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Verschwörungstheorien APuZ
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VERSCHWÖRUNGSMYTHEN
UND ANTISEMITISMUS
Samuel Salzborn
Verschwörungsmythen zielen darauf, politi-
sche und gesellschaftliche Entwicklungen der
rationalen Betrachtung zu entziehen und statt-
dessen die Emotionalität und Affekthaftigkeit
des Politischen zu steigern. Ihr Grundmotiv
besteht darin, hinter politischen und gesell-
schaftlichen Entwicklungen unbekannte, un-
fassbare, omnipotente Mächte zu vermuten, die
stets im Verborgenen agieren und die Agenden
der sichtbaren politischen Akteure insgeheim
steuern.
01 Die konkreten Verschwörungsmy-
then werden dabei fast so schnell produziert,
wie die Ereignisse stattfinden, die den Anlass
– oder besser gesagt: den Vorwand – für ihre
Formulierung bilden. Dass die Mythenbildung
nahezu in Echtzeit erfolgt, hat mit der Logik
der Verschwörungsfantasie selbst zu tun: Sie
bedarf keiner Fakten, keiner Wirklichkeit au-
ßer ihrer selbst, um zu funktionieren. Es bedarf
nur eines Anlasses, aber keiner Ursache, damit
Verschwörungsfantasien formuliert werden.
Die hermeneutische Struktur von Verschwö-
rungsmythen basiert dabei auf einem Muster,
in dem ein abstraktes Ereignis nicht verstan-
den wird, eine konkrete Verantwortlichkeit zur
Simplifizierung abstrakter Prozesse erfunden
wird, auf die aggressive und destruktive Affek-
te projiziert werden. Deren Ziel ist es, das ei-
gene Ohnmachtsgefühl, das aus intellektueller
Unfähigkeit und/oder dem Unwillen, abstrak-
te Herausforderungen zu ertragen, resultiert,
zu kompensieren und zugleich dem Individu-
um ein Allmachtsgefühl zu verschaffen. Die je-
weils eigene hermetische Verschwörungswelt-
sicht funktioniert in ihrer Struktur unabhängig
von der Wirklichkeit, da sie nicht an empirische
oder historische Fakten gebunden ist, sondern
lediglich mit einem Fantasieweltbild korres-
pondiert, das nicht nur jederzeit reproduzier-
bar, sondern auch jederzeit reformulierbar und
damit in jeweils passender Variation abrufbar
ist.
02
VERSCHWÖRUNGSMYTHEN
IM KONTEXT VON CORONA
Eine medizinische Konstellation wie eine Pan-
demie ist ein geradezu idealtypischer Vorwand
für Verschwörungsmythen. Die abstrakte und in
diesem Fall tatsächlich unsichtbare Bedrohung
durch ein Virus stellt – im Unterschied zu zahl-
reichen anderen Anlässen für die Aktivierung von
Verschwörungsmythen, bei denen die intellektu-
elle Überforderung lediglich im an Verschwö-
rungsmythen glaubenden Subjekt liegt und nicht
in der Realität – objektiv eine welthistorische Si-
tuation dar, in der auch medizinische Expert(inn)-
en vor der Herausforderung stehen, in Reaktion
auf komplexe und abstrakte Herausforderungen
genuin neue Handlungsstrategien entwickeln zu
müssen. Die Problemlage ist hochkomplex, die
Lösungswege nicht vorgezeichnet, sodass die
Verschwörungsideologie hieran paradigmatisch
ansetzen kann. Die eigene Allmachtsfantasie wird
dadurch noch gestärkt, dass die Medizin – der
man in der Moderne gern eine Allmächtigkeit an-
dichtet und mit erlösender Hoffnung verbindet
(„Götter in Weiß“) – im Prozess von Forschung
und Intervention diesem Wunschbild nicht un-
mittelbar entsprechen kann.
