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Klassizismus in Aktion : Goethes Propyläen und das Weimarer Kunstprogramm

Authors:
Literaturgeschichte
in Studien und Quellen
Band 
Herausgegeben von
Klaus Amann
Hubert Lengauer
und Karl Wagner
Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf (Hg.)
Klassizismus in Aktion
Goethes Propyläen und das Weimarer Kunstprogramm

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© 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar
Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com
Umschlagabbildung: Philipp Otto Runge, »Achill und Skamandros«
Zeichnung, 1801; © bpk/Hamburger Kunsthalle/Christoph Irrgang
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.
Korrektorat : Ernst Grabovszki, Wien
Umschlaggestaltung : Michael Haderer, Wien
Satz : Michael Rauscher, W ien
Druck und Bindung : Finidr, Cesky Tesin
Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier
Printed in Hungary
ISBN 978-3-205-20089-5
Veröentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund
(FWF) : PUB 326-G26
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
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Klassizismus in Aktion. Zum spannungsreichen Kunstprogramm
der Propyläen .................................. 11
KULTUR UND AUTONOMIE
 
»Ein Unendliches in Bewegung«. Positionierungen der Kunst
in der Kultur .................................. 47
- 
Laokoon und La Mort de Marat oder Weimarische Kunstfreunde und
Französische Revolution ........................... 67
 
Bildverlust oder Die Fallstricke der Operativität.
Autonomie und Kulturalität der Kunst in den Propyläen .........123
NATUR UND DIE KÜNSTE
 
Kunsttheorie als Übersetzung. Goethes Auseinandersetzung
mit Diderots Versuch über die Mahlerey ...................177
 
Weimarer Opernästhetik. Goethes Essay Ueber Wahrheit und
Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke ......................195
 
Das Drama und die Kunst des Klassizismus in den Propyläen ......205
Inhaltsverzeichnis
6
NORMATIVITÄT UND VIELSTIMMIGKEIT
 
Natur und Kunst, Illusion und Bildbewusstsein. Zu einigen Bildern in
Goethes Beiträgen für die Propyläen ....................225
  
Vielstimmigkeit im Kontext. Goethes ›kleiner KunstRoman‹
Der Sammler und die Seinigen in entstehungsgeschichtlicher und
gattungstheoretischer Perspektive ......................239
 
»Antike Kunstwerke«. Johann Heinrich Meyers altertumskundliche
Beiträge zu den Propyläen ..........................277
KLASSIZISTISCHE UND ANTIKLASSIZISTISCHE
KUNSTPRAXIS
 
Die Weimarischen Kunstfreunde und die Krise der Kunstakademien
um  ....................................295
 
Über das Helldunkel. Reexionen zu Druckgraphik und
Reproduktionsmedien in den Propyläen ..................329
- 
›Das Unendliche und das Endliche‹. Die Propyläen und die
kunstphilosophische Debatte über die Arabeske als romantisches
Erkenntnisbild .................................349
VOR UND NACH DEN PROPYLÄEN
 
Glückliches Ereignis im Zeichen der Kunst. Die Propyläen als Frucht
der Zusammenarbeit Goethes und Schillers ................371
Inhaltsverzeichnis 7
 
