunächst ihre eigenen Bürger zu versorgen? Genau dies ist in der
Corona-Krise in unrühmlicher Weise passiert. Es gab Exportverbote für medizinische Ausstattung
und Grenzschließungen. Solche Szenarien fehlen in den Berechnungen der Bundesnetzagentur,
sollten aber mit einer Wahrscheinlichkeit größer Null in der Methodik eingepreist werden.
III.7 Kohlenstoffbilanz
Die Kohlenstoffbilanz ist in der Studie nicht umfassend über die globale Wertschöpfungskette
dargestellt. Insbesondere bleiben erhöhte CO2-Emissionen für neue Infrastrukturen, Neuanlagen
und Austausch von Autos und Heizsystemen im Zuge der Elektrifizierung dieser Bereiche
unberücksichtigt. Außerdem werden die tatsächlichen physikalischen globalen CO2-Emissionen
aufgrund der nationalen Maßnahmen nicht mit der Mathematik des Klimaschutzes nach dem
IPCC-Sonderbericht von 2018 für das 1,5-Grad-Ziel insbesondere auf der Zeitachse (noch zur
Verfügung stehende Zeit im Rahmen des globalen CO2-Restbudgets) verknüpft. Damit wird die
Studie der unabdingbaren Analyse der Klimafolgen der dargestellten Szenarien nicht gerecht.
III.8 Ressourcenbilanz
Eine Ressourcenbilanz fehlt gänzlich. Der Ressourcenbedarf an bspw. Zement, Stahl und Kupfer
für den Ausbau der Infrastruktur für die weitgehende Elektrifizierung aller Sektoren in Deutschland
und für neue Anlagen (Wind und PV), Netzausbau und zusätzliche Transformatoren bleibt
unerwähnt. Völlig unkritisch werden auch Batterien als Strom-Zwischenspeicher vorgesehen.
Dabei stößt diesbezüglich bereits heute der weltweite Ausbau der Elektromobilität an Grenzen
(Lithium, Kobalt, seltene Erden, Recycling und Sondermüllbehandlung u. a.)17.
17 1. Europen Commission: Study on the review of the list of Critical Raw Materials - Critical Raw
Materials Factsheets, Directore-General for Internal Market, Industry, Entrepreneurship ans SMEs,
Bruessel, June 2017,https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publication/7345e3e8-98fc-11e7-
b92d-01aa75ed71a1/language-en/format-PDF/source-search
2. World Energy Outlook Special Report: The Role of Critical Minerals In Clean Energy Transition,
www.iea.org
Anm.:
➔ Blatt 130 (page 128) zeigt, dass etwa die Hälfte der Cu- und Li-Produktion in Gebieten mit
extrem hoher Wasserbelastung konzentriert ist.
➔ Blatt 33 (page 31) zeigt, dass wir uns mit allen kritischen Elementen in die Abhängigkeit
Chinas begeben.
3. California Air Resources Board: Advanced Clean Cars (ACC) II Workshop, May 6, 2021,
https://ww2.arb.ca.gov/our-work/programs/advanced-clean-cars-program/advanced-clean-cars-ii-
meetings-workshops,
Anm.:
➔ Die Präsentation vom ACC2 Workshop vom Mai: Folie 89 zeigt, dass es schon jetzt mit der
Ressourcen-Reichweite kritischer Elemente wie Li und Co “steil bergab geht” (Unterschied
2010-2020), obwohl der Hochlauf der BEVs ja noch gar nicht richtig begonnen hat.
- 17 -
Alternative Technologien kommen zu kurz, obwohl sie Redundanzen bieten und einer
Überforderung des Strommarktes entgegenwirken könnten. Alternative Kraftstoffe zum Beispiel
bieten diese Optionen und sollten mit betrachtet und berücksichtigt werden.
- 18 -
III.9 Kostenbilanz
Die Kostenbilanzen der Studie sind, wie in vorangegangenen Punkten ausgeführt, nicht
überzeugend. Beispiele sind die zu hoch angesetzte Verfügbarkeit von Windenergie, die fehlende
Berücksichtigung von jahreszeitlich bedingten Engpässen sowie die ungenügende
Berücksichtigung schlechter Auslastung von Wasserstoffproduktionsanlagen.
Der Bundesrechnungshof und der FOCUS führen dazu aus18:
“Dabei hat gerade erst der Bundesrechnungshof (BRH) attestiert, dass die deutsche
Energiewende erhebliche Mängel hat und dabei auch die Probleme der geplanten
elektrischen Verkehrswende angesprochen. Der weitere Ausbau erneuerbarer Energien,
die Leistungsfähigkeit des Stromnetzes und die immer höheren CO2-Steuern könnten dazu
führen, dass die Verbraucherpreise weiter steigen.”
"Verschärft wird der Trend durch die sich abzeichnende, weitere Erhöhung der Nachfrage
nach Strom, beispielsweise durch die Wasserstoffstrategie und die Sektorkopplung, d. h.
die Einbeziehung insbesondere der Sektoren Wärme und Verkehr in die Energiewende.
Dies kann zusätzlich zu einer deutlichen Erhöhung der marktgetriebenen Preisbestandteile
führen", so der Bundesrechnungshof. Und: Risiken bei der Versorgung von Strom würden
nicht genügend berücksichtigt, machte der BRH etwa mit Blick auf den stockenden
Netzausbau deutlich. So fehle ein „Worst-case-Szenario“ über die Gefahr von Blackouts.
Das Monitoring der Versorgungszuverlässigkeit sei lückenhaft.”
III.10 Gesellschaftliche Auswirkungen
Die Studie geht nicht auf mögliche nationale soziale Folgen ein, die bereits unter Punkt II.3
angesprochen worden sind. Außerdem bleiben international menschenunwürdige Bedingungen
beim Abbau von Batterie-Rohstoffen wie z. B. Kobalt im Kongo unberücksichtigt. Die Vernichtung
der Lebensgrundlage von Landwirtschaft z. B. in Lithium-Abbaugebieten in Trockengebieten
Südamerikas durch erhebliche Verschärfung der Wasserknappheit vor Ort wird ebenfalls nicht
betrachtet.
Des Weiteren werden nationale soziale Folgen durch Erhöhung von Stromkosten und
Verteuerungen im Wärmebereich und der Mobilität nicht thematisiert. Die einseitige Förderung der
Elektromobilität läuft schon heute auf eine Subventionierung der Wohlhabenden hinaus. Die
Vernichtung von weit über 100.000 Arbeitsplätzen durch den klimatechnisch unwirksamen
Austausch des Antriebssystems im PKW-Bereich zählt ebenso dazu wie die unbeabsichtigte
Verdrängung von Firmen ins Ausland als Konsequenz einer einseitigen Fokussierung auf die
Elektrifizierung aller Sektoren mit unvorhergesehenen Kostensteigerungen19.
Außerdem wird die Resilienz des Wirtschaftssystems durch die Verengung auf die technologische
Monokultur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit negativ beeinflusst. Der Verlust
18 https://www.focus.de/finanzen/news/preisexplosion-fragile-versorgungssicherheit-bundesrechnungshof-
warnt-energiewende-gefaehrdet-wirtschaftsstandort-deutschland_id_13145917.html
19
vgl. HANDELSBLATT-Artikel zu Siltronic/Wacker z.B.
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-siltronic-deal-ist-erst-der-anfang-es-ist-
hoechste-zeit-den-hightech-ausverkauf-zu-stoppen/26671888.html
und zu BOSCH:
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/autozulieferer-bosch-verkauft-werk-in-goettingen-und-
prueft-schliessung-in-muenchen/27431478.html
- 19 -
zahlreicher Handlungsoptionen wie stromunabhängiger Verbrennungssysteme verringert die
Flexibilität und Fähigkeit des Gesamtsystems, ungewollte negative Auswirkungen zu
kompensieren.
Zuletzt fehlt die Berücksichtigung von möglichen gesundheitlichen Auswirkungen von Infraschall
aus Windkraftanlagen auf die Gesundheit der Bürger. Hierzu gibt es derzeit noch widerstreitende
Studien. Das in der Studie ignorierte Vorsorgeprinzip würde gebieten, die Studienerstellung hierzu
voranzutreiben, bevor weitere Windkraftanlagen gebaut werden. Ganz im Gegenteil wird der
Ausbau der Windkraft unkritisch und beschleunigt gefordert.
III.11 Artenvielfalt und Naturschutz
Ökologische Konsequenzen der in der Studie vorgesehenen einseitigen Fokussierung auf
Elektrifizierung aller Sektoren werden vernachlässigt. Dazu gehören im Inland Gefahren für Vögel,
Fledermäuse und Insekten durch den vorgesehenen massiven Ausbau von Windanlagen, aber
auch international erhebliche ökologischen Schäden durch den Wasserraubbau für den
Lithiumabbau z. B. in Trockengebieten Südamerikas.
III.12 Weitere Fragen
● Bilanztechnische Fragestellungen gehen an der technischen Problemstellung vorbei.
Warum wurde dieser ungeeignete Parameter gewählt?
● Daraus ergibt sich die Fragestellung nach den Qualitätssicherungssystemen, die
Bewertung von Risiken und Haftungsfragen aus den politischen Empfehlungen mit
wirtschaftlichen und wettbewerbsrechtlichen Rückwirkungen. Wie wurden diese Aspekte
bei der Studienplanung berücksichtigt?
● Ein belastbares technisches Konzept mit physikalischen Wirkungen ist nicht erkennbar, die
Ausführungen basieren nur auf fehlerhaften und unzulässigen Bilanzierungen und gehen
damit an den technischen Anforderungen vorbei, bzw. vernachlässigen unzulässig
technische Herausforderungen. Beispielsweise: Wie soll das zusehends fragile und
kleinteilige Netz bis 2045 stabilisiert werden?
● Es werden keine Zahlen und kein Konzept für Großspeicher von Strom geliefert, um die
Grundlast zu decken und Dunkelflauten zu überbrücken. Die bisherigen Untersuchungen
zeigen deutlich, dass die erforderlichen Speicher in dieser Größenordnung weder national
noch europäisch verfügbar sein werden – die Gaskraftwerke mengenmäßig nicht “grün”
oder auch nur CO2-neutral sein können. Der Punkt wird aus hiesiger Sicht unzureichend
diskutiert. Warum bleiben die Autoren hier “im Vagen”?
Beispiel: Der bekannteste und bis vor Kurzem größte Akkuspeicher der Welt ist der
Hornsdale Power Reserve in Australien mit einer Kapazität von 194 MWh (für ca. 100 Mio.
Euro gebaut). Nehmen wir an, dieser Speicher solle Deutschland durch eine windstille
Nacht bringen, bei einer geringen Last von ca. 50 GW – das würde bedeuten 194
MWh/50.000 MW = 3,88 x 10-3 Std. = 14 Sekunden wäre die Stromversorgung gesichert!
● Ist eine Halbierung des Primärenergieverbrauchs bis 2045 realistisch? Wurden Annahmen
zur Deindustrialisierung und/oder Verlagerung der Produktion ins Ausland gemacht? Es
fehlt eine belastbare Plausibilitätsprüfung.
- 20 -
● Ist eine komplette Umstellung der Wärmeversorgung von Gebäuden bis 2045 realistisch?
● 20 Jahre Energiewende zeigen eine extrem schlechte “Performance” oder “Verfügbarkeit”
der sog. Erneuerbaren Energien. Die Annahmen zu den Volllaststunden erscheinen zu
positiv. Es besteht der Verdacht der “Schönrechnerei” – wo erfolgt die Validierung und
Prüfung der praktischen Relevanz für derartige Eingangsthesen? Ist die Vorgehensweise
ggf. grob fahrlässig20?