Gleich nach Bekanntwerden der Corona-Pan-
demie zirkulierten bereits Verschwörungsmy-
then, die – was charakteristisch ist für Verschwö-
rungsfantasien – von Beginn an zwar immanent
widersprüchlich waren, aber jeweils antisemi-
tisch ausformuliert wurden: Sie begannen mit der
Unterstellung, Corona sei eine biologische Waf-
fe der USA beziehungsweise Israels, gingen über
die Behauptung, dass es das Ziel einer angeb-
lichen „jüdischen Weltverschwörung“ sei, die
Menschen durch Corona zu „versklaven“, und
reichten bis zu dem antisemitischen Verschwö-
rungsmythos, die Weltbevölkerung solle gezielt
dezimiert werden. Zentral dabei war und ist, dass
alle diese Vorstellungen in einem hermetisch ge-
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schlossenen Weltbild generiert werden, das sich
von Realitätsprüfungen abschottet und durch sei-
ne irrationale Struktur dazu in der Lage ist, jede
Form von objektiver Widerlegung in eine anlass-
bezogen reformulierte Variante des Verschwö-
rungsglaubens zu integrieren. Die öffentlichen
Versammlungen, bei denen sich im Kontext der
Corona-Pandemie Kritiker(innen) als angebliche
Hüter(innen) der Grundrechte inszeniert haben,
waren dabei von ihrem Beginn im Frühjahr 2020
an getragen von einer verschwörungsideologi-
schen Klammer: Verschwörungsglaube ist in sei-
ner historischen Genese und weltanschaulichen
Struktur eng mit Antisemitismus verbunden, fak-
tisch laufen Verschwörungserzählungen so gut
wie immer auf Antisemitismus hinaus. Mit Blick
auf die Entwicklung der Demonstrationen zeigt
sich sehr deutlich, dass der Verschwörungsglaube
kontinuierlich das integrierende Element der Ver-
sammlungen darstellte, der Antisemitismus aber
entscheidend mit ihrer Radikalisierung korreliert:
Wenngleich auch schon im Jahr 2020 antisemiti-
sche Parolen und Visualisierungen gerufen und
gezeigt wurden, die vor allem mit projektiven
12
Personalisierungen
03 gearbeitet haben, ist der of-
fene, in keiner Weise kaschierte Antisemitismus,
in dessen Zentrum eine geschichtsrevisionisti-
sche Relativierung, Verharmlosung oder Leug-
nung der Shoah steht, seit dem Frühjahr 2021 von
immer größerer Relevanz, sowohl was seine Ver-
breitung als auch seine Radikalität angeht.
Je offener Antisemitismus artikuliert und
nicht sanktioniert wird, also je ungehemmter da-
mit die aggressiv-destruktiven Affekte des antise-
mitischen Weltbildes nach außen getragen werden
können, desto stärker werden auch die Versamm-
lungen gewaltbereit und gewalttätig. Insofern be-
steht ein kausaler Zusammenhang im Radikali-
sierungsprozess der Versammlungen, der auf der
verbalen und visuellen Artikulation von offen mit
der Vernichtungsandrohung kokettierendem An-
01 Teile der nachfolgenden Überlegungen sind bereits an
anderer Stelle entwickelt worden und werden hier erweitert. Vgl.
Samuel Salzborn, Vom rechten Wahn. „Lügenpresse“, „USrael“,
„Die da oben“ und „Überfremdung“, in: Mittelweg36, 6/2016,
S.76–96; ders., Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in
den Abgründen der Moderne, Weinheim 2020, S.191–204.
02 Vgl. Tobias Jaecker, Antisemitische Verschwörungstheorien
nach dem 11.September. Neue Varianten eines alten Deutungs-
musters, Münster 2004.
03 So etwa von Microsoft-Gründer Bill Gates oder dem Unter-
nehmer George Soros.
tisemitismus basiert, der sich in der Relativierung
oder Leugnung der Shoah ausdrückt. Die offene
Instrumentalisierung von Opfern des National-
sozialismus ist dabei ein wesentlicher Ausdruck
dieses geschichtsrevisionistischen Antisemitis-
mus. So fallen bei „Querdenker“-Versammlun-
gen immer wieder Teilnehmer(innen) auf, die den
Gelben Stern, der im Nationalsozialismus Jüdin-
nen und Juden stigmatisiert hatte, heute mit der
Aufschrift „Ungeimpft“ tragen. Damit erfüllen
die NS-Vergleiche im Kontext der verschwö-
rungsfantastischen Demonstrationen grundsätz-
lich eine Doppelfunktion, in deren Zentrum eine
antisemitische Täter-Opfer-Umkehr steht: Mit
Blick auf die NS-Vergangenheit handelt es sich
um eine geschichtsrevisionistische Relativierung
der Shoah, bei der die antisemitische Vernich-
tungspolitik auf infame Weise instrumentalisiert
wird; mit Blick auf die Gegenwart fantasieren
sich die Verschwörungsgläubigen in eine Opfer-
rolle, die die demokratische Politik dämonisieren
und delegitimieren soll. Es ist eine Doppelinstru-
mentalisierung im Geist der antisemitischen Tä-
ter-Opfer-Umkehr.
