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Schwerpunkt: Digitale Psychotherapie – Editorial
Psychotherapeut 2021 · 66:369–371
https://doi.org/10.1007/s00278-021-00531-4
Angenommen: 21. Juli 2021
Online publiziert: 30. August 2021
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von
Springer Nature 2021
Digitale Interventionen in der
Psychotherapie
Antje Gumz1,2 · Johanna Boettcher3
1Psychosomatik und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin, Berlin, Deutschl and
2Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsk linikum Hamburg-Eppendorf,
Hamburg, Deutschland
3Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin, Berlin, De utschland
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Der Digitalisierung im Gesundheitswesen
wird gesundheitspolitisch hohe Priorität
eingeräumt. Entsprechend spielen digita-
le Anwendungen auch zunehmend eine
Rolle im psychotherapeutischen Kontext.
Deutschland nimmt in dieser Entwicklung
keine Vorreiterstellung ein. Im Gegenteil,
es brauchte 20 Jahre intensiver internatio-
naler Forschung, bis erste Formen digitaler
Interventionen Einzug in die Versorgung
erhielten. Zuerst wagten ausgewählte Kas-
sen, ihren Versicherten digitale Angebo-
te für psychische Probleme zu machen.
Seit etwa einem Jahr können Psychothe-
rapeut*innen sog. digitale Gesundheits-
anwendungen (DiGA) verschreiben (auch
wenn die Auswahl zugelassener Anwen-
dungen noch überschaubar ist).
Die Pandemie hat den Impuls für viele
Therapeut*innen gegeben, Videobehand-
lungen zu erproben. Die Videosprech-
stunde gewann hiermit sprunghaft an
Bedeutung, und die Haltung von The-
rapeut*innen gegenüber Videosprech-
stunden war prinzipiell positiv (Beck-
Hiestermann et al. 2021; Connolly et al.
2020;Rabe-Menssenetal.2020). Viele The-
rapeut*innen haben ihre Bedenken oder
Vorbehalte gegenüber virtuellen Thera-
pien „gezwungenermaßen“ aufgegeben,
um die Versorgung ihrer Patient*innen zu
sichern. Hierin liegt eine groß e Chance. Wir
können nun vorurteilsfreier diskutieren, an
welchen Stellen eine Videobehandlung
hilft, die psychotherapeutische Versor-
gung zu verbessern und Versorgungs-
probleme zu lösen – wir denken hier
beispielsweise an die Unterversorgung
auf dem Land oder die Versorgung von
Patient*innen, die in ihrer Mobilität einge-
schränkt sind oder aus anderen Gründen
eine*n Therapeut*in nicht persönlich auf-
suchen können. Gleichzeitig sollten wir
gerade als Psychotherapeut*innen darauf
achtgeben, dass die reale menschliche
Begegnung im geschützten Raum einer
Praxis nicht grundlos auf ein zweidimen-
sionales virtuelles Miteinander reduziert
wird.
In unseren Augen ist dies ein guter Zeit-
punkt, einen genauen Blick auf die Vielfalt
digitaler Angebote zu werfen und deren
Chancen und Grenzen für die ambulante
Psychotherapie kritisch zu beleuchten.
Vielfalt digitaler Angebote
Digitale Anwendungen unterscheiden sich
im Hinblick auf ihre Zielgruppe, ihren Platz
in der Versorgungskette, ihren Umfang
und in ihrem Ausmaß therapeutischer
Unterstützung. Es gibt kaum mehr ein
Störungsbild, für das noch keine digitale
Intervention entwickelt wurde. Dabei sind
die Programme auf sehr unterschiedliche
Schweregrade psychischer Belastung zu-
geschnitten. Dies reicht von Symptomen
ohne Krankheitswert oder subsyndroma-
len Belastungen bis hin zu ernsthaften
psychischen Störungen. Entsprechend
lassen sich die Programme auch an den
unterschiedlichsten Punkten der Versor-
gungskette verorten: Primär-, Sekundär-
und Tertiärprävention, Überbrückung der
Wartezeit auf einen Therapieplatz, The-
rapie, Nachsorge und Rückfallprophylaxe.