Die ungeschriebenen Propyläen– Klassizismus im Experiment .....387
 
Goethe-Nachfolge als Architekturphantasie. Zum Motiv der Propyläen
im Werk Gerhart Hauptmanns .......................407
Abbildungen ...................................425
Siglenverzeichnis .................................449
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger .................451
Personenregister .................................453
EINLEITUNG
Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
Klassizismus in Aktion
Z  K  Propyläen
Unter dem Titel Propyläen. Eine periodische Schrift gab Goethe von  bis
 eine Kunstzeitschrift in drei Bänden zu je zwei Stücken heraus, die in
der Cotta’schen Buchhandlung in Tübingen erschien. Dabei handelt es sich–
neben Schillers Horen– um das zweite wichtige deutschsprachige Zeitschrif-
tenprojekt zur Propagierung und Durchsetzung einer klassizistischen Kunst-
anschauung um , in seinem publizistischen Anspruch sowie in seiner
ästhetisch-programmatischen Bedeutung vergleichbar mit dem heute weitaus
bekannteren konkurrierenden Zeitschriftenprojekt, dem romantischen Athe-
nae um der Brüder Schlegel. Das von Goethe selbst redigierte Periodikum ent-
hält neben gewichtigen eigenen Beiträgen zahlreiche Arbeiten der anderen
›Weimarer Kunstfreunde‹¹, namentlich von Johann Heinrich Meyer, Wilhelm
von Humboldt, Caroline von Humboldt und– nicht zuletzt– auch Friedrich
Schiller. In kunsttheoretischer und allgemein ästhetischer Hinsicht erscheinen
die Propyläen als »das gewaltigste und strengste Zeugnis des Klassizismus«² in
deutscher Sprache. Als programmatisches Reexionsmedium der ›hochklassi-
schen‹ Ästhetik Goethes stellen sie zugleich ein einzigartiges Dokument seines
publizistischen und kunstpolitischen Engagements für die während der Itali-
enreisen – sowie  gewonnenen und daraufhin vertieften ästheti-
schen Überzeugungen dar. Sie setzten somit seine ›frühklassischen‹ kunsttheo-
retischen Schriften fort, die er / nach seiner Rückkehr aus Italien als Teil
1 Es handelt sich um eine informelle Vereinigung von Mentoren klassizistischer Ästhetik, die– um
Goethe gruppiert– in unterschiedlichen personellen Konstellationen unter dem Kürzel »W.K.F
auch als Autorenkollektiv in Erscheinung getreten ist. Ab 1800 spricht Goethe– wohl mit Blick
vor allem auf Meyer und Schiller– von »den Kunstfreunden in unsrem Kreise« (Goethe an Carl
Ludwig Kaaz, 30.5.1800, WA IV, 15, S.73), und in den Tag- und Jahresheften für das folgende Jahr
schreibt er erstmals von den »Weimarischen Kunstfreunden« (MA 14, S.82), die indes erst ab
1804 als »W.K.F.« auch an die Öentlichkeit traten.
2
Gisela Horn : ›Horen‹– ›Propyläen‹– ›Athenäum‹ : Zeitschriften im Widerstreit. In : Evolu-
tion des Geistes : Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Span-
nungsfeld der Geschichte. Hg. von Friedrich Strack. Stuttgart : Klett-Cotta 1994 (=Deutscher
Idealismus. Philosophie und Wirkungsgeschichte in Quellen und Studien, Bd. 17), S.306–322,
hier S.316.
12 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
der Auszüge aus einem Reise-Journal in Wielands Teutschem Merkur veröent-
licht hatte. Viele der in den Propyläen formulierten Einsichten Goethes über
Prinzipien der bildenden Kunst wurden in der Folge genauso in seinen Urteilen
und literarischen Werken wirksam, weshalb seine Kunsttheorie nicht zu Un-
recht als Paradigma seiner literarischen Ästhetik, als Teil derselben klassischen
›Kultur des Sichtbaren‹³ gilt.
Goethes programmatische Einleitung entwirft die Propyläen als »Stufe, Tor,
Eingang, Vorhalle«. Angesiedelt auf dieser »Schwelle zwischen dem Innern und
Äußern, zwischen dem Heiligen und Gemeinen«, erönet die Zeitschrift Ein-
blicke in ganz verschiedenartige Bereiche : sowohl in eine– vor allem »aus di-
daktischen Gründen«– strenge ästhetische Doktrin, einen sich bestärkenden
und weiter formierenden Klassizismus, als auch in verstreute, ganz praktische
Bemerkungen zur Kunst, die von keinem oenkundig normativen Anspruch ge-
zeichnet sind. Nicht mehr der Gegenstandsbereich oder eine bestimmte Text-
sorte, sondern ein »ästhetisch-didaktisches Programm« verklammert das breite
Spektrum teils heterogener Gattungen und emen. Gemein ist diesen Aussich-
ten aus »ernste[m] Sinne« aber »heitere[r] Stimmung« trotz ihres überzeitlichen
Anspruchs ihr eminenter Zeitbezug. Denn besonders in den letzten Jahren des .
Jahrhunderts geriet der die Weimarer Kunstfreunde einende ästhetische Klassi-
zismus erheblich unter Druck. So drohten mit Napoleons Plünderung der italie-
nischen Kunstsammlungen und Museen gerade jene Erfahrungen unmöglich zu
werden, denen vor allem Goethe den eigenen Aussagen zufolge seine ݊sthetische
Erziehung‹ verdankte. Zwar sollten die italienischen Kunstwerke in Paris erneut
vereint werden, doch waren sie dort weit von ihrem ›natürlichen‹ Ort und dem
3 Vgl. den forschungsleitenden Aufsatz von Helmut Pfotenhauer : ›Weimarer Klassik‹ als Kultur
des Sichtbaren. In : Begrenzte Natur und Unendlichkeit der Idee. Literatur und Bildende Kunst
in Klassizismus und Romantik. Hg. von Jutta Müller-Tamm und Cornelia Ortlieb. Freiburg/Br.:
Rombach 2004 (=Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd.119), S.145–181, der in Goe-
thes Prosa der 1790er Jahre »das Diskontinuierliche, Plötzliche, den heraustretenden Augenblick«
als zentrale Funktionsmerkmale ausmacht (S.172). Für Pfotenhauer ist der »Kult des Sichtbaren,
der dazu beiträgt, Weimar später als klassisch erscheinen zu lassen, […] klassizistisch ausgerichtet
[…]. Aber er ist ein Eekt der Modernisierung wie die Romantik und daher von dieser nicht
prinzipiell unterschieden« (S.148).
4 PI.1, S.III.
5 Werner Busch : Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deut-
schen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin : Mann 1985, S.24.
6 Dirk Kemper : [Art.] Propyläen. In : Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. 3 : Kunst. Hg. von An-
dreas Beyer und Ernst Osterkamp. Stuttgart, Weimar : Metzler 2011, S.318–332, hier S.318.
7 [Goethe :] Einleitung (PI.1, S.IX).
13
Klassizismus in Aktion
speziellen Klima entfernt, das sie– so die unter anderem auf Winckelmann zu-
rückgehende Überzeugung– überhaupt erst ermöglicht hatte.
Die Bildungserlebnisse eines kunstinteressierten Publikums, die aufgrund der
nicht mehr direkt erfahrbaren Einheit der Kunst und einer ihr entsprechenden
Natur zumindest gefährdet schienen, sollten zunächst auf andere Weise, durch ein
großes geopolitisches und kunsthistorisches Gemeinschaftswerk Goethes und Mey-
ers über Italien, ermöglicht werden. Da die politisch turbulenten Jahre vor 
einem solch zeitaufwendigen Vorhaben mit enzyklopädischem Anspruch aber ent-
gegenstanden, rückte an dessen Stelle bald das Propyläen-Projekt. Dieses sollte in
oenerer Form die Weimarer Kunstdoktrin indes nicht nur gegen politische Ver-
änderungen, sondern auch gegen den (angeblich) niedergehenden Geschmack des
Publikums absichern, dessen Verfall Goethe schon im gemeinsam mit Schiller initi-
ierten Xenien-Streit vehement bekämpft hatte. Und schließlich hatte sich die Zeit-
schrift auch noch mit jenen ästhetischen Umwälzungen auseinanderzusetzen, die
sich spätestens seit Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen eines kunstlieben-
den Klosterbruders () abzuzeichnen begannen und dem Klassizismus die ästhe-
tische Hegemonie, ja sogar die prinzipielle Legitimität streitig machten. Die dafür
in erster Linie verantwortlichen Frühromantiker formierten sich zur selben Zeit im
benachbarten Jena und konzipierten dort das Athenaeum, ihren zeitgleich erschie-
nenen publizistischen Parallel- und Gegenschlag. Dessen modernistische Program-
matik einer »progressive[n] Universalpoesie«, emphatisch als eine ewig werdende,
alle Gattungen vereinigende Kunst entworfen,¹ steht dem in der Einleitung in die
8 Vgl. zu dieser Gedankengur, die bei Winckelmann häug anzutreen ist, stellvertretend die Pas-
sage in der Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey
und Bildhauerkunst ; und Beantwortung des Sendschreibens über diese Gedanken. In : [ Johann Joachim
Winckelmann :] Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und
Bildhauerkunst. Zweyte vermehrte Auage. Dresden, Leipzig : Walther 1756, S.105–113, sowie
die Bemerkungen zur »Bildung der Schönheit unter einem wärmeren Himmel« in : Johann Joa-
chim Winckelmann : Geschichte der Kunst des Alterthums. Dresden : Walther 1764, S.22.
9
Vgl. dazu Ingrid Oesterle : Der »neue Kunstkörper« in Paris und der »Untergang Italiens«. Goe-
the und seine deutschen Zeitgenossen bedenken die »große Veränderung« für die Kunst um 1800
durch den »Kunstraub«. In : Poesie als Auftrag. Festschrift für Alexander von Bormann. Hg. von
Dagmar Ottmann und Markus Symmank. Würzburg : Königshausen & Neumann 2001, S.55–70.
10 Vgl. das 116. der im zweiten Stück des Athenaeums erschienenen Fragmente : Athenaeum. Eine
Zeitschrift 1. Bd. (1798), 2. St., S.204–206, hier S.204 ; Friedrich Schlegel : Kritische Friedrich-
Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans
Eichner. 1. Abteilung, 2. Band. München u.a.: Schöningh 1967, S.182f.; dort auch der Hinweis
auf die »zahlreiche[n] Vorformen«, die zeigen, dass es sich dabei um eine programmatisch zu ver-
stehende Synthese frühromantischer Kunsttheorie handelt.
14 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
Propyläen formulierten Grundsatz, dass »die Vermischung der verschiedenen Arten«
eines »der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalles der Kunst« sei,¹¹ nahezu dia-
metral entgegen. Im Unterschied zu den romantischen Fortschrittsphantasien setzte
Goethe auf eine veritable Ästhetik der ›Entschleunigung‹, die auch als Reaktion auf
die Beschleunigungserfahrung nicht nur im Zusammenhang mit der Französischen
Revolution und der napoleonischen Invasion in Italien zu verstehen ist.¹² Das da-
ran geknüpfte »Konzept einer Selbststeigerung durch Ruhigstellung«¹³ bringt einen
scheinbar rückwärtsgewandten Klassizismus hervor, der das ›moderne‹ Wissen um
die eminente Historizität von Kunst zwar teilt, dennoch– im Sinne einer Überwin-
dung– hinter sich zu lassen strebt. »Auf das Abstraktwerden der Welt« reagiert die
›Weimarer Klassik‹ »mit gegenläugen Akzentsetzungen«.¹ Ihre programmatische
Wendung gegen zentrale Aspekte der beginnenden Moderne ist– anders noch als
knapp ein halbes Jahrhundert zuvor bei Winckelmann– nun als ›innermodernis-
tische‹ Fraktionsbildung und Oppositionsbewegung¹ im damaligen literarischen
und künstlerischen Feld zu beschreiben, weshalb nicht zuletzt die Frage nach der
11 PI.1, S.XXIV.
12 Vgl. den von Verlustangst gezeichneten Kommentar Goethes zu den napoleonischen Konszie-
rungen in Italien am Ende seiner Einleitung in die Propyläen : »Man hat vielleicht jetzo mehr
Ursache als jemals, Italien als einen grossen Kunstkörper zu betrachten, wie er vor kurzem noch
bestand. Ist es möglich davon eine Uebersicht zu geben, so wird sich alsdann erst zeigen, was
die Welt in diesem Augenblicke verliehrt, da so viele eile von diesem grossen und alten Gan-
zen abgerissen wurden. / Was in dem Act des Abreissens selbst zu Grunde gegangen, wird wohl
ewig ein Geheimniß bleiben ; allein eine Darstellung jenes neuen Kunstkörpers, der sich in Paris
bildet, wird in einigen Jahren möglich werden« (PI.1, S.XXXVII).– Zum allgemeinen literatur-
und kulturhistorischen Kontext vgl. jetzt die anregende Studie von Mathias Mayer : Stillstand.
Entrückte Perspektive. Zur Praxis literarischer Entschleunigung. Göttingen : Wallstein 2014 ; zu
Goethe vgl. die kursorischen Bemerkungen ebd., S.33–35.
13 Cornelia Zumbusch : Die Immunität der Klassik. Berlin : Suhrkamp 2012 (=Suhrkamp Taschen-
buch Wissenschaft, Bd. 2014), S.250.
14 orsten Valk : Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen. In : Weimarer Klassik. Kultur des Sinn-
lichen. Ausstellungskatalog. Hg. von Sebastian Böhmer, Christiane Holm, Veronika Spinner und
orsten Valk. Berlin, München : Deutscher Kunstverlag 2012, S.11–23, hier S.11. Diese Reak-
tionen zeigen sich nicht nur in »literarischen, kunsttheoretischen und geschichtsphilosophischen
Experimentalanordnungen […], sondern auch in verschiedenen Kulturpraktiken wie dem Woh-
nen, Sammeln und Schreiben« (ebd.).
15 Dass Goethe und Schiller noch im sogenannten ›klassischen Jahrzehnt‹ um ihre Positionen im li-
terarischen Feld kämpften, betont etwa Terence James Reed : Ecclesia militans : Weimarer Klassik
als Opposition. In : Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. von Wilfried
Barner, Eberhard Lämmert und Norbert Oellers. Stuttgart : Cotta 1984 (=Veröentlichungen der
deutschen Schillergesellschaft, Bd.42), S.37–53.
15
Klassizismus in Aktion
spezischen Modernität dieses Widerstands erneut zu stellen wäre.¹ Die schein-
bar unzeitgemäße Verteidigung der ›Schönheit‹ als Zielpunkt jeder künstlerischen
Tätigkeit wird so auch als Reaktion auf die Depotenzierung aller ›fertigen‹ Dichtar-
ten zugunsten der ›ewig werdenden‹ Poesie und der Entfesselung der »Willkür des
Dichters«¹ durch die Frühromanik les- und verstehbar.
Die Propyläen sind nicht nur ein »schon zur Zeit seines Erscheinens seltsam
altertümliches Werk«¹, ja keineswegs ein bloß reaktionäres Organ, mittels dessen
die Weimarer Kunstfreunde sich gegenseitig bestärkten und scheinbar bedrohli-
che Veränderungen abwehrten ; sie sind vor allem das Forum eines sich an euro-
päischen Maßstäben orientierenden Klassizismus : sowohl (.) in theoretischer
Hinsicht, was beispielsweise die bereits in dem kurzen Aufsatz Einfache Nachah-
mung der Natur, Manier, Styl () grundgelegten¹ und hier konzeptionell wei-
terentwickelten Dierenzierungen zwischen Kunst und Natur zeigen, als auch
(.) bezüglich historischer Fundierungen, wie sie vor allem Meyers Abhandlun-
gen Ueber etrurische Monumente oder– auf mehrere Hefte verteilt– Rafaels Werke
besonders im Vatikan liefern, und nicht zuletzt (.) hinsichtlich ganz praktischer
Fragen, was besonders Meyers ebenfalls mehrteiliger Aufsatz Ueber Lehranstalten
zu Gunsten der bildenden Künste, die Bildbeschreibungen oder die Preisaufgaben
belegen, mit denen die Weimarer Kunstfreunde Einuss auf die auch intern mit
gewichtigen Umwälzungen konfrontierte² zeitgenössische Kunstproduktion zu
nehmen versuchten, wenngleich der »unverkennbar kunstpädagogische Impetus
16 Vgl. etwa Helmut Pfotenhauer : Klassizismus als Anfang der Moderne ? Überlegungen zu Karl
Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie. In : Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias
Winner. Hg. von Victoria v. Flemming und Sebastian Schütze. Mainz/R.: von Zabern 1996,
S.583–597 ; Sabine Schneider : Klassizismus und Romantik– zwei Kongurationen der einen
ästhetischen Moderne. Konzeptuelle Überlegungen und neuere Forschungsperspektiven. In : Jahr-
buch der Jean Paul Gesellschaft 37 (2002), S.86–128.
17 Schlegel : [116. Athenaeums-Fragment]. In : Athenaeum 1. Bd. (1798), 2. St., S.206 ; Kritische
Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 1. Abt., 2. Bd. (Anm. 10), S.183.
18 Wanda Kampmann : Goethes ›Propyläen‹ in ihrer theoretischen und didaktischen Grundlage. In :
Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), S.31–48.
19 Vgl. dazu Norbert Christian Wolf : Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische
Schriften 1771–1789. Tübingen : Niemeyer 2001 (=Studien und Texte zur Sozialgeschichte der
Literatur, Bd. 81), S.341–443 ; zusammengefasst in ders.: [Art.] Einfache Nachahmung der Natur,
Manier, Stil. In : Goethe-Handbuch. Kunst (Anm.6), S.303–317.
20 Vgl. etwa Werner Busch : Das Ende der klassischen Bilderzählung. In : Geschichte, Bild, Museum.
Zur Darstellung von Geschichte im Museum. Hg. von Michael Fehr und Stefan Grohe. Köln :
Wienand 1989, S.127–166.
16 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
der Propyläen […] insgesamt ohne die erhote weitere Wirkung [blieb]«.²¹ Goe-
thes Journal bezeugt einen keineswegs spannungsfreien Klassizismus, der sich–
zum letzten Mal mit solchem Erfolg beim avancierten Publikum– eine nationale
Öentlichkeit zu schaen versucht. Die Propyläen stellen durchaus kein einheit-
liches und starres,²² sondern ein oenes,²³ zuweilen widersprüchliches und mit-
hin äußerst modernes Kunstprogramm vor, das seine Ansprüche unter gewissen
Umständen modiziert und sie den Gegebenheiten anpasst. Auch in diesem Sinn
markiert die Zeitschrift also ihrem Namen entsprechend eine ›Schwelle‹²– zwi-
schen dem theoretisch Postulierten und dem praktisch Möglichen.
Den vielfältigen und heterogenen Zielsetzungen entspricht die relativ oene
Form zahlreicher Texte. Zwar enthalten die Propyläen mehrere eher konventio-
nell gebaute Abhandlungen, doch steht diesen eine beachtliche Anzahl an Essays,
ktionalen Dialogen und ktiven Briefen, Übersetzungskommentaren sowie–
mit Miszellen und Preisaufgaben– eher vor- oder beiläugen Texten gegenüber.
Unterscheidet man die Beiträge in inhaltlicher Hinsicht, dann fallen zunächst
die kunsttheoretisch ausgerichteten Arbeiten auf, nicht nur weil sie den Schwer-
punkt vor allem des ersten Hefts und damit den Auftakt des Projekts bilden
(vor allem Ueber Laokoon, Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst und Ueber
Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke), sondern auch weil sie im Rah-
men ihrer bisher fast einzigen wissenschaftlichen Rezeption– nämlich durch die
Goethe-Philologie– die meiste Beachtung fanden. Daneben nahm Goethe mehr
oder weniger ausholende kunsthistorische Abhandlungen in die Zeitschrift auf,
zu deren Erarbeitung Meyer bei Gelegenheit seines Italienaufenthalts –
umfangreiche Materialsammlungen angelegt hatte. Auf diese Weise konnten
die Weimarer Kunstfreunde zahlreiche bedeutende Kunstwerke der klassischen
Antike und vor allem der italienischen Renaissance erstmals in dieser Ausführ-
21 Andreas Beyer : Klassik und Romantik– Zwei Enden einer Epoche. In : Klassik und Roman-
tik. Hg. von A. B. Studienausgabe. München : dtv 2006 (=Geschichte der bildenden Kunst in
Deutschland, Bd. 6), S.9–37, hier S.28.
22 Es ist daher Siegfried Seifert zu widersprechen, der durch die theoretischen Beiträge der Propyläen
»die klassische Kunstlehre systematisch erweitert und abgerundet« ndet. S. S.: Goethe und die
Kulturvermittlung durch Journale. In : Goethe und die Weltkultur. Hg. von Klaus Manger. Hei-
delberg : Winter 2003 (=Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800. Ästhetische Forschungen, Bd. 1),
S.101–157, hier S.116.
23 Diese Oenheit betont auch Burgard, der von den Propyläen sogar als »collection of essays«
spricht. Peter J. Burgard : Idioms of Uncertainty. Goethe and the Essay. University Park : Pennsyl-
vania State Univ. Press 1992, S.27.
24 Vgl. [Goethe :] Einleitung (PI.1, S.IIIf.).
17
Klassizismus in Aktion
lichkeit dem deutschsprachigen Publikum vorstellen. In engem Zusammenhang
damit stehen zum einen die Kunstbeschreibungen, die– mit Ausnahme zweier
Texte der Humboldts und des von Schiller verantworteten Schreibens an den He-
rausgeber– ebenfalls Meyer verfasst hat, zum anderen die Arbeiten zu kunstdi-
daktischen und kunstpraktischen Fragen, die wiederum größtenteils aus Meyers
Feder stammen.
Während die bislang genannten Textgruppen– abgesehen von Goethes kunst-
theoretischen Essays– heute weitgehend vergessen sind und auch nicht außer-
halb der Propyläen ediert, geschweige denn kommentiert wurden,² erlangten die
zentralen kunsttheoretischen Intentionen der Zeitschrift immerhin eine gewisse
Bekanntheit. Doch vermag auch diese Prominenz nicht zu überdecken, dass die
literaturtheoretischen Ziele– die vor allem in den letzten Heften mit Wilhelm
von Humboldts Brief Ueber die gegenwärtige tragische französische Bühne und mit
verschiedenen Texten rund um die Preisaufgaben angestrebt wurden– aufgrund
der spärlichen Beteiligung Schillers und den vielfältigen Nebenbeschäftigungen
des Herausgebers während der nur dreijährigen Lebensdauer des gesamten Pro-
jekts bei weitem nicht im vorgesehenen Maß zur Umsetzung gelangten. Insge-
samt manifestiert sich der didaktische Impetus der Propyläen besonders in den
bekannteren Texten, den kunsttheoretischen Abhandlungen und den Preisauf-
gaben. Und selbst die kunsthistorischen Aufsätze und Kunstbeschreibungen, die
bislang nur wenig Beachtung fanden,² sind keineswegs bloß ein Dokument
ideologischer Stillstellung, sondern zeigen auf originelle Weise einen Klassizis-
mus ›in Aktion‹ : Sie propagieren nicht nur theoretisch eine normative Kunstan-
schauung im Bewusstsein stilgeschichtlicher Historizität, sondern demonstrieren
diese zugleich beschreibungspraktisch und machen sie zum Ausgangspunkt ihrer
kunsthistorischen Bewertungs- und Systematisierungsversuche.²
Aus heutiger Sicht kondensiert sich die historische Bedeutung der Propyläen
insbesondere in folgenden Aspekten : Ästhetikgeschichtlich handelt es sich um die
25 Hier ist allenfalls auf eine den heutigen editionsphilologischen Anforderungen nicht mehr ge-
nügende Edition einiger Meyer-Texte im 19. Jahrhundert zu verweisen ; vgl. [Johann] Heinrich
Meyer : Kleine Schriften zur Kunst. Hg. von Paul Weizsäcker. Heilbronn : Gebr. Henninger 1886
(=Deutsche Literaturdenkmäler des 18. und 19. Jahrhunderts, Bd.25).
26 Erst kürzlich gerieten sie in den Fokus einzelner Beiträge des Sammelbands : Johann Heinrich
Meyer– Kunst und Wissen im klassischen Weimar. Hg. von Alexander Rosenbaum, Johannes
Rößler und Harald Tausch. Göttingen : Wallstein 2013 (=Ästhetik um 1800, Bd.9).
27 Vgl. zu Meyers zugleich kunstgeschichtlichem und kunstdidaktischem Anspruch auch Daniel
Ehrmann : Ordnen und Lenken. Kunstgeschichte und Kunsttheorie in Meyers Beiträgen zu den
Propyläen. In : Johann Heinrich Meyer (Anm. 26), S.255–274.
18 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
wichtigste kunsttheoretische Programmschrift des Weimarer Klassizismus über-
haupt. Sie fungierte nicht zuletzt als herausragendes publizistisches Medium
zur Propagierung der säkularen Doktrin ästhetischer Autonomie und wurde
trotz des ausbleibenden verlegerischen Erfolgs von zahlreichen Künstlern gele-
sen, kommentiert, kritisiert sowie zum Anlass theoretischer Entgegnungen und
kunstpraktischer Widerlegungen genommen, weshalb ihr eine kaum zu über-
schätzende ästhetisch-kunsttheoretische Wirkung zukommt. Ihre literatur- und
werkgeschichtliche Bedeutung gründet darin, dass Goethe in den Propyläen jene
ästhetischen Maximen entwickelt hat, die zum Teil aus seiner poetischen Praxis
gezogen waren und dann als poetologische Prinzipien formal und inhaltlich in
die erzählerische Gestaltung weiterer literarischer Werke eingingen.² Literatur-
soziologisch können die Propyläen eine entscheidende Rolle bei der Anbahnung
der einzigartigen und vor allem strukturell wegweisenden Autor-Verleger-Bezie-
hung Goethes zu Johann Friedrich Cotta beanspruchen : Als erstes gemeinsames
Produkt der Zusammenarbeit dieser beiden zentralen Akteure im deutschspra-
chigen literarischen Feld um  hat das eher kurzlebige Journal die gewichtige
Funktion, ein neuartiges Verhältnis zwischen ökonomischem und symbolischem
Kapital zu begründen.² Und diskurshistorisch sind die Propyläen ein maßgebli-
ches Medium zur Realisierung des Konzepts kollektiver Autorschaft. Dadurch,
dass viele Texte durch mehrere Hände in die letztlich gedruckte Fassung gebracht
wurden, erhielten sie häug den Charakter von Gemeinschaftsarbeiten– und
die Propyläen die Eigenschaft eines ›kollektiven Werks‹.³ Wenngleich die Wei-
28 Zur Nähe der symbolischen Gestaltung von Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) zu dem für die
Propyläen zentralen Aufsatz Ueber Laokoon vgl. Hans-Jürgen Schings : Wilhelm Meisters schöne
Amazone. In : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S.141–206, bes. S.186–191.
29 Vgl. dazu Norbert Christian Wolf : Gegen den Markt. Goethes Etablierung der ›doppelten Öko-
nomie‹. In : MARKT. literarisch. Hg. von omas Wegmann. Bern u.a.: Lang 2005 (=Publikatio-
nen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, Bd. 12), S.59–74 ; überarbeitet in ders.: »Heilige
Uneigennützigkeit« ?– Goethes Umgang mit Geld als Autor und Herausgeber. In : Goethe und
das Geld. Der Dichter und die moderne Wirtschaft. Hg. von Vera Hierholzer und Sandra Richter.
Frankfurt/M.: Freies Deutsches Hochstift 2012, S.166–175. Dass davon trotz hoher ökonomi-
scher Verluste letztlich wohl vor allem Cotta protiert hat, der damals hote, »mit Goethe den
bedeutendsten deutschen Autor zu gewinnen und damit auf dem Weg, aus seinem kleinen Tübin-
ger Unternehmen einen ›national‹ operierenden Verlag zu machen, einen großen Schritt voran-
zukommen«, zeigt Bernhard Fischer : Johann Friedrich Cotta. Verleger– Entrepreneur– Politiker.
Göttingen : Wallstein 2014, S.114.
30 Erst später und eher die Sammlung als die gemeinschaftliche Arbeit betonend spricht Goethe
selbst– im Kontext seiner Umarbeitungen von Wilhelm Meisters Wanderjahre für die vervollstän-
digte Neuausgabe 1829– von einem ›kollektiven Werk‹ (vgl. Gespräch mit Eckermann, 11.9.1828
19
Klassizismus in Aktion
marer Kunstfreunde erst in den folgenden Jahren unter dem Kürzel »W.K.F
auch öentlich als Kollektiv auftraten, deuten bereits die häug gemeinschaftli-
che Arbeitsweise und die bewusst eingesetzte Anonymität konzeptionell auf jene
anti-genieästhetischen Schreib- und Produktionsverfahren voraus, die Goethe
dann Jahrzehnte später in seinem Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre auf
höchst innovative Weise künstlerisch inszeniert hat. Sie waren indes für damalige
Verhältnisse so neuartig, dass ihr innovatives Potenzial erst im späteren zwanzigs-
ten Jahrhundert im Zeichen postmoderner und poststrukturalistischer eorie-
bildung erkannt und gewürdigt werden konnte.³¹
Bisher hat sich die literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Forschung
zu den Propyläen, nicht zuletzt angesichts der unbefriedigenden Editionslage,