Verschwörungsmythen werden nicht ge-
glaubt, weil sie rational oder kognitiv über-
zeugend wären, sondern weil sie ein Weltbild
festigen, das gerade nicht den Prinzipien der Auf-
klärung verpflichtet ist, sondern lediglich dazu
dient, Pseudobelege für Vorstellungen zu liefern,
die im Widerspruch zu allen rationalen Erkennt-
nissen stehen. Deshalb ist es auch nicht möglich,
eine Verschwörungsfantasie in einer für ihre An-
hänger(innen) schlüssigen Weise zu widerlegen:
Sie wird geglaubt, weil sie irrational ist – und je-
der Beleg dieser Irrationalität wird nur wieder in
das Weltbild des großen Verschwörungsglaubens
integriert. Darum sind Verschwörungsfantasien
auch keine Theorien: Sie sollen die Wirklichkeit
nicht erklären, sondern den psychischen Bedürf-
nissen derer anpassen, die an sie glauben. Ihr An-
spruch ist nicht theoretisch, sondern praktisch.
Der Markt aber, der sich daraus für Verschwö-
rungsliteratur und andere Merchandising-Pro-
dukte ergibt, ist gigantisch. Es ist ein Markt des
Wahnsinns, auf dem weltanschaulich alles feilge-
boten wird, was nur die Bedingung erfüllt, keiner
Realitätsprüfung standzuhalten. Er bedient die
regressiven Fantasien, den Traum von einem har-
monischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem
alles nur einer Logik gehorcht, nämlich der eige-
nen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen,
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nur (gemeinschaftliche) Identität. Nur – und das
verleiht so vielen Verschwörungsfantasien ihren
aggressiven Impuls – dass die Welt sich fortwäh-
rend nicht so verhält, wie es die Anhänger(innen)
derartiger Fantasmen gerne hätten.
VERSCHWÖRUNGSGLAUBE
ALS WAHN
Verschwörungsmythen sind ihrer Struktur nach
Fantasien, infantile, regressive Fantasien, die –
wiewohl in politisch gewendeter Form alles an-
dere als ungefährlich – vor allem etwas über die
Person sagen, die sie vertritt. Insofern ist in die
politische Dimension des Phänomens stets auch
eine zweite eingelagert, der nur mit einer sozial-
psychologischen Perspektive beizukommen ist.
Das heißt, die politische Attraktivität von Ver-
schwörungsmythen wird durch einen Blick auf
ihre psychische Funktion besser verständlich.
Denn das, was den Kern von Verschwörungs-
mythen ausmacht, sind die zumeist unbewussten
und verdrängten, bisweilen aber auch bewussten
Wünsche und Sehnsüchte, die sich freilich nicht
in einem individualpsychologischen Sinn konkre-
tisieren ließen, die aber sozialpsychologisch Aus-
druck des Wunsches nach Teilhabe an und des
Einswerdens mit einer als omnipotent fantasier-
ten Macht sind. Die antisemitische Fantasie ei-
ner „jüdischen Weltverschwörung“ ist wohl das
deutlichste Beispiel eines solchen Wahnweltbil-
des, dem ein Impuls der Vernichtung innewohnt.
Dass Verschwörungsglaube in der Gegen-
wart auch außerhalb des organisierten Rechtsex-
tremismus anzutreffen ist, zeigt die auch durch
Untersuchungen politischer Einstellungen seit
mehreren Jahren umfangreich belegte Erosion ei-
ner zunehmend „fragilen Mitte“,
04 im Zuge de-
rer „Themen der Rechten“ immer mehr zu „The-
men der Mitte“ werden
05 – und das, ohne dass
sich dadurch etwas an ihrer grundsätzlich anti-
aufklärerischen Dimension änderte, was zugleich
auch heißt, dass sich ein Teil der vormaligen ge-
sellschaftlichen Mitte faktisch nach rechts ver-
schoben hat. Denn der antiaufklärerische Glaube
04 Andreas Zick/Anna Klein, Fragile Mitte – Feindselige Zu-
stände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn
2014 .