So vielfältig die Anwendungsgebiete sind,
so vielfältig sind auch die Formen und der
Umfang digitaler Interventionen. Zum Teil
wird das Internet als reines Informations-
medium genutzt. Hierunter fallen zum
einen eher schmale Anwendungen, die
Psychotherapeut 5 · 2021 369
Schwerpunkt: Digitale Psychotherapie – Editorial
nur eine Interventionsform umfassen, wie
beispielsweise psychoedukative Websei-
ten oder Monitoring-Apps, zum anderen
auch breitere Formen, wie ungeleitete
Selbsthilfeprogramme, in denen eine Viel-
zahl von Interventionen angeboten wird.
Die meisten Angebote stammen aus dem
Bereich der kognitiven Verhaltenstherapie.
In anderen Formen digitaler Interventio-
nen wird das Internet als Kommunikati-
onsmedium genutzt. Hierzu zählen mit
einem häufig eher begrenzten Fokus die
Chatberatung, aber auch umfängliche
Programme der Schreibtherapie sowie
auch die Videosprechstunde. Viele For-
men digitaler Interventionen kombinieren
Informations- und Kommunikationsfunk-
tionen, darunter geleitete Selbsthilfe und
manche Formen der „blended therapy“,
in der digitale Inhalte mit Psychotherapie
im direkten Kontakt verknüpft werden.
Das Ausmaß der therapeutischen Be-
gleitung variiert stark nach Form und Um-
fang der digitalen Intervention. Gänzlich
unbegleitete Ansätze stehen Formen be-
gleiteter Selbsthilfe gegenüber, in denen
üblicherweise wöchentliche, asynchrone,
schriftliche Unterstützung erfolgt. In der
Videosprechstunde ist der therapeutische
Kontakt, zumindest im Ausmaß, identisch
zur Psychotherapie im direkten Kontakt.
Chancen und Grenzen für die
ambulante Psychotherapie
Jede Form der digitalen Intervention hat
unterschiedliche Vor- und Nachteile. Kri-
tisch für alle digitalen Interventionen sind
Fragen der Datensicherheit. Digitale Inter-
ventionen werden häufig als kosteneffizi-
ent erachtet, was viele kontroverse Diskus-
sionenausgelösthat. Hier ist zu sagen,dass
letztlich nur jene Interventionen kostenef-
fizient sind, bei denen therapeutische Res-
sourcen gespart werden. Das trifft nur auf
ungeleitete Interventionen oder, in einem
geringeren Maß, auf geleitete Selbsthil-
feinterventionen zu. Auch das Argument,
dass Patient*innen durch digitale Ange-
bote Scham und Stigmatisierungsängste
überwinden können, greift nur für Inter-
ventionsformen ohne oder mit sehr einge-
schränktem therapeutischen Kontakt. Um-
gekehrt ist der häufig formulierte Nach-
teil, dass digitale Interventionen nur be-
grenzt ermöglichen, auf akute Krisen zu
reagieren, auch nur für die digitalen Inter-
ventionen ohne oder mit eingeschränk-
tem therapeutischen Kontakt gültig. Alle
Formate, die auch „Face-to-face“(f2f )-Kon-
takte vorsehen, können ein adäquates Kri-
senmanagement bieten. Ein großer Vorteil
rein digitaler Formate liegt darin, dass sie
räumliche und zeitliche Flexibilität bieten.
Die meisten digitalen Angebote verbin-
det, dass sie neue technische Möglichkei-
ten in der Behandlung psychischer Proble-
me aufgreifen. Anwendungen auf Smart-
phones ermöglichen es Patient*innen bei-
spielsweise, ihre Gefühle und Gedanken in
schwierigen Situationen direkt festzuhal-
ten und so mögliche Erinnerungseffekte
zu minimieren.