● Idealisierte Annahmen der Windverteilung nach WEIBULL sind in der Praxis fehleranfällig,
die nachfolgenden Bilder zeigen den signifikanten Einfluss einzelner Parameter am
Standort, die durch technische Maßnahmen nicht zu beeinflussen sind:
a) Theorie nach WEIBULL
20 https://www.electricitymap.org/map
- 21 -
Problematisch ist hierbei, dass
1. sich kleinste Fehler in der Modellbildung zur Windverteilung (über ein Jahr, 365
Tage mal 24 Std. also mit dem Faktor 8760 Std.) sehr stark auswirken,
2. nach den Regeln der Strömungslehre für die Leistung und Energie mit der dritten
Potenz steigen oder fallen (halbe Windgeschwindigkeit bedeutet (½)³=⅛ verfügbare
Leistung) und daher
3. schnell massive Fehlprognosen für den Ertrag am Windstandort entstehen.
Vgl. dazu die nachfolgenden Abbildungen auf Basis aktueller Betriebsanalysen:
b) Praktische Erfahrungen ONSHORE im Vergleich zeigen, zeigen starke
jahreszeitliche und auch jährliche Schwankungen:
Das eigene “AGORAmeter” zeigt regelmäßig die “schlechte Performance” in Bezug auf die
Nennleistung von Solar- und Windkraftanlagen auf, dies verstärkt den Widerspruch. Die
nachfolgende Abbildung zeigt exemplarisch aktuelle Divergenzen zwischen Anspruch und
Wirklichkeit.
Der vermeintlich “abgeregelte Überschussstrom” fällt dabei physikalisch kaum signifikant
ins Gewicht21.
21 https://holgerwatter.wordpress.com/2019/10/15/diskussionsqualitaet-in-der-energiewende/
- 22 -
IV. Verteiler
Vorstand und
Verwaltungsrat
PROGNOS AG
Christian Böllhoff
christian.boellhoff@prognos.com
Dr. Jan Giller
info@prognos.com
Vorstand
ÖKO-INSTITUT e.V.
Dorothea Michaelsen-Friedlieb
info@oeko.de
Ulrike Schell
Vorstand
WUPPERTAL INSTITUT
FÜR KLIMA, UMWELT,
ENERGIE gGmbH
Prof. Dr.-Ing.
Manfred Fischedick
manfred.fischedick@wupperinst.org
Michael Dedek
michael.dedek@wupperinst.org
Stiftung Klimaneutralität
Rainer Baake
info@stiftung-klima.de
Hal Harvey
Leiter AGORA
Energiewende
Dr. Patrick Graichen
patrick.graichen@agora-energiewende.de
Vorsitzenden AGORA-Rat
Dr. Hans-Joachim Ziesing
service@diw-econ.de
Mitglied im AGORA-Rat
StS Andreas Feicht
buero-st-f@bmwi.bund.de
StS Jochen Flasbarth
Poststelle@bmu.bund.de
Mark Helfrich, MdB, CDU
mark.helfrich@bundestag.de
Oliver Krischer, MdB, GRÜNE
oliver.krischer@bundestag.de
Johann Saathoff, MdB, SPD
johann.saathoff@bundestag.de
Michael Theurer, MdB, FDP
Michael.Theurer@bundestag.de
Leiter AGORA
Verkehrswende
Christian Hochfeld
christian.hochfeld@agora-verkehrswende.de
Rat der AGORA
Verkehrswende
Prof. Dr. Klaus J. Beckmann
info@agora-verkehrswende.de
StS Norbert Barthle, MdB, CDU
norbert.barthle@bundestag.de
Arno Klare, MdB SPD
arno.klare.wk@bundestag.de
StS Jochen Flasbarth
Poststelle@bmu.bund.de
Cem Özdemir, MdB, GRÜNE
cem.oezdemir@bundestag.de
Presseverteiler
Seite I
Klimaneutrales Deutschland
2045
Antwort
auf die wesentlichen Kritikpunkte an der Szenarienstudie „Klima-
neutrales Deutschland 2045“, die in einem „Offenen Brief“ vom
15. August 2021 von einer Gruppe um Dr. Björn Peters öffentlich
vorgebracht wurden
Seite II
Vorbemerkung
Mit der Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ haben Prognos AG, Öko-Institut und
Wuppertal Institut eine wegweisende Studie vorgelegt, die detailliert aufzeigt, wie
Deutschland bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden kann, mit Wirtschaftlichkeit, Wah-
rung der Investitionszyklen und Akzeptanz als Kernkriterien. Die untersuchten Szenarien
zeigen, dass dies möglich ist durch die konsequente Anwendung von heute schon verfüg-
baren oder bereits weit entwickelten Technologien. Eine solche Studie beantwortet nie-
mals alle denkbaren Fragen, über einzelne Annahmen kann man immer konstruktiv dis-
kutieren. Die Studie basiert auf etablierten, wissenschaftlich fundierten Methoden (u.a.
auf einer sehr detaillierten, technisch/ökonomisch hoch aufgelösten Energiesystem-, In-
dustrie- und Verkehrsmodellierung), stellt die Ergebnisse nachvollziehbar und transparent
dar.
Wir möchten im Folgenden zu den wesentlichen Einwänden der Autoren des „offenen
Briefes“ fachlich Stellung nehmen. Die von uns adressierten Kritikpunkte finden sich auf
den Seiten 4 und 5 des offenen Briefs von Peters et al.. In der Kürze der Zeit und ange-
sichts des dafür erforderlichen Arbeitsaufwands ist es nicht möglich, zu allen geäußerten
Punkten detailliert Stellung zu nehmen
Schon aus diesen Fragen und Antworten wird jedoch deutlich, dass die Vorwürfe der
Gruppe um Peters et al. aus unserer Sicht fachlich und wissenschaftlich nicht haltbar
sind.
Seite 1
1 Bedarfsprognosen für Strom und Wasserstoff
Fakt: Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ legt realistische Prognosen für den Strom-
und Wasserstoffbedarf zugrunde.
Behauptung: Der „Offene Brief“ unterstellt zu Unrecht zu niedrige Bedarfsprognosen für Strom
und Wasserstoff.
Richtig ist: Die Nachfrage nach Endenergieträgern wurde im Detail bottom-up nach Sektoren und
Verwendungszwecken berechnet. Ein ambitioniertes Ziel wie Klimaneutralität erfordert eine sehr
konsequente Umsetzung der verfügbaren Effizienztechnologien. Diese sind beispielsweise auch
Voraussetzung für die breite Umsetzung von Elektrifizierungs- und Sektorkopplungstechnologien,
wie z.B. Wärmepumpen, Elektrifizierung von Prozesswärme, Wasserstoffproduktion. Diese techno-
logischen Optionen wurden in allen Nachfragesektoren detailliert nach Verwendungszwecken und
technischen Anlagen durchgerechnet und in der Langfassung der Studie detailliert dokumentiert.
Entsprechend diesen Berechnungen steigt der Strom- und Wasserstoffbedarf im Szenario Klima-
neutrales Deutschland bis 2045 deutlich. Der Verbrauch für neue Anwendungen wurde berück-
sichtigt. Im Vergleich mit anderen Energieszenarien (mit ähnlichen Klimaschutzzielen) sind die
Entwicklungen des Strom- und Wasserstoffverbrauchs ähnlich hoch.
Hier eine Auswahl zum Strom- und Wasserstoffbedarf, die zeigt, dass das Szenario Klimaneutra-
les Deutschland nicht ungewöhnlich niedrig liegt.
Bruttostromverbrauch
Klimaneutrales Deutschland 2045
1.017 TWh
BMWi Langfristszenarien III 2050
(Szenario TN Strom) 1.074 TWh
Dena Leitstudie I
(Szenario EL 95) 1.156 TWh
UBA Wege in eine ressourcenschonende Treibhausgasneutralität
(Szenario GreenEe1)
795 TWh
Je nach Szenariendefinition und Abgrenzung können sich in anderen Studien auch höhere Werte
ergeben, entsprechend zum Beispiel der Annahmen zu Effizienz und inwieweit Wasserstoff und
synthetische Energieträger im Inland hergestellt werden oder importiert werden. Das Szenario Kli-
maneutrales Deutschland grenzt den Lösungsraum hinsichtlich des Imports von H2 und syntheti-
schen Energieträgern nicht ein.
Seite 2
Wasserstoffeinsatz
Klimaneutrales Deutschland 2045
265 TWh Wasserstoff + 165 TWh syntheti-
sche Energieträger
BMWi Langfristszenarien 2050
262 TWh Wasserstoff + 160-170 TWh syn-
thetisch/biogen für internationalen Verkehr
Dena Leitstudie I
(Szenario EL 95)
169 TWh H2 + 364 TWh synthetische Ener-
gieträger
Es gibt einzelne Szenarien, die demgegenüber sehr hohe Wasserstoff-Verbräuche modellieren,
z.B. die Roadmap-Studie des Verbands der chemischen Industrie. Eine Einordnung des Energie-
verbrauchs und wie in unserem Szenario die verschiedenen Energieträger interagieren, um kos-
teneffizient Klimaneutralität herbeizuführen, findet sich in der Studie auf Seite 50 der Langfas-
sung der Studie (https://www.stiftung-klima.de/app/uploads/2021/06/2021-06-18-Langfas-
sung-KNDE-2045.pdf).
2 Technologischer Lösungsraum
Fakt: Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ betrachtet ein breites Spektrum an Techno-
logien, um die Klimaziele zu erreichen.
Behauptung: Der „Offene Brief“ unterstellt zu Unrecht, dass zu wenige Technologien zur Lösung
der Klimakrise in Deutschland in die Analyse integriert wurden.
Richtig ist: In dieser Studie wurde ein weites Spektrum von Technologien zur Erreichung der Kli-
maneutralität betrachtet und in der Modellierung berücksichtigt. Dies betrifft u.a. die Nutzung der
Erneuerbaren Energien, Energiespeicher, Effizienztechnologien, neue industrielle Verfahren, die
Herstellung und Nutzung von Wasserstoff und synthetischen Energieträgern als auch Direct-Air-
Capture, CCU und CCS.
In Deutschland wurde der Beschluss, aus der Kernenergienutzung bis zum Jahr 2022 auszustei-
gen, im Szenario berücksichtigt. Bei der Auswahl der Technologien wurde auch berücksichtigt,
dass die Technologien schon im Zeitraum bis 2045 verfügbar sein müssen, um einen Beitrag zur
Erreichung der Klimaneutralität leisten zu können. In der Langfassung des Berichts werden die
verwendeten Technologien detailliert beschrieben. Es wurden keine Technologien explizit ausge-
schlossen.
Der Neubau von Kernkraftwerken wäre auch ohne den Ausstiegsbeschluss keine wirtschaftliche
technologische Option. Eine Analyse von Wealer et al. (2021) der aktuellen und zukünftigen Kern-
kraftwerksinvestitionen zeigt, dass Investitionen in Kernkraftwerke nicht profitabel sind, d.h. die
Seite 3
erwarteten Kapitalwerte stark negativ sind und zwischen minus fünf und minus 10 Mrd.
US$2018 liegen.1 Aktuelle Daten zu den durchschnittlichen Stromgestehungskosten bestätigen
die strukturellen Kostennachteile der Kernkraft: Während die Kosten der erneuerbaren Energie-
träger stark sinken, steigen die Kosten von Strom aus Kernkraft weiter an. Angesichts dieses
Trends ist nicht damit zu rechnen, dass Kernkraftwerke wettbewerbsfähig werden.
Stromgestehungskosten verschiedener Erzeugungstechnologien (2009-2020)
Quelle: Laz ard. 2020. „Lazard’s Levelized Cost of Energy Analysis - Version 14.0“. 14.0. https://www.lazard.com/media/451419/lazards-levelized-
cost-of-energy-version -140.pdf.
3 Infraschall und Flächenbeanspruchung durch erneuerbare Energien
Fakt: Erneuerbare Energien haben im Vergleich zu fossilen Energieträgern oder Kernenergie deut-
lich weniger Risiken für Mensch und Umwelt.
Behauptung: Der „Offene Brief“ behauptet zu Unrecht, dass die Studie „Klimaneutrales Deutsch-
land 2045“ bedeutsame Gefahren der erneuerbaren Energien für Mensch und Biosphäre nicht
berücksichtigt.