05 Vgl. Christoph Butterwegge etal., Themen der Rechten –
Themen der Mitte. Zuwanderung, demograscher Wandel und
Nationalbewusstsein, Opladen 2002.
an Weltverschwörungen wird nicht erst dadurch
rechtsextrem, dass er von rechtsextremen Orga-
nisationen vertreten wird, sondern er ist es seiner
Struktur nach, weshalb er auch nicht dadurch de-
mokratisiert werden kann, dass er von (vormali-
gen) Demokrat(inn)en vertreten wird. Ganz im
Gegenteil radikalisieren sich diejenigen, die ver-
schwörungsideologische Positionen überneh-
men, und bewegen sich unweigerlich ihrerseits
nach rechts. Der irrationale Glaube an Verschwö-
rungen, der in den zurückliegenden 20 Jahren
nach und nach zum zentralen Kampagnenmo-
tiv im Rechtsextremismus geworden ist,
06 wirkt
nicht nur intern stabilisierend, sondern erweist
sich als anschlussfähig für alle politischen Spek-
tren, die eine grundsätzliche Affinität zu anti-
aufklärerischen Weltdeutungsansätzen haben. In
diesem Sinne ist der Verschwörungsglaube dann
auch, ganz gleich, in welchem politischen Kon-
text er auftritt, Versatzstück eines rechten Welt-
bildes, auch wenn diejenigen, die ihn artikulie-
ren, sich organisatorisch nicht der rechten Szene
zurechnen lassen. Damit lassen sich auch jünge-
re Entwicklungen im rechten Spektrum, die me-
dial und politisch bisweilen gar nicht als solche
gedeutet werden, weil ihnen der organisatorisch-
institutionalisierte Kontext fehlt oder sich dieser
rasch wandelt, deutlich klarer als Teil rechtsextre-
mer Politik begreifen. Das ist dringend geboten,
denn eine sozialwissenschaftliche Analyse darf
sich nicht auf die formale Dimension der Organi-
sierung beschränken, sondern muss stets im Blick
behalten, dass die weltanschauliche Dimension
letztlich ausschlaggebend ist.
Zugleich zeigt der Blick auf das Thema Ver-
schwörungsfantasien aber auch, wie wichtig
eine sozialpsychologisch erweiterte Perspek-
tive auf politische und soziale Phänomene ist.
Denn der Glaube an Verschwörungen ist eben
analytisch nicht einfach ausschließlich mit Ka-
tegorien rationaler Analyse zu erfassen, da er
irrationale Dimensionen enthält, in denen ver-
standes- und vernunftmäßige Kognition durch
zum Affekt degradierte Emotion suspendiert ist
– und genau diesem Moment sollte sich die so-
zialwissenschaftliche Analyse nicht verschlie-
ßen. Wenn Kategorien mit Referenz auf psycho-
analytische Konzepte in die Analyse integriert
werden, dann sollte man reflektieren, dass es
entgegen des vorwissenschaftlichen Alltagsver-
06 Vgl. Salzborn 2016 (Anm.1).
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ständnisses zwischen Normalität und Patho-
logie weder klinisch noch sozialpsychologisch
einen solchen eindeutigen Gegensatz gibt, son-
dern vielmehr Wechselspiele und schleichende
Übergänge dominieren.
Die Aufmerksamkeit in der Analyse sollte ge-
rade wieder mehr auf pathologische Dimensio-
nen in der Normalität gelegt werden, da es sich
bei den Verschwörungsfantasien um etwas han-
delt, was mit Isidor J. Kaminer als „Wahnsinn der
‚Gesunden‘“ beschrieben werden kann
07 – gerade
weil die Anhänger(innen) von Verschwörungs-
fantasien sich diesen hingeben, können sie eben
ansonsten scheinbar gut angepasst ihren sozialen
Interaktionen nachgehen. Ihr Wahn liegt im Po-
litischen, manchmal zwar auch, aber eben gera-
de nicht zwingend im Persönlichen. Dieser politi-
sche Wahn erscheint an dem Punkt nicht mehr als
wahnhaft, wenn es den Verschwörungsideologen
gelingt, ihn als Teil der gesellschaftlich hegemo-
nialen Normalität durchzusetzen, als Teil einer
„umdefinierten gesellschaftlichen Normalität,
in die der Wahnsinn eingelagert“ wäre.