Wirksamkeit digitaler
Psychotherapie
Nicht alle Formen digitaler Angebote
sind gleich gut belegt. Psychotherapie
via Videotelefonie beispielsweise wur-
de bislang nur sehr wenig untersucht.
Begleitete Selbsthilfeprogramme im Be-
reich der Angst- und Depressionsstö-
rungen hingegen wurden in mehr als
100 randomisierten kontrollierten Studi-
en erfolgreich getestet. Die Effekte im
Vergleich zu Kontrollgruppen sind groß
(eine kurze Übersicht bieten Andersson
et al. 2019; Vergleiche zur f2f-Therapie
fassen Carlbring et al. 2018 zusammen).
Auch unbegleitete Selbsthilfeangebote
wurden vielfach untersucht (zu den Be-
sonderheiten von therapeutischen Apps:
Huckvale et al. 2020;Wrightetal.2019).
Die Ergebnisse sind jedoch uneindeutiger.
Am ehesten lassen sich die Befunde zur
Notwendigkeit des Kontakts so zusam-
menfassen: Therapeutische Unterstützung
ist nicht in allen Formen digitaler Inter-
ventionen notwendig. Sie hilft jedoch
immer, Patient*innen zur Teilnahme zu
motivieren, was insbesondere bei weniger
attraktiv gestalteten Apps oder schwie-
rigeren Themen und Aufgaben relevant
werden kann.
Aktuelle Beiträge zu offenen
Fragen
Während Fragen zur Wirksamkeit zu einem
Teilder digitalen Interventionen schon aus-
reichend beantwortet wurden, sind natür-
lich noch viele Fragen offen. Welche wei-
teren Faktoren sind für das Gelingen einer
digitalen Intervention wichtig? Wie wirk-
samsind digitale Interventionen für beson-
ders vulnerable oder schwer erreichbare
Patient*innen? Wie können sie am besten
mit bestehenden Versorgungsangeboten
verknüpft werden? Welche Rolle spielt die
Videosprechstunde? Und natürlich auch,
welche Grenzen und Risiken weist diese
(nicht mehr ganz neue) Versorgungsform
auf? Das vorliegende Sonderheft trägt zu
all diesen höchst relevanten Fragen qua-
litativ hochwertige Beiträge zusammen.
Der besonderen Situation im letzten
Jahr Rechnung tragend, widmen sich zu-
nächst gleich drei Beiträge den Erfahrun-
gen mit der Videosprechstunde während
der Pandemie. Beck-Hiestermann, Kästner
und Gumz berichten die Ergebnisse ei-
ner Onlinebefragung unter Psychothera-
peut*innen, in der sie untersuchten, wie
zufrieden Therapeut*innen mit Videosit-
zungen im Vergleich zur f2f-Therapie wa-
ren und inwieweit sich Therapeut*innen
unterschiedlicher Verfahren im Hinblick
auf ihre Einstellungen zur Videotherapie
unterscheiden. Hieran anknüpfend stellen
Gumz et al. dar, welche konkreten Vor-
und Nachteile Therapeut*innen bei der
Durchführung von Onlinetherapie erleb-
ten und wie häufig die jeweiligen Vor- und
Nachteile benannt wurden. Leukhardt et
al. stellen die Ergebnisse einer qualitati-
ven Studie vor, in der sie untersuchten,
wie psychodynamische Therapeut*innen
und Patient*innen in psychodynamischer
Therapie den Wechsel von f2f- zur Video-
therapie empfanden.