thematisch fast ausschließlich auf die Person und die Schriften Goethes kon-
zentriert. Dabei wurden meist einzelne Texte– wie die Einleitung³² und der Es-
say Ueber Laokoon³³– oder übergreifende Problemfelder– etwa die Frage nach
›Goethes Kunstanschauung‹³– in den Fokus der Untersuchungen gerückt. Der
gesamten Zeitschrift in ihrem inneren Zusammenhang widmeten sich dagegen
[MA 19, S.249–252]). Das Dissertationsprojekt von Daniel Ehrmann soll die spezische Kollek-
tivität der Propyläen herausarbeiten und mit ähnlichen Positionen um 1800 konstellieren.
31 Goethes umfangreiche Spätwerke sind in diesem Kontext als Ausdruck einer ›Archivpoetik‹ ge-
deutet worden. Vgl. Steen Schneider : Archivpoetik. Die Funktion des Wissens in Goethes ›Faust
II‹. Tübingen : Niemeyer 2005 (=Hermea, Neue Folge, Bd.108) ; Martin Bez : Goethes ›Wilhelm
Meisters Wanderjahre‹. Aggregat, Archiv, Archivroman. Berlin, Boston : de Gruyter 2013 (=Her-
mea, Neue Folge, Bd.132).
32 Vgl. etwa Burgard : Idioms of Uncertainty (Anm. 23), bes. S.27–36, und Edith Anna Kunz : »Vor-
hallen« und »Heiligtum«. Text- und Kunstkonzept von Goethes »Propyläen«. In : »Ein Unendli-
ches in Bewegung«. Künste und Wissenschaften im medialen Wechselspiel bei Goethe. Hg. von
Barbara Naumann und Margrit Wyder. Bielefeld : Aisthesis 2012, S.35–49.
33 Stellvertretend für die Fülle an Beiträgen darüber sei auf die folgenden neueren Arbeiten verwie-
sen : Simon Jan Richter : e End of Laocoön : Pain and Allegory in Goethe’s »Über Laokoon«. In :
Goethe Yearbook 6 (1992), S.123–141 ; Inka Mülder-Bach : Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goe-
thes Aufsatz »Über Laokoon«. In : Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert.
Hg. von Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäner. Berlin : Akademie 2000 (=Lite-
raturForschung), S.465–479 ; Norbert Christian Wolf : »Fruchtbarer Augenblick«– »prägnanter
Moment« : Zur medienspezischen Funktion einer ästhetischen Kategorie in Aufklärung und
Klassik (Lessing, Goethe). In : Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Auf-
klärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt, Alexander
Košenina, Hartmut Reinhard u. Wolfgang Riedel. Würzburg : Königshausen & Neumann 2002,
S.373–404.
34 Vgl. Matthijs Jolles : Goethes Kunstanschauung. Bern : Francke 1957.
20 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
nur relativ wenige verstreute Publikationen.³ Der vorliegende Band soll mit For-
schungsbeiträgen etwa zur generischen Hybridität der Zeitschrift eine weitere
Konturierung dieses wichtigen Teilbereichs der Klassik-Forschung vorantreiben
und auch die bislang eher selten in den Blick geratene Relevanz der Propyläen
für andere künstlerische Projekte der einzelnen Mitarbeiter näher beleuchten.³
Zwar ist Goethes Anteil an der Redaktion und Revision der einzelnen Beiträge
nicht zu unterschätzen, doch bringt gerade Meyer immer wieder »Gegenstände
und Künstlerpersönlichkeiten in das Journal ein, denen Goethe fremd gegen-
übersteht oder die er auf der italienischen Reise doch willentlich ausgelassen
hat«.³ Das DFG-Projekt »Johann Heinrich Meyer– Kunst und Wissen im klas-
sischen Weimar«, aus dem zwei Monographien über Meyer hervorgehen sollen,
sowie die aufsehenerregende Ausstellung »Der Kunschtmeyer. Ein Zürcher an
Goethes Seite. Johann Heinrich Meyer –« im Züricher Museum Strau-
hof belegen den dringenden Bedarf der aktuellen literaturwissenschaftlichen und
kunsthistorischen Klassizismus-Forschung nach einer Fokuserweiterung auf den
weniger prominenten Mitarbeiter Goethes. Besonders in dieser Hinsicht vermag
die systematische Analyse weiterer Texte und Kontexte, die der vorliegende Band
erstmals gebündelt unternimmt, eine Grundlage für vertiefte Einblicke in das in-
nere Gefüge der klassizistischen Weimarer Ästhetik zu bereiten, vor allem wenn
sie den Anteil Goethes– und gegebenenfalls auch Schillers oder Meyers– an der
Redaktion und Revision einzelner Beiträge anderer Verfasser zu ermessen sucht.
Ebenso sind Analysen des Verhältnisses der Propyläen zu konkurrierenden
Positionen der damaligen ästhetischen Debatte in der bisherigen Forschung
eher unterrepräsentiert. Dabei scheint es unter anderem vielversprechend, Goe-
thes Zeitschrift in ihrer Beziehung zu den publizistischen Rahmenbedingungen,
35 Die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens führt auch Dirk Kempers Überblicksartikel »Pro-
pyläen« vor Augen, der in der gebotenen Kürze den verdienstvollen Versuch unternommen hat,
die Beiträge in eine von inhaltlichen Kategorien geleitete Ordnung zu bringen ; vgl. D. K.: [Art.]
Propyläen. In : Goethe-Handbuch in vier Bänden. Hg. von Bernd Witte u.a. Bd. 3 : Prosaschriften.
Hg. von Bernd Witte und Peter Schmidt. […] Stuttgart, Weimar : Metzler 1997, S.578–593, so-
wie die erweiterte und aktualisierte Fassung des Artikels in : Goethe-Handbuch. Kunst (Anm.6),
S.318–332.
36 Einen der wenigen Versuche in diese Richtung hat Dönike unternommen, der Schillers stärker
theater- als bildästhetische Rezension der Konkurrenzstücke zur zweiten Preisaufgabe in den
Blick nimmt. Vgl. Martin Dönike : Heroisch-pathetische Geschichte(n) in Schillers Schreiben An
den Herausgeber der Propyläen (1800). In : Études Germaniques 60 (2005), Nr. 4, S.613–629.
37 Paul Hocks, Peter Schmidt : Literarische und politische Zeitschriften 1789–1805. Von der politi-
schen Revolution zur Literaturrevolution. Stuttgart 1975 (=Sammlung Metzler, Bd. 121), S.116.
21
Klassizismus in Aktion
den kultur- und kunsthistorischen Hintergründen sowie dem ästhetischen und
kunsttheoretischen Diskurs ihrer Entstehungszeit zu untersuchen. Daneben er-
önet die Frage nach dem Anteil der einzelnen Beiträger an der Zeitschrift die
von der Forschung bisher kaum wahrgenommene Möglichkeit, die Flexibilität
und Modernität des hier entwickelten Kunstprogramms zu beleuchten und dem
in den Propyläen propagierten Klassizismus zumindest jene Vielfalt und Viel-
stimmigkeit zurückzuerstatten, die ihm eine allein auf Goethe ausgerichtete For-
schungsdiskussion bislang meist entzog.
Bei genauerer Betrachtung versprechen nämlich gerade die weniger beachte-
ten, beschreibenden und kunstkritischen Texte Einblicke in den praktischen Voll-
zug des theoretisch ausgearbeiteten Klassizismusprojekts, der von der Kunst- und
Literaturwissenschaft noch nicht gebührend gewürdigt worden ist : Die Anam-
nese der konkreten Kunstbeschreibungen erlaubt eine genaue Untersuchung des
kunsttheoretisch gelenkten und strukturierten Perzeptionsprozesses, mithin die
analytische Rekonstruktion einer bildungsgeschichtlich einussreichen histori-
schen Wahrnehmungsform. Eine unabdingbare Voraussetzung dieser Histori-
sierung der ästhetischen Erfahrung einzelner Kunstwerke ist die konsequente
Kontextualisierung von wahrgenommenem Gegenstand, wahrnehmendem Sub-
jekt und historisch-diskursiver Disposition der Wahrnehmung selbst. In diesem
Zusammenhang sei auf den erst in den vergangenen Jahren wieder ins Zentrum
der kunst- und kulturwissenschaftlichen Betrachtung gerückten Gegenpol der
ästhetischen Kategorie des ›Erhabenen‹ verwiesen : nämlich auf die von der
Kunsttheorie lange vernachlässigten Kategorie des ›Schönen‹,³ in deren Zeichen
zahlreiche Propyläen-Texte stehen³ und deren kunsttheoretische und kunstprak-
38 Vgl . pars pro toto und aus ganz anderer Perspektive etwa Winfried Menninghaus : Das Versprechen
der Schönheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 ; Schöneit. Vorstellungen in Kunst, Medien und
Alltagskultur. Hg. von Lydia Haustein und Petra Stegmann. Göttingen : Wallstein 2006 ; Joachim
Jacob : Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense.
Tübingen : Niemeyer 2007 (=Studien zur dt. Literatur, Bd. 183 ; Konrad Paul Liessmann : Schön-
heit. Wien : Facultas 2009. Einen historischen Überblick gibt Renate Reschke : [Art.] Schön/
Schönheit. In : Ästhetische Grundbegrie. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von
Karlheinz Barck u.a. Bd. 5 : Postmoderne– Synästhesie. Stuttgart, Weimar : Metzler 2003, S.391–
436 ; zum 18. Jahrhundert vgl. ebd., S.396–416. Zur Auseinandersetzung um die Schönheit in
der bildenden Kunst in den Jahrzehnten vor und nach 1800 vgl. Schönheit und Revolution. Klas-
sizismus 1770–1820. Ausstellungskatalog. Hg. von Maraike Bückling und Eva Mongi-Vollmer.
München : Hirmer 2013.
39 Besonders aufschlussreich ist Goethes Verteidigung des Schönen gegenüber der vor allem vom
Archäologen Aloys Hirt stark gemachten Kategorie des Charakteristischen ; vgl. etwa Alessandro
Costazza : Das »Charakteristische« als ästhetische Kategorie der deutschen Klassik. Eine Diskus-
22 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
tische Kontur eine eingehendere Betrachtung zu schärfen verspricht. Aus diesen
kursorischen Überlegungen ergibt sich ein breites Spektrum an möglichen, auf
unterschiedliche Weise von den Beiträgern des vorliegenden Bandes adressierten
Fragestellungen, in dem sich unter anderem folgende leitende Gesichtspunkte
ausmachen lassen :
. In welcher genetischen oder kontrastiven Beziehung stehen die kunsttheo-
retischen Texte der Propyläen zu Goethes italienischen Kunstanschauungen ; wie
verhalten sie sich zu konkurrierenden Ästhetiken und welchen Beitrag können
sie zur Oenlegung der innerliterarischen und innerkünstlerischen Spannungen
um  leisten ?
. Welche Auswirkungen hat die ›kollektive Autorschaft‹– etwa hinsichtlich
des von Goethe später selbst intensiv reektierten, dezidiert anti-genieästheti-
schen Modus künstlerischer Produktion– auf einzelne Beiträge (z. B. auf die
Abhandlung Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst) ?
. Die Propyläen präsentieren sich nicht nur als Reexionsmedium der ›hoch-
klassischen‹ Ästhetik Goethes, sondern enthalten neben einer strengen ästheti-
schen Doktrin und einem sich bestärkenden und weiter formierenden Klassi-
zismus auch verstreute historische Bemerkungen zur Kunst, die von keinem
oenkundig normativen Anspruch gezeichnet sind. Im Anschluss daran stellt
sich die Frage, unter welchen Umständen das Journal seine programmatischen
Zielsetzungen auch modiziert und sie den Gegebenheiten angepasst hat, wenn-
gleich damit– etwa im Verhältnis von Kunsttheorie und -praxis– zuweilen Wi-
dersprüchlichkeiten in Kauf genommen werden mussten.
. Das breite inhaltliche und stilistische Spektrum der in der Zeitschrift ver-
sammelten Texte reicht von theoretischen und historischen Abhandlungen über
literarische Texte verschiedener Gattungen bis hin zu kunstpraktischen Anleitun-
gen. Dies bietet nicht nur die Gelegenheit, das Journal insgesamt in Hinblick auf
das systematische oder kontrastive Verhältnis der Texte zueinander zu untersu-
chen, sondern kann auch als Ausgangspunkt genommen werden, um die gewollte
oder unvermeidliche Pluralität des präsentierten Klassizismus nachzuzeichnen.
. Die Anamnese der konkreten Kunstbeschreibungen ermöglicht eine genau-
ere Untersuchung des kunsttheoretisch gelenkten und strukturierten Wahrneh-
mungsprozesses. Sie kann– mit kunsthistorischem Fokus– zu einer methodolo-
gischen und wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung einzelner Texte oder des
gesamten Projekts führen.
sion zwischen Hirt, Fernow und Goethe nach 200 Jahren. In : Jahrbuch der Deutschen Schillerge-
sellschaft 42 (1998), S.64–94.
23
Klassizismus in Aktion
. Vielversprechend ist auch die Konfrontation der theoretischen und prakti-
schen Vorhaben der Propyläen mit ähnlichen Bestrebungen in anderen deutsch-
sprachigen Kunstzentren. Zu denken wäre dabei an die vielen im Verlauf des
.Jahrhunderts in klassizistischem Sinn neugegründeten oder reformierten
Kunstakademien : In Dresden etwa hielt Winckelmanns ehemaliger Weggefährte
Giovanni Battista Casanova (–)– später sogar Direktor der Dresdner
Akademie– ab  Vorlesungen über die eorie der Malerei ; in Wien trug
Anton Raphael Mengs’ Schüler und Schwager Anton Maron (–) zur
Neugründung der Akademie und zur Auslobung von Romstipendien für begabte
Akademieschüler bei ; und ab  war Adam Friedrich Oeser (–), der
nicht nur Winckelmanns, sondern auch Goethes Zeichenlehrer gewesen ist und
dem im fünften Stück der Propyläen ein eigener Beitrag als Epitaph gewidmet
wurde,¹ Direktor der neugegründeten Zeichenakademie in Leipzig. Neben
diesem ab der Jahrhundertmitte in Deutschland raumgreifenden akademischen
Klassizismus wäre auch der in den vergangenen Jahren intensiv erforschte Ber-
liner Klassizismus zu berücksichtigen,² der in enger zeitlicher, personeller und
konzeptioneller Nähe zu Weimar stand. Insbesondere Karl Philipp Moritz und
der Archäologe Aloys Hirt, die beide in Berlin lehrten, gaben wichtige Impulse
für einzelne Beiträge der Propyläen oder bildeten den Ausgangspunkt für die
Schärfung der Weimarer Position.³ Dies alles kann im vorliegenden Band nur
gestreift werden. Verdeutlicht wird dadurch aber jedenfalls, dass die Propyläen
keineswegs eine nur didaktische Intervention ins Feld der Kunst darstellten, son-
dern zudem an gleich mehrere zeitgenössische akademische Debatten anschlos-
sen, die von Vertretern unterschiedlicher disziplinärer Fachrichtungen teils vehe-
ment geführt wurden.
. Ähnlich fruchtbar erweist sich ein Blick auf die Propyläen im Licht der in-
ternationalen kunsttheoretischen Entwicklung. Nicht nur die Perspektive auf
40 Vgl. Giovanni Battista Casanova : eorie der Malerei. Hg. von Roland Kanz. München : Fink
2008 (=Phantasos, Bd.8).
41 Siehe [Johann Heinrich Meyer :] Oeser (PIII.1, S.125–129).
42 Vgl. das Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur »Berliner Klas-
sik. Eine Großstadtkultur um 1800«, deren Ergebnisse in der Reihe »Berliner Klassik« (Hannover :
Wehrhahn 2004.) publiziert werden.
43 Vgl. etwa die Rolle des unverkennbar auf Hirts Positionen rekurrierenden Charakteristikers in
Goethes Brieferzählung Der Sammler und die Seinigen ; vgl. dazu Wolf : Streitbare Ästhetik (Anm.
19), S.470–473, bes. aber Martin Dönike : Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des
Weimarer Klassizismus 1796–1806. Berlin, New York : de Gruyter 2005 (=Quellen und For-
schungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 34), S.211–236.
24 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
die Programmatiken der Akademien in Frankreich, Italien und England, son-
dern auch eine Verschiebung des Fokus auf einzelne Aspekte des Kulturtrans-
fers– etwa auf die Tätigkeit der Humboldts in Paris, auf die Rezeption von Flax-
mans Werken in Deutschland oder auf die Popularisierung antiker und moderner
Kunst durch großangelegte reproduktionsgraphische Werke– scheinen in dieser
Hinsicht vielversprechend zu sein.
. Insgesamt bedarf nicht nur die den Propyläen eigene eoriebildung einer
erneuten eingehenden Auseinandersetzung. Für eine diskurs- und ästhetikge-
schichtliche Verortung des Projekts ist auch eine Erweiterung des Blicks über
die Grenzen der Zeitschrift hinaus und eine Fokussierung ihres näheren und
weiteren Umfelds nötig. Insbesondere eine Untersuchung der impliziten Bezug-
nahme auf das zeitgleich erscheinende Athenaeum der Brüder Schlegel und das
Verhältnis der beiden Journale zueinander ermöglicht vertiefte Einblicke in die
Formierung des ästhetisch-programmatischen Diskurses um  und könnte
mithin zu einer weiteren Dierenzierung der Beziehungen zwischen Klassik und
Romantik beitragen. Insgesamt gilt die von diesen teils antagonistischen, teils
komplementären Polen markierte diskursive Formation der neueren Forschung
längst als »komplizierte, von Widersprüchen nicht freie Einheit«.
. Schließlich stellt sich die Frage nach der Reichweite des Programms eines
spezischen Klassizismus ›in Aktion‹. Sie gilt zunächst der Funktion der in der
Zeitschrift abgedruckten kunsthistorischen Abhandlungen als teils erstmalige
Vermittler zahlreicher bedeutender Kunstwerke der klassischen Antike und vor
allem der italienischen Renaissance an ein größeres deutschsprachiges Publikum.
Des Weiteren lenkt sie den Blick trotz der starken Konzentration der Propyläen
auf bildende Kunst aber auch auf Eekte und Reexe, auf Zeichen der Adapta-
tion oder Ablehnung des Weimarer Klassizismus-Projekts in literarischen und
nicht-literarischen Texten anderer Autoren der Goethe-Zeit.
Diese und weitere Fragen wurden von Expertinnen und Experten aus Deutsch-
land, Österreich, Frankreich und der Schweiz auf einer internationalen Fachta-
gung diskutiert, die vom . bis zum . Februar  an der Universität Salz-
burg stattgefunden hat. Ausgerichtet hat die Konferenz das seit Anfang 
44 Vgl. dazu Norbert Christian Wolf : Reinheit und Mischung der Künste. Goethes ›klassische‹ Posi-
tion und die frühromantische Poetik Friedrich Schlegels. In : Konstellationen der Künste um 1800.
Reexionen– Transformationen– Konstellationen. Hg. v. Albert Meier u. orsten Valk. Göttin-
gen : Wallstein 2015 (=Schriftenreihe des Zentrums für Klassikforschung, Bd. 2 ; im Druck).
45 Beyer : Klassik und Romantik (Anm. 21), S.15.
25
Klassizismus in Aktion
vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) nanzierte Forschungsprojekt
P -G zur Erarbeitung einer kommentierten Neuedition von Goethes
Propyläen, das am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg angesiedelt
ist. Die Neuedition zielt darauf, das ästhetikgeschichtlich bedeutsame Unter-
nehmen wieder in den Fokus der Forschung zu rücken, indem sie bisher schwer
zugängliche Texte philologisch akkurat wiedergibt und neues Material aus den
Nachlässen der Journal-Beiträger erschließt. Bei der Tagung ging es zum einen
um einen philologischen Gedankenaustausch über die Editionsprinzipien sowie
die Anlage des Kommentars. Zum anderen und nicht zuletzt sollte das Kollo-
quium aber auch die Erarbeitung, Erörterung und Integration neuer inhaltlicher
Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsbereiche auf eine
der ästhetikgeschichtlich maßgeblichen Kunstzeitschriften des ausgehenden .
Jahrhunderts ermöglichen. In der jetzigen Fassung entsprechen die Ergebnisse
der Vorträge und anschließenden Gespräche etwa jenen bekannten Worten, die
Goethe in seiner Einleitung in das Journal formuliert hat :
Die zweifelhafte Sorge, unsere Vorstellungsart möchte uns nur allein angehören, die uns
so oft überfällt, wenn andere gerade das Gegentheil von unserer Ueberzeugung ausspre-
chen, wird erst gemildert, ja aufgehoben, wenn wir uns in mehreren wieder nden ; dann
fahren wir erst mit Sicherheit fort, uns in dem Besitze solcher Grundsätze zu erfreuen,
die eine lange Erfahrung uns und andern nach und nach bewährt hat.
46 Lediglich Goethes und Schillers Arbeiten sind in mehreren Werkausgaben enthalten– aber auch
hier oft unvollständig und unzureichend kommentiert–, während vor allem die Beiträge des ›ei-
ßigsten‹ Autors Johann Heinrich Meyer weitgehend ungreifbar bleiben. Nahezu unmöglich ist
damit die Wahrnehmung der Zeitschrift als Gemeinschaftswerk, die der Forschung überhaupt
erst die materielle Grundlage für einen vertieften Einblick in die spannungsreiche Beschaenheit
des klassizistischen Weimarer Kunstprogramms bereitstellen würde. Die Neuedition der Propy-
läen soll daher der literatur- sowie kunsthistorischen Forschung eine brauchbare Arbeitsgrundlage
bereitstellen, deren Kommentar die Texte in die für ein angemessenes Verständnis notwendigen
Kontexte einordnet und dabei zugleich die im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv bendli-
chen Nachlässe berücksichtigt. Auf Materialien aus diesen Beständen, die im Kommentarteil der
Neuedition der Propyläen allgemein zugänglich gemacht werden sollen, beziehen sich im vorlie-
genden Band u.a.– in der Reihenfolge ihres Abdrucks– die Beiträge von Ehrmann, Wolf, Dönike,
Rößler, Brüning und Keller.
47 Um die Kongruenz von Edition, Kommentar und Sammelband zu gewährleisten, wurden sämtli-
che Zitate aus den Propyläen-Texten (auch) nach dem Erstdruck und nicht etwa nach etablierten
Goethe-Ausgaben vereinheitlicht, so dass sie mit Hilfe der Seitenkonkordanz auch in der Neuedi-
tion leicht aundbar sein werden.
48 PI.1, S.VI.
26 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
Dieses Zitat könnte gewissermaßen als ironisches Motto über dem vorliegenden
Band stehen. Goethe bezeichnet damit das Bedürfnis nach einem Ausgleich der
individuellen Vorstellungen, der die »Gefahr der Einseitigkeit« bannen sollte.
Ein solcher Austausch sollte nicht allein subjektivistische Kurzschlüsse bei der
Betrachtung von Kunst- oder ›Naturwerken‹ verhindern, sondern darüber hi-
naus auch zur gemeinschaftlichen Überprüfung isoliert getroener Urteile bei-
tragen– mithin zur Relativierung nur vorläuger Ergebnisse. Dies gilt ebenso für
die hier präsentierten Resultate der Salzburger Tagung, deren Ziel auch darin be-
stand, weitere Forschungen anzuregen. Der vorliegende Band, der neue Perspek-
tiven auf die Propyläen und ihren diskursiven sowie künstlerischen historischen
Kontext erönet, macht die nach den intensiven Diskussionen überarbeiteten
Beiträge einer größeren wissenschaftlichen Öentlichkeit zugänglich.
A   B
Schon von den Zeitgenossen wurden die häug strengen Urteile der Propyläen
und ihre auf symbolische Darstellungen zielenden¹ kunstpädagogischen Vor-
gaben als normatives Korsett empfunden. Selbst die Autonomietheorie, durch
die den Künsten eigentlich der Ausgang aus heteronomen Funktionszusammen-
hängen möglich werden sollte, erschien einer jungen ›romantischen‹ Generation
als Doktrin, die der schwächelnden Kunst um  nur gemeinsam mit einer
religiösen und nationalen Kontextualisierung neues Leben einhauchen und sie
so wieder im gesellschaftlichen Leben verankern konnte. Dabei oenbart sich
dem ästhetikgeschichtlich informierten Blick, den Sabine Schneider auf das
Propyläen-Projekt und seine Kontexte wirft, dass die Weimarer Kunstfreunde
just an derselben Problematik laborieren, jedoch auf eine andere Weise damit
umzugehen versuchen. Denn die Weimarer Kunsttheorie ist keineswegs von
blindem Fortschrittsoptimismus im Zeichen klassizistischer Normativität gelei-
tet, sondern geprägt von einer tiefen Skepsis gegenüber der Wirksamkeit ihrer
49 [Goethe :] Inhalt (PI.1, S.XXXIX).
50 [Goethe :] Ueber Laokoon (PI.1, S.1).
51 Zur Bedeutung des Symbolischen auch außerhalb der Kunst vgl. Frauke Berndt : Frankfurt– eth-
nographisch. Goethe an Schiller zwischen 16. und 17. August 1797. In : Kultur-Schreiben als
romantisches Projekt. Romantische Ethnographie im Spannungsfeld zwischen Imagination und
Wissenschaft. Hg. von David E. Wellbery. Würzburg : Königshausen & Neumann 2012 (=Stif-
tung für Romantikforschung, Bd.55), S.87–104.
27
Klassizismus in Aktion
eigenen Lösungsversuche angesichts der im Schwinden begrienen kulturellen
Bedeutung von Kunst, wie wenig später Georg Wilhelm Friedrich Hegel wirk-
mächtig herausarbeiten sollte. Schneider verfolgt die Auswirkungen des schon
von Friedrich Nietzsche konstatierten ›Abbruchs einer kulturellen Tradition‹,
zu dem auch die Autonomieästhetik durch ihre Lossprechung der Künste von
gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Religion oder Nation beigetragen hat.
Der Eindruck des kulturellen Bedeutungsverlusts wird noch durch die Beschleu-
nigungserfahrungen, insbesondere seit der Französischen Revolution, verstärkt.
Dieses Bewusstsein der Historizität ndet an mehreren Stellen der Zeitschrift,
nicht zuletzt aber auch in der programmatischer Einleitung ihren Niederschlag.
Goethe konstatiert darin einen »ewigen Wechsel«, eine Beweglichkeit aller
menschlicher Hervorbringungen und Zusammenhänge, denn »da gewisse Dinge
nicht neben einander bestehen können, verdrängen sie einander.«² Im Wissen
um die kulturelle Wandelbarkeit sieht Schneider den Grund dafür, dass die Wei-
marer Kunstfreunde »komplementär und in kritischer Gegensteuerung zur eige-
nen Autonomietheorie ihre Aufmerksamkeit und ihre Anstrengungen verstärkt
auf die gefährdeten oder verlorenen kulturellen Bindungen der Kunst richten.« In
dieser Hinsicht gewinnt Goethes metaphorische Rede von dem durch die Napo-
leonischen Konszierungen nicht nur veränderten, sondern zumindest auch be-
schädigten, wenn nicht gar zerstörten »Kunstkörper«³ eine umfassendere Bedeu-
tung : Nämlich darin, dass die Weimarer Kunstfreunde in den Propyläen Kunst
nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern als einen lebendigen, wachsenden und
sich verändernden Organismus begreifen wollen, eben als ein »Unendliches in
Bewegung«.
Einer ganz anderen Facette der kulturellen Einbindung von Kunst, die aber
ebenso eng mit den von der Französischen Revolution ausgelösten Umbrüchen
verbunden ist, wendet sich der Beitrag von Hans-Jürgen Schings zu. Aus der
schier unüberschaubaren Menge an Aspekten, die das (vornehmlich kritische)
Verhältnis von klassischem Weimar und revolutionärem Frankreich bestimmen,
greift er zwei Kunstwerke heraus, die auf den ersten Blick denkbar wenig mit-
einander zu tun zu haben scheinen : die antike Laokoon-Gruppe, die als »das
geschlossenste Meisterwerk der Bildhauerarbeit« einen Platz im Zentrum der
52 PI.1, S.XXI.
53 [Goethe :] Einleitung (P.1, S.XXXVII).
54 Winkelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen herausgegeben von Goethe. Tübin-
gen : Cotta 1805, S.420.
55 [Goethe :] Ueber Laokoon (PI.1, S.18).
28 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
weimarischen Kunsttheorie besetzt hält, und Jacques-Louis Davids zur Ikone
der Revolutionskunst aufgestiegenes Gemälde La Mort de Marat. Diese beiden
Werke und ihre Begleitdiskurse lässt Schings stellvertretend für die Weimarer
und die Pariser Ästhetiken, die– wie der materialreiche Beitrag zeigt– kaum von
ihren (kunst)politischen Kontexten zu trennen sind, einander gegenübertreten.
So könne Goethes Aufsatz Ueber Laokoon nur vor dem Hintergrund der fran-
zösischen Beschlagnahmungen antiker Kunstwerke in Italien adäquat verstan-
den werden. Wer das revolutionäre Paris– so Schings– nicht als den stärksten