08 Genau
deshalb muss eine sozialwissenschaftliche Ana-
lyse von Verschwörungsfantasien darauf hinwei-
sen, dass es sich bei ihnen eben nicht um eine von
zahlreichen Optionen pluralistischen Denkens
handelt, sondern um ein Weltbild, das diesen ge-
samten (auf Vernunft gegründeten) Pluralismus
deshalb kategorial in Frage stellt, weil es schon
dessen Grundannahme der Rationalität verwirft
und insofern genuin antidemokratisch ist.
DER HASS
AUF DAS ABSTRAKTE
Das Motiv der Verschwörung ist historisch wie
systematisch ein antisemitisches. Gleichwohl
kann die konkrete Verschwörungsfantasie zahl-
reiche Ausprägungen annehmen. Der moderne
Antisemitismus beansprucht, die Welt zu erklä-
ren, wobei Jüdinnen und Juden in diesem Welter-
klärungsmuster assoziiert werden mit einer unge-
07 Isidor J. Kaminer, Normalität und Nationalsozialismus, in:
Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen
5/1997, S.385–409, hier S.389.
08 Rolf Pohl, Normalität und Pathologie. Sozialpsychologische
Anmerkungen zum Umgang mit der NS-Gewalt in der deut-
schen Nachkriegsgesellschaft, in: Loccumer Initiative kritischer
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hrsg.), Gewalt und
Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft, Hannover 2001,
S.89–109, hier S.106.
heuer machtvollen, unfassbaren internationalen
Verschwörung. Antisemitismus zielt dabei als ko-
gnitives und emotionales System auf einen welt-
anschaulichen Allerklärungsanspruch: Er bietet
als Weltbild ein allumfassendes System von Res-
sentiments und (Verschwörungs-)Mythen, die in
ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar wa-
ren und sind. Sie richten sich immer gegen Jüdin-
nen und Juden, da der Antisemitismus als „Ge-
rücht über die Juden“
09 auf Projektionen basiert.
Das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden hat
ebenso wenig Einfluss auf das antisemitische
Weltbild, wie sich ebendieses Weltbild aus den
emotionalen Bedürfnissen der An ti se mit (inn) en
selbst konstruiert. Antisemitismus ist zu verste-
hen als eine Verbindung aus Weltanschauung und
Leidenschaft, also als eine spezifische Art zu den-
ken und zu fühlen – genau genommen ist der mo-
derne Antisemitismus die Unfähigkeit und Un-
willigkeit, abstrakt zu denken und konkret zu
fühlen: Der Antisemitismus vertauscht beides,
das Denken soll konkret, das Fühlen aber abs-
trakt sein, wobei die nicht ertragene Ambivalenz
der Moderne auf das projiziert wird, was der/die
Antisemit(in) für jüdisch hält.
10
Insofern inkorporiert Antisemitismus struk-
turell immer Verschwörungsmythen, wie Ver-
schwörungsmythen strukturell immer antisemi-
tisch sind – beide basieren auf einer identischen
Projektionsstruktur moderner Vergesellschaf-
tung, in der das Abstrakte abgelehnt, wahn-
haft nach Konkretisierungen gefahndet und die-
se mit aggressiven Projektionen belegt werden,
die letztlich auf das Moment der Zerstörung und
damit der Vernichtung hinauslaufen: Verschwö-
rungsglaube ohne Antisemitismus ist strukturell
ebenso wenig denkbar wie Antisemitismus ohne
Verschwörungsglaube.
Dies gilt zwar nicht zwingend für jedes ein-
zelne Detail einer Verschwörungserzählung, aber
für jedes System von Verschwörungsmythen in
seiner Gesamtheit – insofern mag es im Einzelfall
auch vorkommen, dass Verschwörungsdenken
nicht explizit antijüdisch ausbuchstabiert wird;
wird es aber zu einem als Weltbildung fungieren-
09 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reexionen aus
dem beschädigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften Bd.4,
Frank furt/M. 1997 [1951], S.125.