Richtig ist: Erneuerbare Energien spielen sowohl im Szenario Klimaneutrales Deutschland als
auch vielen anderen aktuellen Szenarioanalysen vor allem aufgrund ihrer ökologischen und zu-
nehmend auch ökonomischen Vorteile eine zentrale Rolle. Hinzu kommt, dass die Nutzung erneu-
erbarer Energien mit deutlich geringeren negativen Auswirkungen auf die Artenvielfalt und die Ge-
sundheit der Menschen verbunden ist als die Nutzung fossiler Energieträger oder der Kernener-
gie. In Bewertungen der gesamten externen Kosten über den gesamten Lebenszyklus (ohne
1 Wealer, Ben, Simon Bauer, Christian von Hirschhausen, Claudia Kemfert, und Leonard Göke. 2021. „Investing into third generation
nuclear power plants - Review of recent trends and analysis of future investments using Monte Carlo Simulation“. Renewable and Sus-
tainable Energy Reviews 143. https://doi.org/10.1016/j.rser.2021.110836.
Seite 4
Klimaminderung) wurden die externen Kosten für Kohle mit 8-14 EUR pro MW beziffert, für Gas
mit 3,5-5 Euro pro MW und für < 1 Euro für Windenergie an Land (Zerrahn 2017)2.
Konflikte zwischen Windkraft und Vogelschutz können durch die richtige Standortwahl und die
Berücksichtigung sensibler Vogelvorkommen bei der Planung vermieden werden. Insbesondere
Schutzzonen um Nistplätze und Mindestabstände zu Vogelbrutplätzen können diese Konflikte
vermeiden. Der Vogelschutz kann auch durch den Einsatz von technischen Antikollisionssyste-
men an Windenergieanlagen verbessert werden. Studienergebnisse zeigen, dass durch solche
Systeme im Durchschnitt jährliche Ertragseinbußen von lediglich 0,4 bis 2,3 Prozent pro Anlage
zu erwarten sind. Wie der Zielkonflikt zwischen Klimaschutz und Artenschutz beim Ausbau der
Windenergie konstruktiv aufgelöst werden kann, hat die Stiftung Klimaneutralität in anderen Stu-
dien detailliert untersuchen und ausarbeiten lassen. 3
Infraschall von Windenergieanlagen wurde jahrelang überschätzt, da eine Studie der Bundesan-
stalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) aus dem Jahr 2009 gemessene Infraschallwel-
len von Windrädern falsch in akustische Daten umgerechnet hat und deutlich zu hohe Dezibel-
Angaben veröffentlicht hatte (um mehr als den Faktor 1000 überhöhte Angaben). Diese Studie
wurde mittlerweile korrigiert.4
Die Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW) kam in
einem Langzeitprojekt mit systematischen Messungen zu dem Schluss, dass der Infraschall auch
im Nahbereich der Windanlagen mit Abständen von 150 bis 300 Metern deutlich unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle liege.5 Bei 700 Metern Abstand ist der Infraschallpegel bei eingeschalte-
ten Anlagen nur unwesentlich höher als bei ausgeschalteten Anlagen, da der Großteil des Infra-
schalls durch den Wind selbst verursacht wird. Zudem ergaben die Messungen, dass nachts der
Infraschallpegel deutlich absank, da wichtige Infraschallquellen wie der Verkehr abnahmen.
Windkraftanlagen verursachen deutlich weniger Infraschall im Vergleich zu Autos oder Flugzeu-
gen. Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise darauf, dass Infraschall in der geringen Menge,
wie er bei Windkraftanlagen auftritt, gesundheitsschädliche Auswirkungen hätte.6
4 Schwankende Stromerzeugung durch erneuerbare Energien und Netzstabilität
Fakt: Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ modelliert die Stromerzeugung und
-nachfrage stundengenau auf Basis historischer Wetterdaten und berücksichtigt die Auswirkun-
gen von fluktuierender Erzeugung auf die Netzstabilität.
2 Zerrahn 2017: Wind Power: mitigated and imposed external costs and other indirect economic effects,
https://www.diw.de/de/diw_01.c.556900.de/publikationen/roundup/2017_0111/wind_power__mitigated_and_imposed_exter-
nal_costs_and_other_indirect_economic_effects.html
3 Siehe https://www.stiftung-klima.de/de/themen/energie/artenschutz-und-windenergie/
4 Siehe https://www.energiezukunft.eu/erneuerbare-energien/wind/infraschall-von-windraedern-wurde-jahrelang-ueberschaetzt/
5 https://www.lubw.baden-wuerttemberg.de/erneuerbare-energien/infraschall
6 Siehe hierzu eine Studie der Universität Halle, die schlussfolgert, dass keine kausalen Zusammenhänge zwischen tieffrequenten
Schallwellen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Menschen aktuell belegen lassen, https://filer.itz.uni-
halle.de/dl/1135/pub/TremAc_Abschlussbericht_MLU_UBI_final_220620.pdf
Seite 5
Behauptung: Der „Offene Brief“ behauptet zu Unrecht, dass die zeitlichen und räumlichen
Schwankungen der erneuerbaren Energien nicht berücksichtigt werden.
Richtig ist: Das Stromsystem in „Klimaneutrales Deutschland 2045“ wurde in stündlicher Auflö-
sung für 17 Europäische Länder7 modelliert, sowohl die Stromerzeugung als auch die Stromnach-
frage. Auf der Basis von historischen Wetterdaten des Jahres 2012 wurden synthetische Einspei-
sezeitreihen für Wind und PV generiert sowie der Raumwärmebedarf berechnet. Die Nachfrage
konventioneller Stromverbraucher ist als festes stündliches Profil hinterlegt, das in vorgelagerten
Nachfragemodellen berechnet wird. Flexible neue Verbraucher (Elektroautos, Wärmepumpen,
Elektrolyseure) nutzen gezielt Stunden mit niedrigen Strompreisen. Die Flexibilität wird bei Elekt-
roautos und Wärmepumpen unter anderem durch ihren stündlichen Verbrauch (basierend auf ih-
rem Fahrprofil bzw. Wärmeprofil), die Größe des Speichers, der Ladeleistung und bei Elektroautos
der Verfügbarkeit einer Lademöglichkeit begrenzt.
Das Jahr 2012 als Wetterjahr ist aus Stromsystemsicht ein anspruchsvolles Jahr,8 da im Februar
des Jahres eine langanhaltende witterungsbedingte Extremsituation, eine sogenannte „kalte Dun-
kelflaute“ auftrat. Durch die Verwendung dieses Wetterjahres wird somit sichergestellt, dass auch
Extremsituationen angemessen berücksichtigt werden. Eine detailliertere Betrachtung der Versor-
gungssicherheit bis 2030 findet sich in der Kurzstudie: „Bewertung der Versorgungssicherheit bis
zum Jahr 2030 der Szenarien KN2050 und KN2045 aus der Studie „Klimaneutrales Deutsch-
land“9
Stromerzeugung während einer winterlichen Dunkelflaute10
7 Mit Ausnahme des Baltischen Staaten und Slowenien alle Länder die Teil des Multi-Regional Couplings (MRC) sind und zusätzlich
Irland und Schweiz
8 Energy Brainpool (2012): Kalte Dunkelflaute Robustheit des Stromsystem Bei Extremwetter, https://www.energybrain-
pool.com/fileadmin/download/Studien/Studie_2017-06-26_GPE_Studie_Kalte-Dunkelflaute_Energy-Brainpool.pdf
9 Prognos (2021): https://www.stiftung-klima.de/app/uploads/2021/05/2021-05-17_Prognos-KNDE-Versorgungssicherheit_v1.1.pdf
10 Prognos, Öko-Institut, Wuppertal Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045. Wie Deutschland seine Klimaziele schon vor
2050 erreichen kann, Studie im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende.
Seite 6
5 Globale Produktionsverlagerungen
Fakt: Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ analysiert die Auswirkungen von Klima-
schutzmaßnahmen für besonders energieintensive Industriezweige und zeigt Optionen für den
Erhalt ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf.
Behauptung: Der „Offene Brief“ behauptet zu Unrecht, die Studie würde Verlagerungseffekte
nicht berücksichtigen, wonach Unternehmen wegen Klimaschutzmaßahmen ins Ausland abwan-
dern müssten.
Richtig ist: Klimaschutz ist kein deutscher Sonderweg, sondern eingebettet in die europäischen
Klimaziele. Auch die internationale Staatengemeinschaft, inklusive der Entwicklungs- und Schwel-
lenländer, hat Emissionsminderungsziele unter dem Pariser Klimaabkommen vereinbart. Die Um-
setzung bisheriger Klimaschutzinstrumente in Europa berücksichtigt die Folgen für die Wettbe-
werbsfähigkeit der Industrie beispielsweise durch kostenlose Allokation von Emissionsrechten im
europäischen Emissionshandel. Die europäische Kommission hat gerade im ‘Fit for 55’-Gesetzes-
paket einen Vorschlag für einen Grenzausgleichsmechanismus vorgelegt, der vermeiden soll,
dass die europäischen Anstrengungen zur Emissionsreduktion durch höhere Emissionen außer-
halb der EU kompensiert werden, indem eine Verlagerung energieintensiver Produktion in andere
Länder mit geringeren Umweltauflagen stattfindet. Solche Regelungen müssen jedoch mindes-
tens auf europäischer Ebene getroffen werden und sind daher nicht im Fokus der Betrachtungen
der Studie “Klimaneutrales Deutschland”.
Die Wettbewerbsfähigkeit und mögliche Verlagerungseffekte für die von der Transformation inten-
siv betroffenen Industriezweige (Stahlindustrie, chemische Grundstoffe, Zementindustrie, sowie
die Produktion von Glas, Kalk, Nichteisenmetallen und Papier, sowie die Bereitstellung von Pro-
zesswärme) werden im Szenario KN2045 – entgegen der Darstellung im „offenen Brief“ vom 15.
August – analysiert und dargestellt. Die Behauptung, dass diese Betrachtungen fehlten, ist
schlicht falsch. Dabei wird insbesondere die spezifische Ausgangssituation deutscher Industrie-
standorte betrachtet und Strategien aufgezeigt, wie diese Standorte wettbewerbsfähig bleiben
können (siehe Abschnitt 3.2.4 „Einblicke in die Transformation der Industriebranchen’). Dabei
werden explizit Strategien und Technologiepfade benannt, die es ermöglichen die Produktions-
standorte in Deutschland zu sichern. Agora Energiewende und das Wuppertal Institut haben seit
2019 hierzu in mehreren Studien konkrete Vorschläge erarbeitet, u.a. in der Studie „Klimaneut-
rale Industrie“, siehe https://www.agora-energiewende.de/veroeffentlichungen/klimaneutrale-
industrie-hauptstudie/.
Es wurde auch detailliert betrachtet, wie die Versorgungssicherheit im Stromsystem auch zukünf-
tig gewährleistet wird, u.a. durch den Bau und die Vorhaltung von genügend Kraftwerken, Ausbau
der Stromspeicher, Stromhandel mit dem Ausland und die Aktivierung von Flexibilitätspotenzialen
auf der Nachfrageseite. Abbildung 19 in Abschnitt 3.1.4 stellt die Ergebnisse zusammenfassend
dar.
Seite 7
6 Verhaltensänderungen
Fakt: Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ schreibt unser heutiges Verhalten bei Mobi-
lität, Wohnen und Ernährung fort; der Schwerpunkt der analysierten Klimaschutzinstrumente liegt
auf technischen Lösungen und Energieeffizienz.
Behauptung: Der „Offene Brief“ behauptet zu Unrecht, die Studie lege umfangreiche Verhaltens-
änderungen der Bevölkerung für den Klimaschutz zugrunde, die künftige Generationen in ihrem
Verhalten einschränken würde.
Richtig ist: Klimaneutrales Deutschland 2045 setzt gerade nicht auf umfangreiche oder politisch
verordnete Verhaltensänderungen der Bevölkerung, sondern v.a. auf den Einsatz klimafreundli-
cher Technologien und Effizienzsteigerungen.
Im Bereich der Mobilität bleibt die Personenverkehrsleistung insgesamt auf dem heutigen Niveau.