Widersacher der ›Weimarer Klassik‹ erkennt, dem müsse sie zu Recht als »pre-
käres Gebilde im luftleeren Raum« erscheinen. Wenn aber die Weimarer Posi-
tion als »bestimmte Negation« aufgefasst und in einem ästhetisch/politischen
Konkurrenzverhältnis verortet wird, dann werde deutlich, dass »Weimar dem
totalitären Civismus der ›zweiten Revolution‹ seinen ästhetischen Humanismus
entgegen[setzt]«. Während Goethe anhand der Laokoon-Gruppe seine Autono-
mietheorie veranschaulicht, nach der Kunst von allen ihr unwesentlichen bildli-
chen wie sprachlichen Anhängseln zu befreien sei, politisiert David sein Gemälde
ausgerechnet durch die Hinzufügung von Inschriften und lässt es so zu einem für
die Zeitgenossen nur allzu deutlich vernehmbaren Aufruf zur Rache an Marats
mutmaßlichen Mördern geraten. Die Trennung des Kunstwerks von allem His-
torischen auf der einen, die bewusste Koalition von Kunst und Revolution auf der
anderen Seite : mit dieser Kontextualisierung kann Schings den Laokoon in sei-
ner Weimarer Deutung und den Pariser Marat nicht nur aufeinander beziehbar,
sondern diese Beziehung sogar als Eekt einer polemischen Konstellation lesbar
machen.
Sollen aber die Kunstwerke von allem politischen und religiösen, »von allem
poetischen und mythologischen Beywesen […] entkleidet« werden, dann wird
damit die Kunst nicht einfach gereinigt, sondern im selben Augenblick auch ihre
Bedeutung verunsichert und ihr kultureller Sinn gefährdet. Von dieser Beobach-
tung ausgehend untersucht der Beitrag von Daniel Ehrmann das spannungsvolle
Verhältnis von Autonomietheorie und (kultureller) Bedeutung, von Materialität
und Medialität der Kunst im Kontext der Propyläen. Die Beiträge der Zeitschrift
sind Ehrmann zufolge von einer Unsicherheit in der eoretisierung bildender
Kunst geprägt, die sich nicht nur aus der Heterogenität des Mitarbeiterkollek-
tivs, sondern auch aus diesem Spannungsverhältnis herleiten lasse. Der norma-
tive Gestus vieler Texte kann deshalb nicht mit einer stringenten eorie gefüllt
werden, weil diese durch die gleichzeitige Betonung von Sinnlichkeit und Sinn
56 [Goethe :] Ueber Laokoon (PI.1, S.7).
29
Klassizismus in Aktion
einen praktisch kaum zu bewältigenden double bind erzeugt. Das klassizistische
Gemeinschaftsprojekt der Weimarer Kunstfreunde lässt sich damit auch als Re-
aktion auf die vielfach konstatierte Krise der Zeichen in der beginnenden Mo-
derne verstehen. Für Ehrmann ist aber gerade im Versuch der Propyläen, dem
autonomen Kunstwerk durch Operativisierung seine Bedeutung zurückzugeben,
ein Grund für den relativ geringen Erfolg ihrer ästhetischen Reformbemühungen
zu suchen.
N   K
Während der junge Goethe Natur und Kunst unter genieästhetischen Vorzei-
chen relativ vorbehaltlos gleichsetzte, gerät dieses intrikate Verhältnis dem im-
mer stärker auch selbst naturwissenschaftlich tätigen ›klassischen‹ Goethe zu-
sehends zu einem ernstzunehmenden epistemologischen Problem. Zwar spannt
sich zwischen den beiden Bereichen ein unauösliches Beziehungsgeecht, doch
müssen sich Künstler wie Betrachter davor hüten, »Natur und Kunst zu con-
fundiren«, denn eine »vollkommne Nachahmung der Natur ist in keinem Sinne
möglich, der Künstler ist nur zur Darstellung der Oberäche einer Erscheinung
berufen.« Dennoch müsse jede künstlerische Praxis auf einer profunden Kennt-
nis der Natur aufruhen, wie Goethe schon in dem zu Beginn des Jahres 
erschienenen Aufsatz über Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl festge-
halten hat. Demnach müsse sich ein jeder Künstler, der es unterlässt »sich an
die Natur zu halten und an die Natur zu denken« zugleich »immer mehr von
der Grundfeste der Kunst entfernen«. Doch ist mit dieser Absage an die Ma-
nier keineswegs dem einfachen ›Naturalism‹ das Wort geredet. Es ist ein Drittes,
der ›Styl‹, der aus einer »auf den höchsten Punckt der Reinheit« gebrachten
Kenntnis hervorgeht und »auf dem Wesen der Ding¹ ruht, durch den Werke
überhaupt ermöglicht werden, die »sich den höchsten menschlichen Bemühun-
57 [Goethe :] Diderots Versuch über die Mahlerey. Uebersetzt und mit Anmerkungen begleitet.
(PI.2, S.1–44, hier S.10 [Goethes Kommentar]).
58 Goethe : Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Styl (MA 3.2, S.186–191, hier S.190).
59 Zur prekären Inszenierung des ›Styls‹ als Synthese vgl. Wolf : Streitbare Ästhetik (Anm. 19),
S.364–381 ; vgl. auch ebd., S.500–529 ; ders.: [Art.] Einfache Nachahmung der Natur, Manier,
Stil (Anm. 19), S.309–311.
60 Goethe an die Herzogin Louise, [12.-]23.12.1786 (WA IV, 8, S.97).
61 Goethe : Einfache Nachahmung der Natur (MA 3.2, S.188).
30 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
gen gleichstellen« dürfen.² Es ist somit dieser in höchstem Grade wissensge-
sättigte ›Styl‹, durch den Kunst im emphatischen Sinne allererst hervorgebracht
wird. Ohne Natur ist keine Kunst zu haben, doch ohne Ästhetisierung bleibt sie
bloße Natur.
Die Frage, wie dieses prekäre Verhältnis zwischen Natur und Kunst genau zu
fassen sei, ist ein anhaltendes Problem der nachitalienischen Zeit, das Goethe
noch weit über das Projekt der Propyläen hinaus beschäftigt hat. Das zentrale Di-
lemma dieses Verhältnisses stellt bereits die Einleitung in die Propyläen aus. Denn
es ist zwar »[d]ie vornehmste Forderung, die an den Künstler gemacht wird, […]
daß er sich an die Natur halten, sie studiren, sie nachbilden, etwas, das ihren Er-
scheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle.«³ Dennoch hält man sich zugleich
bewusst, »[w]ie groß, ja wie ungeheuer diese Anforderung sey«, denn : »Die Natur
ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft getrennt, welche das Genie selbst,
ohne äussere Hülfsmittel, zu überschreiten nicht vermag.« Das angestrebte Ziel
ist damit immer noch die Natur, das Problem aber ihre Unerreichbarkeit. Die
Kunst daher als ein ›Analogon der Natur‹ und zugleich in ihrer genuinen Qua-
lität zu bestimmen, war eines der zentralen Anliegen der gesamten Zeitschrift.
Hierfür spielt insbesondere die Betonung der Aktivität des wohlausgebildeten
Künstlers im Unterschied zum Dilettanten eine bedeutende Rolle. Denn indem
er »irgend einen Gegenstand der Natur ergreift, so gehört dieser schon nicht
mehr der Natur an, ja man kann sagen : daß der Künstler ihn in diesem Augen-
blicke erschae, indem er ihm das Bedeutende, Characteristische, Interessante,
abgewinnt, oder vielmehr erst den höhern Werth hineinlegt.« Darin erkennt
Goethe den wesentlichen, bereits mit Blick auf den Betrachter bemessenen Ei-
genwert der Künste.
Als Goethe daher mitten unter den Plänen zu dem großangelegten, doch
letztlich nicht realisierten Buchprojekt über die Kultur Italiens, aus dem sich die
Propyläen maßgeblich speisen, eine postum im Druck erschienene kunsttheoreti-
sche Schrift von Denis Diderot in die Hände el, musste diese beinahe zwangs-
62 Ebd.
63 PI.1, S.XI.
64 Alle Zitate aus [Goethe :] Einleitung (PI.1, S.XI).
65 PI.1, S.XVIII.
66 Vgl. Mathias Mayers Hinweis, dass Goethe den Künstler dabei »der Paradoxie aussetzt, dem Le-
ben nur dadurch Dauer in der Kunst und über den Tod hinaus verleihen zu können, daß er dem
Leben die natürliche Lebendigkeit entzieht und es der Ewigkeit der Kunst und des Todes über-
läßt.« (M.M.: Midas statt Pygmalion. Tödlichkeit der Kunst bei Goethe, Schnitzler, Hofmanns-
thal und Georg Kaiser. In : DVjs 64 (1990), H.2, S.278–310, hier S.291)
31
Klassizismus in Aktion
läug das höchste Interesse des künftigen Zeitschriftenherausgebers erwecken,
der gerade dabei war, seine italienischen Erfahrungen kunsttheoretisch fruchtbar
zu machen. Es handelt sich bei dem Text um die Essais sur la peinture, die be-
reits kurz nach ihrem Erscheinen im revolutionären Paris vom Intelligenzblatt
der Allgemeinen Literatur-Zeitung als das »wichtigste Product im Fache der schö-
nen Literatur, das seit  Monaten in und außer Frankreich mit gleicher Begierde
verschlungen und gepriesen wird«, gefeiert wurden. Dass die Essais zu diesem
Zeitpunkt Goethes besonderes Interesse zu wecken vermochten, lag nicht zuletzt
daran, dass er darin an zentralen Stellen ebenfalls das Verhältnis von Natur und
Kunst behandelt fand, mit dem er sich selbst gerade theoretisch auseinandersetzte.
Diderot plädiert darin als Gegner des französischen Akademismus– beinahe das
Gegenteil von Goethes Überzeugungen aussprechend– für eine Annäherung der
Kunst an die Unmittelbarkeit der Natur, und obwohl Goethe von diesem »seltsa-
men, genialischen Sophisten« und seinem rhetorischen Esprit unleugbar faszi-
niert war, konnte er dessen Ansichten nicht ohne weiteres teilen. Daher mag der
Rückgri auf Diderots Text– so Elisabeth Décultot in ihrem Beitrag– auf den
ersten Blick etwas erstaunen, eignet sich doch der unzusammenhängende, extrem
sprunghafte Text nicht wirklich für eine grundlegende theoretische Auseinander-
setzung mit den Aufgaben der Kunst. Gerade deshalb aber könne Goethe sich
die Essais im Rahmen seiner Übersetzung regelrecht aneignen, indem er insbe-
sondere durch den Rückgri auf die Form eines ktiven Dialogs die Grenzen der
herkömmlichen Übersetzung erweitert und durch die Umgestaltung des franzö-
sischen Originals gar einen neuen Text erzeugt, der eher seinen eigenen Intentio-
nen als Herausgeber der Propyläen entspreche als den ursprünglichen Absichten
Diderots. Anstelle einer »zusammenhangende[n] Abhandlung« oder »Vorlesung«
über die bildenden Künste vermittle Goethe im Rahmen der Propyläen daher
eine kommentierende und ›controvertirende‹ Übersetzung der Essais.
Solche poetischen Strategien der Distanzierung und der Relativierung der ei-
genen theoretischen Überzeugung begegnen noch in weiteren Texten der Propy-
läen, vor allem in solchen, die mehrheitlich Goethe zuzurechnen sind. Hatte er
bei seiner Übersetzung der Essais die eigene Position zur bildenden Kunst dif-
ferenziert, indem er sie in den– nur scheinbar– gleichberechtigten Wortwech-
67 Allgemeine Literatur-Zeitung, Intelligenzblatt, Nr. 66, 1.6.1796, Sp. 548.
68 Goethe an Meyer, 8.8.1796 (WA IV, 11, S.149).
69 PI.2, S.1.
70 Goethe an Meyer, 8.8.1796 (WA IV, 11, S.150).
32 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
sel eines imaginierten Gesprächs mit einem »abgeschiednen Gegner«¹ einge-
ochten, seine Ansichten also in einer dynamischen kommunikativen Situation
geäußert hat, in der die Angemessenheit des Urteils mitunter durch Erregung
oder Sympathie beeinträchtig werden kann ; so zieht er sich in Ueber Wahrheit
und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke hinter die Form eines noch viel stärker k-
tionalisierten und literarisierten ›Gesprächs‹² zurück. Wenngleich auch dieser
von einer gebrochenen Maieutik bestimmte Dialog keineswegs im eigentlichen
Sinn als systematisch-theoretische Abhandlung verstanden werden kann, erlaubt
er dennoch Einblicke in ästhetische Problemlagen, aus denen sich– so Dieter
Borchmeyer in seinem Beitrag– noch die späteren musik- und opernästheti-
schen Äußerungen Goethes herleiten lassen. Wie Peter J. Burgard³ macht daher
auch Borchmeyer den Text als »Dialog-Essay« fruchtbar, der trotz seiner poeti-
schen Gestaltung sukzessive den Unterschied zwischen einer äußeren Wahrheit
als Naturwahrheit und einer inneren Wahrheit als Kunstwahrheit aufbaut. Die
Oper werde dabei konsequent als das »Paradigma des Kunstwahren« behandelt.
Als wesentliches Kriterium der Aufwertung dieser zuvor vielfach geschmähten
Kunstgattung identiziert Borchmeyer den starken Anteil der Musik : Denn das
Musikalische ist seiner Natur gemäß antimimetisch und daher bestens geeignet,
eine gewichtige Rolle in der klassizistischen Kunsttheorie zu übernehmen. Indem
mit der Aufwertung der Musik zugleich die Bedeutung des Inhalts zugunsten
der Form gemindert wird, was einer von Schiller postulierten allgemeinen ästhe-
tischen Tendenz entspricht, lässt sich das Gespräch Ueber Wahrheit und Wahr-
scheinlichkeit der Kunstwerke wiederum an die kunst- und theatertheoretischen
Debatten rückbinden, die Goethe vorher brieich mit Schiller geführt hat. Daher
stellt das Gespräch– so Borchmeyer– nicht nur eine wesentliche theoretische
Grundlage für die praktische Umsetzung der Weimarer eaterreform dar, son-
dern nimmt auch den Kern von Goethes späteren musikästhetischen Ansichten
vorweg, da beide auf der Grundidee Goethes und Schillers gründen, dass die
Musik »die exemplarische Kunst der Moderne ist«.
71 PI.2, S.3.
72 So die Gattungsbezeichnung im Untertitel (PI.1, S.55).
73 Burgard : Idioms of Uncertainty (Anm.23) interpretiert all jene Texte der Propyläen als Essays, die
seinen Essayismuskriterien »processuality, dialogue, and open-endedness« entsprechen (vgl. S.31),
weshalb für ihn Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke »the most obviously dialogic
of Goethe’s essays« darstellt (S.124).
74 Vgl. Friedrich Schiller : Die schmelzende Schönheit. Fortsetzung der Briefe über die ästhetische
Erziehung des Menschen. In : Die Horen. 1. Jg. (1795), 6. St., S.45–124, hier 22. Brief, S.75 ;
SNA 20.1, S.382.
33
Klassizismus in Aktion
Nicht zu übersehen ist dabei, dass insbesondere der antimimetische Charakter
der Musik ihr das Interesse und die Wertschätzung Weimars sichert. So ist es
denn auch das musikalische Element, das die ästhetische Illusion in der Oper
durchbricht und sie beständig ihre eigene Künstlichkeit ausstellen lässt. Nur
durch die Übereinstimmung »mit sich selbst« und nicht mit einer äußeren
Wirklichkeit erreicht das Musikdrama Geschlossenheit und erhält somit seinen
eigentlichen Kunstcharakter. Die Wahrheit der Oper ist daher eine im besten
Sinne ästhetische : eine Wahrheit nämlich, die– wie Schiller schon in den Brie-
fen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen festgehalten hat–, »die Denkkraft
selbstthätig und in ihrer Freyheit hervorbringt«, weil die formbetonte Kunst
der Oper dem Betrachter die »Gemüthsfreyheit« belassen habe. Und dennoch
will sich die oenkundige Mischgattung des Musikdramas, die theatrale, mu-
sikalische und sogar bildkünstlerische Elemente kombiniert, nicht recht in die
streng separierende Genrepolitik Weimars fügen. Weil die Künste und Kunst-
gattungen miteinander verwandt sind– so Goethe in seiner Einleitung in die
Propyläen selbst– haben sie »eine gewisse Neigung, sich zu vereinigen, ja sich in
einander zu verliehren ; aber eben darinn besteht die Picht, das Verdienst, die
Würde des ächten Künstlers, daß er das Kunstfach, in welchem er arbeitet, von
andern abzusondern, jede Kunst und Kunstart auf sich selbst zu stellen, und sie
aufs möglichste zu isoliren wisse.«
Von diesem oenbaren Widerspruch zwischen dem Imperativ zur Grenzzie-
hung zwischen den Künsten und einer gewissen Anität zu genera mixta auch
in den Propyläen geht der Beitrag von Ernst Osterkamp aus. Bemerkenswert er-
scheint es ihm, dass Goethe zwar »die Vermischung der verschiedenen Arten« als
»[e]ines der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalles der Kunst« betrachtet, im
Gespräch Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke die Oper aber–
ganz so, als gelte hierbei die Forderung nach Gattungsreinheit nicht– vor allem
mit Blick auf »Fundamentalgesetze aller Kunst« rechtfertigt. Davon ausgehend
hebt der Beitrag nun nicht auf die gut erforschte Verbindung von Musik und
eater ab, sondern deckt eine von der bisherigen Forschung weitgehend unbe-
merkt gebliebene Anität von Schauspiel und bildender Kunst auf, die von den
Propyläen auch theoretisch begründet wird. Dies unternimmt allerdings weder
75 [Goethe :] Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (PI.1, S.60).
76 Schiller : Die schmelzende Schönheit (Anm. 74), hier 23. Brief, S.79 ; SNA 20.1, 384.
77 Schiller : Die schmelzende Schönheit (Anm. 74), hier 22. Brief, S.76.
78 PI.1, S.XXIVf.
79 PI.1, S.XXIV.
34 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
Goethe noch Schiller, sondern der damals mit seiner Frau in Paris lebende Wil-
helm von Humboldt, und zwar in einem brieich übermittelten Aufsatz Ueber die
gegenwärtige französische tragische Bühne. Osterkamp liest diesen Text nicht nur
als quasi-anthropologischen Vergleich zweier Nationalkulturen, sondern arbeitet
vor allem die von Humboldt beschriebene Fähigkeit der französischen Schau-
spieler heraus, alle darstellerischen Elemente so durchzugestalten, dass sich die
Tragödie unweigerlich »als ästhetische Totalität von der Wirklichkeit des Zu-
schauers abhebt«. Indem die französischen Schauspieler das eater als Raum-
kunst auassen und gemäldeähnliche Tableaus inszenieren, werde es– so Oster-
kamp– erst zu einer von der Wirklichkeit der Natur strikt getrennten autonomen
Kunstform. Mit Blick sowohl auf die dramatischen Kompositionen der bei den
ersten Weimarer Preisaufgaben prämierten Stücke als auch auf Goethes und
Schillers durchaus malerische Dramatik stellt Osterkamp die »Übergängigkeit
zwischen Dichtung und Malerei« im Zeichen klassizistischer Bildphantasie als
Teil der antimimetischen Kunstprogrammatik der Weimarer Kunstfreunde aus.
P  V
Der Rückzug hinter poetische Präsentationsformen, aber auch die wiederholt ein-
gesetzte Vielstimmigkeit führen zu der bereits angesprochenen Verunsicherung
und Verunklärung der theoretischen Positionen in den Propyläen. Dies bemerkt
auch Johannes Grave, demzufolge Goethe es geradezu ostentativ vermeidet, »seine
Autonomieästhetik in einer theoretischen Abhandlung zu entwickeln«. Zwar las-
sen die Propyläen immer wieder die Position des Herausgebers erkennen, doch
bringen sie auch teils gegenteilige Meinungen ins Spiel und nehmen ironische
Distanzierungen vor. Entgegen eines geläugen Vorurteils stellen die Propyläen
kein geschlossenes, normatives Manifest der klassizistischen Kunstdoktrin dar
und treten deshalb auch »nicht in einen mit höchstem Ernst verfochtenen Streit
der Manifeste und Programme ein.« Stattdessen erheben sie, wie Grave zeigt, ne-
ben der Vielfalt der Stimmen auch die Pluralität der präsentierten Sichtweisen
und Dinge zu ihrem Leitprinzip. So wartet die Zeitschrift mit einem ausgespro-
chen vielfältigen Korpus an Kunstwerken auf, das Beispiele aller Gattungen, Zei-
80 Vgl. Wilhelm von Humboldt an Goethe, 18.8.1799. In : Goethe’s Briefwechsel mit den Gebrü-
dern Humboldt (1795–1832). Im Auftrage der Goethe’schen Familie herausgegeben von [Franz
eodor] Bratranek. Leipzig : Brockhaus 1876 (=Neue Mittheilungen aus Johann Wolfgang von
Goethe’s handschriftlichem Nachlasse, Bd.3), S.83–115.
35
Klassizismus in Aktion
ten und– vielleicht am überraschendsten– auch Qualitätsniveaus umfasst. Mit
Blick auf das Gespräch Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke und
die Brieferzählung Der Sammler und die Seinigen führt Grave vor, wie die Propy-
läen immer wieder die Fixierung auf wenige Meisterwerke, die klassizistischen
eorieentwürfen sonst vielfach eignet, überwinden können. Die Ausweitung des
klassizistischen Blicks auf nicht-kanonische Werke lässt es für Grave zudem deut-
lich werden, dass sich Goethes grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Na-
tur und Kunst mit einem bildtheoretischen Problem verknüpft. Unter bild- und
medientheoretischen Vorzeichen nimmt er mit den gemalten Zuschauern auf der
Opernbühne (Ueber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke) und einem
illusionistischen Familienporträt (Der Sammler und die Seinigen) zwei Gemälde in
den Blick, die sich gerade nicht am »Regelwerk des Klassizismus« messen lassen.
Er entdeckt ein im Hintergrund wirksames Betrachtungsdispositiv, das auf dem
Bildbewusstsein der Betrachter aufbaut, und legt so eine gänzlich neue Verbin-
dung in Goethes pädagogischem Verhältnis zum Publikum oen.
Der Verzicht auf eine ausschließliche Behandlung solcher Werke, wie sie ty-
pischerweise von der klassizistischen eoriebildung fokussiert wurden, erscheint
umso erstaunlicher, als sich Goethe in seinem aus dem Umfeld der Propyläen
stammenden Aufsatzentwurf Über strenge Urteile davon überzeugt gibt, »daß kein
neues Kunstwerk das gegen die Muster der Alten gestellt« würde, neben diesen
»völlig bestehen könne«.¹ Dennoch hat die Zeitschrift am Ende nicht nur das
Korpus der behandelten Werke deutlich erweitert, sondern auch die ›streng ur-
teilende‹ Position wiederholt zugunsten einer Vielfalt von Perspektiven aufgege-
ben. Besonders das Erscheinen von Der Sammler und die Seinigen ist für Norbert
Christian Wolf auch als »Antwort auf das in den Propyläen unbefriedigt blei-
bende Unterhaltungsbedürfnis« zu verstehen. Einem entstehungsgeschichtlich
und gattungstheoretisch interessierten Blick wird dabei deutlich, dass Goethes
konsequente Bezeichnung des Textes als ›Roman‹ nicht nur dessen unterhaltende
Funktion betont, sondern dass der Gattung bereits in den Bestimmungsversu-
chen des späten . und frühen . Jahrhunderts eine grundsätzliche Oenheit
und Vielfalt attestiert wurde, die Michail Bachtin im . Jahrhundert als ›dia-
logische Beziehung‹ zwischen Autor- und Figurenrede genauer gefasst hat. In
dieser gattungspoetisch fundierten Dialogizität sei– so Wolf– ein wesentlicher
Grund für die Pluralität der Positionen in Der Sammler und die Seinigen aufzusu-
chen. Innerdiegetisch korrespondiere sie mit jener Form von Geselligkeit, durch
die schließlich auch die Figur des Philosophen in die ›Sozietät‹ des Sammlers
81 Johann Wolfgang Goethe : Über strenge Urteile (MA 6.2, 142–144, hier S.143).
36 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
eingegliedert wird. In dieser Perspektive erscheine der ›kleine KunstRoman‹² als
von einer regelrechten Poetik der Geselligkeit geprägt. Durch die Vielfalt der
Figurenperspektiven werde aber zugleich die Formulierung einer »homogenen
Gesamtaussage« verhindert.
Der Beitrag von Martin Dönike nimmt die in der bisherigen Forschung weit-
gehend vernachlässigten altertumskundlichen Aufsätze von Johann Heinrich
Meyer in den Fokus und macht damit auf die inhaltliche Pluralität und aukto-
rielle Vielstimmigkeit aufmerksam, die bislang meist übersehen wurde. Dies ist
insbesondere deshalb angezeigt, weil Beiträge wie Ueber Etrurische Monumente
oder Niobe mit ihren Kindern, obwohl sie heute weitgehend vergessen sind, von
vielen Zeitgenossen mit großem Interesse gelesen wurden.³ Dönikes genauer
Blick auf die Textverfahren zeigt, dass Meyers teils mit großer Akribie vorge-
nommene analytische Beschreibungen, etwa im Vergleich mit Goethes Laokoon-
Aufsatz, »im höchsten Grade unanschaulich« sind. Gerade darin erkennt Dö-
nike aber die relative Modernität von Meyers Ekphrasis, die sich im Ergebnis
nur wenig von heutigen archäologischen Untersuchungen unterscheiden. Indem
er diese analytischen Untersuchungen auch mit Meyers nahezu emphatischen
Beschreibungen der Landschaft um Fiesole kontrastiert, führt Dönike die rela-
tive textuelle Vielfalt von Meyers Beiträgen zu den Propyläen vor Augen, die sich
damit als ein bemerkenswertes Beispiel für die vom Herausgeber Goethe bewusst
orchestrierte Vielstimmigkeit des Weimarer Klassizismus erweisen.
K   K
Schon die Einleitung in die Propyläen hebt mehrfach auf die kunstdidaktischen
Anliegen der Weimarer Kunstfreunde ab und weist somit nachdrücklich darauf
hin, dass der eigentliche Zielpunkt ihrer Bestrebungen in der Verbesserung der
zeitgenössischen praktischen Kunstausübung liegt. Dafür werden »Maximen
zur Bildung des Künstlers, zur Leitung desselben in mancher Verlegenheit«,
82 MA 6.2, S.139.
83 Zur Bedeutung Weimars als ein Zentrum der Antikerezeption vgl. Martin Dönike : Altertums-
kundliches Wissen in Weimar. Berlin, Boston : de Gruyter 2013 (=Transformationen der Antike,
Bd.25), S.7–21.
84 Vgl. dazu ausführlich auch Ernst Osterkamp : Im Buchstabenbilde. Studien zum Verfahren Goe-
thescher Bildbeschreibungen. Stuttgart : Metzler 1991, S.100–119.
85 PI.1, S.XXVIf.
37
Klassizismus in Aktion
formuliert, auf dass »der belebende Künstler, bey dessen Arbeiten wir vielleicht
einiges zu erinnern fänden, unsere Urtheile auf diese Weise bedächtig prüfte.«
eorie und Praxis bedingen einander, und die Regeln künstlerischer Produk-
tion lassen sich nur aus einem Wechselspiel dieser beiden Pole erreichen. So
solle jeder wahre Künstler nicht nur die über ihn gefällten Urteile der Weima-
rer Kunstfreunde prüfen, sondern sogar versuchen, »sich, aus Arbeit und eignem
Nachdenken, wo nicht eine eorie, doch einen gewissen Inbegri theoretischer
Hausmittel zu bilden«. Um diese »Hausmittel« aber zu objektivieren, sei der
Austausch mit anderen Künstlern und eoretikern vonnöten, für den sich die
Propyläen zugleich als Medium anbieten. Nicht zuletzt deshalb, weil man die an
der Kunst um  festgestellten Symptome der Schwäche auf die Vereinzelung
und Individualisierung der Künstler zurückzuführen geneigt war, setzten sich
die Weimarer Kunstfreunde– wie Goethe in einem Paralipomenon zur ersten
Preisaufgabe von  bemerkt– zum Ziel, »recht bald ins Praktische der Kunst
einzugreifen und sich mit wackern Künstlern zu mancherlei guten Werken zu
vereinigen.«
Damit brachten sich die Propyläen zugleich in ein bestimmtes kritisches Ver-
hältnis zur zeitgenössischen Künstlerausbildung, das mit besonderem Fokus auf
die Kunstakademien um  auch im Zentrum von Frank Büttners Beitrag steht.
Ein Blick auf die deutsche Akademien-Landschaft im . Jahrhundert zeigt, dass
die Welle der Um- und Neugründungen, die ab der zweiten Jahrhunderthälfte
etwa in Wien, Berlin, Dresden, Düsseldorf, Stuttgart und München Kunstakade-
mien entstehen ließ, nur sehr bedingt auch mit Weiterentwicklungen der immer
noch von den Vorreitern der Accademia di San Luca in Rom und der Académie
Royale in Paris geprägten curricularen Systeme einherging. Kein Wunder also, dass
sich Asmus Jakob Carstens noch  zu dem später berühmt, ja geradezu zur
Ikone des künstlerischen Antiakademismus gewordenen Brief an den preußi-
schen Minister Friedrich Anton Heinitz veranlasst sah, mit dem er sich von der
Berliner Akademie lossagte. Einen gewichtigen Grund für die vielfache Kritik an
den Akademien macht Büttner daher in den schematischen Unterrichtsmetho-