Um „klassischere“ Onlinetherapie, also
geleitete und ungeleitete Selbsthilfein-
terventionen, geht es in den folgenden
Beiträgen. Kreis et al. gehen der Frage
nach, inwieweit die bei internetbasierten
Interventionen häufig geringen Akzep-
tanz- und hohen Abbruchraten verbessert
werden können. Sie zeigen, dass ak-
zeptanzfördernde Interventionen dazu
beitragen können, die Akzeptanz und ini-
tiale Nutzung eines transdiagnostischen
psychodynamischen Online-Selbsthilfe-
programmes zu verbessern. Domhardt
und Kolleg*innen widmen sich der Frage,
welche Wirkmechanismen bei digitalen
Interventionen zum Tragen kommen. Sie
bewegensichalsowegvonderFrage,ob
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diese Interventionen wirken und gehen
dem, wie sie wirken, nach. Dabei überle-
gensieauch,obesindiesenFormaten
eventuell spezifische Wirkmechanismen
gibt, die in der traditionellen Therapie
nicht greifen.
Zwei weitereBeiträge b eschäftigen sich
mit bestimmten Patient*innengruppen,
die für traditionelle Therapieansätze
schwer zu erreichen sind. Wirz und Kol-
leg*innen beleuchten digitale Interventio-
nen für die besonders vulnerable Gruppe
der Geflüchteten, deren Weg in die Ge-
sundheitsversorgung durch sprachliche
und andere Barrieren oft holprig ist. Die
Autor*innen stellen Apps und Weban-
wendungen vor, die für Geflüchtete oder
deren Behandler*innen aktuell in Deutsch-
land zur Verfügung stehen. Schoenenberg
und Martin befassen sich mit einer Pa-
tient*innengruppe, die häufig aufgrund
starker Schamgefühle keine Behandlung
aufsucht. Sie fassen die aktuelle Evidenz-
lage zum Einsatz von virtueller Realität in
der Behandlung von Körperbildstörung
zusammen.SiestellendieChancendieser
technischen Innovation für die Behand-
lung von Körperbildstörungen heraus
und diskutieren mögliche unerwünschte
Effekte.
Um unerwünschte Effekte geht es auch
im Beitrag von Baer und Kolleg*innen.
Dieser Beitrag widmet sich ganz der
„Schattenseite“ geleiteter Selbsthilfeinter-
ventionen. Die Autor*innen berichten Ver-
schlechterungs- und Non-Res ponse Raten,
sowie quantitative und qualitative Daten
zu weiteren Nebenwirkungen. Anhand
von zwei Fallbeispielen demonstrieren sie
typische Behandlungsschwierigkeiten in
diesem Setting.
Die Brücke zur ambulanten Psycho-
therapie schlägt der Artikel von Bielinski
und Berger. Die Autor*innen beschäftigen
sich mit der Frage, wie dieser Reichtum
an digitalen Interventionen am besten
in die bestehende Versorgungslandschaft
integriert werden kann. Sie diskutieren
verschiedene Formate der Verschmelzung
von online und f2f-Therapie und stellen
beispielhaft einen Blended-care-Ansatz
näher vor. Gerade für niedergelassene Kol-
leg*innen, die sich mit der neuen DIGA-
Verschreibungsmöglichkeit konfrontiert
sehen, enthält der Artikel wertvolle Hin-
weise, wie digitale Interventionen zur
Bereicherung unserer psychotherapeuti-
schen Versorgung beitragen können.
So bietet dieses Sonderheft insgesamt
viele wertvolle Einblicke in die Vielfalt
digitaler Interventionen und entwirft
ein differenziertes Bild der aktuellen La-
ge in Versorgung und Forschung. Wir
hoffen, dass das Heft Kliniker*innen und
Forscher*innen Impulse zur kritischen Dis-
kussion und Weiterentwicklung digitaler
Ansätze geben kann.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Antje Gumz
Am Kölnischen Park 2, 10179 Berlin,
Deutschland
a.gumz@phb.de
Interessenkonflikt. A. Gumz und J.B oettchergeben
an, dass kein Interessenkonfliktbesteht.
Literatur
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de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=11152&
token=8efba22d7afdbd29ab5f0a824eb29c7
d2aa94b9c.Zugegriffen: April2021
Wright JH, O wen JJ, R ichar ds D, Eells TD, Ric hardso n T,
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