Die Menschen verzichten also nicht auf Wege, legen diese aber stärker in Elektrofahrzeugen,
Fahrzeugen mit höherer Auslastung, mit dem öffentlichen Verkehr und per Rad oder zu Fuß zu-
rück (siehe Abbildung 42). Durch den Ausbau eines attraktiven öffentlichen Verkehrs, Carsharing
oder die Verbesserung der Infrastruktur für den Radverkehr werden die Verhaltensoptionen für
künftige Generationen entscheidend erweitert und nicht eingeschränkt, wie durch den Arbeits-
kreis unterstellt. So werden 55 Prozent der Minderungen im Verkehrssektor im Jahr 2030 durch
die Elektrifizierung des Pkw-Bestandes erreicht und 22 Prozent durch einen Umstieg auf umwelt-
freundliche Verkehrsmittel.
Die Güterverkehrsleistung steigt aufgrund des Wirtschaftswachstums im Szenario sogar weiter
an. Für den internationalen Personenluftverkehr wird im Zeitraum 2017-2040 ein weiterer jährli-
cher Anstieg von durchschnittlich einem Prozent hinterlegt. Das liegt niedriger als die historischen
Trends (2010-2018: 3 Prozent jährlich), da angenommen wird, dass sich die Anzahl der
Seite 8
Berufsreisen durch eine zunehmende Anzahl von digitalen Treffen und virtuellen Konferenzen ab-
schwächt. Auch dieser Trend lässt sich derzeit bereits klar beobachten. Digitale Treffen und virtu-
elle Konferenzen stellen ebenfalls erweiterte Verhaltensoptionen dar, deren umfassende Nutzung
seit der Covid19-Pandemie wohl kaum bestritten werden kann.
In der Landwirtschaft wird der bestehende Trend einer steigenden Nachfrage nach pflanzlichen
und synthetischen Ersatzprodukten für Fleisch und Milch fortgeschrieben, der sich ebenfalls be-
reits heute in den meisten Supermärkten in der Angebotspalette spiegelt. Die angenommene
Steigerungsrate liegt in der Mitte des Spektrums der verfügbaren Prognosen. Der bereits heute
vorhandene Trend eines moderaten Rückgangs des Milchkonsums wurde fortgeschrieben, eben-
falls die Verschiebung des Fleischkonsums hin zu mehr Geflügel. Es werden damit keine massi-
ven Verhaltensänderungen unterstellt, sondern vorhandene gesellschaftliche Trends fortgeschrie-
ben. Auch diese Trendannahmen führen zu einer Erweiterung der Verhaltensoptionen und keines-
wegs zu einer Einschränkung der künftigen Generationen.
Im Gebäudebereich wird ebenfalls angenommen, dass die Ausstattung der Haushalte mit Haus-
haltsgeräten, Informations- und Kommunikationstechnik weiter leicht ansteigt. Die Entwicklung
der Wohnfläche ist an die Bevölkerungsentwicklung, die Demographie (Anteile der Haushaltsgrö-
ßen) und die Wohlstandsentwicklung geknüpft. Die Pro-Kopf-Wohnfläche steigt im Szenario wei-
terhin leicht an. Auch in diesem Bereich resultieren die Emissionsminderungen nicht aus Verhal-
tensänderungen, sondern aus energetischer Sanierung des Gebäudebestands, effizienten Neu-
bauten und einer tiefgreifenden Umstellung der Wärmeversorgung auf emissionsarme Technolo-
gien.
Verhaltensänderungen im Hinblick auf höhere Suffizienz, die in der Studie Klimaneutrales
Deutschland 2045 gerade nicht modelliert und einberechnet wurden, sind aus Sicht der Autor*in-
nen jedoch wahrscheinlich und könnten die Zielerreichung im Verkehr, der Landwirtschaft oder
einen reduzierten Energieverbrauch weiter beschleunigen.
7 Versorgungssicherheit im europäischen Verbund
Fakt: Die Versorgung mit Energie in Europa wird über europäische Verträge sichergestellt und es
bestehen keine Gründe anzunehmen, dass in Zukunft mehrere Mitgliedstaaten gleichzeitig grenz-
überschreitende Stromlieferungen verweigern werden.
Behauptung: Der „Offene Brief“ behauptet zu Unrecht, dass damit gerechnet werden muss, dass
das europäische Verbundnetz nicht funktioniert und sich mehrere Länder gleichzeitig abkoppeln
könnten, um nur noch ihre eigene Bevölkerung versorgen
Richtig ist: Die Versorgungssicherheit im Europäischen Verbundsystem wird unter anderem durch
das European Resource Adequacy Assessment (ERAA)11 für das Gesamtsystem und für die
11 https://ec.europa.eu/energy/sites/default/files/methodology_for_the_european_resource_adequacy_assessment.pdf
Seite 9
Länder Österreich, Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Niederlande und die Schweiz
durch das Generation Adequacy Assessment12 des Pentalateral Energy Forum bewertet. Dabei
kommen probabilistische Verfahren zum Einsatz, die auch Extremsituationen abbilden und das
wirtschaftlich sinnvolle Niveau an Versorgungssicherheit bestimmen können.
Hinzu kommt, dass die Entscheidung eines Landes sich vom Europäischen Verbundsystem abzu-
trennen - was physisch erfolgen müsste - sich nachteilig auf die Versorgungssicherheit des Lan-
des auswirken würde, da z.B. bei einem plötzlichen Ausfall eines Kraftwerks keine Regelleistung
aus den Nachbarländern mehr abgerufen werden könnte. Ausgleichseffekte bei der Stromerzeu-
gung und dem Strombedarf zwischen den Ländern können dann ebenfalls nicht genutzt werden.
Aus diesen Gründen ist das Eintreten der skizzierten Situation, also des Aussetzens von grenz-
überschreitenden Stromlieferungen in europäisch gleichzeitig stattfindenden Mangellagen, nicht
zu erwarten. Vielmehr haben gerade die in den vergangenen Jahren aufgetretenen Notsituationen
aufgrund von Kraftwerksausfällen (z.B. in Rumänien Anfang dieses Jahres) gezeigt, dass in sol-
chen Situationen die Übertragungsnetzbetreiber in ganz Europa stets gemeinsam daran arbeiten,
die Netzstabilität zu sichern.
8 Instrumentenvorschläge zur Realisierung der Transformation
Fakt: Die Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ legt neben technischen Lösungsvorschlä-
gen (in Form von klimapolitischen Instrumenten) auch Strategien und Fahrpläne für die politische
Umsetzung vor.
Einwand: Der „Offene Brief“ wendet ein, die Studie unterschlüge Fragen zur politischen Realisie-
rung im Rahmen demokratischer Strukturen.
Richtig ist: Bei der Studie „Klimaneutrales Deutschland 2045“ handelt es sich um eine komplexe
und anspruchsvolle Analyse eines Zielszenarios für die Klimaneutralität 2045. Mit einem solchen
Szenario kann untersucht werden, ob und wie ein in der Zukunft liegendes komplexes Ziel zu er-
reichen ist, mit ihm werden also Schlüsse aus zukünftigen Anforderungen auf zeitlich zuvor lie-
gende Eigenschaften des Systems abgeleitet. Die Beschreibung von politischen Instrumenten zur
Erreichung des Zielszenarios war nicht die Aufgabe der Studie, sondern Gegenstand von Folge-
projekten der drei Auftraggeber.
Die zugrundeliegenden Berechnungen wurden mit aktuellen, jahrzehntelang erprobten und aner-
kannten Bottom-up-Modellen, die die sektoralen Abgrenzungen der Energie- und Treibhausgasbi-
lanzen abbilden, durchgeführt. Diese Modelle bilden die Verbraucher und Erzeuger in den einzel-
nen Sektoren technologisch differenziert ab. Insbesondere werden die unterschiedlichen Lebens-
dauern und Investitionszyklen der jeweils eingesetzten Technologien berücksichtigt. Hieraus erge-
ben sich Schlussfolgerungen auf benötigte Umsteuerungen im Zeitablauf, um stranded
12 https://www.benelux.int/files/4515/8998/1576/PENTAreport_FINAL.pdf
Seite 10
investments zu vermeiden. Hierbei werden unter der Zielsetzung der Klimaneutralität die geeigne-
ten und notwendigen Technologien unter Berücksichtigung der Investitionszyklen im Zeitverlauf
umgesetzt.
Erst wenn bekannt ist, wie das Ziel technisch erreicht werden kann, können sinnvollerweise politi-
sche Strategien und Meilensteine abgeleitet werden. Diese Meilensteine (Was muss bis wann pas-
sieren?) werden in der Studie benannt.
Aufbauend auf diesen Szenarien und Meilensteinen haben die Auftraggeber, Stiftung Klimaneutra-
lität, Agora Energiewende und Agora Verkehrswende auf der Grundlage zahlreicher zusätzlicher
Studien und Gutachten konkrete und kurzfristig umsetzbare Instrumentenvorschläge erarbeitet,
mit denen sich die Ziele und Meilensteine der Szenarienstudie „Klimaneutrales Deutschland
2045“ umsetzen lassen. Diese 50 Vorschläge wurden im Juni 2021 von den drei Organisationen
gemeinsam veröffentlicht, unter dem Titel: „Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutsch-
land“.13
In Summe liegt damit zusätzlich zu den technisch-ökonomischen Analysen der Szenarienstudie ein
umfassender, sehr konkreter und praktisch umsetzungsreifer Fahrplan für den Weg zur Klimaneut-
ralität vor.
13 Stiftung Klimaneutralität, Agora Energiewende, Agora Verkehrswende (2021): Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutsch-
land, https://www.stiftung-klima.de/de/politikempfehlungen/
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Studie zur Klimaneutralität 2045
Offener Brief und Fragen zur Qualitätssicherung in öffentlichen Publikationen
An Martin Weiß
und die Autoren und Auftraggeber der Studie “Klimaneutrales Deutschland 2045”:
PROGNOS AG, WUPPERTAL INSTITUT und ÖKO-INSTITUT
AGORA ENERGIEWENDE, AGORA VERKEHRSWENDE und STIFTUNG KLIMANEUTRALITÄT
Die Reaktion auf unsere Kritik an KN2045 bestätigt diese überwiegend
29. Aug. 2021
Sehr geehrter Herr Weiß, sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Zusendung Ihres Antwortschreibens vom 27. August 2021. Wir begreifen sie
als verpasste Chance, über die von uns gerügten Qualitätsmängel der Studie KN20451 ins
Gespräch zu kommen. Wir entnehmen Ihrer Reaktion, dass KN2045 zwar mit enormem Aufwand
in einer detaillierten Bottom-up-Rechnung erstellt wurde, die Wahl der Input-Parameter und der
Berechnungsmethodik aber in Teilen auf einer einseitigen Quellenauswahl beruht, die den
internationalen Stand des Wissens außer Acht lässt und somit in Gefahr gerät, eine „deutsche“
Energiewissenschaft zu repräsentieren, fernab des weltweiten wissenschaftlichen Mainstreams.
Wir begründen diese Beobachtung weiter unten im Detail. Ferner vermissen wir nach wie vor
genauere systemische Betrachtungen in Bezug auf heutige Regelungen insbesondere der
Energiemärkte, geeignete Stresstests zur Untersuchung des in KN2045 entwickelten
Szenarios und der Wege dorthin, sowie ganz besonders das Fehlen der vier notwendigen
Bilanzen über Energie, CO2-Emissionen, Kosten und Rohstoffe. Gerade der letzte Punkt
war unser wichtigster Kritikpunkt, weswegen wir ihn ganz an den Anfang der Kurzfassung
gestellt, sozusagen vor die Klammer gezogen haben. Leider haben Sie übersehen ihn zu
adressieren. Nichtsdestotrotz ist gerade die Rohstoffsicherung für Energiewendetechnologien ein
Feld, das in Deutschland weit weniger aggressiv betrieben wird wie beispielsweise in China.
Damit entstehen für Deutschland neue Rohstoffabhängigkeiten, die in KN2045 ignoriert werden.