10 Vgl. hierzu ausführlich: Samuel Salzborn, Antisemitismus als
negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien
im Vergleich, Frank furt/M.–New York 2010.
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den System, dann wurde es in der Geschichte und
wird es in der Gegenwart immer antisemitisch
konstruiert und, sofern nicht mit chiffrierten Me-
taphern und Bildern kaschiert, auch explizit anti-
jüdisch konkretisiert. Hinter dem antisemitischen
Verschwörungsglauben steht dabei der narzissti-
sche Wunsch nach menschlicher Allmacht: Der/
die Verschwörungsgläubige unterstellt der Ver-
schwörung exakt das, was er/sie selbst für sich
wünscht: grenzenlose Kontrolle, unendliches
Wissen und ungezügelte Allmacht – und will da-
mit jede Form von Geheimnis aus der Welt schaf-
fen, das konstitutiv für die Existenz moderner,
demokratischer Ordnungen ist. Das Geheimnis
führt aber ebenso unvermeidbar zum Mythos
von Verschwörungen, als sie prototypisch in den
Varianten und Variationen der Fantasie einer „jü-
dischen Weltverschwörung“ ihren Ausdruck fin-
den.
11 Denn hinter der abstrakten Unvermeidbar-
keit des Geheimnisses für die Aufrechterhaltung
derjenigen öffentlichen Ordnung, in der ihre ge-
sellschaftlichen Mitglieder miteinander aufgrund
konkurrierender Interessen strukturell uneins
sein dürfen und insofern den Konflikt auf Dau-
er stellen, liegt eine strukturelle Logik. Diese Lo-
gik wird aber von denen, die meinen, dass sich in
gesellschaftlicher Struktur- und Funktionslogik
von nicht-öffentlichem Handeln ein über diese
hinausgehender normativer Sinn verbergen müs-
se, nicht verstanden.
Denn Verschwörungsmythen unterstellen als
zentrale Annahme die Existenz von umfang-
reichem „Geheimwissen“, zu dem die An hän-
ger(innen) solcher Mythen quasi exklusiven
Zugang hätten. Lässt man außer Acht, dass die-
se Fantasie oft an Groteske kaum zu überbie-
ten ist, wenn als „Belege“ selbstproduzierte
Internetvideos oder ähnlich fiktionale Kreati-
onen herhalten sollen, dann liegt in dieser Ver-
gottung des vermeintlich allwissenden und al-
les durchschauenden Selbst der große Wunsch,
„das Geheimnis“ zu durchschauen und damit
selbst allmächtig zu sein. Das Individuum wird
im Antisemitismus dabei allerdings doppelt de-
subjektiviert, es verliert die intellektuelle Hoheit
über seine Selbstreflexion und gibt die Möglich-
keit des emotionalen Verstehens und Mitfühlens
11 Vgl. Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus. Bd.VII:
Zwischen Assimilation und „Jüdischer Weltverschwörung“, Frank-
furt/M. 1988; Wolfgang Wippermann, Agenten des Bösen.
Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin 2007.
auf. Der antisemitische Wunsch, konkret zu den-
ken, wird ergänzt um die Unfähigkeit, konkret
zu fühlen; die Weltanschauung soll konkret sein,
das Gefühl aber abstrakt – was sowohl die in-
tellektuelle wie die emotionale Perspektive ei-
ner Inversion unterzieht, die psychisch aufgrund
ihrer Dichotomie zu inneren Konflikten führen
muss. Auf der weltanschaulichen Ebene ist An-
tisemitismus damit eine dezisionistische Haltung
zur Welt, eine radikale bewusste wie unbewusste
Entscheidung für den kognitiven und emotiona-
len Glauben an den Manichäismus der antisemi-
tischen Fantasie.