den aus. Auch wenn die Weimarer Kunstfreunde nicht öentlich Stellung gegen
die Akademien bezogen, mussten sie doch mit den Verfassungen der wichtigsten
deutschen Akademien unzufrieden sein. Der Beitrag zeigt, wie stark das große
Interesse am zeitgenössischen Akademismus, dem die Herausgeber durchaus
86 PI.1, S.XXXIIIf.
87 PI.1, S.XXXIV.
88 Goethe : Nachricht an Künstler und Preisaufgabe. Paralipomenon (MA 6.2, S.1085).
38 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
skeptisch gegenüberstanden, die Zeitschrift dennoch insgesamt beeinusst hat.
Die von Goethe, Meyer und auch Schiller wahrgenommene Krise der Künst-
lerausbildung liefert– so Büttner– wichtige Impulse für die Programmatik der
Propyläen, wie sie sich etwa im Aufsatz Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst
ausdrückt. Durch das Relais von Meyers umfangreichem Aufsatz Ueber Lehran-
stalten zu Gunsten der bildenden Künste sei diese Programmatik dann ins Praktische
gewendet worden. Dieser Text kann somit als ein Versuch gelesen werden, die in
die Kritik gekommenen Kunstakademien aus der Krise zu führen, wobei Meyers
Aufsatz keineswegs die Künstlerausbildung neu ernden möchte ; vielmehr orien-
tiert er sich, wie Büttner anschaulich macht, in wesentlichen Punkten sowohl an
den Praktiken einzelner Akademien als auch an der zeitgenössischen Kunsttheo-
rie. Dennoch nehme Meyer einige wesentliche Justierungen und Innovationen vor,
die wenig später etwa in München und Düsseldorf dankbar aufgegrien wurden.
Trotz dieser evidenten Wirkung konnten die Propyläen aber die schon seinerzeit
an die Akademien gerichtete Kritik nicht zum Verstummen bringen ; sie hat in
den folgenden Jahrzehnten sogar noch zugenommen. Damit ist es am Ende wohl
dieser schwer zu begegnenden antiakademischen Stimmung zuzuschreiben, dass
Meyers eigentlich von großem Reformwillen getragener Aufsatz für viele Zeitge-
nossen gerade den gegenteiligen Anschein erweckt hat und als Ausdruck größter
Normativität und Konservativität erschien.
Die vielen Missverständnisse und der teils oen polemische Schlagabtausch
mit den Romantikern haben ein Übriges dazu beigetragen, Meyers Verdienste
um die Kunstgeschichte, aber nicht zuletzt auch um die künstlerische Praxis ver-
gessen zu machen. Knapp dreißig Jahre nach seinem Tod hält etwa der Kustos der
graphischen Sammlungen in Weimar, Christian Schuchardt, fest, dass Meyer »in
manchen Zweigen der Kunstgelehrsamkeit und Kunstkritik erst die Bahn gebro-
chen hat ; daß viele ihr Wissen daraus bereichert haben, ohne die Quelle anzuge-
ben«, und er zeigt sich zuversichtlich, dass man nun Meyers »Bemühungen um
89 Erst als die Auseinandersetzungen um die Kunstakademien wieder einigermaßen abgeaut waren,
wurde der Aufsatz aus Anlass von Meyers hundertstem Geburtstag wiederabgedruckt ; vgl. [Jo-
hann] Heinrich Meyer : Ueber Lehranstalten zu Gunsten der bildenden Künste. Zur Feier des
hundertjährigen Geburtstages des Verfassers abgedruckt aus den Propyläen von Goethe und mit
Vorwort und Anmerkungen begleitet von [Christian] Schuchardt. Weimar : Böhlau 1860.
90 Besondere Aufmerksamkeit erregte die von Goethe geförderte, aber hauptsächlich von Meyer
verfasste und mit insgesamt 85 Anmerkungen versehene Polemik der W.K.F. [i.e. Weimarische
Kunstfreunde] : Neu-deutsche religios-patriotische Kunst. In : Ueber Kunst und Alterthum in den
Rhein- und Mayn-Gegenden. Von Goethe. Zweytes Heft. Stuttgard : Cotta 1817, S.5–62 und
133–162.
39
Klassizismus in Aktion
richtige Ansichten in der Kunst nach Verdienst erkennen und würdigen wird.«¹
Eine solche späte Würdigung ist allerdings lange Zeit fast völlig ausgeblieben ;
zu weit entfernt waren Meyers Interessen von den Entwicklungen der sich zu-
sehends selbst als ›modern‹ verstehenden Künste. Erst in jüngster Zeit wurde
Meyer als Wissenschaftler und auch in seiner Rolle als Wissensvermittler wie-
derentdeckt.² Den Verbindungen von theoretischem bzw. historisch-systemati-
schem Wissen mit künstlerischen Praktiken geht der Beitrag von Johannes Rößler
nach. Er verfolgt, wie Meyer seine vielfach nur implizit entwickelte eorie der
eigentlich malerischen Kategorie des Helldunkel auf unterschiedliche druckgra-
phische Gattungen angewendet hat. In medientheoretischer Perspektive kehrt
sich für Rößler in Meyers Auassung der Rolle des Kupferstichs die »traditionelle
Hierarchie von Original und Reproduktion« dadurch um, dass der Stecher– in
Analogie zur Gegenstandswahl beim Maler– seine Vorlage bereits mit Blick auf
deren Eignung für den bevorstehenden Medientransfer auswählen müsse. Diese
Ermächtigung des Stechers gegenüber dem Original ist aber abhängig von seinem
Wissen über die medienästhetische Dierentialität von Stich und Malerei. Rößler
zeigt, dass Meyer die Verbindung beider Kunstarten vor allem über die Kategorie
des Helldunkel gegeben sieht, die er in seiner Funktion als Direktor auch in die
Ausbildung an der Fürstlichen freien Zeichenschule in Weimar implementieren
ließ. Doch dokumentieren sich Meyers Bemühungen um eine Weitergabe seines
ästhetischen Wissens an zeitgenössische Künstler keineswegs nur in seiner Ar-
beit als Zeichenlehrer, sondern nicht zuletzt auch in seinen Rezensionen der von
der Chalkographischen Gesellschaft zu Dessau ausgegebenen Blätter und in dem ge-
meinsam mit Goethe verfassten Aufsatz Ueber den Hochschnitt. Dieser trägt dazu
bei, die in Deutschland noch relativ unbekannte Technik des Holzstichs einem
breiteren Publikum bekannt zu machen, und erscheint damit auch als Vermitt-
lungsinstanz kunsttechnischen Wissens. Der Beitrag zeigt, dass es auch jenseits
der unmittelbaren und nachgerade programmatischen Beeinussung der zeitge-
nössischen Kunst durch die Preisaufgaben vor allem Meyers Aufsätze waren, die
eine fortgesetzte Vermittlung künstlerischen Wissens und damit eine Beförde-
rung der Kunst im Sinne der Weimarer Kunstpädagogik betrieben.
Doch haben die Propyläen nicht nur in ihrem Sinne auf die zeitgenössische
Kunstpraxis eingewirkt. Gerade ihre so ambitioniert gestarteten, am Ende aber
einigermaßen entmutigt aufgegebenen Preisaufgaben für bildende Künstler lös-
91 Christian Schuchardt : [Vorwort]. In : Meyer : Ueber Lehranstalten (Anm.89), S.VII.
92 Vgl. dazu die Beiträge des Sammelbandes : Johann Heinrich Meyer– Kunst und Wissen im klas-
sischen Weimar (Anm. 26).
40 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
ten auch vielfach Kritik und Widerstand unter diesen aus. Einen fast als Renegat
zu bezeichnenden Widerständigen stellt York-Gothart Mix ins Zentrum seines
Beitrags. Er zeigt, dass sich Philipp Otto Runge, der zunächst durchaus Berüh-
rungspunkte insbesondere mit Goethes kunsttheoretischen Überzeugungen auf-
weist, nicht nur in der Frage des Umgangs mit der Arabeske zusehends von der
Weimarer Position entfernte. Die Ablehnung seiner Einsendung zu der letzten in
den Propyläen angekündigten Preisaufgabe führte zum endgültigen Bruch. Zwar
wurden Runges grundsätzliche »Einwände gegen eine normative Fixierung auf
die Antike« Mix zufolge dadurch nicht verursacht, wohl aber bestätigt. Die Ab-
lehnung durch die Weimarer Kunstrichter katalysiert somit die Ausformulierung
jener Vorstellungen, die Mix als »Programm frühromantischer Bild- und Arabes-
kenwelten in nuce« liest, wodurch die Propyläen zwar ex negativo, doch unmittelbar
zur Formierung und Schärfung zentraler frühromantischer Positionen und Ästhe-
tiken– und zwar sowohl kunsttheoretisch wie kunstpraktisch– beigetragen haben.
V    Propyläen
Die Vorgeschichte der Propyläen lässt sich leicht bis auf Goethes Italienreise (–
) zurückdatieren. In seiner retrospektiven Konstruktion der Italienischen Reise
berichtet Goethe bereits kurz nach seiner Ankunft in Rom von der Begegnung
mit einem hervorragenden Kenner der bildenden Kunst : Es handelt sich dabei um
niemand anderen als Johann Heinrich Meyer.³ Die Betrachtungen der Natur, der
Kunst und nicht zuletzt auch der Kultur Italiens, zu der der spätere Herausgeber
und sein eißigster Mitarbeiter damals Gelegenheit hatten, bilden den Ausgangs-
punkt für eine umfassende Materialsammlung, die zunächst in ein großangelegtes,
doch nie realisiertes ›Italien-Projekt‹ münden sollten. Geplant war die »Darstel-
lung der physicalischen Lage, im allgemeinen und besondern, des Bodens und der
Cultur, von der ältesten bis zur neuesten Zeit, und des Menschen in seinem nächs-
ten Verhältnisse zu diesen Naturumgebungen.« Eine integrale Darstellung also
93 Vgl. MA 15, S.151 (3. November 1786).
94
Vgl. dazu Hans-Heinrich Reuter : Goethes dritte Reise nach Italien– ein wissenschaftlicher Entwurf.
In : GJb 24 (1962), S.81–108 ; Richard Baum : Der Genius Italiens. Goethes dritte Reise in den
Süden als Wendepunkt im Schaensprozess. In : Goethe und Italien. Hg. von Willi Hirdt und Birgit
Tappert. Bonn : Bouvier 2001 (=Studium universale, Bd. 22), S.1–57 ; und jetzt auch Claudia Keller :
Goethes und Meyers ›Italien-Projekt‹ (1795–1797). Perspektiven auf eine fragmentierte Klassik. In :
Johann Heinrich Meyer– Kunst und Wissen im klassischen Weimar (Anm. 26), S.157–174.
95 Goethe an Meyer, 16.11.1795 (WA IV, 10, S.328).
41
Klassizismus in Aktion
hätte erarbeitet werden sollen, denn Italien sei »eins von denen Ländern wo Grund
und Boden bey allem was geschieht immer mit zur Sprache kommt.« Das dafür
gesammelte Material bildete eine wichtige Grundlage für das spätere Zeitschrif-
ten-Projekt, und die Propyläen sollten– so Goethe selbst in seinem Rückblick auf
den Zeitpunkt, an dem er seine Honungen auf eine dritte Italienreise begraben
musste– zum Ersatz des aufgegebenen größeren Vorhabens werden :
Auf dem Sankt Gotthard hatte ich schöne Mineralien gewonnen ; der Hauptgewinn aber
war die Unterhaltung mit meinem Freunde Meyer ; er brachte mir das lebendigste Italien
zurück, das uns die Kriegsläufte leider nunmehr verschlossen. Wir bereiteten uns zum
Trost auf die Propyläen vor. Die Lehre von den Gegenständen, und was denn eigentlich
dargestellt werden soll, beschäftigte uns vor allen Dingen. Die genaue Beschreibung und
kennerhafte Bemerkung der Kunstgegenstände alter und neuer Zeit verwahrten wir als
Schätze für die Zukunft.
Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird auch Schiller verstärkt in die Vorbereitun-
gen eingebunden. Die Zeitschrift, die im letzten Jahrgang mit Wilhelm und Ca-
roline von Humboldt weitere Mitarbeiter gewinnen konnte, erweist sich damit
schon im Vorfeld als Gemeinschaftswerk der sich informell bereits konstituie-
renden Weimarer Kunstfreunde. Während Goethe Konzepte und emen für
mögliche Beiträge ausarbeitet, beginnt Meyer bereits seine zahlreichen in Italien
angefertigten Notizen zu ordnen und zu Aufsätzen umzuarbeiten, wohingegen
Schiller zunächst konzeptionelle Beiträge leistet und den wichtigen Kontakt zu
dem Verleger Cotta herstellt, um ihm die Zeitschrift exklusiv anzubieten.
Der letzte Aspekt ist von besonderer literaturpolitischer Bedeutung, da trotz
der durchaus unterschiedlichen Interessen des Autors und des Verlegers am
Ende beide Seiten von dieser Allianz protiert haben. Diesen Aspekt der Vor-
geschichte der Propyläen nimmt der Beitrag von Gerrit Brüning in den Blick
und arbeitet Schillers Rolle als eine Art Doppelmakler bei der Vermittlung
heraus. Doch wenngleich Schiller darüber hinaus lediglich zwei Texte, näm-
lich einen ktiven Brief An den Herausgeber der Propyläen und die Dramatische
Preisaufgabe, beigesteuert hat, die zudem beide erst im letzten Stück der Zeit-
schrift erschienen sind, möchte Brüning Schillers Anteil nicht allein darauf ein-
geschränkt wissen. Gedankliche Spuren Schillers nden sich auch in Beiträgen
96 Ebd.
97 Goethe : Tag- und Jahreshefte 1797 (WA I, 35, S.75).
98 Vgl. dazu auch Fischer : Johann Friedrich Cotta (Anm. 29), S.111–118.
42 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
anderer Autoren, und das gesamte Konzept der Zeitschrift lasse sich– so Brü-
ning– an die Anfangsphase der Freundschaft und Korrespondenz mit dem He-
rausgeber zurückbinden. Brüning entdeckt in den Gesprächen, die sich um die
Zeit des rezeptionsgeschichtlich mythizierten ›glücklichen Ereignisses‹ datie-
ren lassen, den Ausgangspunkt der Propyläen, den er in damaligen Diskussionen
um Kunst und Kunsttheorie verortet. Die Zeitschrift kann so als Frucht der Zu-
sammenarbeit Goethes und Schillers gedeutet werden, wobei ein wesentlicher
Anteil von Schillers Kontribution bereits in der »Vorgeschichte der Zeitschrift«
zu suchen ist.
Die Vorgeschichte der Propyläen steht auch im Zentrum von Claudia Kellers
Beitrag, der sich indes stärker auf Johann Heinrich Meyer konzentriert und da-
mit eine Perspektive auf die Zeitschrift gewinnt, in der sie als ein unfester und
durchaus auch unsicherer Übergangsbereich zwischen dem ›Italien-Projekt‹ und
späteren Veröentlichungen der Weimarer Kunstfreunde erscheint. Dadurch ver-
lieren die Propyläen einen Großteil ihrer scheinbaren Normativität und erweisen
sich für Keller sogar als ein »Klassizismus im Experiment«. Nur ein genauer Blick
auf die Zeitschrift, der auch die Vorarbeiten Meyers mit einbezieht, könne– so
Keller– die Pluralität und bisweilen die spezische Qualität der Texte oenlegen.
Selbst die scheinbare normative Glätte der Abhandlung Ueber die Gegenstände
der bildenden Kunst erscheint in dieser Perspektive aufgeraut ; der Aufsatz erweist
sich demnach als ein erstaunlich vielfältiger Text, der auf einem äußerst engma-
schigen Netz künstlerischer Beispiele basiere und damit den spannungsreichen
empirischen Grund seiner abstrakten Systematisierungsleistung zu erkennen
gebe. Zugleich zeigt Kellers Beitrag die Wandelbarkeit dieser Texte auf, deren
Charakter bei der Überführung aus dem ›Italien-Projekt‹ in das deutlich anders
konzipierte Journal entsprechend verändert werden musste. Noch einmal justiert
wurden dann jene Texte und Textteile, die zwar für die Propyläen vorgesehen
waren, aber erst später in anderen Zusammenhängen publiziert werden konn-
ten. Die Zeitschrift erscheint damit als Angelpunkt einer mehr als zwanzig Jahre
dauernden Arbeit an klassizistischer eoriebildung.
Dass die Propyläen aber nicht nur ein ganz unmittelbares Nachleben– etwa
in mehreren Aufsätzen der Weimarer Kunstfreunde (W.K.F.) in der Allgemeinen
Literatur-Zeitung– hatten, sondern noch hundert Jahre später als Ferment in ei-
genwillig klassizistischen ›Architekturphantasien‹ wiederzunden sind, zeigt der
Beitrag von Peter Sprengel. Denkbar weit ist Gerhart Hauptmann um  von
den Inhalten der Propyläen entfernt, doch fungiert der »symbolische[] Titel«
99 [Goethe :] Einleitung (PI.1, S.IV).
43
Klassizismus in Aktion
der Zeitschrift als Bildspender für seine eigene, dramatische Inszenierung heili-
ger Räume. Solche geweihten Orte nden sich etwa im Künstlerdrama Michael
Kramer () und in der Novelle Bahnwärter iel (). Sogar als konkretes
Architekturzitat sieht Hauptmann die Propyläen (bzw. das Brandenburger Tor)
in den Entwürfen zum Festspiel in deutschen Reimen () vor und umkreist da-
mit motivisch die von Goethes Einleitung als »Schwelle« und Übergangsraum
charakterisierte Vorhalle der Akropolis.¹ Der eigentliche Wert der Reminiszenz
an eine Zeitschrift, der Hauptmann oenbar ansonsten kein näheres Interesse
entgegen gebracht hat, wird aber deutlich, wenn man seine Autobiographie in
ein Verhältnis zu dem  uraufgeführten »Tempel-Weihefestspiel« Iphigenie
in Delphi setzt. Der Schauplatz dieses Stücks ist– so Sprengel– geradezu als
Propyläen-Phantasie angelegt, und seine Handlung und ematik sind auf den
Grundgedanken der Vermittlung zwischen dem Heiligen und Gemeinen hin
ausgerichtet.¹¹ Hatte sich Hauptmann in seiner Autobiographie als Jüngling in
die ›Vorhallen der Kunst‹ begeben, so phantasiert er in der Krönungsszene des
späteren ›Tempel-Weihefestspiels‹ ein allegorisches Fortschreiten ins ›Innere des
Heiligtums‹– und damit an einen Ort, der den Propyläen Goethes noch pro-
grammatisch verschlossen bleiben musste.
Erst in dem breiten historischen und thematischen Spektrum der hier ver-
sammelten Beiträge tritt die bisher in vielen Aspekten vernachlässigte Zeitschrift,
die– das sei hier nicht in Abrede gestellt– trotz ihrer Pluralität durchaus auch
als klassizistische Kampf- und Programmschrift gedacht war,¹² in deutlicheren
Konturen hervor. Angestrebt wird mit dem vorliegenden Band daher nicht nur
ein Beitrag zu einem dierenzierteren Verständnis des Kunstpolitikers und Pub-
lizisten Goethe, sondern darüber hinaus die Berücksichtigung der von einer fast
ausschließlich an Goethe interessierten Propyläen-Forschung bislang weitgehend
übersehenen Beiträge der übrigen Autoren. Dadurch soll zum ersten Mal ein
kritischer Blick auch auf den inneren Zusammenhang der gesamten Zeitschrift
gelenkt werden. In jedem Fall aber gilt es, der Forschung einen vertiefenden
Einblick in die spannungsreiche Beschaenheit des klassizistischen Weimarer
100 PI.1, S.III.
101 Vgl. ebd.
102 Zur ›polemischen Tendenz‹ der Zeitschrift vgl. Kampmann : Goethes ›Propyläen‹ (Anm.18) ;
Richard Benz : Goethe und die romantische Kunst. München : Piper 1940, betont die oppositi-
onelle Stoßrichtung der Propyläen gegen die Romantik. Als »eine Art Kampfblatt für einen auf
die Antike zurückgehenden kämpferischen Klassizismus« deutet sie Friedmar Apel in seinem
Kommentar zur Einleitung in die Propyläen (FA I, 18, S.1244).
44 Daniel Ehrmann · Norbert Christian Wolf
Kunstprogramms zu erönen, und dies stets im Bewusstsein seiner Vernetzung
mit den zeitgenössischen ästhetischen Diskursen.
Danken möchten die Herausgeber dem Land Salzburg, der Stadt Salzburg
sowie dem Rektor der Universität Salzburg, die durch ihre großzügige Unter-
stützung gemeinsam mit dem FWF die diesem Band zugrundeliegende Tagung
ermöglicht haben, ganz besonders aber dem FWF, der nicht nur das der Tagung
zugrundeliegende Forschungsprojekt, sondern auch die Drucklegung des vorlie-
genden Bandes nanziert hat, sowie darüber hinaus den vielen hilfreichen Hän-
den, die an der Vorbereitung und erfolgreichen Durchführung beteiligt waren,
insbesondere Sabrina Obermoser und Magdalena Stieb.
KULTUR UND AUTONOMIE
Sabine Schneider
»Ein Unendliches in Bewegung«
P  K   K
I. »N   C «. K
U  K
»Die Zeit ist’s eben, die den Menschen Kunstwerke entbehrlich macht,« lautet im
Jahr  das skeptische Resümee Johann Heinrich Meyers zu der in seinen Augen
gescheiterten Kunstförderung nicht nur der Weimarer Kunstpolitik, sondern der
Kunstbemühungen der vergangenen Jahrzehnte generell.¹ Meyer will die Erfolg-
losigkeit nicht dem Weimarer Klassizismus anlasten, sondern macht strukturelle
Gründe für dessen Scheitern verantwortlich. Die Ursachen für die Krise der bil-
denden Künste macht er in gravierenden Umstrukturierungen des Kunstsystems
aus, deren konkrete Auswirkungen für die Kunstproduktion, die Rezeption und ihre
Institutionen er hellsichtig durchdenkt. Goethe indessen wendet sich aus derselben
Problemdiagnose heraus in den Jahrzehnten nach der programmatischen Phase der
Propyläen-Zeit den integralen Kunstsystemen des Mittelalters und der Renaissance
zu. In diesem Kontext steht seine Übersetzung der Lebensbeschreibung des Renais-
sance-Goldschmieds Benvenuto Cellini ebenso wie seine Beschreibung der histo-
ristischen Sammlung der Boisserées, anlässlich der er das Projekt ins Auge fasst, den
»Wechselbezug des Handwerks und der Künste« weiter auszuführen.² Motiviert
1 Johann Heinrich Meyer an Ludwig Vogel, 9.3.1827. In : Emil Homann : Unveröentlichte
Briefe von Joh. Heinr. Meyer an den Zürcher Maler Ludwig Vogel. In : Sonntagsblatt der Basler
Nachrichten Nr. 5–6 (1917), S.17f. und S.23f., hier S.24. Meine folgenden Überlegungen ste-
hen im Kontext eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts mit
dem Titel Die Kunst in der Kultur. Anfänge moderner Kunsttheorie und Kulturgeschichtsschreibung
in der Weimarer Klassik. Erste Ergebnisse, auf die ich hier teilweise rekurriere, sind in einem mit
der Mitarbeiterin des Projekts gemeinsam verfassten Aufsatz kürzlich vorgelegt worden : Sabine
Schneider und Claudia Keller : Die Kunst in der Kultur. Die Auseinandersetzung der Weimari-
schen Kunstfreunde mit einer problematischen Konstellation. In : Johann Heinrich Meyer– Kunst
und Wissen im klassischen Weimar. Hg. von Alexander Rosenbaum, Johannes Rößler und Harald
Tausch. Göttingen : Wallstein 2013 (=Ästhetik um 1800, Bd. 9), S.141–156.
2 Johann Wolfgang Goethe : Leben des Benvenuto Cellini (FA I, 11, S.9–256) ; ders.: Boisseréesche
Sammlung (WA I, 34.2, S.33f., hier S.33).
48 Sabine Schneider
sind diese historischen Untersuchungen zu vormodernen Kunstverhältnissen durch
das Bestreben, aus ihnen für die gegenwärtige Krise der Kunst zu lernen. Goethes
Interesse für das Bauhüttensystem des Kölner Doms in der Zeitschrift Kunst und
Alterthum mündet in die Frage, »welche Vorkehrungen wir zu treen hätten, um zu
unserer Zeit etwas ähnliches hervorzubringen« ?³
Verhandelt werden in diesen aus dem Rückblick auf die normative Kunst-
programmatik der Klassik formulierten Überlegungen Meyers und Goethes die
Entstehungskosten und die Konsequenzen des Konzepts der Kunstautonomie
und damit der großen philosophisch-theoretischen Errungenschaft, aus der sich
Klassik und Frühromantik gleichursprünglich herschreiben. Das neunzehnte
Jahrhundert, dem diese skeptische Haltung der beiden einstigen Hauptvertre-
ter des normativen Klassizismus bereits tief verhaftet ist, wird dieses Problem-
bewusstsein für die Kehrseiten der Autonomie in seiner ganzen historischen
Brisanz entfalten. Dies geschieht zum einen innerhalb des philosophischen Dis-
kurses gleichsam in einem Dialog zwischen Hegel und Nietzsche. Hegel kons-
tatiert den Abbruch einer kulturellen Tradition, in der die kulturbildende Kraft
der Kunst ihre Formen an gesellschaftlich verbindliche Inhalte wie Religion und
Patriotismus gebunden hatte. In Hegels geschichtsphilosophischem Modell liegt
in diesem Traditionsbruch der Fortschritt begründet, die Kunst ist »dadurch ein
freies Instrument geworden«. Als ›freies Instrument‹ ermächtigt die Kunst den
modernen Künstler, in schrankenloser Verfügung über Formen und Stoe die
nicht mehr verbindlichen kulturellen Traditionen ins Gegenwärtige zu transpo-
nieren. Die Begründung der Autonomietheorie und die eorie des Historismus
bedingen sich somit gegenseitig. Hegel sucht die Gründe nicht wie Goethe und
Meyer in gesellschaftlichen Ausdierenzierungsprozessen, sondern argumen-
tiert innerphilosophisch mit einem Fortschritt der Reexion, in dessen Zuge
die moderne Kunst sich ihrer selbst bewusst geworden sei : Durch »die Bildung
der Reexion, die Kritik und bei uns Deutschen die Freiheit des Gedankens«
habe der historische Prozess der Kunstentwicklung die Gegenwart »in betre
auf den Sto und die Gestalt ihrer Produktion […] sozusagen zu einer tabula
rasa gemacht.« Insofern der im Sinne einer modernen Spieltheorie freigesetzte
Künstler sein Verhältnis zu den gewählten Formen und Inhalten zu klären hat,
3 Johann Wolfgang Goethe : Ueber Kunst und Alterthum in den Rhein und Mayn Gegenden (FA I,
20, S.17–98, hier S.97).
4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel : Werke. Red. Eva Moldenauer und Karl Markus Michel. Bd. 14 :
Vorlesungen über die Ästhetik II. Frankfurt/M.: Suhrkamp 51999, S.235.
5 Ebd.
49
Positionierungen der Kunst in der Kultur
unterliegt er einem neuen Zwang zur Selbstbegründung und zur Konstruktion
eines reexiven Gegenwartsstandpunkts. eorie, Kritik und Reexion sind so-
mit erstens untrennbar mit geschichtlichem Bewusstsein verknüpft und gehen
zweitens jeglicher Kunstpraxis voraus.
An beidem, dem Vorrang der Reexion vor der Kunstpraxis und der vollkom-
menen Freiheit und damit Artizialität des Bezugs zum kulturellen Archiv, setzt
einige Jahrzehnte später Nietzsches Dekadenzdiagnose einer fehlenden Zen-
trierungskraft der Kunst in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht an. Er
übernimmt damit die ese Hegels unter umgekehrten Vorzeichen. Das Klassik-
projekt der Weimarischen Kunstfreunde ist für ihn bereits das Produkt einer de-
kadenten Kunst nach ihrem Ende (als wahre Kunst). Ihr ist sowohl die Tradition
als auch ein selbstbewusster Gegenwartsstandpunkt abhanden gekommen. Daher
habe sie auch keine kulturstiftende Kraft mehr für die Zukunft entwickelt. Nietz-
sche hat dabei die programmatische Hochphase der Propyläen im Blick. Im .
Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches mit dem Titel »Die Revolution
in der Poesie« reektiert er anhand von Goethes Projekt, seine in den Propyläen
vorgestellte Übersetzung von Voltaires Mahomet-Tragödie in klassizistischer In-
szenierung auf die Weimarer Bühne zu bringen, über dessen aporetische Pro-
duktionsbedingungen. In ihnen erkennt Nietzsche die schwierige Situation der
Kunst am Beginn der Moderne, die zur Selbstbegründung durch einen reexiven,
sentimentalischen Bezug zur kulturellen Tradition verdammt ist und stets ihre ei-
gene Gegenwart mit zu verhandeln hat. Ein unwiderruicher »Abbruch der Tra-
dition«, welche »ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist«,
motiviert in Nietzsches Einschätzung das vergebliche und letztlich phantasmati-
sche Projekt der Klassik, diese »Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den
stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phanta-
sie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten.«
Goethes Antikenprojekt könne allenfalls der Status eines künstlichen Laborex-
periments zugesprochen werden, denn »auch der Begabteste bringt es nur zu ei-
nem fortwährenden Experimentieren, wenn der Faden der Entwicklung einmal
abgerissen ist«. Die im neoklassizistischen Programm der Propyläen verortete
moderne Antikenanverwandlung ist für Nietzsche ein Experiment, das zugleich
6 Friedrich Nietzsche : Die Revolution in der Poesie (Aph. 221). In : F.N.: Sämtliche Werke. Kri-
tische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 2 :