1 Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045. Wie Deutschland seine
Klimaziele schon vor 2050 erreichen kann. Zusammenfassung im Auftrag von Stiftung Klimaneutralität,
Agora Energiewende und Agora Verkehrswende.
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Allein daran zeigt sich, dass die KN2045-Studie nicht belegt, ob für den Umbau der industriellen
Prozesse genügend Ideen, Energie, CO2-Restbudget, Geld und Rohstoffe zur Verfügung stehen.
Wie angekündigt werden wir in diesen Tagen unsere Kritik, Ihr Antwortschreiben und diese Replik
öffentlich machen, damit sich andere Wissenschaftler, Journalisten, Politiker und Bürger ein
umfassendes Bild von der Qualität der KN2045-Studie und unserer Kritik daran machen können.
Dennoch vielen Dank für Ihre Bemühungen und
mit freundlichen Grüßen
Dr. Björn Peters
bjoern.peters energie-naturschutz.de
Prof. Dr.-Ing. Holger Watter
holger.watter hs-flensburg.de
Dr.-Ing. Peter Preusser
preusser senior-energy-experts.de
Prof. Dr.-Ing. Thomas Willner
Thomas.Willner haw-hamburg.de
www.ak-energie-naturschutz.de
- 3 -
Klimaneutrales Deutschland 2045
Eine Auseinandersetzung mit den Antworten der Studienautoren auf
unseren Offenen Brief vom 15. August 2021
https://www.agora-energiewende.de/veroeffentlichungen/klimaneutrales-deutschland-2045
2
Klimaneutrales Deutschland 2045 3
Eine Auseinandersetzung mit den Antworten der Studienautoren auf unseren Offenen Brief
vom 15. August 2021 3
I. Bedarfsprognose für Strom und Wasserstoff 4
II. Technologischer Lösungsraum 4
III. Infraschall und Flächenbeanspruchung durch erneuerbare Energien 6
IV. Schwankende Stromerzeugung durch ‚erneuerbare‘ Energien und Netzstabilität 10
V. Globale Produktionsverlagerungen 12
VI. Verhaltensänderungen 14
VII. Versorgungssicherheit im europäischen Verbund 14
VIII. Instrumentenvorschläge zur Realisierung der Transformation 15
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I. Bedarfsprognose für Strom und Wasserstoff
Die bisher vorliegenden Studien zur Klimaneutralität 2045 zeigen große Unterschiede hinsichtlich
des Strombedarfs im Jahr 2045. Wir haben u.a. darauf hingewiesen, dass Fraunhofer in seiner
Studie auf etwa den anderthalbfachen Wert gegenüber Ihrer Abschätzung kommt. Die
Unterschiede liegen wahrscheinlich zum großen Teil darin, wie man den Wasserstoffbedarf
insgesamt und den Anteil aus der heimischen Produktion mit grünem Strom abschätzt. DIW nennt
in einer kürzlich veröffentlichten Studie einen ähnlich hohen Strombedarf wie KN2045. Allerdings
soll darin der Bedarf für die gesamte Wasserstoffproduktion im Inland enthalten sein.
Für eine Strombedarfsprognose, die Grundlage der Ausbauplanung bis 2045 sein soll, fehlt eine
Abschätzung, wie viel und zu welchen Kosten Wasserstoff aus heimischem grünem Strom
bereitgestellt werden kann.
Den Bedarfsprognosen in KN2045 und ähnlich gelagerten Studien ist gemeinsam, dass sie die
jüngst geäußerten Anforderungen der Industrie außer Acht lassen. So hat die Chemische
Industrie geäußert, dass sie ihre Produktion auf CO2-neutrale Verfahren umstellen kann mit ca.
685 TWh an sauberer Energie zu 40 EUR/MWh (VCI 20192). Ähnlich hat sich die Stahlindustrie
geäußert, die für eine Umstellung der Produktion auf CO2-neutrale Verfahren einen zusätzlichen
Wasserstoffbedarf in Höhe von 130 TWh angemeldet hat (Wirtschaftsvereinigung Stahl 20193).
Das BMWi hat jüngst die Bedarfsprognosen für Strom, auf denen viele Studien beruhen, nach
oben korrigiert4. Ob weit genug nach oben, erscheint im Lichte obiger Aussagen zweifelhaft.
Was bedeutet es nun, wenn diese industriellen Strombedarfe nicht eingeplant sind? Dass die
energieintensive Industrie ins Ausland abwandern möge?
In Bezug auf „grünen Wasserstoff“ fehlen die Betrachtungen der verringerten Performance der
Elektrolyseure wegen des schwankenden Sonnen- und Windangebots und des zeitlich
schwankenden Leistungsvermögens und die damit verbundenen Performance bei der
Wasserstofferzeugung (vgl. dazu die Darstellungen im „AGORAmeter“ und die Ausführungen unter
III.3 unseres Schreibens vom 15. August 2021, die ja im Antwortschreiben ausdrücklich „nicht
Berücksichtigung finden konnte“).
II. Technologischer Lösungsraum
Der Weltklimarat IPCC sieht als Lösungen zur Verringerung von CO2-Emissionen vor allem den
Ausbau von Umgebungsenergien, Carbon Capture & Storage (CCS) und die Kernenergie an. In
der deutschen Politik werden die letzteren beiden Optionen weitgehend ignoriert.
In Bezug auf CCS spricht KN2045 (S. 98 ff.) ausführlich verschiedene technische Verfahren zur
Abtrennung und Speicherung von CO2 aus Punktquellen an. Die geologische Endlagerung wird in
der Tat in KN2045 einbezogen, auch wenn konstatiert wird, dass das Gesetz zur Demonstration
2 Verband der Chemischen Industrie, Roadmap Chemie 2050, Auf dem Weg zu einer treibhausgasneutralen
chemischen Industrie in Deutschland, 9. Oktober 2019, https://www.vci.de/vci/downloads-
vci/publikation/2019-10-09-studie-roadmap-chemie-2050-treibhausgasneutralitaet.pdf.
3 Wirtschaftsvereinigung Stahl, Der Beitrag der Stahlindustrie zu einer klimaneutralen Wirtschaft in 2050,
23. Mai 2019, https://www.stahl-online.de//wp-content/uploads/201905_WV-
Stahl_Beitrag_klimaneutrale_Wirtschaft1.pdf.
4 https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2021/07/20210713-erste-abschaetzungen-
stromverbrauch-2030.html
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der dauerhaften Speicherung von Kohlendioxid (KSpG) die geologische Speicherung – die größte
potentielle CO2-Senke – auf Demonstrationsanlagen beschränkt ist, „wobei die Antragsfrist für
solche Anlagen abgelaufen“ sei. Hintergrund ist, dass der politische Wille zur geologischen
Endlagerung in Deutschland fehlt und es aktuell keine politische Debatte darüber gibt5.
In Asymmetrie hierzu wird bei der Kernenergie deren Nichteinbeziehung in KN2045 mit dem
Ausstiegsbeschluss des Jahres 2011 begründet. Diese Entscheidung betrachten wir als
kurzsichtig. Erstens schwindet mittlerweile (Stand 2021) die Unterstützung für den Atomausstieg in
der deutschen Bevölkerung (Allensbach) während sogar eine relative Mehrheit der Bevölkerung für
den Einsatz der Kernenergie für die Erreichung der EU-Klimaziele ist (Civey)6.
Zweitens passt es nicht zum Anspruch von wissenschaftlichen Instituten, die Ablehnung von
Kernenergie mit Studien zu begründen, die wissenschaftlichen Ansprüchen bei weitem nicht
genügen. Die im Antwortschreiben angeführte Studie von Wealer et al. (2021)7 beruht
ausgerechnet auf einer Veröffentlichung im DIW-Wochenbericht im Jahr 20198, die eine
vernichtende Kritik in einer referierten Fachzeitschrift erfuhr9. In der Kritik wurde dargelegt, dass
die Autoren sehr einseitig Quellen und teils unwissenschaftliche Meinungsartikel ausgewählt
hatten, um ihre Aussagen zu begründen, unplausible Annahme getroffen hatten und das
Handwerkszeug der Kraftwerksfinanzierung nicht ausreichend beherrschen. Die Schlussfolgerung
des Papiers war daher nicht durch die vorgenommenen Analysen belegt. Die Autoren
errechneten, dass sämtliche Kernkraftwerksprojekte ein finanzielles Desaster wären, so als ob die
Projektierer in Abu Dhabi und vielen europäischen Ländern nicht rechnen könnten. Eine Antwort
von Wealer et al. auf die Kritik steht noch aus. Ob die gravierenden Kritikpunkte bis zur
Veröffentlichung der Arbeit in der Fachzeitschrift Renewable and Sustainable Energy Reviews
berücksichtigt wurden, konnten wir in der Kürze der Zeit noch nicht nachvollziehen.
Demgegenüber scheinen die weltweit anerkannten Publikationen zu den Kosten der Kerntechnik in
deutschen Wissenschaftlerkreisen wenig bekannt zu sein, und neuere Trends in der Kerntechnik,
bspw. hin zu inhärent sicheren Reaktorprinzipien, werden dadurch ausgeklammert10.
5 Siehe dazu auch die entsprechende Seite des UBA,
https://www.umweltbundesamt.de/themen/wasser/gewaesser/grundwasser/nutzung-belastungen/carbon-
capture-storage#ccs-im-emissionshandel
6 Vgl. hierzu https://nuklearia.de/2021/06/16/umfragen-mehrheit-der-deutschen-will-kernkraft-fuer-den-
klimaschutz-2/ oder auch https://civey.com/umfragen/16278/inwiefern-stimmen-sie-der-aussage-zu-
kernkraftwerke-sollten-nicht-abgeschaltet-werden-damit-kohlekraftwerke-fruher-vom-netz-genommen-
werden-konnen
7 Wealer, Ben, Simon Bauer, Christian von Hirschhausen, Claudia Kemfert, und Leonard Göke. 2021.
„Investing into third generation nuclear power plants – Review of recent trends and analysis of future
investments using Monte Carlo Simulation“. Renewable and Sustainable Energy Reviews 143.
https://doi.org/10.1016/j.rser.2021.110836.
8 Ben Wealer, Simon Bauer, Leonard Göke, Christian von Hirschhausen und Claudia Kemfert, „Zu teuer und
gefährlich: Atomkraft ist keine Option für eine klimafreundliche Energieversorgung“, DIW Wochenbericht, 86.
Jahrgang, 24. Juli 2019. 19-30.pdf (diw.de)
9 Anna Veronika Wendland und Björn Peters, „Das DIW-Papier über die ‚teure und gefährliche‘ Kernenergie
auf dem Prüfstand“, atw Vol. 64. (2019), Ausgabe 10 / Oktober. https://www.kernd.de/kernd-
wAssets/docs/fachzeitschrift-atw/artikel/atw_2019-10_wendland_peters.pdf
10 Besonders empfehlenswert die Studie „The Future of Nuclear Energy in a Carbon-Constrained World”,
MIT, 2018, https://energy.mit.edu/wp-content/uploads/2018/09/The-Future-of-Nuclear-Energy-in-a-Carbon-
Constrained-World.pdf, oder die neuen und innerhalb eines Jahrzehnts umsetzbare Entwicklungen in der
Kerntechnik, die Strom für 10 EUR/MWh versprechen (www.dual-fluid.com).
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In der Antwort auf den Offenen Brief wird zudem ein fundamentaler und unverzeihlicher Fehler
begangen, der in der deutschen und internationalen Energiewissenschaft11 dennoch häufig
anzutreffen ist. Dies ist die Vermengung von betriebswirtschaftlichen Bezugsgrößen wie der
Levelized Cost of Energy mit volkswirtschaftlichen Größen wie den Energiesystemkosten auf
Ebene von Endnutzern. Während bei regelbaren thermischen Kraftwerken der Unterschied
zwischen LCOE und Endnutzerkosten im Wesentlichen durch die Kosten der Stromnetze und
staatlichen Abgaben geprägt ist, somit nicht stark ins Gewicht fällt, ist der Unterschied bei
wetterabhängigen Erzeugern von den Kosten für Speichertechnologien, Lastmanagement, und
Anpassung von Produktionsprozessen usw. geprägt, die die rein betriebswirtschaftlichen Kosten
des LCOE von Solar- und Windenergie um ein Vielfaches übersteigen können. Eine LCOE-
Betrachtung verbietet sich daher bei Energiesystemstudien.