DAS GEHEIMNIS:
ANGST UND SEHNSUCHT
An die Stelle des intellektuellen Verstandes, der
sich abstrakter Logik nicht verschließt, sondern
diese als Bedingung für die Entfaltung konkre-
ter Individualität und Subjekthaftigkeit begreift,
tritt im Antisemitismus ein emotionales Schein-
verstehen, ein konkretistischer Wahn, der in
seiner kognitiven wie emotionalen Weigerung,
abstrakte Strukturen zu verstehen, stets nach
Konkretisierungen fahnden muss. Diese Kon-
kretisierung macht der Mensch, der antisemi-
tisch denkt, für sein Elend verantwortlich, das
er aber wiederum sich selbst nur dadurch zuge-
fügt hat, weil er sich weigert, abstrakt zu den-
ken und intellektuell wie emotional zu erfas-
sen, dass der Sinn seines Lebens eben nicht in
einer äußerlichen Struktur liegen kann, also nie-
mals durch Surrogate (wie Gott, die Natur, den
Staat, die Nation und so weiter) hergestellt wer-
den wird, sondern nur dadurch, dass er bereit
ist, sich seiner Potenziale als Individuum und
Subjekt zu bedienen – und sich damit auch sei-
ner Limitierungen, Grenzen und Fehlbarkeiten
bewusst wird. Das Denken wird als solches fe-
tischisiert, die Dialektik von Öffentlichkeit und
Privatheit in ihrer antinomischen Einheit (kei-
ne Öffentlichkeit ohne Privatheit und vice ver-
sa) gespalten und auf das allein dinglich Fassba-
re, das Offensichtliche, das Stoffliche reduziert,
ohne den abstrakten Vergesellschaftungszusam-
menhang dabei mitzudenken und zu begreifen,
dass das für öffentliche Ordnung unverzichtba-
re Geheimnis, das als Verschwörung illuminiert
wird, ein Teil der unverzichtbaren Wahrheit
moderner Vergesellschaftung ist. Die antisemiti-
schen Verschwörungsfantasien als totales Welt-
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bild sind unmittelbarer Ausdruck der Angst vor
dem Geheimnis. Zugleich sind sie Ausdruck ei-
ner tiefen Faszination durch das Geheimnis, ei-
ner abstoßenden Anziehung von dem Ort, in
den der Antisemitismus letztlich die Hoffnung
auf einen Sinn der sinnentleerten Gesellschaft
hineinfantasiert – und den er, als scheinein-
sichtig in die Hintergründe der vermeintlichen
Verschwörung und damit vermeintlich intimer
Kenner der Geheimnisse, sich selbst und ande-
ren suggeriert zu durchschauen, wenngleich er
in seiner obsessiven Verblendung weit davon
entfernt ist.
Denn wenn den Antisemit(inn)en ihre Pro-
jektion auf Jüdinnen und Juden gelingt, dann
haben sie ihr manichäisches Paradies verwirk-
licht: All das Böse befindet sich von nun an auf
der einen Seite, eben da, wo der Jude sich in ih-
rer Sicht befindet, und all das Gute auf der ande-
ren, da, wo die Antisemit(inn)en sich in ihrer Bin-
nenperspektive selbst befinden. Das Ich-Ideal der
Antisemit(inn)en ist laut Béla Grunberger nar-
zisstischer Natur und die Befriedigung entspricht
einer vollständigen narzisstischen Integrität, die
die Antisemit(inn)en durch die Projektion auf
den Juden gewonnen haben.
12 Das Ziel der Her-
stellung von narzisstischer Integrität besteht in
der Verdeckung einer offen narzisstischen Wun-
de, die, Grunberger folgend, im Kontext des Ödi-
puskomplexes als zentral zu erachten ist. Denn
Menschen mit antisemitischen Einstellungen ha-
ben die narzisstische Kränkung ihres Selbstge-
fühls nie zu korrigieren vermocht und sind damit
am ödipalen Konflikt gescheitert. Mit der indi-
viduellen Kränkung korrespondiert die von Sig-
mund Freud beschriebene kollektive Kränkung,
die sich in der christlichen Eifersucht auf die reli-
giöse Auserwähltheit des Judentums und der pro-
jektiven Fantasie einer „jüdischen Weltverschwö-
rung“ ausdrückt:
13
„Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der
verbotenen Magie, des blutigen Rituals ge-
macht. Verkleidet als Anklage erst feiert das
unterschwellige Gelüst der Einheimischen, zur
12 Vgl. Béla Grunberger, Der Antisemit und der Ödipuskom-
plex, in: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizini-
sche Menschenkunde 5/1962, S.254–271.
13 Vgl. Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheis-
tische Religion, in: ders., Gesammelte Werke Bd.XVI, Frank-
furt/M. 1999 [1939], S.101–246.
mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in
deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ.
Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten
Vorzeit durch Projektion auf die Juden als ra-
tionales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein
Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden,
und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch
den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen
Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kinder-
morde und der sadistischen Exzesse, der Volks-
vergiftung und internationalen Verschwörung
definieren genau den antisemitischen Wunsch-
traum und bleiben hinter seiner Verwirklichung
zurück.“
14
Die Verschwörungsfantasie ist damit nicht nur
eine mythische Konstruktion, sondern in ihrer
Verdinglichung auch Ausdruck der Ambivalenz
moderner Vergesellschaftung und dem Wahn
entlehnt, allwissend und allmächtig hinter das
fantasierte Geheimnis (und damit letztlich den
Tod als das zentrale Geheimnis des menschli-
chen Lebens) blicken zu können. Deshalb wer-
den Verschwörungsmythen auch geglaubt: nicht
obwohl, sondern weil sie erfunden sind und
weil sie im Widerspruch zu allen Erkenntnis-
sen stehen, die mit der Realität korrespondieren,
denn ihr Anspruch ist nicht theoretisch, son-
dern praktisch. Sie sind Fantasien von einer re-
gredierten Welt, der Traum von einem harmo-
nischen und widerspruchsfreien Selbst, in dem
alles nur einer Logik gehorcht, nämlich der eige-
nen – keine Widersprüche, keine Ambivalenzen,
nur Identität. Freud hat das begrifflich in der
Unterscheidung von „materieller Realität“ und
„psychischer Realität“ gefasst
15 – die Verschwö-
rungsfantasien als psychische Realität sind da-
bei nahezu hermetisch von der materiellen Re-
alität abgekoppelt: als Wahnvorstellungen, die
einer identitären und widerspruchsfreien Lo-
gik folgen, die nur in der Hermetik der Psyche
funktioniert. Alles kreist um das narzisstische
Selbst, das sich dem omnipotenten Größenwahn
hemmungslos hingibt, aus sich selbst heraus die
Welt zu deuten und sich damit einer Allmachts-
fantasie hinzugeben, die dem Tod zu entrinnen
suggeriert.
14 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklä-
rung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947, S.219.
15 Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: ders., Gesam-
melte Werke Bd.II/III, Frank furt/M. 1999 [1899/1 900], S.625.
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Die antisemitische Fantasie einer „jüdischen
Weltverschwörung“ ist der deutlichste Ausdruck
eines solchen Wahnweltbildes, von dem der Na-
tionalsozialismus in barbarischer Weise gezeigt
hat, dass es dem völkischen Ideal der Weltbe-
herrschung durch Vernichtung entsprang. Das,
was den Anderen im Verschwörungsmythos
vorgeworfen und vorgehalten wird, ist das Ei-
gene – die verdrängten und verleugneten Antei-
le des Selbst, die eigenen Wünsche, die zugleich
als so monströs erfasst (aber eben dabei nicht be-
griffen) werden, dass sie – zunächst – nur in ih-
rer projektiven Form formuliert werden. In den
unzähligen Verschwörungsmythen können also
die Wünsche und Fantasien derer gelesen wer-
den, die an sie glauben – was sie noch bedroh-
licher macht als die alleinige Feststellung, dass
diejenigen, die an sie glauben, offensichtlich
verrückt sind. Denn es ist ein sozialer, kein in-
dividueller Wahn – ein soziales Wahnweltbild
der Verschwörung, das auf den Wunsch nach
der Allmacht verweist. Denn als verrückt gel-
ten Verschwörungsanhänger(innen) nur so lan-
ge, wie sie in einer Welt leben, die sie als ver-
rückt kenntlich zu machen imstande ist. Wenn
der Wahn sich die Realität getreu seines Bildes
zur Wirklichkeit entstellt, gilt der/die Verrück-
te nicht mehr als solche/r, sondern als normal
und gut angepasst. Eine solche Normalitätsvor-
stellung ist dabei ohne jede Frage eine, die sich
auf barbarische Vernichtungsfantasien und ihre
praktische Umsetzung gründet – denn in der
antisemitischen Vernichtung erträumen sich die
Anti semit(inn)en die Erlösung von ihrer größten
Angst: der vor dem Tod.
SAMUEL SALZBORN
ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissen-
schaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen
und Ansprechpartner des Landes Berlin zu
Antisemitismus.
website@salzborn.de