Menschliches, Allzumenschliches I und II. München, Berlin, New York : dtv/de Gruyter 1999,
S.180–184, hier S.182.
7 Ebd., S.181.
50 Sabine Schneider
zur Avantgarde und zum Epigonentum gezwungen ist, weil die »hereinbrechende
Fluth von Poesien aller Stile aller Völker« alle Dichter zu »experimentirende[n]
Nachahmer[n]«, zu »wagehalsige[n] Copisten« macht.
Nietzsche zieht hier produktionsästhetische Konsequenzen aus seiner His-
torismuskritik in der Zweiten unzeitgemässen Betrachtung, welche aus derselben
rückwärtsgewandten Perspektive des Verlusts gesprochen die »Cultur eines
Volkes« in der »Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebenäusserungen« an-
siedelte, dergegenüber die »Barbarei« des modernen Kulturverlusts sich als An-
häufung fremder Stile und fragmentierter kultureller Reste darstellt. Zum so
vergeblich beschworenen Hellenentum verhält sich der moderne Klassizismus
in Nietzsches Diagnose wie eine Enzyklopädie zu ihrem Gegenstand. Als solche
»wandelnde Encyclopädien« würde »uns vielleicht ein in unsere Zeit verschlage-
ner Alt-Hellene ansprechen.«¹ Laborexperiment, Enzyklopädie, Phantasma– so
lautet die Trias der Diagnosen Nietzsches zur modernen Antikenverwandlung
der Weimarer Klassik, und alle drei stehen unter dem Verdikt der Vergeblichkeit
wie dem der Dekadenz.¹¹
Es ist frappierend zu sehen, wie sehr diese philosophischen Bilanzierungen
des neunzehnten Jahrhunderts die Argumente aufgreifen und systematisieren,
die bereits das ausgeprägte Problembewusstsein der Kunsttheorie des Weimarer
Klassizismus aufgeworfen hatte. Neben dem (geschichts)philosophischen Diskurs
über das Ende der Kunst gibt es somit einen zweiten, genuin kunsttheoretischen,
kunsthistorischen und kunstpraktischen, der im Weimarer Klassizismus selbst sei-
nen Ursprung hat. Es war Carl Ludwig Fernow, der die provokative Formulierung
»Kunst ohne eorie ist ein Unding« in seinen Römischen Studien pointiert hatte,¹²
8 Ebd., S.182f.
9 Friedrich Nietzsche : Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In : F. N.: Sämtliche
Werke (Anm. 6), Bd. 1, S.274.
10 Ebd.
11 Ich habe mich mit dieser genuin philosophischen, kontradiktorischen Bewertung der Kunstau-
tonomie bei Hegel und Nietzsche mit speziellem Bezug auf Schiller beschäftigt in dem Aufsatz
Sabine Schneider : Das sentimentalische Spiel mit den Archiven des kulturellen Gedächtnisses.
Schillers ludistische Ästhetik als Reexion auf die Bedingungen künstlerischer Produktivität am
Beginn der Moderne. In : Schiller, der Spieler. Hg. von Peter-André Alt, Marcel Lepper und Ur-
lich Raul. Göttingen : Wallstein 2013, S.242–261 ; in grundsätzlicher Perspektive ferner in der
Einleitung des mit Heinz Brüggemann gemeinsam herausgegebenen Bandes : Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. Hg.
von Sabine Schneider und Heinz Brüggemann. München, Paderborn : Fink 2011, S.7–35.
12 Carl Ludwig Fernow : Ueber den Begrif des Kolorits. In : C. L. F.: Römische Studien. Zweiter
eil. Zürich : Gessner 1806, S.173–252, hier S.178. Es war die Monographie von Harald Tausch,
51
Positionierungen der Kunst in der Kultur
und der in seinen Vorlesungen über Ästhetik in Rom in den Jahren / und
in der Einrichtung von Künstlerbibliotheken dieser Einsicht in die Vorgängigkeit
der eorie vor der Kunstpraxis Rechnung zu tragen versuchte. Die geschichts-
philosophische Zuversicht Hegels ist dieser Modernediagnose der Weimaraner al-
lerdings fremd. Gegenüber Hegels dialektischer Aufhebung des epochalen Endes
der Kunst in der Freiheit des Geistes bleibt deren Autonomiekonzept skeptischer
konnotiert und sensibel für die Entstehungskosten dieses irreversiblen kulturellen
Bruchs, dem der emphatische Kollektivsingular Kunst seine prekäre Existenz ver-
dankt. Der Weimarer Klassizismus laboriert bereits in den Jahren vor seiner kunst-
programmatischen Phase, nämlich der der Propyläen, an einem Problemdruck, der
die Konsequenzen dessen zu verhandeln hat, was laut Friedrich Nietzsche »durch
jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäisch
en Cultur verlo
ren
gegangen ist.«¹³
Carl Ludwig Fernow formuliert die historische Dierenz zu einer Kunst vor
ihrem Ende in theoretischem Anschluss an Schillers Unterscheidung aus Na-
ive und sentimentalische Dichtung »Sie empfanden natürlich, wir empnden das
Natürliche«¹ ähnlich :
Wir wollen bildende Kunst haben ; die Griechen hatten sie wirklich ; bei ihnen war sie
ein natürliches Erzeugnis der Nazionalkultur, und in ihre ganze Verfassung aufs innigste
verwebt : […] Last uns also wenigstens fühlen und richtig erkennen, was wir nicht hervor-
zubringen vermögen.¹
Reexive Kunsttheorie und kulturwirksame Kunstpraxis stehen hier in einem
historischen Ausschlussverhältnis. Der Kantianer Fernow erhebt damit zur trans-
die den theorieleitenden Beitrag Fernows zur Herausbildung des modernen Konzepts der Kunst-
autonomie als Erste herausgestellt hat. Vgl. Harald Tausch : Entfernung der Antike. Carl Lud-
wig Fernow im Kontext der Kunsttheorie um 1800. Tübingen : Niemeyer 2000. Der Verfasser hat
kürzlich eine wichtige Briefedition Fernows vorgelegt mit reichem neuen Material : Carl Ludwig
Fernow. »Rom ist eine Welt in sich«. Briefe 1789–1808. 2 Bde. Hg. von Margrit Glaser und Ha-
rald Tausch. Göttingen : Wallstein 2013. Ich schließe mich der ese Tauschs an, was die Moder-
nität des Konzepts betrit, fokussiere aber stärker auf die damit verbundenen Krisenmomente, vgl.
Sabine Schneider : Die Krise der Kunst und die Emphase der Kunsttheorie. Aporien der Autono-
mieästhetik bei Carl Ludwig Fernow und Friedrich Schiller. In : Von Rom nach Weimar– Carl
Ludwig Fernow. Hg. von Michael Knoche und Harald Tausch. Tübingen : Narr 2000, S.52–68.
13 Nietzsche : Menschliches, Allzumenschliches (Anm. 6), S.182.
14 Friedrich Schiller : Über naive und sentimentalische Dichtung (SNA 20, S.431).
15 Fernow : Römische Studien (Anm. 12), Bd. 1, S.414.
52 Sabine Schneider
zendentalen Grundsätzlichkeit, was schon in Winckelmanns geschichtlicher Ar-
gumentation in den melancholischen Schlusspassagen der Geschichte der Kunst
des Alterthums angeklungen war : »Wären die Alten ärmer gewesen, so hätten sie
besser von der Kunst geschrieben : wir sind gegen sie wie schlecht abgefundene
Erben.«¹ Die Erndung eines kunstreligiös hypostasierten Kollektivsingulars
›Kunst‹ durch die schlecht abgefundenen Erben der Alten ist somit das Komple-
ment einer kulturkritischen Gegenwartsdiagnose, derzufolge die Gegenwart eben
jene Kunst in konkretem öentlichkeitswirksamen Sinn nicht mehr braucht. Die
Gründe dafür macht der Weimarer Klassizismus nicht in abstrakten philosophi-
schen Prozessen, sondern in konkreten gesellschaftlichen Veränderungen aus. So
bringt die von Schiller im sechsten der Briefe über die ästhetische Erziehung be-
klagte Disparatheit einer arbeitsteilig ausdierenzierten modernen Gesellschaft
keine integrative Kraft mehr zur Darstellung relevanter, die Gehalte der eigenen
Zeit verbindlich aussprechender Kunstformen auf.¹ Die theoretisch formulierte
Befreiung der Kunst aus dem Dienst der Religion und der Gesellschaft ist das
Komplement ihres gesellschaftlichen Funktionsverlusts. »Die freigewordene
Kunst, der Stütze aber auch zugleich des Zwanges der Religion enthoben, mus
[sic] hinfort auf sich selbst ruhen«, fasst Carl Ludwig Fernow  in seiner Mo-
nographie über den klassizistischen Künstler Asmus Jakob Carstens diese Ambi-
valenz von Verlust und Gewinn zusammen.¹
Für den modernen Ausstellungskünstler ohne gesellschaftlichen Auftrag, der
sich seine Sujets selber wählen und sie, den Gesetzen des freien Marktes ausge-
liefert, einem unkalkulierbaren Publikumsgeschmack präsentieren muss, ist die
Emphase der Autonomie die Bemäntelung schierer Not. »Dass gegenwärtig die
bildende Kunst«, um noch einmal Fernow in einem Brief aus Rom aus dem Jahr
 zu zitieren, wo er am Puls der Zeit aus nächster Nähe über die Folgen der
Säkularisierung und der Kunstplünderungen berichtete, »von den Banden, welche
sie ehemals an die Gesellschaft knüpften, völlig los, ohne Stütze und Zweck um-
herirrt« und zur »Privatliebhaberey« marginalisiert ist, »dass die schönbildenden
Künste nirgends mehr Nazionalsache sind,«¹ stellt sich für die moderne Kunst-
16 Johann Joachim Winckelmann : Geschichte der Kunst des Alterthums. Erster eil. Dresden :
Waltherische Hof-Buchhandlung 1764, S.431.
17 Friedrich Schiller : Über die ästhetische Erziehung des Menschen. 6. Brief (SNA 20, S.321–323).
18 Carl Ludwig Fernow : Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstens, ein Beitrag zur Kunstge-
schichte des achtzehnten Jahrhunderts. Leipzig : Hartknoch 1806, S.251.
19 Carl Ludwig Fernow an August Böttiger, 28.8.1796 : Ueber die Kunstplünderungen in Italien und
Rom. In : Der neue Teutsche Merkur 3. Bd. (1796), 11. St., S.249–279, hier S.275f.
53
Positionierungen der Kunst in der Kultur
produktion als ökonomische Notlage dar. An seinem exemplarischen Genie Asmus
Jakob Carstens, einem der ersten Vertreter der neuen Ausstellungskunst in Rom,
demonstriert Fernow das Scheitern dieses neuen Konzepts, die Faktorenanalyse
dieses Scheiterns und die Leiden, die es für den Künstler verursacht, der an jenem
»dem Geiste wahrer Kunst so widerstrebenden Zeitgeist« zerbrochen ist.²
Dass die Kunst in der Diagnose Fernows »nicht mehr zur Kultur tauglich«
ist,²¹ stellt sich neben dem ökonomischen Problem auch als Legitimationsfrage
dar. Kunstpraktisch äußert sie sich als Verlust verbindlicher und allgemeinver-
ständlicher Gegenstände und ihrer symbolischen und repräsentativen Potenzen.
Die Forschungen Werner Buschs und Ernst Osterkamps seit den neunziger
Jahren haben auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht.²² »Woran wir
Modernen alle leiden : an der Wahl des Gegenstands«, schreibt Goethe  an
Schiller nach einem Besuch bei dem Bildhauer Dannecker :
Diese Materie, die wir bisher so fort, und zuletzt wieder bei Gelegenheit der Abhand-
lung über den Laokoon besprochen haben, erscheint mir immer in ihrer höhern Wich-
tigkeit. Wann werden wir armen Künstler dieser letzten Zeiten uns zu diesem Hauptbe-
gri erheben können.²³
Die Beiträge Goethes, Meyers und Schillers in den Propyläen– Goethes und
Meyers Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst², Goethes Ueber Laokoon² und
Schillers An den Herausgeber der Propyläen²– sind in ihrer unmittelbaren zeitli-
chen und thematischen Nähe zu diesen Berichten Fernows aus Rom über die ver-
zweifelte Situation der Künstler im Neuen Teutschen Merkur sowie zu Meyers und
Goethes aufgrund der politischen und sozialen Wirren abgebrochener Reise nach
20 Fernow : Asmus Jakob Carstens (Anm. 18), S.243.
21 Fernow : Ueber die Kunstplünderungen (Anm. 19), S.276.
22 Forschungshistorisch richtungsweisend war die Monographie von Werner Busch : Das senti-
mentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne. Mün-
chen : Beck 1993. Stellvertretend für die umfassenden Forschungen Ernst Osterkamps sei der
forschungsbestimmende Aufsatz zu den Weimarer Preisaufgaben im frühen Katalog des Goethe-
Nationalmuseums erwähnt : Ernst Osterkamp : »Aus dem Gesichtspunkt reiner Menschlichkeit.«
Goethes Preisaufgaben für bildende Künstler 1799–1805. In : Goethe und die Kunst. Ausstel-
lungskatalog. Hg. von Sabine Schulze. Stuttgart : Hatje 1994, S.310–342.
23 Goethe an Schiller, 30.8.1797 (SNA 37.1, S.166–168).
24 P I.1, S.20–54 ; P I.2, S.45–81.
25 P I.1, S.1–19.
26 P III.2, S.146–163.
54 Sabine Schneider
Italien zu sehen. Ihre Sorge gilt zu einem Großteil dieser Aporie im Hinblick auf
die Situation der bildenden Kunst.
Komplementär dazu durchdenkt der Schiller-Goethesche Briefwechsel der
Jahre  und  zum Problemkreis ›Epische und dramatische Dichtung‹ den
Verlust öentlicher Wirksamkeit und Verständlichkeit für die Hauptgattungen
der Literatur. Denn auch wenn die Diagnose einer Kunst ohne kulturellen Bei-
trag in der Propyläen-Zeit vor allem die Sorge um die Zukunft der bildenden
Künste aufruft, so wird dieselbe Krise doch auch den literarischen Künsten at-
testiert. Betroen ist sowohl der Umbruch vom nationalen Epos zum privaten
Roman als auch das Drama. Denn auch das eater, das im Klassizismus-Projekt
der Propyläen eine immerhin zentrale Rolle spielt, hat mit diesem Rückzug der
Kunst aus dem öentlichen Raum zu rechnen. Die als klassizistisches Manifest
zu lesende Vorrede zur Braut von Messina mit ihrem historistischen Projekt einer
Wiedereinführung des Chors in der Tragödie deklariert sich als geschichtsbe-
wusster Versuch einer Wiedervergesellschaftung des eaters als sinnlich und
kulturell wirksamer Macht in der Mitte der Gesellschaft– in gegenwartsreexi-
ver Perspektive unter den Bedingungen moderner Ausdierenzierung :
Der Palast der Könige ist jetzt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Toren der
Städte in das Innere der Häuser zurückgezogen, die Schrift hat das lebendige Wort ver-
drängt, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist, wo sie nicht als rohe Gewalt
wirkt, zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begri geworden, die Götter sind in die
Brust des Menschen zurückgekehrt. Der Dichter muss die Paläste wieder auftun, er muss
die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muss die Götter wieder aufstellen, er
muss alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens
aufgehoben ist, wieder herstellen.²
Die Umstrukturierungen im Feld der Kunst im Gefolge der Säkularisierung und
der Französischen Revolution und das daraus resultierende Gegenstandsproblem
werden auch außerhalb Weimars und namentlich von den Gegnern der Propyläen
registriert und kritisch gewürdigt. In der Vorschule der Ästhetik des von Goethe
und Schiller in den Xenien als Antiklassizisten geschmähten Jean Paul² wird das
27 Friedrich Schiller : Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie (SNA 10, S.7f.).
28 Johann Wolfgang Goethe : Der Chinese in Rom (FA I, 2, S.331). Vgl. zu den gegenseitigen Ver-
werfungen und ihrer Logik der polemischen Auslagerung struktureller Probleme den Aufsatz von
Helmut Pfotenhauer : Roquairol oder Semiotische Verwerfungen als poetische Figur. In : Jahrbuch
der Jean Paul Gesellschaft 32/33 (1998), S.9–32.
55
Positionierungen der Kunst in der Kultur
sich autonom setzende künstlerische Subjekt verantwortlich gemacht für einen
sich in der Figur der Häufung maskierenden Objektverlust der modernen Kunst
und Literatur. Wenig helfe »das stärkste Geschrei nach Objektivität aus den ver-
schiedenen Musen- und anderen Sitzen«, »da zu Objektivität durchaus Objekte
gehören, diese aber in der neuerer Zeit teils fehlen, teils (durch einen scharfen
Idealismus) gar wegschmelzen im Ich.«² Wie später Nietzsche attestiert Jean
Paul der modernen Kunst fehlenden Ernst in ihren Inhalten als Folge eines sto-
lichen Substanzverlusts, den Jean Paul als Unglauben diagnostiziert : »Die Grie-
chen (hingegen) glaubten, was sie sangen, Götter und Heroen.«³
II. D »P« : E P  K.
S  L.
Die Einleitung in die Propyläen stellt mit dem Verweis auf den fragmentier-
ten Kunstkörper Italiens, und das heißt auf die Dislokation der Kunstwerke
aus ihrem kultischen und gesellschaftlichen Kontext durch Säkularisation und
Kunstraub, den direkten Bezug zu dieser Krisendiagnostik her.³¹ Getragen ist
diese historisch reektierte Diagnostik von dem klaren Bewusstsein gesellschaft-
licher Akzeleration und einer gesteigerten Zirkulation des Kunsthandels und
Kunstverkehrs. Diese genuin moderne Beschleunigungserfahrung fragmentiert
auch die Zeitlinie und führt zu einer Struktur der Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen. Neu sind synkretistische Häufungen und Überlagerungen durch die si-
multane Zusammenstellung unterschiedlicher historischer Zeitebenen, so etwa
im neuen Nebeneinander des Museums in der Hauptstadt der Moderne Paris,
wo die geraubten Kunstwerke neue Kongurationen eingehen. Die Propyläen
deklarieren sich als Projekt einer Überwindung der Krise und proklamieren für
sich die dafür nötige Moderne-Expertise. Für die revolutionären Veränderungen
haben sie eine Diagnose bereit wie auch ein Instrumentarium, mit ihr handlungs-
praktisch umzugehen :
Für die Bildung des Künstlers, für den Genuß des Kunstfreundes, war es von jeher von
der größten Bedeutung, an welchem Orte sich Kunstwerke befanden ; es war eine Zeit
29 Jean Paul : Vorschule der Ästhetik. In : J.P.: Sämtliche Werke. Hg. von Norbert Miller. I. Abt., Bd.
5. München, Wien : Hanser 1996, S.73 (»Über die griechische oder plastische Dichtkunst«).
30 Ebd.
31 P I.1, S.III–XXXVIII, hier S.XXXVI–XXXVIII.
56 Sabine Schneider
in der sie, geringere Dislokationen abgerechnet, meistens an Ort und Stelle blieben ; nun
aber hat sich eine große Veränderung zugetragen, welche für die Kunst, im Ganzen so-
wohl, als im Besondern, wichtige Folgen haben wird.³²
Der konstatierten Zerstückung, dem »Act des Abreissens« und der Auösung
des Kunstkörpers durch die gegenwärtige historische Situation, »in dieser Zeit
der Zerstreuung und des Verlustes«³³ begegnet das Projekt der Propyläen mit ei-
nem Akt der Sammlung, der durchaus noch– dies im Unterschied zur Spätphase
des Klassizismus ab – von der Idee einer organischen Ganzheit geleitet ist,
welche in der organologischen Ganzheitsformel »einen idealen Kunstkörper bil-
den« als rhetorische Klimax und Emphasis am Ende der Einleitung kulminiert.³
Die Erschütterung des Kunstsystems und der Versuch ihrer Überwindung ist
seit etwa  das triebenergetische Zentrum der Weimarer Kunstpolitik und
ndet ihren Widerhall in der Einleitung der Propyläen. Dabei ist die Weimarer
Kunsttheorie getragen von dem Bewusstsein, dass »eine neue Epoche der Kunst«
angebrochen sei.³ Nicht Fortschrittsoptimismus, sondern Sorge und Skepsis
grundiert dieses Modernitätsbewusstsein, eine Skepsis, ob die kunsttheoretischen,
kunsterzieherischen und kunstpolitischen Bestrebungen angesichts der histori-
schen Lage, in der »die schönbildenden Künste nirgends mehr Nazionalsache
sind«, überhaupt fruchten könnten.³ Aus dieser Problemkonstellation ist es zu
erklären, dass die Weimarer Kunstfreunde komplementär und in kritischer Ge-
gensteuerung zur eigenen Autonomietheorie ihre Aufmerksamkeit und ihre An-
strengungen verstärkt auf die gefährdeten oder verlorenen kulturellen Bindungen
der Kunst richten. Schon Oskar Bätschmann hat darauf hingewiesen, dass die
32 Ebd., S.XXXVI.
33 Ebd., S.XXXVII.
34 Ebd. Zum Zusammenhang von Krisendiagnostik und Gegensteuerung in der Reexion auf den
Kunstraub vgl. die grundlegende Studie von Ingrid Oesterle : Der »neue Kunstkörper« in Paris
und der »Untergang Italiens«. Goethe und seine deutschen Zeitgenossen bedenken die »große
Veränderung« für die Kunst um 1800 durch den »Kunstraub«. In : Poesie als Auftrag. Festschrift
für Alexander von Bormann. Hg. von Dagmar Ottmann und Markus Symmank. Würzburg : Kö-
nigshausen & Neumann 2001, S.55–70.
35 Carl Ludwig Fernow : Ueber einige neue Kunstwerke des Hrn. Prof. Carstens, Rom. In : Der neue
Teutsche Merkur 2. Bd. (1795), 6. St., S.158–189, hier S.159.
36 Paradigmatisch bei Carl Ludwig Fernow greifbar : Ueber die Kunstplünderungen (Anm. 19),
S.275f.: »Jene Uebel sind die Ursachen, warum die bildenden Künste noch immer in einer elen-
den Unbedeutsamkeit schmachten, aus welcher alle Kunstakademien, alle öentlichen Kunst-
sammlungen die man dem Publikum nur für Geld önet, alle Kupferstichfabriken, Industriekom-
toirs, Kunsthandlungen etc. sie empor zu bringen nicht im Stande sind.«
57
Positionierungen der Kunst in der Kultur
Konsequenz der Ortlosigkeit der Kunst neue Abhängigkeiten generierte und
zum Ausgangspunkt einer Diskussion über ihre Stellung in der Gesellschaft wur-
de.³ Diese Perspektive der Weimarer Kunsttheorie, welche durchaus in Span-
nung zu ihrer Isolationspolitik im Hinblick auf die Trennung von Kunst und
Natur, von Ideal und Nachahmung, von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, von
gutem und schlechtem Geschmack, von Künstlern, Kennern und Publikum steht,
also gegenstrebig zu jenen schon von den Zeitgenossen als arrogantes Kunstrich-
tertum und normative Restriktion wahrgenommenen Positionen, bestimmt ihre
grundlegenden Überlegungen zur Frage der Kunstentwicklung und der Bedin-
gungen der Kunstproduktion.
Der Impetus zur integralen Betrachtung der Kunst in der Kultur erstreckt
sich dabei zum einen in die Vergangenheit. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die
historischen Bedingungen für das ›Steigen und Fallen der Kunst‹. Für Johann
Heinrich Meyer lautet in seinem Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten
Jahrhunderts die drängendste, »noch nicht aufgelöste Frage […] : von welchen Ur-
sachen das Steigen und Fallen der Künste abhänge.«³ In dieser Fokussierung auf
ihre gesellschaftlichen, geographischen, klimatischen und mentalitätsgeschichtli-
chen Bedingungen wird Kunstgeschichte als Teil einer Kulturgeschichte im mo-
dernen Sinn des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben. Getragen ist die Fak-
torenanalyse von dem Bewusstsein des gesellschaftlichen und historisch sowie
geographisch spezischen Ortes jeder Kunstform. Als heuristische Annahme der
Kunstgeschichtsschreibung wird vorausgesetzt, »daß die Ausbildung, welche sie
in jedem Lande, jeder Schule erreicht hat, Dauer, Fall und Erlöschen allemal mit
dem Maße des Daseins und Zusammentreens der erwähnten begünstigenden
oder verderbenden Umstände übereinkommen müßte.«³
Diese kunstbefördernden Umstände werden in den gesellschaftlichen und po-
litischen, auch den geographischen Verhältnissen gesucht, aber auch mentalitäts-
geschichtlich in den kollektiv wirksamen Antriebskräften zur Kunstproduktion
und Kunstrezeption. Die zwischen Fer now und Meyer in Winkelmann und sein
Jahrhundert geführte Debatte über den Kunstenthusiasmus, der im religiösen oder
patriotischen Gefühl wurzle, argumentiert so und bringt Meyer wie auch Fer-
now in unerwartete Nachbarschaft zur Frühromantik. Wie Fernow, der widerwil-
37 Oskar Bätschmann : Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln :
Dumont 1997, besonders S.58–75.
38 Johann Heinrich Meyer : Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts (FA I, 19,
S.17–48 und 94–175, hier S.46).
39 Ebd., S.48.
58 Sabine Schneider
lig konstatiert, man könne aus der »Kultur- und Kunstgeschichte der alten und
neuern Nationen« nur lernen, »daß der religiöse Enthusiasmus immer eine der
wichtigsten Triebfedern ihrer Ausbildung, Verbreitung und Vervollkommnung
gewesen ist«, zieht Meyer eine Verbindungslinie zwischen Kunstproduktion
und Religion respektive Patriotismus :
Wir geben es zu, die Alten, die Griechen, haben manche Vorteile genossen, deren die
Neuern sich nicht erfreuen ; doch weniger der Schönheit ihrer mythologischen Dich-
tungen, ihren Spielen und dergleichen, als dem religiösen Eifer und, nebst demselben,
dem patriotischen, oder wenn man dieses letztere mit einem geringern Namen belegen
will, dem allgemeinen National-Ehrgefühl und der Ruhmbegier jedes einzelnen Orts,
vor dem andern Vorzüge, Merkwürdigkeiten zu besitzen, hatten sie wahrscheinlich den
Flor ihrer Kunst zu danken.¹
Diese Historisierung wird üblicherweise erst der Spätphase des Klassizismus ab
 zugeschrieben– Meyers Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahr-
hunderts in der Gemeinschaftspublikation Winkelmann und sein Jahrhundert ist
ein prominentes Beispiel dafür.² Doch lässt sich zeigen, dass diese kulturhistori-
sche Betrachtungsweise der Kunst zwar nach  in der nachprogrammatischen
Phase stärker in den Vordergrund rückt, jedoch als Motivation und Faktoren-
analyse schon an der Entstehung des Propyläen-Projekts beteiligt ist. Immer sei
die Kunst, so Meyer in einem Beitrag zu Schillers Horen aus dem Jahr , den
Beyträgen zur Geschichte der neuern bildenden Kunst, abhängig gewesen von einem
glücklichen Zusammentreen von »Zeit und Ort, Menschen und Umstände[n]«.³
In diesem Zusammenhang ist auch die Position Johann Heinrich Meyers neu zu
bestimmen : Sein maßgeblicher und prägender Beitrag zu den genannten Prob-
lemkonstellationen nimmt seinen Ausgangspunkt vor allem in dem gemeinsam
40 Carl Ludwig Fernow : Bemerkung eines Freundes (FA I, 19, S.48–64, hier S.48). In der Mono-
graphie über Asmus Jakob Carstens hingegen führt Fernow eine strikt autonomietheoretische
Kategorie mit dem »Kunststreben« des Genies ein. Vgl. Tausch : Entfernung der Antike (Anm. 12),
S.168–186.
41 Meyer : Entwurf einer Kunstgeschichte (Anm. 38), S.47.
42 Vgl. Johannes Grave : Winckelmanns »schlecht abgefundene Erben«. Zur Spannung zwischen
Kunsttheorie und Kunstgeschichte bei Goethe, Meyer und Fernow. In : Der Körper der Kunst.
Konstruktionen der Totalität im Kunstdiskurs um 1800. Hg. von J. G., Hubert Locher und Rein-
hard Wegner. Göttingen : Wallstein 2007, S.31–85.
43 [Johann Heinrich Meyer :] Beyträge zur Geschichte der neuern bildenden Kunst. In : Die Horen
3. Bd. (1795), 9. St., S.11–29, hier S.11.
59
Positionierungen der Kunst in der Kultur
mit Goethe verfolgten Projekt einer integralen Darstellung der italienischen Kul-
turlandschaft. Meyer brach  nach Rom auf, von wo er aufgrund der Kriegs-
handlungen nach Florenz ausweichen musste und, dort vergeblich auf Goethe
wartend, im Sommer  krank und resigniert in die Schweiz zurückkehrte. Das
sich in den politischen Wirren zerschlagende »Italien-Projekt« ist demnach von
der gleichen, sich im napoleonischen Kunstraub verdichtenden Umbruchssitua-
tion betroen, von der Fernows Briefe der Jahre / im Neuen Teutschen Mer-
kur ebenso Zeugnis ablegen wie die Einleitung in die Propyläen. Die Fragmente
des Projekts sind direkt in das Zeitschriftenprojekt eingegangen, wenn auch durch
die kunstprogrammatische Zuspitzung auf Grundsatzfragen kaum noch in ihrer
kulturhistorischen Ursprungsgestalt erkennbar oder über die Publikationsabsicht
nicht hinausgekommen, wie die in der kulturgeographisch ausgerichteten Schwei-
zerreise Goethes formulierte Schilderung der Kulturlandschaft Stäfas, die sich in