III. Infraschall und Flächenbeanspruchung durch erneuerbare
Energien
Die von den Autoren der KN2045-Studie in Ihrer Antwort angeführten Studien sind insgesamt nicht
geeignet, die Frage eines kausalen Zusammenhanges zwischen Infraschall von Windenergie-
anlagen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu klären. Es ist grundsätzlich zu hinterfragen,
ob die – auch in der TremAc-Studie12 – vorgenommen Diskriminierung zwischen Belästigung und
gesundheitlichen Effekten gerechtfertigt ist, da aus einer Belästigung durchaus ein
gesundheitlicher Schaden resultieren kann.
Die wesentlichen Ergebnisse der BGR-Studie13 – Signale von WEA sind noch in 15 km Entfernung
detektierbar – bleiben unverändert bestehen und korrespondieren mit finnischen14 und austra-
lischen15 Untersuchungen. Die bei den angeführten Messungen erzielten Schalldruckpegel dürften
bei den heutigen leistungsstärkeren Anlagen um ein Vielfaches übertroffen werden. Schon deshalb
ist der Umrechnungsfehler für die Beurteilung einer gesundheitlichen Wirkung völlig irrelevant. Die
Korrektur der BGR ändert nicht weder die von WEA real emittierten Schalldruckwerte noch die
grundsätzlichen Stresswirkungen von Infraschall, die auf verschiedenen Ebenen des Organismus
gefunden wurden: bei Membranstrukturen und der zellulären Kommunikation, im Gleichgewichts-
system und bei Aktivierung distinkter Gehirnbereiche im Unterbewusstsein.
11 s. als Beispiel S Becker et al., Features of a fully renewable US electricity system: Optimized mixes of
wind and solar PV and transmission grid extensions, Energy 72 (2014) 443-458.
12 TremAc. Schlussbericht zu den Teilvorhaben Umweltpsychologische Analyse der Windenergie-
Immissionswirkungen
auf Akzeptanz und Wohlbefinden der Anwohner und Umweltmedizinische Analyse der Wirkung von
Windenergieanlagen
auf Gesundheit und Wohlbefinden von Anwohnern/innen. Halle (Saale) und Bielefeld, 31. Januar 2020. FKZ:
0325839F und 0325839E, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
13 The influence of periodic windturbine noise on infrasound array measurements. Christoph Pilger, Lars
Ceranna. Journal of Sound and Vibration 388(2017) 188–200. http://dx.doi.org/10.1016/j.jsv.2016.10.027
14 Infrasound from wind turbines is a new signal in the environment. Finland. Aunio Group Oy from Oulu.
Kauppa Suomi. Week 34 2017. http://en.friends-against-wind.org/doc/Infrasound-Aunio-Group-34_2017-
1.pdf
15 Flinders University's five-year study looks into wind farms' effects on health. ABC Radio Adelaide. By Sara
Garcia. Updated 25 Jan 2018 https://www.abc.net.au/news/2018-01-25/study-to-find-out-if-wind-farms-really-
affect-your-health/9360922
- 7 -
Die LUBW-Studie16 steht im krassen Widerspruch zu den oben genannten Untersuchungen. Ein
zentraler Fehler ist die Vorstellung, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen mit der Hör- oder
Wahrnehmungsschwelle korreliert sind. Entscheidend ist die Wirkschwelle, die deutlich darunter
liegen dürfte. Zur Verdeutlichung sei auf UV-Licht oder Röntgenstrahlen hingewiesen, bei denen
der Unterschied zwischen Wirk- und Wahrnehmungsschwelle sehr klar wird. Auch der immer
wieder gerne vorgenommene Vergleich mit natürlichen oder anderen technischen
Infraschallquellen (Verkehr) übersieht die eigentliche Problematik: die speziellen, nur von
Windkraftanlagen produzierten Signaturen (Amplitudenmodulation), die z.B. von der australischen
Arbeitsgruppe um Kristy L. Hansen von der Flinders University Bedford Park, Australien, als
entscheidend herausgestellt wird: Amplitudenmodulation (AM) ist ein charakteristisches Merkmal
von Windparklärm und kann zu Belästigung und Schlafstörungen beitragen17 18 19 20.
Die angeführte Studie aus Halle (TremAc-Studie)21 war nicht dazu ausgelegt und nicht dazu
geeignet, einen kausalen Zusammenhang zwischen Infraschall von WEA und Anwohnern
herzustellen, allein schon deshalb, weil eine Abgrenzung von hörbarem und Infraschall nicht
möglich war. Das vom Windrad verursachte Schalldruckfeld ist mit sehr komplexen Modellen und
mit hohem rechnerischem Aufwand über Simulationsrechnungen nur in einer groben Näherung
prognostizierbar. Aufgrund der sich ständig ändernden vielfältigen Randbedingungen bedarf es
dazu Messungen über sehr lange Zeiträume. Somit werden Langzeitmessung am Ort der
Einwirkung auf den Menschen zum Schlüssel, um die Frage der Gesundheitsgefährdung im
Nahfeld von Windrädern zu beurteilen.
Die Studie führt aus: „Bei durch WEA-Geräusche stark Belästigten lässt sich ein klares Muster
einer Stressreaktion feststellen… Direkte Kausalitätsnachweise oder verallgemeinernde
Aussagen über gesundheitliche Folgen von WEA-Immissionen für Anwohner/innen sind im
Rahmen des TremAc-Vorhabens nicht möglich und auch explizit nicht das Ziel des
Vorhabens bzw. der umweltmedizinischen Befragung… Eine Ableitung von konkreten
Maßnahmen zum vorbeugenden Gesundheitsschutz bei WEA-Anwohnern/innen ist an dieser
Stelle aus umweltmedizinischer Sicht noch nicht möglich. Es wird empfohlen, eine größere
Datenbasis auf Grundlage einer systematischen, „ganzheitlichen Anamnese“ einer größeren
Stichprobe von Beschwerdeträgern/innen zu schaffen… In folgenden interdisziplinären Studien
sollten gezielt weitere Problemwindparks untersucht werden, indem eine größere Stichprobe von
Anwohnern/innen befragt werden, stark Belästigte identifiziert und diese für akustische Messungen
zu Hause und Erfassung von Beschwerden über einen längeren Zeitraum gewonnen werden.“
Eine Wirkschwelle, die auf einem Dosis-Wirkungs-Konzept beruht, in dem auch die Summen-
wirkung (z.B. einzelne WEA oder „Windpark” zu berücksichtigen ist, ist den Autoren der TremAc-
Studie offensichtlich unbekannt.
16 Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg. Tieffrequente Geräusche inkl. Infraschall von
Windkraftanlagen und anderen Quellen. Bericht über Ergebnisse des Messprojekts 2013-2015. Februar
2016 (3. Auflage, Februar 2020). https://pudi.lubw.de/detailseite/-/publication/84558
17 Characterizing tonal amplitude modulation of wind farm noise. Duc-Phuc Nguyen, Kristy Hansen, and
Branko Zajamsek. Proceedings of ACOUSTICS 2018. 7-9 November 2018, Adelaide, Australia.
18 Phuc D. Nguyen et al. Sleep acceptability and its penalties of broadband amplitude-modulated wind farm
noise: A novel methodology for listening tests. Applied Acoustics 183 (2021) 108286.
https://doi.org/10.1016/j.apacoust.2021.108286
Mahmoud Alamir. Abstract Inter-Noise Seoul 2020, 23.-26.8.20.
19 Benchmark characterisation and automated detection of wind farm noise amplitude modulation.
20 Phuc D. Nguyen et al. Long-term quantification and characterisation of wind farm noise amplitude
modulation. Measurement Volume 182, September 2021, 109678.
https://doi.org/10.1016/j.measurement.2021.109678.
21 Siehe TremAc 2020 oben.
- 8 -
Damit reiht sich auch diese Studie in die lange Reihe von Studien ein, die seit Jahren „dringenden
weiteren Forschungsbedarf“ herausstellen und die Frage eines Zusammenhanges zwischen
Infraschall von WEA und Gesundheit von Anwohner immer wieder offen lassen und dabei
dokumentieren, dass der Gesetzgeber gröblich gegen das Vorsorgeprinzip verstößt. Die
Medizinjournalistin des Deutschen Ärzteblattes Lenzen-Schulte22 bemerkt zu Recht: „Für ein Land,
das so stark auf Windkraft setzt, sind so geringe Forschungsanstrengungen zu den
gesundheitlichen Risiken höchst blamabel.“
Die Autoren des Offenen Briefes haben kurzfristig zusätzlich eine Fachmedizinerin zur Bewertung
der Infraschall- und Körperschall-Thematik befragt, die zu folgendem, ähnlichem Ergebnis kommt.
1) BGR-Rechenfehler23
Die Korrektur bezieht sich nach Angaben der BGR auf einen systematischen Fehler bei der
Umrechnung des gemessenen Schalldrucks (Einheit: Pascal / Pa) in eine der möglichen
Darstellungsmöglichkeiten des Schalldruckpegels (Einheit: Dezibel / dB). Als Maß der von
Schallwellen übertragenen Kraft wird der Schalldruck in Pascal angegeben und in seiner
logarithmischen Einheit in dB. Zu der Angabe dB gehört die genauere Angabe, wie diese
Umrechnung zustande kam (dB (Pa re ...)). Die Korrektur verändert weder die von WEA
real emittierten Schalldrucke noch ihre biologischen Wirkungen. Der von der BGR
eingeräumte Fehler von 36 dB entspricht einem Faktor von ca. 4.000 oder ca. 63 (d.i. die
Quadratwurzel von 4.000) im Schalldruck – je nachdem wie die Schallausbreitung betrachtet
wird, räumlich und zeitlich.
2) Die Reichweite der Emissionen von WEA und Windparks über mehrere km und der
Vorsorgeaspekt
Insbesondere das Repowering der Anlagen lässt Immissionen überproportional ansteigen.
Die Größenzunahme verschiebt das Infraschallspektrum zu tieferen Frequenzen bis 0,1 Hz,
die Höhenzunahme und Lage der Anlage, sowie Interferenzen mit benachbarten
Windenergieanlagen beeinflussen wesentlich die Reichweite der Immissionen. Aus sozial-
und umweltmedizinischen Aspekten droht eine fortschreitende „Verschallung“ (Alun Evans
2017)24 der Landschaften mit nicht voraussagbaren schädigendem Potential.
Hierzu eine allgemeinere Anmerkung: Die charakteristischen Signaturen des Schalls aus
Windkraftanlagen und das insbesondere im Infraschallbereich von < 0,1 bis 10 Hz wurden
über 50 und auch über 80 km Entfernung völlig unabhängig von der BGR längst vor 2017
gemessen und berichtet. Ständig wird in Berichten und insbesondere Interpretations-
versuchen nicht sauber unterschieden, in welchem Medium der Schall sich ausgebreitet hat
(flüssig, fest, gasförmig … Luft, Boden, Überlagerungen verschiedenster Art). Das BGR misst
entsprechend seiner ursprünglichen Aufgabenstellung bevorzugt das, was im und über den
Boden ankommt. Andere messen bewusst in der Luft, z.B. 1 Meter über dem Boden. Es droht
nicht, sondern es ist bereits ein heilloses Durcheinander in der Berichterstattung, die
reichhaltig emotional, ideologisch und von „Ergebnissen“ durchtränkt ist, bevor noch die
Sachergebnisse in wissenschaftlicher Hinsicht auch nur ordentlich aufgezählt sind!
3) Gesundheitlichen Auswirkungen auf verschiedenen Organebenen
22 „Der Irrtum von der harmlosen Windkraft“. Daniel Wetzel, Welt vom 10.05.2021
https://www.welt.de/wirtschaft/plus230903727/Streit-um-Windraeder-Der-Irrtum-von-der-harmlosen-
Windkraft.html.
23 “The influence of periodic windturbine noise on infrasound array measurements”. Christoph Pilger, Lars
Ceranna. Journal of Sound and Vibration 388(2017) 188–200. http://dx.doi.org/10.1016/j.jsv.2016.10.027.
24 Alun Evans. Environmental Noise Pollution. « Has Public Health Become too Utilitarian?”. January 2017.
Open Journal of Social Sciencies 05(05:80-109).
- 9 -
Unzulänglichkeiten behördlicher Untersuchungen:
Behördliche Untersuchungen, die dem Infraschall aus Windenergieanlagen negative
Wirkungen auf den Menschen als nicht belegt darstellen, haben hauptsächlich in Unkenntnis
der Bewertung des Infraschalls auf biologische Systeme keine dem wissenschaftlichen
Anspruch gerecht werdendes Studiendesign aufgestellt. Dieses darf sich nicht auf die
Untersuchung epidemiologischer Fragestellungen beschränken, sondern erfordert die
Untersuchung der zellulären Ebene. Hinzu kommen weitere vielfältige Fehler im
Studiendesign wie ungeeignete dB(A)-Bewertungen anstelle dB unbewertet, Verwendung
von Terzpegeln und damit Glättung der spezifischen Signatur, fehlende Messung in
Innenräumen, Messungen an Anlagen, die keineswegs mit heutigen vergleichbar sind,
fehlende Bewertungen des möglicherweise interferierenden Körperschalls, viel zu kurze
Einwirkungsdauer und nicht zuletzt der fehlender politische Wille (gilt für LUBW 201625, UBA
201626, Maijala202027 u.a.).
Wissenschaftliche Erarbeitung nach state oft the art:
1) Die nach dem Peer-review-Verfahren durchgeführte Arbeit Roos/Vahl ASU 7/2128 ist mit
wissenschaftlichem Anspruch der Frage schädlicher Auswirkungen nachgegangen. Zitat:
„…können einem potentiellen Stressor mit definierten Eigenschaften (Frequenz,
Schalldruck, Wirkdauer) messbare Veränderungen an einem definierten Objekt (Zelle,
Gewebe, Organ) […] zugeordnet werden.“
Ihr Ergebnis: Ja. Es ergeben sich verwertbare Daten, dass Infraschall ausgehend von
Windenergieanlagen ausreichender Größe plausible Angriffspunkte im Organismus hat.
Dabei ist betroffen: die zelluläre Ebene, bestimmte Hirnareale, die Kontraktionskraft von
Herzmuskelzellen und das Hörorgan. Dies hat außerordentliche Konsequenzen.
2) Die Wahrnehmungsschwelle hat nichts mit der Wirkschwelle zu tun
Auch hier bestätigt sich dies zum wiederholten Mal in der Medizin. Die beiden Begriffe
sollten von Wissenschaftler klarer auseinandergehalten werden. Der eine bezieht sich
auf die bewusste Wahrnehmung eines Signals, der andere auf die Schwelle, ab der
physiologische Wirkungen eintreten können.
3) Der entscheidende Unterschied des Infraschalls zu natürlichen Quellen und
Quellen aus anderen technischen Quellen ist:
a) die spezielle Signatur des von Windenergieanlagen ausgehenden Infraschalls;
b) die chronische Einwirkung, die Reparaturmechanismen des Menschen unterläuft.
Das UBA schreibt 2016:
„Wie von den meisten technischen Anlagen gehen auch von WEA Belastungen aus, die sich
möglicherweise auf die Gesundheit auswirken können. Die Lärmauswirkungen von WEA sind in
25 Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg. Tieffrequente Geräusche inkl. Infraschall von
Windkraftanlagen und anderen Quellen. Bericht über Ergebnisse des Messprojekts 2013-2015. Februar
2016 (3. Auflage, Februar 2020). https://pudi.lubw.de/detailseite/-/publication/84558.
26 UBA Texte 163/2020.(im Auftrag Umweltbundesamt: Lärmwirkungen von Infraschallimmissionen
Abschlussbericht von Univ.-Prof. Dr.-Ing. Detlef Krahé, Juni 2020) Lärmwirkungen von
Infraschallimmissionen.
27 Infrasound does not explain Symptoms related to Wind turbines. Panu Maijala et al., Publications of the
Government`s Analysis, Assessment and Research, 2020:34. ISSN 2342-6799. ISBN 978-952-287.907.3.
28 Roos und Vahl. Infraschall aus technischen Anlagen. Wissenschaftliche Grundlagen für eine Bewertung
gesundheitlicher Risiken. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2021: 56:420-430.
- 10 -
mehreren Studien untersucht worden. Dabei ergaben sich Zusammenhänge zwischen den durch
WEA verursachten Geräuschimmissionen und der empfundenen Lärmbelästigung der Bevölkerung,
die im weiteren Verlauf zum Beispiel zu Störungen des Nachtschlafs führen können.“
Sinngemäß zum Forschungsbedarf Infraschall:
Nicht alle persönlich als belästigend empfundenen Faktoren können zum jetzigen Zeitpunkt
wissenschaftlich erklärt werden, weil für dieses Forschungsfeld, insbesondere im Bereich der
Langzeitforschung, sowohl national wie international weiterhin großer Forschungsbedarf besteht.
Persönliche Bemerkung der Fachärztin:
Man wird noch in Jahrzehnten nicht finden, was man entweder überhaupt nicht sucht bzw.
untersucht oder mit ungeeigneten Mitteln sucht, mit denen man ebenso wenig etwas finden kann.
Daraus den Schluss zu ziehen, dass man so immer weiter argumentieren kann, ohne Vorsorge für
die Menschen zu treffen und zu denken, man stehe nicht in der Verantwortung, alle offenen Fragen
wissenschaftlich abzuklären, bevor man diesen Ausbau weiter betreiben kann, ist der eigentliche
Skandal.
Windkraft und Bestandsgefährdung von Raubvögeln
Weiterhin wird in dem Antwortschreiben der Autoren der KN2045 behauptet: „Konflikte zwischen
Windkraft und Vogelschutz können durch die richtige Standortwahl und die Berücksichtigung
sensibler Vogelvorkommen bei der Planung vermieden werden.“
Dazu gibt es fundamental andere Sichtweisen wie z.B. „Windkraftindustrie und Naturschutz sind
nicht vereinbar“, die Dr. Wolfgang Epple (Zoologe, langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter und
später Landesgeschäftsführer Baden-Württemberg des NABU, vormals Deutscher Bund für
Vogelschutz e.V.) in seiner Denkschrift 2021 auf 272 Seiten umfangreich mit vielen Quellen
erläutert29. Diese Sichtweisen, wiewohl hinreichend belegt, werden von den KN2045-Autoren in
wissenschaftlich unzulässiger Weise komplett ausgeblendet.
IV. Schwankende Stromerzeugung durch ‚erneuerbare‘
Energien und Netzstabilität
Wir haben wohl zur Kenntnis genommen, dass KN2045 für ein historisches Wetterjahr
anspruchsvolle Simulationen durchgeführt hat. Was wir den Studien-Autoren vorwerfen ist, dass
sie nicht untersucht haben, ob die verwendete Zeitreihe aus dem Jahr 2012 das langjährige
Wettergeschehen mit hinreichender Genauigkeit abbilden kann oder nicht. In der Replik auf
unseren Offenen Brief zeigt sich, dass bei den Autoren tatsächlich ein paar grundlegende
Missverständnisse vorliegen, die noch immer nicht ausgeräumt sind.
Erstens behaupten sie ohne weitere Nachprüfung, dass 2012 ein geeignetes Wetterjahr sei.
Systematische Untersuchungen liegen hierzu jedoch nicht vor, da es keine wissenschaftliche
Disziplin gibt, die sich mit ‚Statistischer Energiemeteorologie‘ beschäftigt. Wir haben solche
Untersuchungen in der Vergangenheit angestellt. Die Ergebnisse im Folgenden beziehen sich für
die Jahre 2008 bis 2014 auf Reanalysedaten des Hans-Ertl-Zentrums für Wetterforschung (DWD),
die an der Universität Mainz in eine virtuelle Stromproduktion umgerechnet, gleichverteilt an jedem
Gitterpunkt des dort verwendeten Modells (Cosmo REA6), und anschließend so skaliert wurde,
29 https://naturschutz-initiative.de/geschenke/denkschrift-windkraftindustrie-und-naturschutz-sind-nicht-
vereinbar
- 11 -
dass die Solar- und Windenergie im Mittel genau so viel Energie liefert, wie die deutschen
Stromverbraucher (ohne Eigenstromproduzenten) im Mittel über diese Jahre benötigen30.
Für die Jahre 2015 bis 2020 wurden reale Produktionsdaten aus Solar- und Windkraftwerken
herangezogen, und anschließend so skaliert, dass sie rechnerisch so viel produzieren, wie
Deutschland im Mittel der Jahren 2008 – 2014 verbraucht hat (wieder ohne
Eigenstromproduzenten)31.
Simulierte Produktionsdaten aus COSMO R EA6
Reale Stromproduktionsdaten
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020
Minimum 3.011 1.763 1.188 897 2.290 1.776 1.581
1.453 1.616 1.111 2.258
1.524
1.777
Mittelwert 57.635 56.754 54.961 57.978 57.875 55.337 52.710
54.561 54.768 56.309 58.062
55.355
54.099
Median 53.906 52.119 49.878 54.656 54.639 51.280 47.432
47.604 46.461 50.363 52.469
50.799
50.594
Maximum 170.851 194.423 172.799 192.761 171.699 175.291 168.522
185.415 189.722 184.858 170.500
161.640
165.232
längste
Unterdeckung 153 159 232 310 256 262 357
237 197 267 202
190
229
Im langjährigen Vergleich ist das Wetterjahr 2012 von überdurchschnittlicher Stromproduktion aus
wetterabhängigen Erzeugern und durchschnittlichen Längen der Dunkelflauten geprägt.
Zweitens liegt hier eine riskante Unterlassung vor, die Wissenschaftlern mit Verantwortung für
Politikberatung so nicht unterlaufen sollte. Wenn die Energieversorgung zunehmend auf
wetterabhängige Quellen umgestellt wird, müssen die vorgeschlagenen Energiesysteme zu allen
Zeiten hinreichende Mengen an Energie bereitstellen können. Die Überprüfung der Resilienz
eines Energiesystems gegenüber wetterbedingten Schwankungen sollte daher zur DNA jeder
guten Energiewendestudie gehören. Bereits der oberflächliche Vergleich hier zeigt, dass in der
Zeit von 2008 bis heute das Jahr 2014 mit seinen langen herbstlichen Hochdruckwetterlagen mit
wochenlanger Windstille und Hochnebel, und seiner deutlich unterdurchschnittlichen
Stromproduktion aus Sonne und Wind deutlich geeigneter wären, um die Resilienz eines
Energiesystems aufzuzeigen. Demgegenüber ist 2012 ein geradezu ungeeignetes Wetterjahr, weil
es im Mittel der Beobachtungen liegt und eines der besten Solar- und Windjahre des
Beobachtungszeitraums darstellt.
30 Cagin Güler, „Stromproduktion aus Wind- und Solarenergie unter Berücksichtigung der Meteorologie,
Masterarbeit, Univ. Mainz, Inst. für Atmosphärenphysik, 20. September 2016, erhältl. über Björn Peters.
31 Diese Daten werden von den Netzbetreibern routinemäßig zur Verfügung gestellt.
0
50
100
150
200
250
300
350
400
50.000
51.000
52.000
53.000
54.000
55.000
56.000
57.000
58.000
59.000
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020
Anzahl der Stunden mit längster
Unterdeckung aus Solar- und
Windenergie
Mittlere Produktion aus Solar- und
Windenergie (MW)
Vergleich der Wetterjahre bzgl. Stromproduktion
- 12 -
Generell zeigt sich hier eine zu geringe Beschäftigung der KN2045-Autoren mit statistischen
Verfahren und Denkweisen, die für das Design künftiger Energiesysteme dringend notwendig sind.