der Liste der nicht ausgeführten Titel der Propyläen ndet. Mit dem Scheitern
dieses Italienprojekts, das am Anfang und nicht am Ende der kunstprogramma-
tischen Propyläen-Phase steht, erweisen sich Goethes und Meyers Versuche der
historiographischen Integration von Kunst und Kulturgeschichte als ein von vorn-
herein gefährdetes Unternehmen, ebenso wie ihr Komplement, die auf die Gegen-
wart und Zukunft der Kunst gerichtete Kunstpolitik.
Betrachtet man die Kunstprogrammatik der Propyläen von dieser Problem-
stellung der Entstehungszeit her, so ist es auch nicht Meyer anzulasten, dass dem
Weimarer Kulturprogramm ein nachhaltiger Erfolg verwehrt blieb. Das Schei-
tern ist vielmehr der historischen Beschleunigungserfahrung einer Umbruchszeit
geschuldet, deren rasanter Dynamik die Weimarer Kunstfreunde sich bei ihrem
Projekt einer raumzeitlichen Sistierung zur erfüllten Gegenwart sehr wohl be-
wusst waren. Schon Karl Philipp Moritz hatte  in seiner Altertumsschrift
das Erhaschen der Umrisse in der »Flucht der Zeit« als Aufgabe des Historikers
gesehen. Und in der Gemeinschaftspublikation der Weimarer Kunstfreunde
44 Vgl. den Beitrag von Claudia Keller in diesem Band, sowie C. K.: Goethes und Meyers ›Italien-
Projekt‹. Perspektiven auf eine fragmentierte Klassik. In : Rosenbaum u.a.: Johann Heinrich Meyer
(Anm. 1), S.157–174.
45 MA 6.2, S.969.
46 Karl Philipp Moritz : Über die Würde des Studiums der Alterthümer. In : K. P. M.: Schriften zur
Ästhetik und Poetik. Hg. von Hans Joachim Schrimpf. Tübingen : Niemeyer 1962, S.103–109,
hier S.108. Vgl. Harald Tausch : »In der Flucht der Zeit von den Bildern, die vorüberrauschen,
gleichsam nur die Umrisse stehlen«– Antike als Erinnerungslandschaft und als Fest in Karl Phi-
lipp Moritz’ Anthousa. In : Zeitschrift für Kunstgeschichte 63/2 (2000), S.231–241 ; sowie Sabine
Schneider : Opake Reste, Zeitfluchten, Raumzeiten. Dynamisierte Erinnerungstechniken in
60 Sabine Schneider
Winkelmann und sein Jahrhundert werden »trübsinnige Betrachtungen« an den
Anfang des Entwurfs einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts über die
Relativität jedes Urteils im beschleunigten Zeitstrom angestellt :
Aber leider ist selbst das kaum Vergangene für den Menschen selten belehrend, ohne
daß man ihn deshalb anklagen kann. Denn indem wir die Irrtümer unsrer Vorfahren
einsehen lernen, so hat die Zeit schon wieder neue Irrtümer erzeugt, die uns unbemerkt
umstricken und wovon die Darstellung dem künftigen Geschichtsschreiber, ebenfalls
ohne Vorteil für seine Generation, überlassen bleibt.
Es sind solche Beobachtungen zur Diskontinuität der Erfahrungsweitergabe zwi-
schen den Generationen, die der Soziologe Hartmut Rosa ins Zentrum seiner
Beschleunigungsthese für die Zeiterfahrung der Moderne rückte. Sie prägen
bereits das Zeiterleben der Propyläen, das man als forcierte Modernitätserfahrung
beschreiben könnte und das sich in der Einleitung klar artikuliert : »Alles ist ei-
nem ewigen Wechsel unterworfen, und, da gewisse Dinge nicht neben einander
bestehen können, verdrängen sie einander. So geht es mit Kenntnissen, mit An-
leitungen zu gewissen Uebungen, mit Vorstellungsarten und Maximen.« Und
Schiller reektiert in seinem Prolog, der zur Urauührung von Goethes Maho-
met im Januar  geplant war, mit dem Titel An Goethe, als er den Mahomet
von Voltaire auf die Bühne brachte, den modernen Ansatzpunkt des klassizistischen
Bühnenprojekts gegen den Vorwurf des Anachronistischen und Restaurativ-
Normativen ebenfalls mit dem Hinweis auf »das bewegte Rad der Zeit« und auf
die geügelten »Horen«, damit auf die Vorgängerpublikation der Propyläen und
deren zeitbewusste Modernität anspielend :
Drum nicht, in alte Fesseln uns zu schlagen,
Erneuerst du dies Spiel der alten Zeit.
Nicht, uns zurückzuführen zu den Tagen
Charakterloser Minderjährigkeit.
Es wär ein eitel und vergeblich Wagen,
Spätaufklärung und Klassizismus. In : Die Sachen der Aufklärung. Hg. von Frauke Berndt und Da-
niel Fulda. Hamburg : Meiner 2012 (=Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 34), S.421–430.
47 FA I, 19, S.13.
48 Hartmut Rosa : Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005 (=Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1760).
49 P I.1, S.XXI.
61
Positionierungen der Kunst in der Kultur
Zu fallen ins bewegte Rad der Zeit.
Geügelt fort entführen es die Stunden,
Das Neue kommt, das Alte ist verschwunden.
Der Fluchtpunkt aller Bemühungen um integrale Kunstbetrachtung in historischer
Perspektive ist die Gegenwart der Kunstwirklichkeit und die ungewisse Frage ihrer
Zukunft.¹ Viele in den Propyläen diesbezüglich verfolgten emen und Lösungs-
ansätze sind weniger von einer systematischen Kunsttheorie als von konkreten
Problemstellungen des Kunstalltags motiviert. Zentral ist die Frage der Künstler-
ausbildung und ihrer Verbindung mit handwerklicher Kunstproduktion. Trotz der
Skepsis gegenüber den Akademien, die nicht nur Fernow, sondern auch Meyer als
künstliche »Treibhauspege«² der Kunst bezeichnet und– so in einem in Kunst
und Alterthum  erschienenen Aufsatz Vorschläge zu Einrichtung von Kunstaka-
demien rücksichtlich besonders auf Berlin– »bloß als abwehrende Anstalten gegen
das Sinken« der Kunst sieht,³ richten sich die Honungen der Kunstfreunde auf
diese staatliche Kunstförderung. Die von Meyer in dem Propyläen-Aufsatz Ueber
Lehranstalten zu Gunsten der bildenden Künste vorgeschlagenen Maßnahmen zielen
auf eine Wiedereinsetzung der Kunst in ihre gesellschaftliche Wirksamkeit. Meyer
geht hier mit Goethe einig. So wie dieser später in seinen Beiträgen über die Kunst
in den Rhein- und Main-Gegenden dem System der Bauhütte positive Aspekte
für die öentliche Dimension der Kunst abgewinnen kann, so sieht auch Meyer
in dem Propyläen-Aufsatz im traditionellen System der Malerschulen diese Inte-
gration als Vorteil gegenüber den modernen Akademien. Während sich früher die
Meister ihre Schüler zu Gehilfen für ihre ausführenden Arbeiten gebildet hätten,
welche auf diese Weise allmählich in das Kunstsystem hineinwachsen konnten,-
hen in der Gegenwart weder die Meister noch die Schüler »so gute Honungen
vor sich«. Dabei streben Meyers Reformen, die er als Direktor der Weimarer Zei-
chenschule auch praktisch zu verwirklichen versuchte, die positiven Aspekte des
50 SNA 2.1, S.404.
51 So auch die Leitthese von Andreas Beyer : Die Kunst des Klassizismus und der Romantik. Mün-
chen : Beck 2011.
52 Carl Ludwig Fernow : Bemerkung eines Freundes (FA I, 19, S.48–64, hier S.53).
53 W.K.F. [Johann Heinrich Meyer] : Vorschläge zu Einrichtung von Kunstakademien rücksichtlich
besonders auf Berlin. 1821 (FA I, 21, S.72–101).
54 [Johann Heinrich Meyer :] Ueber Lehranstalten, zu Gunsten der bildenden Kunst. Fortsetzung (P
II.2, S.149).
55 Alexander Rosenbaum : »Geendigte Nachahmung«. Meyer als Zeichenlehrer und Pädagoge. In :
Rosenbaum u.a.: Johann Heinrich Meyer (Anm. 1), S.227–254.
62 Sabine Schneider
vormodernen Kunstsystems in die Moderne herüber zu retten, indem er wünscht,
die Lehrer möchten mit den Schülern regelmäßig gemeinsam Kunstwerke schaen,
die eine öentliche Verwendung nden sollten.
In den Umkreis solcher Überlegungen gehört auch ein  von Goethe dik-
tierter Entwurf mit der Überschrift Vorschläge den Künstlern Arbeit zu verschaen,
der sich direkt auf Meyers Propyläen-Aufsatz bezieht und dessen Vorschlag auf-
greift : »Meister und Schüler sollen sich in Kunstwerken üben können«, um dann
konkret über mögliche Lokalitäten für die Aufstellung von öentlichen Kunst-
werken, über mögliche Auftraggeber, Finanzierungsmöglichkeiten und Anlässe
nachzudenken. Auällig ist dabei der zerstreuende Aspekt dieser Kunstpolitik,
der gegen hauptstädtische Zentralisierungsallüren im Namen der Nation votiert :
»Leerheit des Begris eines Pantheons für die Nation, besonders wie die deutsche.
Es würde dadurch allenfalls eine Kunstliebhaberei auf eine Stadt konzentriert, die
doch eigentlich über das Ganze verteilt und ausgedehnt werden sollte.« Dieselbe
Einstellung, die geprägt ist von der Erfahrung des napoleonischen Kunstraubs,
sollte Meyer wenige Jahre später in seiner Auseinandersetzung mit den neuen Mu-
seen in Bayern einnehmen. Auch er proklamiert eine Verteilung der königlichen
Sammlung auf verschiedene Residenzstädte, damit »dem ganzen Volk überall öf-
fentlich auf Märkten und in den Tempeln Gutes und Schönes vor Augen stehe
Freilich ist dieser Weimarer Klassizismus der Propyläen wie der Nach-Propy-
läen-Zeit mit seinen kunstfördernden Maßnahmen von der politisch wirksamen
öentlichen Präsenz etwa Schinkels in Berlin weit entfernt. Die Jahre zwischen
 und  waren eine Zeit der politischen und künstlerischen Verunsiche-
rung, in denen die Künste noch keine machtpolitische Unterstützung eines Staa-
tes wie Preußen erhielten und noch keiner neuen nationalpolitischen Funktiona-
lisierung unterlagen. Meyer hatte den richtigen politischen Instinkt, insofern er
erst nach der Sicherung der Großmacht Preußens im Wiener Kongress in seiner
Begutachtung der Museumsgründungen in Berlin die Chance gekommen sah,
dass die Kunstakademien eine »erweiterte Wirksamkeit« entfalten könnten.
56 [Johann Heinrich Meyer :] Ueber Lehranstalten (P II.2, S.160f.).
57 Johann Wolfgang Goethe : Vorschläge, den Künstlern Aufträge zu verschaen (FA I, 18, S.962–
967, hier S.964).
58 W.K.F. [Johann Heinrich Meyer] : (Rez.) Plan die Vertheilung der königlich-bayerischen Gemäl-
desammlung in München, Schleissheim, Augsburg, Landshut und Bamberg betreend. In : In-
telligenzblatt der JALZ 4 (1807), Nr. 35, Sp. 308–312, hier Sp. 309 und 311. Ich verdanke diesen
Hinweis Claudia Keller.
59 W.K.F. [Johann Heinrich Meyer] : Vorschläge zu Einrichtung von Kunstakademien (FA I, 21,
S.73).
63
Positionierungen der Kunst in der Kultur
Da es in Berlin kaum an Aufträgen für Kunstwerke fehlen könne, sollten junge
Künstler die Gelegenheit bekommen, durch die Schaung von Altargemälden
oder Denkmälern eine breite Öentlichkeit zu erreichen.
Man kann aus diesen Ansätzen seit den Propyläen eine Verschiebung von in-
dividuell gedachter ästhetischer Erziehung zur Kollektivierung und Institutio-
nalisierung der Kunstpolitik erkennen, die sich in dem Nachfolge-Zeitschrif-
tenprojekt Kunst und Alterthum verstärkt. Der in den Propyläen proklamierte
Kosmopolitismus wird dort in einen nationalen und patriotischen Kontext gestellt.
Die Verteilung der Kunstproduktion über regionale und lokale Museen dient der
Etablierung eines Netzwerks zur Wiederbelebung des Kunsthandels und geistigen
Kunstverkehrs. Die Ansätze dazu sind aber bereits in den Propyläen grundgelegt.
Kunst wird etwa in dem kleinen dialogischen Kunstroman Der Sammler und die
Seinigen nicht in ihrer autonomietheoretisch gerechtfertigten Isolation, sondern
als Agens gesellschaftlicher Bildung und geselliger Kommunikation thematisiert.
Die Kunst ist dort programmatisch an die Familiengeschichte und damit an ei-
nen sozialen Ort zurückgebunden. Der zum Gegenstand des Romans werdenden
Sammlung, die man als Selbstreexion auf das Sammlungsprojekt der Propyläen
zum Zweck der Stiftung einer Gemeinschaft Gleichgesinnter und als Abwehr
der historischen Zerstreuung verstehen kann, steht in dem ›kleinen Kunstroman‹
die gesellige Zerstreuung als Forderung eben dieser Gemeinschaft gegenüber. Der
individuellen und stummen Kontemplation vor den vollkommenen Kunstwerken
im Kunstprogramm des Klassizismus tritt hier das Prinzip der multiperspektivi-
schen, launigen und dialogischen Unterhaltung an die Seite. Auch dieses Prinzip
der vielstimmigen Unterhaltung zwischen Freunden, die nicht beanspruchen, die
Wahrheit zu treen, sondern die jeweils subjektiv Position beziehen, um dann in
Kritik und Streitkultur um ein unendlich perfektibles Verständnis ringen, ist eine
Selbstreexion auf das Projekt der Propyläen.¹ Zu übertragen ist dann aber auch
die adäquate Rezeptionshaltung, die der Sammler in direkter Adressierung an die
Herausgeber der Propyläen nicht in deren milde getadelten Ernst und Strenge,
sondern in »eine[r] gewisse[n] heitere[n] Liberalität« sehen möchte.²
Die Semantik des Freundesgesprächs in der Einleitung in die Propyläen, die
Selbstdeklarierung als »Bemerkungen und Betrachtungen, harmonisch ver-
60 Ebd., S.92.
61 Eine ähnliche ese vertritt der Beitrag von Norbert Christian Wolf in diesem Band.
62 [Johann Wolfgang Goethe :] Der Sammler und die Seinigen. 4. Brief (P II.2, S.54–65, hier S.56
und S.61).
64 Sabine Schneider
bundner Freunde«,³ die dann erst ab  zum Kürzel ›W.K.F.‹ gerinnen sollte
und in der Zeitschrift Kunst und Alterthum die meist von Meyer verfassten Bei-
träge signierte, ist daher durchaus ernst zu nehmen. Und der Titel Propyläen,
der nicht das innere Heiligtum der vollkommenen Kunst und der Weisheit
Athenes, sondern ihre Vorhalle als Ort des geselligen Gesprächs, des Markt-
treibens und der öentlichen Vermittlung bezeichnet, ist somit Programm, wel-
ches einer normativen Kunstlehre völlig entgegengesetzt ist. Nicht Pracht und
Anmaßung einer eoriearchitektur, sondern gesellige Unterhaltung ist sein
Impetus :
Stufe, Tor, Eingang, Vorhalle, der Raum zwischen dem Innern und Äußern, zwischen
dem Heiligen und dem Gemeinen kann nur die Stelle sein, auf der wir uns mit unsern
Freunden gewöhnlich aufhalten werden. Will jemand noch besonders, bei dem Worte
Propyläen sich jener Gebäude erinnern, durch die man zur Atheniensischen Burg, zum
Tempel der Minerva gelangte, so ist auch dies nicht gegen unsere Absicht, nur daß man
uns nicht die Anmaßung zutraue, als gedächten wir ein solches Werk der Kunst und
Pracht hier selbst auszuführen. Unter dem Namen des Orts verstehe man das, was da-
selbst allenfalls hätte geschehen können, man erwarte Gespräche, Unterhaltungen, die
vielleicht nicht unwürdig jenes Platzes gewesen wären.
Diese Dialogizität des Kunstgesprächs ist eine Geste der Önung, nicht der
Schließung des Kunstkreises. Sie hat das Ziel, die Kunst wieder ins Leben zu
überführen. Dies impliziert auch die Akzeptanz von Zerstreuung und Unferti-
gem. Auch die Kunstsammlung des Oheims in dem kleinen Dialogroman wirkt
als ›Reiz‹ für gesellige Unterhaltung und Belehrung gerade nicht durch ihre Voll-
kommenheit, sondern durch das Unfertige und Nichtabgeschlossene. Kontingenz
wird produktiv, insofern sich die Sammlung einem genealogischen Bruch in der
Familientradition verdankt. In der Nachfolgepublikation der Weimarer Kunst-
freunde, Winkelmann und sein Jahrhundert, wird in einem von Goethe verfass-
ten Abschnitt zur Wirkung der Kontingenz in Winckelmanns Leben unter der
Überschrift »Glücksfälle« der Zusammenhang zwischen der Unabgeschlossen-
heit des Kunstkörpers und seiner verlebendigenden Wirkung auf eine Kunst, die
wieder gesellschaftlich wachsen und Neues hervorbringen kann, reektiert. Ich
möchte ihn als rückwärts gewendeten Kommentar auf das Projekt der Propyläen
und als Selbstreexion auf die Konstanten der Weimarer Kunstdebatten über die
63 P I.1, S.V.
64 Ebd., S.IIIf.
65
Positionierungen der Kunst in der Kultur
Propyläen hinaus lesen und als solchen Kommentar an den Schluss meiner Über-
legungen stellen :
Traurig ist es, wenn man das Vorhandne als fertig und abgeschlossen ansehen muß. Rüst-
kammern, Galerien und Museen, zu denen nichts hinzugefügt wird, haben etwas Grab-
und Gespensterartiges ; man beschränkt seinen Sinn in einem so beschränkten Kunst-
kreis, man gewöhnt sich solche Sammlungen als ein Ganzes anzusehen, anstatt daß man
durch immer neuen Zuwachs erinnert werden sollte, daß in der Kunst, wie im Leben,
kein Abgeschlossenes beharre, sondern ein Unendliches in Bewegung sei.
65 Johann Wolfgang Goethe : Skizzen zu einer Schilderung Winkelmanns »Glücksfälle« (FA I, 19,
S.198f., hier S.198).
Hans-Jürgen Schings
Laokoon und La Mort de Marat oder Weimarische
Kunstfreunde und Französische Revolution
Hartmut Reinhardt zum . Geburtstag
I. »S«
Das kritische Verhältnis des klassischen Weimar zur Französischen Revolution
bildet einen hochempndlichen, noch heute umstrittenen und keineswegs aus-
geschöpften Gegenstand. Das gilt auch für den nur selten beachteten Teilaspekt,
der hier vergleichend untersucht werden soll, die Rolle, die in beiden Fällen die
Künste einnehmen. Gern zahlt man den Weimarern heim, was sie sich gegen-
über der Revolution haben zuschulden kommen lassen. Besonders gut eignet
sich dafür Goethes kleiner Aufsatz Literarischer Sansculottismus aus dem Früh-
jahr . Rasch, mit großem Unmut geschrieben und sogleich in den Horen
gedruckt, bietet die Zurechtweisung eines Berliner Kritikers bis heute Anlass
für allerlei Missverständnisse und besserwissendes Kopfschütteln. »Wir wollen
die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vor-
bereiten könnten.«¹ So lautet der bekannte Stoßseufzer Goethes. »Lieber keine
deutsche Klassik als eine Änderung der politischen Zustände«, so umschreibt
ihn, »jenen ungeheuren Satz«, Empörung nur mühsam unterdrückend, eine be-
kannte Streitschrift gegen die Weimarer Klassik.² Darf man es sich so einfach
machen ?
Mit dem Begri Sansculottismus hat es in Goethes Text eine doppelte Be-
wandtnis, eine oene und eine verdeckte. Die oene belegt den Berliner Kritiker
1 MA 4.2, S.17. Über die Einzelheiten, mit Abdruck der Artikel Daniel Jenischs, und Goethes
übereilte Reaktion informiert der Kommentar von Klaus H. Kiefer, ebd., S.928–937.
2 Max L. Baeumer : Der Begri ›klassisch‹ bei Goethe und Schiller. In : Die Klassik-Legende. Se-
cond Wisconsin Workshop. Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt/M.: Athe-
näum 1971, S.17–49, hier S.40f. und 43. Verfährt Baeumers Beitrag noch quellennah und deshalb
moderat, trägt das Vorwort der beiden Herausgeber, von Argumentationsgängen nicht behindert,
ganz unbeschwert die ›kritischen‹ Klischees vor : »Es gehört nun einmal zum Wesen der Weimarer
Hofklassik, daß hier zwei hochbedeutende Dichter die Forderung des Tages bewußt ignorieren
und sich nach oben üchten : ins Allgemein-Menschliche, zum Idealisch-Erhabenen, zur Auto-
nomie der Schönheit, um dort in Ideen und poetischen Visionen das Leitbild des wahren Men-
schentums zu feiern.« Ebd., S.11.
68 Hans-Jürgen Schings
Daniel Jenisch mit dem unerfreulichen revolutionären Etikett, bezichtigt ihn also
wenn nicht eines literarischen Umsturzversuches, so doch einer ganz außerge-
wöhnlichen Anmaßung. Wichtiger ist die verdeckte Bedeutung. Sie kommt zum
Vorschein, wenn man die Gedankenkette mustert, die Goethe mit dem Begri
eines klassischen Autors– dessen Fehlen in Deutschland der Berliner Kritiker
ja so ungestüm beklagt– verbindet. Klassische Werke fordern einen »vortrei-
chen Nationalschriftsteller«, dieser setzt eine Nation, einen »Nationalgeist«, eine
»Nationalkultur« voraus, und diese erhält man in Deutschland nur durch »Um-
wälzungen«, und zwar durch eine Revolution, die, wie in Paris geschehen, Einheit
und Unteilbarkeit zu höchsten Gütern der neuen Republik erhebt.³ Hier sitzt der
Stachel von Goethes Argument. Man muss wissen, dass unité und indivisibilité
in Paris den Rang von revolutionären Heiligtümern besaßen, die um jeden Preis
zu verteidigen waren. Und nichts war verabscheuungswürdiger als der fédéralisme.
So mussten die revolutionären Mainzer– das Exempel war Goethe gut be-
kannt– einsehen, dass ihr Heil nur in der bedingungslosen Vereinigung mit der
französischen Republik lag. Noch rigoroser verfuhr man innenpolitisch. Im Jahr
 wurde der fédéralisme, der sich gegen die Pariser Dominanz regte, zum to-
deswürdigen Verbrechen. Ströme von Blut wurden vergossen, als die verfolgten
Girondins Departments und Städte gegen die Pariser Montagnards zu mobili-
sieren suchten und der Konvent zurückschlug ; man denke an Lyon, Bordeaux,
Toulon und andere Aufstände im Midi. Es war ihr fédéralisme, der der Gironde
zum Verhängnis wurde. (Der Verlauf unserer Untersuchung wird uns unmittel-
bar darauf zurückführen.) Unité und Guillotine gehörten also zusammen. Das
3 MA 4.2, S.16–18.
4 Franz Dumont : Die Mainzer Republik von 1792/93. Studien zur Revolutionierung in Rheinhes-
sen und der Pfalz. Zweite, erweiterte Auage. Alzey : Verlag der Rheinhessischen Druckwerkstätte
1993, bes. S.288–314. Zum Befreiungsdekret vom 15. Dezember 1792 heißt es : »Anstelle unein-
geschränkter Selbstbestimmung wurde uneingeschränkte, notfalls sogar zwangsweise Revoluti-
onierung der ›Befreiten‹ zur Maxime französischer Besatzungspolitik. […] Befreiung war also
untrennbar mit der Annahme der französischen Staatsform gekoppelt und verpichtete die Völker,
sich ›une forme de gouvernement libre et populaire‹ zu geben.« (S. 292)
5
Marcel Dorigny : Fédéralisme. In : Dictionnaire historique de la Révolution française. Hg. von Al-
bert Soboul. Paris : Presses Universitaires de France 1989, S.437 ; vgl. Henri Wallon : La Révolution
du 31 mai et le Fédéralisme en 1793 ou la France vaincue par la commune de Paris. 2 Bde., Pa-
ris : Hachette 1886 ; Louis Réau : Histoire du vandalisme. Les monuments détruits de l’art fran-
çais. Éd. augm. par Michel Fleury et Guy-Michel Leproux. Paris : Robert Laont 1994, S.252.
(»L’écrasement du fédéralisme«) ; Hubert C. Johnson : e Midi in Revolution. A Study of Regional
Political Diversity, 1789–1798. Princeton, New Jersey : Princeton University Press 1986, S.222–249.
6 Dazu Jean-René Suratteau : Unité/Indivisibilité. In : Dictionnaire historique (Anm. 5), S 1060–
69
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
hatte Goethe vor Augen. Und er mochte an die frühen Lektionen denken, die er
zu dieser Sache bei Justus Möser gelernt und seinem Egmont einverleibt hatte :
»Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemei-
nen Freiheit gefährlich«. Die radikalen Unizierungs-Maßnahmen des Pariser
Sansculottismus bestätigten und übertrafen noch die Ahnungen, die schon dem
niederländischen Egmont zu schaen machten.
Die ›zerstückelten‹ und ›zerstreuten‹ Verhältnisse in Deutschland, der deut-
sche Föderalismus also, auch der literarische, mochten unter diesen Bedingungen
geradezu als Schutzschild gegen ein neues, aggressives Absolutum erscheinen,
und dies nicht nur in politicis. Noch heutigen Tages wiederholt sich die Kon-
stellation, wenn man an den (mehr oder weniger metaphorischen) Polytheismus
denkt, den Odo Marquard oder Roberto Calasso im Dienst einer antitotalitären
Gewaltenteilung geltend machen. Und immer noch erkennbar ist der Bezug auf
die Französische Revolution, den modernen Ursprung ›monomythischer‹ Macht.
Wie sich für die Revolution selbst die Begrie unité und indivisibilité festgesetzt
haben, zeigt der sogar für einen Großteil der Historiographie wegweisende parla-
mentarische Ausspruch Clemenceaus aus dem Jahr  : Ob man das wolle oder
nicht, die Französische Revolution sei ein Block, von dem man nichts wegneh-
men könne– »la Révolution française est un bloc«.
Der revolutionäre Preis für eine ›unizierte‹ »allgemeine Nationalkultur« in
Deutschland war Goethe zu hoch, schon der Gedanke daran musste ihm ab-
surd vorkommen, erst recht im nachthermidorianischen Rückblick. Doch nicht
1062. Für die Jahre 1793 und 1794 gilt : »Les Jacobins de Paris et de province, après l’élimination
des Girondins, prennent la direction du mouvement des patriotes unitaires au point que jacobi-
nisme et radicalisme unicateur vont devenir, et pour longtemps, de quasi-synonymes.« (S. 1061)
In der Betrachtung von Goethes Text bleibt dieses Motiv und seine Brisanz weitgehend außer
Acht, bestenfalls wird es gestreift. So bei Karl Otto Conrady : Goethe. Leben und Werk. Bd. 2.
Königstein/Ts.: Athenäum 1985, S.117f.; zuletzt : Gonthier-Louis Fink : Goethe et les Horen–
L’amorce d’un dialogue avec le public. In : Schiller publiciste. Schiller als Publizist. Hg. von Ray-
mond Heitz und Roland Krebs. Bern, Berlin, Brüssel u.a.: Lang 2007, S.231–274, hier S.242–251.
7 Justus Möser : Anwalt des Vaterlands. Wochenschriften, Patriotische Phantasien, Aufsätze, Frag-
mente. Leipzig, Weimar : Gustav Kiepenheuer 1978, S.157–163.
8 MA 4.2, S.17.
9
Odo Marquard : Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In : O.M.: Abschied vom
Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart : Reclam 1981, S.91–116, hier S.99, der Rekurs auf
den »Mythos der Französischen Revolution« (Lévi-Strauss), den, in Gestalt der Geschichtsphiloso-
phie, »erfolgreichsten Mythos der modernen Welt« ; Roberto Calasso : Die Literatur und die Götter.
Aus dem Italienischen von Reimar Klein. München, Wien : Hanser 2003, hier S.51. und 147., der
Angri auf die »soziale eologie«, die für den modernen Monotheismus steht.
70 Hans-Jürgen Schings
jedermann in Weimar teilte Goethes Haltung. Im Jahr , freilich noch vor der
sogenannten zweiten Revolution, die mit der Erstürmung der Tuilerien am .
August  beginnt, wehrt Herder in den zurückgehaltenen Partien der Briefe
zu Beförderung der Humanität nicht nur jeden Kulturpessimismus angesichts
der französischen Ereignisse ab, er glaubt vielmehr, dass die »neue Ordnung der
Dinge« auch eine Neugeburt der Künste herbeiführen werde. Schat nicht die
Revolution just den Nährboden, den sie brauchen ? Kultur und Literatur verlieren
also bei den Franzosen keineswegs ihre Bedeutung, im Gegenteil,
eben diese werden bei allen Classen des Volks in Bewegung gesetzt, und an den wichtigsten
Gegenständen des menschlichen Wissens jetzt mächtig geübet. Unter großem Elende ist
also wenigstens eine allgemeine Schule der Vernunft- und Redekunst der ganzen Nation
praktisch eröfnet worden ; wer sprechen kann, spricht und wird von Europa gehört. […] La-
ßen Sie die alte Schönrednerei auf Kanzeln und Richterstühlen, in Akademien und auf der
tragischen Bühne sterben ; mich dünkt, wir haben alle Meisterstücke, deren diese Gattun-
gen fähig waren, schon in Händen, und manche Gattung hatte sich bereits selbst überlebt.
Eine neue Ordnung der Dinge fängt jetzt auch in diesen Künsten an ; Wort werde at, die
at gebe Worte. Was nun stehe oder sinke, was verwese oder widergebohren werde ?– die