Die Weglassung von Risikoanalysen und notwendigen Redundanzen verschärft den Eindruck
noch, dass die KN2045 ungenügend ist zur Beurteilung der Machbarkeit einer Null-CO2-Strategie
bis 2045. Besonders schwerwiegend ist, dass wir in einer Zeit des möglicherweise schnellen
Klimawandels leben, wir uns aber gleichzeitig immer stärker vom Wetter abhängig machen würden
– dies in Umkehrung des zivilisatorischen Trends seit einer Million Jahre. Wenn sich die Statistik
der Witterung gravierend in heute noch nicht absehbares Terrain verschieben kann, müsste dies in
die Berechnungen zu KN2045 in Form von Reserven einfließen, das Thema wird aber von den
Autoren gänzlich ignoriert. Dies ist angesichts des volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Risikos einer Umstellung auf stark wetterabhängige Energiesysteme politisch nicht hinnehmbar
und entwertet den Forschungsansatz in KN2045.
Wir empfehlen, die KN2045-Studie in dieser Hinsicht noch gründlich zu überarbeiten. Uns ist wohl
bewusst, dass sämtliche Studien aus dem Hause Fraunhofer sich mit einem einzigen,
ungeeigneten Wetterjahr begnügen, und dass die KN2045-Autoren diesen ungenügenden Ansatz
unkritisch übernommen haben. Besser ist die Herangehensweise beim IEK-3 in Jülich, wo 35
Wetterjahre für die Energiesystemmodellierung verwendet werden. Auch dies ist noch strukturell
ungenügend, aber über die kommenden Jahrzehnte wird sich ein Datensatz aufbauen, der die
Entscheidungsfähigkeit über wetterabhängige Energiesysteme auf einen hinreichend guten Stand
bringen wird. Dieser ist heute noch nicht gegeben, weswegen alternative Wege dringend
mitzuuntersuchen sind, damit künftige Versionen der Studie wissenschaftlichen Standards
genügen.
V. Globale Produktionsverlagerungen
Für die Industrie sind Versorgungssicherheit und die Stromkosten wesentliche Standortfaktoren. In
KN2045 werden zwar die Transformationsprozesse technisch beschrieben. Es wird herausgestellt,
dass Strom in der Industrie in Zukunft eine größere Rolle spielen wird.
Die Bedeutung der Strompreise gilt nicht nur für die Großchemie – allein BASF hat an den
Standorten Ludwigshafen und Schwarzheide einen Leistungsbedarf von mind. 2 GW mit hoher
Auslastung, sondern auch für zahlreiche andere Branchen wie beispielsweise die Aluminium-
industrie, die übrige Elektrochemie, die Elektrostahl- und die Papierproduktion. Sorgen macht sich
auch die im internationalen Wettbewerb stehende mittelständische Industrie.
Zu den Kosten des Gesamtsystems und den daraus entstehenden Industriestrompreisen gibt die
Studie keine Auskunft.
Dabei geht es nicht nur um globale Produktionsverlagerungen, sondern insbesondere auch um
innereuropäische. Das Augenmerk sollte deshalb ganz besonders auf europäische Länder gelenkt
werden, die entweder bereits eine CO2-ärmere Energiewirtschaft haben wie Frankreich oder die
CO2-Ziele mit anderen kostengünstigeren Konzepten realisieren wollen. Bei dem in KN2045
vorgestellten Konzept ist nicht erkennbar, wie die Strompreiseunterschiede im europäischen
Vergleich eingeebnet werden können.
- 13 -
Schon allein die in der Studie mit 1.000 Volllaststunden pro Jahr angesetzten, mit grünem
Wasserstoff betriebenen „Power Peaker“ schlagen in den Jahresdurchschnittskosten mit 4 bis 5
ct/kWh zu Buche.
In KN2045 wird davon gesprochen, man solle auch mit der Industrie über Demand Side
Management (DSM) sprechen. Für die Aluminiumhütten mag das eine Lösung sein in Zeiten eines
entspannten Aluminiummarktes. Je nach Marktlage muss das DSM mehr oder weniger teuer
vergütet werden, was die Kosten des Gesamtsystems erhöht. Für die Mehrzahl der Industrie-
kunden dürfte der Versuch, über Lastmanagement ins Gespräch zu kommen, ein Anzeichen für
beginnende Strommangelwirtschaft und für eine zunehmend geringere Versorgungssicherheit
sein. Schlimmer noch: Das Ausrichten von Produktions- und Personalplanungen nach
Wetterprognosen mit dem Risiko, dass das Wetter doch anders kommt, wird bei produzierenden
Betrieben zu erheblichen Mehrkosten durch Neugestaltung sämtlicher Produktionsprozesse
führen, die in KN2045 gänzlich ignoriert werden.
Für befremdlich halten wir, dass man gleich davon ausgeht, die Produktion von Plattformindustrien
werde ohnehin zunehmend an andere Standorte wie Rotterdam und Antwerpen verlagert. Auch
Deutschland hat Küstenstandorte, an denen LNG und andere Rohstoffe angelandet werden
können.
Wir halten das Verdrängen von energieintensiven Produktionsprozessen aus Deutschland hinaus
nicht für wirtschaftspolitisch durchsetzbar. Beispielsweise ist in der Stahlindustrie die Produktion
von niederwertigeren Produkten wie Baustahlmatten längst in Länder mit geringeren
Umweltstandards abgewandert. Was heute noch hierzulande mit hohen Energie- und Lohnkosten
- 14 -
produziert wird, sind hoch spezialisierte Stahlprodukte wie Kotflügel, wo die exakten
physikalischen Eigenschaften, die für die Gewichtsreduktion von Automobilen und damit für einen
niedrigeren Kraftstoffverbrauch wichtig sind, durch einen ausgefeilten Fertigungsprozess definiert
werden. Würde die Nähe von Stahlwerken und Automobilherstellern fehlen, könnte die
Abwanderung der Stahlwerke auch die der Automobilhersteller und -zulieferer nach sich ziehen.
Solche sehr wahrscheinlichen sekundären Effekte werden in KN2045 nicht thematisiert, werden
aber aktuell gerade konkret:
„Die saarländische Stahlindustrie orientiert sich daher jetzt in Richtung Ausland. So hat SHS
kürzlich die Werke Ascoval und Rail Hayage in Frankreich vom Konkurrenten Liberty Steel
übernommen. Ascoval solle Dreh- und Angelpunkt für die Produktion von grünem Stahl werden,
heißt es in der entsprechenden Mitteilung. Der dortige Elektrolichtbogenofen ermögliche die
Produktion von Spitzenstahl mit einer CO2-neutralen Bilanz. Der notwendige Strom kommt aus
den französischen Atomkraftwerken. Durch diese neuen Kapazitäten dürfte in Deutschland nun
deutlich weniger umgerüstet werden.
Für die gesamte Branche rechnet Köhler mit einer Reduzierung der Kapazitäten in Deutschland.
„Kein Unternehmen wird die Kapazitäten eins zu eins ersetzen“, prognostizierte er. Stattdessen
werde fehlender Stahl künftig wohl an Orten mit geringeren sozialen und ökologischen
Arbeitsbedingungen erzeugt.“ (Die WELT vom 26.08.2021).
Wir weisen auf ältere Untersuchungen hin, die belegen, dass sich das Nettoanlagevermögen in
den energieintensiven Branchen in Deutschland schon seit etwa zwei Jahrzehnten
unterdurchschnittlich zur Gesamtwirtschaft entwickelt32. Dies fällt zusammen mit der Strategie der
Bundespolitik seit der Jahrtausendwende, systematisch Energieverbrauch zu verteuern.
VI. Verhaltensänderungen
Wir erkennen an, dass KN2045 detaillierte Voraussetzungen nennt, welche Verhaltensweisen der
Bevölkerung angenommen werden, um die Klimaziele zu erreichen. Wir haben nur gerügt, dass
keine Aussagen darüber getroffen werden, ob und in welcher Form die Politik auf die Bevölkerung
einzuwirken hat, wenn sich diese nicht nach den Szenarien von KN2045 verhält. Immerhin hat die
Covid-Krise den Wert von digitalen Treffen bewusst gemacht, andererseits auch dem privaten
Automobil als Rückzugsraum für doch noch stattfindende Reisen zu neuer Wertschätzung
verholfen. Dies sind nichtlineare Effekte, die KN2045 so nicht berücksichtigt.
VII. Versorgungssicherheit im europäischen Verbund
Wir nehmen zur Kenntnis, dass es einen Rechtsrahmen für innereuropäischen Stromaustausch
gibt. Wo wir möglicherweise differieren, ist in der Einschätzung, ob dieser Rechtsrahmen in allen
Situationen beachtet werden wird. Genau dies war ja auch die Beobachtung in der Covid-Krise,
wo der Rechtsrahmen des Schengen-Abkommens ohne Rücksprache mit den Nachbarn
ausgesetzt wurde.
Gerade in Strommangellagen, die ja jederzeit auch größere Regionen in Europa betreffen können,
wenn sich der ganze Kontinent stärker von wetterabhängigen Erzeugern macht, wird die
32 Eric Heymann, Deutsche Energiewende: Zielverfehlungen in Sicht, Deutsche Bank Research, 12. Mai
2016, https://www.dbresearch.de/PROD/RPS_DE-
PROD/PROD0000000000443332/Deutsche_Energiewende%3A_Zielverfehlungen_in_Sicht.pdf
- 15 -
Abhängigkeit von Stromimporten aus dann nur noch wenigen thermischen Kraftwerken
zwangsläufig zu politischen Konflikten führen. Ob diese Konflikte im heutigen Rechtsrahmen für
innereuropäischen Stromaustausch – also über den höchsten Preis – oder über andere Verfahren
gelöst wird, ist noch nicht absehbar. Die Resilienz gegenüber solchen Konflikten in europaweit
auftretenden Strommangellagen wird in KN2045 nicht thematisiert.
Wir empfehlen den Autoren, solche Redundanzbetrachtungen noch einzuarbeiten, insbesondere in
den Szenarien zu modellieren, wie sich Deutschland zu jeder Stunde nahezu komplett (>95%)
selbst mit elektrischer Energie und Wasserstoff versorgen kann.
VIII. Instrumentenvorschläge zur Realisierung der
Transformation
Die KN2045-Autoren bestätigen unsere Kritik, dass die Studie nur ein einziges von vielen
möglichen Szenarien für ein CO2-neutrales Deutschland beschreibt, aber keine Wege dorthin
aufzeigt, indem sie sagen, dass dies noch „Gegenstand von Folgeprojekten der drei Auftraggeber“
sei.
Liest man die Studie der beteiligten Institute mit Lösungsvorschlägen (PKD2021)33, wird wieder
und wieder deutlich, dass die angestrebten Maßnahmen weit überwiegend in einer Art Nabelschau
aus Deutschland allein heraus betrachtet werden. Gesellschaftliche Reaktionen werden nicht
angesprochen, die beispielsweise in Frankreich regelmäßig zu beobachten sind, wenn an der
Energiekostenschraube gedreht wird. Überall auf der Welt gibt es in ländlichen Räumen
erbitterten Widerstand, wenn Windkraftanlagen näher als zwei Kilometer an Wohnbebauung
heranrücken. PKD2021 empfiehlt einen Mindestabstand von nur noch 3H und von 2H bei
Repowering zur Wohnbebauung. Solche aggressiven Maßnahmen können in der ländlichen
Bevölkerung leicht die Stimmung zum Kippen bringen und unvorhergesehene Reaktionen
hervorrufen.
Nachdem in PKD2021 die Belastung von Bürgern und Wirtschaft nur oberflächlich betrachtet
werden, bleiben wir skeptisch, ob sich auch nur ein geringer Anteil der vorgeschlagenen
Maßnahmen politisch wird durchsetzen können.
33Politikinstrumente für ein klimaneutrales Deutschland (stiftung-klima.de), S. 11ff.