Auösung dieses Problems kann uns nicht anders als heilsam und lehrreich seyn.¹
Herder ist ein wohlwollender Dolmetscher der »neuen Ordnung der Dinge«.
Kein Wunder, dass er, wie sich bald zeigen sollte, seine ästhetischen Überzeugun-
gen bei seinen Weimarer Nachbarn nicht besonders gut aufgehoben sah– in der
Tat passten sie und ihr eingreifender, abstraktionsfeindlicher und wirklichkeits-
zugewandter Gestus besser zum revolutionären Paris.
Der Begri des neuen »ordre de choses« lenkt auch die glanzvolle Sequenz in
Robespierres Rede zum revolutionären Gouvernement vom . Februar , die
den großangelegten Plan einer Kultur- und Kunstrevolution enthält. Im Moni-
teur veröentlicht, obendrein von Friedrich Gentz in der Minerva übersetzt und
analysiert, war die programmatische Konventsrede in Deutschland gut bekannt.
Der systematisch gelenkte Austausch der Begrie bezeichnet eine Umwälzung
der Mentalitäten und hat folgendes Aussehen :
Wir wollen in unserm Lande die Moralität gegen den Egoismus umtauschen ; die Ehr-
lichkeit gegen die Ehre ; die Grundsätze gegen die Gebräuche ; die Pichten gegen die
10 Johann Gottfried Herder : Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Bd. 18. Nachdruck. Hil-
desheim : Georg Olms 1967, S.319f.
71
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
Manieren ; die Herrschaft der Vernunft gegen die Tyrannei der Mode ; die Verachtung
der Lasterhaften gegen die Verachtung der Unglücklichen ; den Stolz gegen den Ueber-
muth ; den Seelenadel gegen die Eitelkeit ; die Liebe zum Ruhm gegen die Liebe zum
Gelde ; die guten Menschen gegen die gute Gesellschaft ; das Verdienst gegen die Ca-
bale ; das Genie gegen die Schöngeisterey ; die Wahrheit gegen den Schimmer ; den Reitz
der Glückseligkeit gegen den Ueberdruß der Wollust ; die Größe des Menschen gegen
die Kleinheit der Großen ; ein edelmüthiges, mächtiges, wohlhabendes Volk gegen ein
liebenswürdiges, leichtsinniges und elendes ; mit einem Worte, alle Tugenden und alle
Wunder der Republik gegen alle Laster und alle orheiten der Monarchie.¹¹
Die Passage nimmt Maß an Montesquieu.¹² Ihre Begriswelten orientieren
sich an dessen Prinzipien für Monarchie und Republik, also Ehre und Tugend.
Die (staatsbürgerliche) vertu regiert die Republik und verschat ihr jene schim-
mernde Begris- und Waenrüstung, die bei den Festen und an den Monumen-
ten der Revolution ihre allegorischen Auftritte hat. Denunziert und abgestoßen
wird hingegen das alteuropäisch-hösche Wertesystem des Ancien régime, das um
die honneur gruppiert ist. Den republikanischen Tugenden fügen sich auch die
Künste. In der geballten ›einen und unteilbaren‹ Wirklichkeit der neuen Republik
suchen sie ihren integralen, und das heißt dienenden Platz. Auch sie verrichten
politisch-moralischen Dienst an der vertu, nur so können sie ihrer Legitimation
und Alimentierung sicher sein. Die entsprechenden Verlautbarungen sind uni-
form und lassen es an Bestimmtheit nicht fehlen. Manchmal genügt schon ein
Satz, um alles zu sagen. So erklärt Fleuriot-Lescot, einer der jungen, für die Re-
volution entbrannten Künstler aus dem Umkreis Jacques-Louis Davids : »Il ne
faudra pas seulement être artiste, mais aussi avoir un caractère vraiment répu-
blicain, nous ne voulons pas raisonner sur le métier mais sur l’utilité et le rapport
qu’il a avec la république.«¹³
11 Das Original : Sur les principes de morale politique qui doivent guider la Convention dans
l’administration intérieure de la république. In : Réimpression de l’ancien Moniteur. Bd. 18, Paris
1841, S.401–408, hier S.402. Auch in : Maximilien Robespierre : Textes choisis. Préface et com-
mentaires par Jean Poperen. 3 Bde. Paris : Éditions Sociales 1957–1958, Bd. 3, S.110–131, hier
S.112. Die Übersetzung : Friedrich Gentz : Ueber die Grundprinzipien der jetzigen französischen
Verfassung nach Robespierre’s und St. Just’s Darstellung derselben. In : Minerva. Ein Journal
histo rischen und politischen Inhalts (1794), Bd. 2, S.166–189 u. 232–300, hier S.174.
12 Dazu Hans-Jürgen Schings : Revolutionsetüden. Schiller, Goethe, Kleist. Würzburg : Königshau-
sen & Neumann 2012, S.141–144.
13 Zit. nach James A. Leith : e Idea of Art as Propaganda in France 1750–1799. A Study in the
History of Ideas. Toronto : University of Toronto Press 1965, S.118.
72 Hans-Jürgen Schings
Besonders gut kommt die republikanische Einschätzung der Künste zum Aus-
druck, als eine Delegation von Pariser Künstlern am . Januar  im Natio-
nalkonvent erscheint, und der amtierende Präsident, kein geringerer als David,
sich ihr Anliegen zu eigen macht :
Les arts vont reprendre toute leur dignité. Ils ne se prostitueront plus à célébrer les tyrans.
La nation les consacre à immortaliser l’héroïsme de nos légions républicaines. Vous ne
craindrez plus, ô vous qui cultivez les arts, que l’intrigue vienne arrêter vos progrès ou
xer des limites à l’essor de votre génie ! L’intrigue a émigré, les talents sont seuls restés.
Employez-les à éterniser les triomphes de la vertu, les bienfaits de la liberté. La Conven-
tion prendra votre pétition en considération […].
Der Montagnard uriot bekräftigt diese Erklärung :
Il était réservé à la république française de prouver que, parvus ses généreux défenseurs et
ses magnanimes enfants, l’essor du génie serait secondé, accéléré, étendu par l’essor de la
liberté. Il était réservé à cette nation de prouver que la liberté n’existe véritablement que là
où la vertu est respectée, les lois strictement exécutées, les sciences et les arts cultivés. […]
Je demande que le comité d’instruction publique soit chargé de présenter un programme
de concours entre tous les artistes pour immortaliser les actions vertueuses et tout ce qui
peut développer l’amour de la liberté et de l’égalité.¹
Nur vierzehn Tage später hält Robespierre seine oben angeführte Rede. Inzwi-
schen steht längst die Terreur auf der Tagesordnung und damit die Zwangsverei-
nigung von Tugend und Terror, die Robespierre bei dieser Gelegenheit rechtfertigt.
14 Moniteur (Anm. 11), Bd. 18, S.235. Auf die Stelle aufmerksam macht Leith : e Idea of Art as
Propaganda (Anm. 13), S.113f. Vgl. auch Daniel und Guy Wildenstein : Documents complémen-
taires au Catalogue de l’œuvre de Louis David. Paris : Foundation Wildenstein 1973, Nr. 784, S.84.
Die Schlusspointe Davids lautet dort ein wenig anders : »Nos ennemis, vaincus par les armes, le
seront aussi par les arts, telle est notre destinée, ainsi le veut le génie qui plane sur la France.«– Bei
Leith : e Idea of Art as Propaganda (Anm. 13), S.96. zahlreiche weitere Belege für »Revoluti-
onary Plans to Mobilize the Fine Arts«.– Vgl. auch Aux armes & aux arts ! Les arts de la Révolu-
tion 1789–1799. Ausstellungskatalog. Hg. von Philippe Bordes und Régis Michel. Paris : Editions
Adam Biro 1988 ; Klaus Herding : Kunst und Revolution. In : Ploetz. Die Französische Revolution.
Hg. von Rolf Reichardt. Freiburg, Würzburg : Ploetz 1988, S.200–240 ; Hans-Jürgen Lüsebrink :
Sprache und Literatur. In : ebd., S.241–263 ; Nützliche Quellensammlung : Von Brutus zu Ma-
rat. Kunst im Nationalkonvent 1789–1795. Reden und Dekrete I. Hg. von Katharina Scheinfuß.
Dresden : Verlag der Kunst 1973.
73
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
In der Republik des An II ist Tugend terroristisch und Terror tugendhaft– auch
Tugend und Guillotine gehören zusammen. In seiner unnachahmlichen Ma-
nier hat Saint-Just das so ausgedrückt : »Ce qui constitue une République, c’est
la destruction totale de ce qui lui est opposé.«¹ Die revolutionäre Kunstpolitik
scheut vor den Konsequenzen nicht zurück. Die systematische Vernichtung der
›kontaminierten‹ Zeugnisse der Vergangenheit, der »vandalisme révolutionnaire«,
den man gegen die Kultur des Ancien régime übt, nimmt die Formel beim Wort.
Manchmal bilden Zerstörung und Neuanfang eine signikante Einheit. David
sucht diese Symbolik und liebt es, die neuen Monumente der Republik buchstäb-
lich auf den– gut sichtbaren– Trümmerstücken der despotischen Vergangenheit
zu errichten.¹ Dass die in der revolutionären vertu angelegte Zwiespältigkeit von
Civismus und Vernichtung selbst in die Gebilde großer Kunst eindringt, auch
dafür liefert David, wie wir sehen werden, das beste Beispiel.
Wir blicken wieder nach Weimar und noch einmal auf Herder. Wie es scheint,
gibt der einstige Revolutions-Sympathisant eine Art Stellvertreter ab, an dem
Schiller und Goethe (auch) ihre Aversionen gegen die Revolution exekutieren.¹
Nur so, vor dem unausgesprochenen Hintergrund der Revolution, möchte man
sich die unerhörte Schärfe erklären, mit der beide gegen Herders Kunstauassung
zu Felde ziehen. Schillers bekannter Brief vom . November  spricht mit
15 Antoine-Louis de Saint-Just : Rapport sur les personnes incarcérées (26. Februar 1794). In : Saint-
Just : Œuvres complètes. Hg. von Anne Kupiec und Miguel Abensour. Paris : Gallimard 2004,
S.659.
16 Als für die Verteidiger von Lille ein Denkmal erbaut werden soll, erklärt David in seiner ersten
Rede als Abgeordneter des Nationalkonvents : »Je demande aussi que les débris des marbres pro-
venant des piédestaux des statues détruites dans Paris, ainsi que du bronze provenant aussi de
chacune de ces cinq statues, soient employés aux ornements de ces deux monuments, an que la
postérité la plus reculée apprenne que les deux premiers monuments élevés par la nouvelle Répu-
blique ont été construits avec les débris du luxe des cinq derniers despotes français.« Wildenstein :
Documents complémentaires (Anm. 14), Nr. 382. Ähnlich auch Nr. 459, 666, 686.
17 Dazu Albert Bettex : Der Kampf um das klassische Weimar 1788–1798. Antiklassische Strömun-
gen in der deutschen Literatur vor dem Beginn der Romantik. Zürich u. Leipzig : Max Niehans
1935 ; Christoph Fasel : Herder und das klassische Weimar. Kultur und Gesellschaft 1789–1803.
Frankfurt/M. u. a.: Lang 1988 ; Hans Dietrich Irmscher : Goethe und Herder im Wechselspiel von
Attraktion und Repulsion. In : GJb 106 (1989), S.22–52 ; A Companion to the Works of Johann
Gottfried Herder. Hg. von Hans Adler und Wulf Koepke. Rochester, New York : Camden House
2009. Mit besonders deutlicher Markierung des Revolutionsbezuges, der die Verhältnisse ein-
trübt : Günter Arnold : [Art.] Herder, Johann Gottfried. In : Goethe-Handbuch. Bd. 4.1 : Personen,
Sachen, Begrie. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart, Weimar : Metzler
1998, S.481–486, hier S.485.
74 Hans-Jürgen Schings
einer Entschiedenheit, die sich aus dem unmittelbaren Anlass– Herders Iduna,
oder der Apfel der Verjüngung, es handelt sich um Gespräche über Möglichkeit und
Wünschbarkeit einer nordischen Mythologie– kaum ableiten lässt. Pointierter,
als es Herder tut, formuliert Schiller selbst in der Negation, wie eine wirklich-
keitsnachahmende und wirklichkeitsverbundene Kunst aussehen könnte, und be-
schreibt damit zugleich auch jene revolutionäre Kunst, die alle ihre Energie allein
und unmittelbar aus der befreiten oder neugeschaenen Wirklichkeit hernimmt.
Es ist eine sehr intereßante Frage, die Sie in Ihrem Gespräche aufwerfen, aber auf großen
Widerspruch dürften Sie Sich wohl gefaßt machen. […] Gibt man Ihnen die Vorausset-
zung zu, daß die Poesie aus dem Leben, aus der Zeit, aus dem Wirklichen hervorgehen,
damit eins ausmachen und darein zurückießen muß und (in unsern Umständen) kann, so
haben Sie gewonnen ; denn da ist alsdann nicht zu läugnen, daß die Verwandtschaft dieser
Nordischen Gebilde mit unserm Germanischen Geiste für jene entscheiden muß. Aber
gerade jene Voraussetzung läugne ich. Es läßt sich, wie ich denke, beweisen, daß unser
Denken und Treiben, unser bürgerliches, politisches, religiöses, wissenschaftliches Leben
und Wirken wie die Prosa der Poesie entgegengesetzt ist. Diese Uebermacht der Prosa in
dem Ganzen unsers Zustandes ist, meines Bedünkens, so groß und so entschieden, daß
der poetische Geist, anstatt darüber Meister zu werden, nothwendig davon angesteckt und
also zu Grunde gerichtet werden müßte. Daher weiß ich für den poetischen Genius kein
Heil, als daß er sich aus dem Gebiet der wirklichen Welt zurückzieht und anstatt jener Co-
alition, die ihm gefährlich sein würde, auf die strengste Separation sein Bestreben richtet.
Daher scheint es mir gerade ein Gewinn für ihn zu sein, daß er seine eigene Welt formiret
und durch die Griechischen Mythen der Verwandte eines fernen, fremden und idealischen
Zeitalters bleibt, da ihn die Wirklichkeit nur beschmutzen würde.¹
Hochgemute, vielleicht hochmütige, jedenfalls klassische Sätze Schillers– sie
sollen uns hier nur interessieren, sofern ihr verdeckter Furor sich gegen die Re-
volution richtet. Dafür spricht– neben der Unangemessenheit von Anlass und
Tonlage¹– eine Parallele, die sie mit einer Äußerung gegenüber Johann Fried-
rich Reichardt verbindet. Der Berliner Kapellmeister und Komponist, ein guter
musikalischer Bekannter der Weimarer, erklärte sich zu deren Unwillen oen für
die Revolution– einen »wohlhabenden Salonrevolutionär« nennt ihn Sengle.² In
18 Schiller an Herder, 4.11.1795 (SNA 28, S.97f.)
19 Von einem seltsamen »Mißverständnis« Schillers spricht der Kommentar (ebd., S.446)– ohne
dessen Zustandekommen zu erklären.
20 Friedrich Sengle : Die Xenien Goethes und Schillers als Dokument eines Generationskampfes. In :
75
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
Schillers Brief vom . August  ist der Revolutionsbezug deshalb auch ganz
oenkundig. Schiller bedankt sich für die Zusendung von Sonderdrucken aus
Reichardts Revolutions-Journal Frankreich im Jahr  und fährt fort :
Für die überschickten Stücke Ihres Journals sage ich Ihnen den verbindlichsten Dank.
Beynahe hätte es mich anfangs verdroßen, einen Künstler (der noch das einzige ganz
freye Wesen auf dieser sublunarischen Welt ist) an dieser schwerfälligen politischen Dili-
gence der neuen Welthistorie ziehen zu sehen […]. Aber von mir werthester Freund, ver-
langen Sie ja in diesem Gebiete weder Urtheil noch Rath, denn ich bin herzlich schlecht
darinn bewandert, und es ist im buchstäblichsten Sinne wahr, daß ich gar nicht in mei-
nem Jahrhundert lebe ; und ob ich gleich mir habe sagen lassen, daß in Frankreich eine
Revolution vorgefallen, so ist dieß ohngefehr das wichtigste, was ich davon weiß.²¹
»Diligence« heißt Postkutsche– der Künstler, der Freie par excellence, ist also
kein politischer Agent, den man zum Dienst an Weltgeschichte und Revolution
einspannen kann.²² Die Kunst ist absolut und lässt sich nicht länger funkti-
onalisieren. Die Schlusswendung verdankt ihre beträchtliche Ironie dem Ad-
ressaten und versteht sich sofort, wenn man in ihr eine verkappte Variante
des Separations-Motivs erkennt. Nur Separation sichert die Freiheit, so lautet
auch hier die Grundregel. Der Bezugspunkt heißt jetzt nicht »Wirklichkeit«,
sondern ausdrücklich »neue Welthistorie« und »Revolution« »in Frankreich«.
Liegen hier die eigentlichen Ursachen für Schillers ästhetischen Radikalismus ?
Vieles spricht dafür.
Sucht man nach den Anfängen dieser »Separation«, so stößt man auf jenen
Brief an den Augustenburger Prinzen vom . Juli  (am gleichen Tag wurde
Marat von Charlotte Corday getötet), in dem sich Schiller, seit August  Eh-
renbürger der Revolution, von den Pariser Ereignissen lossagt. Spätestens hier
werden die Honungen auf eine realexistierende »Monarchie der Vernunft«²³ be-
graben und die »Coalition« von Wirklichkeit und Vernunft für gescheitert erklärt.
Seitdem zieht und verteidigt Schiller immer erneut die Scheidelinie zwischen
der verdorbenen Wirklichkeit und der Kunst, kämpft er für die intakte Sphäre
der ästhetischen Kultur und der ästhetischen Humanität. Deshalb, um nur das
Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. von Wilfried Barner, Eberhard
Lämmert und Norbert Oellers. Stuttgart : Cotta 1984, S.55–77, hier S.73.
21 Schiller an Reichardt, 3.8.1795 (SNA 28, S.17f.).
22 Satirisch ausgeführt wird das Motiv im Erzählgedicht Pegasus im Joche (1795).
23 Schiller an Friedrich Christian von Augustenburg, 13.7.1793 (SNA 26, S.262).
76 Hans-Jürgen Schings
Wichtigste anzuführen, das für die Horen erlassene Verbot von allem, »was sich
auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht«,² die Verbannung des
»allverfolgenden Dämon[s] der Staatskritik«,² also des revolutionären Räson-
nements. Deshalb ausdrücklich nicht politische, sondern, in den Briefen Ueber
die ästhetische Erziehung des Menschen, ästhetische Exerzitien mit Blick auf das,
»was rein menschlich und über allen Einuß der Zeiten erhaben ist«.² Deshalb
die »absolute Immunität« der Kunst,² der unabhängige »ästhetische Staat« und
eine freie Welt des aufrichtigen Scheins, ausgerufen gegen die übermächtigen
Konkurrenten der politischen Wirklichkeit, die stets mitzudenken sind.² Die
Konstellation ist im späteren Werk Schillers omnipräsent. Sie kann auch die Na-
men Das Ideal und das Leben annehmen, und sie kehrt wieder, wenn der Wallen-
stein-Prolog Leben und Kunst den streng geschiedenen Sphären von Ernst und
Heiterkeit zuteilt, oder wenn die Vorrede zur Braut von Messina dem »Naturalism
in der Kunst« »oen und ehrlich« den »Krieg« erklärt, indem sie den Chor für
eine »lebendige Mauer« erklärt, »die die Tragödie um sich herumzieht, um sich
von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre
poetische Freiheit zu bewahren«.² Deutlicher kann man nicht einschärfen, dass
die Künste nicht »aus dem Wirklichen hervorgehen« und nicht in sie »zurückie-
ßen« sollen (so der oben zitierte Brief an Herder)– wollen sie ihre Freiheit be-
wahren. »Sie sehen hieraus, daß der Dichter auf gleiche Weise aus seinen Gren-
zen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz beylegt, und wenn er eine bestimmte
Existenz damit bezweckt«, heißt es am Ende der Ästhetischen Erziehung.³ Der
Dichter, der die Grenze überschreiten zu können glaubt, setzt sich in Analogie
zum »Schwärmer«, der seine Ideale unmittelbar verwirklichen, »auch dem We-
sen nach realisiert sehen möchte«³¹– ein solcher Schwärmer aber gehört zum
Personal der Revolution ; der Begri des Schwärmers ist fester Bestandteil der
Revolutionskritik. Auch sonst wird dieser Antagonismus gelegentlich unmittel-
bar greifbar, so in Schillers Gedicht An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf
24 Ebd., S.103.
25 Ebd., S.106.
26 Ebd.
27 SNA 20, S.333. Wie das Motiv der Immunität zwischen medizinischem Bildspender und ästhe-
tischen Bildempfängern pendelt, zeigt die anregende Studie von Cornelia Zumbusch : Die Immu-
nität der Klassik. Berlin : Suhrkamp 2012.
28 SNA 20, S.399–404 u. 410–412.
29 SNA 10, S.11.
30 SNA 20, S.401.
31 Ebd., S.412.
77
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
die Bühne brachte (). Wogegen die Weimarer Bühne und Dramaturgie antritt,
selbst mit kompromisslerischen Reprisen der tragédie classique, sogar mit Voltaire,
macht die folgende Strophe unmissverständlich klar :
Es droht die Kunst vom Schauplatz zu verschwinden,
Ihr wildes Reich behauptet Phantasie,
Die Bühne will sie, wie die We lt, entzünden,
Das niedrigste und höchste menget sie,
Nur bei dem Franken war noch Kunst zu nden,
Erschwang er gleich ihr hohes Urbild nie,
Gebannt in unveränderlichen Schranken
Hält er sie fest und nimmer darf sie wanken.³²
Die Überzeugung von der Autonomie der Kunst– Kernstück der Weimarer Klas-
sik– bildet und festigt sich im Angesicht der Französischen Revolution, ange-
sichts ihrer wohl stärksten Bestreitung. Die französischen Ereignisse sind eine
einzigartige Feuerprobe. Doch je radikaler die Revolution, desto entschiedener
die Separation, das Kontaminationsverbot. Die Autonomie der Kunstsphäre formt
sich in bestimmter Negation, die absolute Politik der Revolution mit ihrem abso-
luten Funktionalisierungsgebot treibt die absolute Kunst hervor. Dagegen treten
die polemischen Querelen und kleinen Erbitterungen der heimischen Szene doch
wohl ins zweite Glied zurück. Man hat im Hinblick auf die Weimarer Klassik
treend von einer Geschichte der »negativen Anregungen« gesprochen³³ und den
Freundschaftsbund der beiden Dioskuren an seinen vielfältigen heimischen Geg-
nern gemessen.³ Ihren stärksten Widersacher aber hat sie an Paris und dessen
Wirkungen. Politisierung und Parteienstreit, Übermacht der Tugend und Subor-
dinationslust der Kunst– hier liegt deren eigentliche Quelle.
32
SNA 2I, S.404–406, hier S.405. Der Revolutionsbezug herausgearbeitet bei Dieter Borchmeyer :
Der Weimarer ›Neoklassizismus‹ als Antwort auf die Französische Revolution. Zu Schillers Gedicht
An Goethe, als er den ›Mahomet‹ von Voltaire auf die Bühne brachte. In : Der theatralische Neoklassizis-
mus um 1800. Ein europäisches Phänomen ? Hg. von Roger Bauer. Bern u. a.: Lang 1986, S.51–63.
33 Bettex : Der Kampf um das klassische Weimar (Anm. 17), S.VI.
34 Am bekanntesten : Unser Commercium (Anm. 20). Darin vor allem die Arbeiten von Helmut
Brandt (»Die ›hochgesinnte‹ Verschwörung gegen das Publikum«. Anmerkungen zum Goethe-
Schiller-Bündnis, S.19–35), T. J. Reed (Ecclesia Militans : Weimarer Klassik als Opposition,
S.37–55) und Friedrich Sengle (Die Xenien Goethes und Schillers als Dokument eines Generati-
onskampfes, S.55–77). Merkwürdigerweise verliert sich hier die Französische Revolution allmäh-
lich ganz aus dem Gesichtsfeld.
78 Hans-Jürgen Schings
Wer diesen Horizont und diesen Widerpart aus den Augen verliert, läuft
Gefahr, die Weimarer Klassik in der Tat als ein Exerzitium im Niemandsland
zu betrachten, als prekäres Gebilde im luftleeren Raum, dem die üblichen Ge-
ringschätzigkeiten gewiss sind. Wenn aber Separation bestimmte Negation
heißt, wenn künstlerische Radikalität es mit der politischen aufnimmt, dann
kommt ein Verhältnis der Konkurrenz, ja der Überbietung zum Zuge, das dem
Weimarer Projekt seine eigentliche Spannung verleiht. Während die Anhän-
ger der Revolution sich fragen müssen, wie man die Ideale von  vor dem
Terror von / retten könne, setzt Weimar dem totalitären Civismus der
›zweiten Revolution‹ seinen ästhetischen Humanismus entgegen, antworten
die Weimarer auf den »despotisme de la libert髳 der terroristisch geworde-
nen Revolution mit der Maxime »Freiheit zu geben durch Freiheit«.³ Das mag
ein ungleicher Kampf unter ungleichen Bedingungen sein. Aber über den Sieg
entscheidet hier nicht die pure Wucht der Weltgeschichte, das Weltgericht
der Macht, sondern das Maß der Humanität. Und da schneidet Weimar nicht
schlecht ab.
Der Zusammenstoß von klassischem Weimar und Französischer Revolution
wird hier auf einem begrenzten und durchaus ungewohnten Beobachtungsfeld
herbeigeführt, in einer Art Experiment mit zwei Stellvertretern, den beiden
höchsten Kunstwerken, die den Gegnern zur Verfügung stehen. Wir rücken also
die Ikone der Weimarer Kunstfreunde, die Laokoon-Gruppe, neben die Ikone der
Revolutionskunst, das Gemälde La Mort de Marat von Jacques-Louis David, er-
proben dabei die am Laokoon entfalteten Kunstgesetze der Weimarer Klassizisten,
nicht normativ, wie sich versteht, sondern heuristisch, und erhoen davon neue
Einsichten für das Verhältnis der bestimmten Negation, das durch die Weima-
rer »Separation« hergestellt wird. Auch ist beabsichtigt, es den Weimar-Gegnern
und Klassik-Verächtern ein wenig schwerer zu machen.
35 Locus classicus des Begris : Maximilien Robespierre : Sur les principes de morale politique qui
doivent guider la Convention dans l’administration intérieure de la république. In : Moniteur
(Anm 11), Bd. 18, S.401–408, hier S.404. Auch in : Robespierre : Textes choisis (Anm. 11), Bd. 3,
S.110–131, hier S.119. Dazu Schings : Revolutionsetüden (Anm. 12), S.130–132.
36 Vgl. Schings : Revolutionsetüden (Anm. 12), S.136–144.
79
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
II. Laokoon   K
Die einzigartige Bedeutung, die der Laokoon seit Winckelmann für die deutsche
Kunsttheorie des . Jahrhunderts gewonnen hat, ist gut bekannt.³ Einen letzten
Höhepunkt bildet Goethes Aufsatz von /. Er geht auf ein seit der Leip-
ziger Studienzeit immer wieder auackerndes Interesse zurück und erscheint
nicht von ungefähr im ersten Stück der Propyläen, also mit programmatischem
Anspruch. Keine Frage, die Laokoon-Gruppe ist das Paradigma des Weimarer
Klassizismus. Doch die Revolution ist überall. Auf merkwürdigen Umwegen be-
mächtigt sie sich auch dieses höchsten Kunstwerks, und das geschieht geradezu
wortwörtlich.
Goethe reagiert, wie man weiß, auf eine Arbeit von Aloys Hirt. Doch als er
über den Laokoon nachdenkt, drängen sich aktuelle, sehr handgreiiche Ereig-
nisse auf, und sie rücken seinen Gegenstand in einen ganz anderen, man muss
sagen revolutionären Kontext. Denn selbstverständlich gehört die vatikanische
Gruppe (Abb. ) zu den auserlesenen Beutegütern, die nach Bonapartes Italien-
feldzug von , nach dem Waenstillstand von Bologna und dem Diktat von
Tolentino, in Norditalien und Rom beschlagnahmt und nach Paris abtranspor-
tiert werden– ein Kunstraub größten Stils, gerechtfertigt im Namen der Revo-
lution. Der Einzug des ersten Konvois in Paris– mit Hunderten sorgfältig ge-
sicherter Kisten– ndet am . und . Juli  statt und wird als großes Fest
inszeniert, ausdrücklich in Erinnerung an die journées vom . und . ermidor
des An II, vier Jahre zuvor. Es ist ein Triumph wie nach einem gewonnenen Feld-
zug. Die Rolle der Gefangenen oder vielmehr Befreiten übernehmen die erbeute-
ten Kunstgüter. Die römischen Kolossalstatuen des Nil und des Tiber führen die
Kolonne an. Die Kisten sind mit großen Buchstaben beschriftet, die ihren Inhalt
bezeichnen. Zwischen griechischen und römischen Statuen liest man auf einem
Plakat : »La Grèce les ceda, Rome les a perdu / Leur sort changea deux fois / Il
ne changera plus.« Die vier Bronzepferde von San Marco in Venedig werden auf
rollenden Plattformen mitgeführt, zwischen lebenden Giraen, Kamelen und an-
deren exotischen Tieren, die für den zoologischen Garten bestimmt sind. Ziel des
Zuges ist der Louvre– die wahre und ewige Heimstätte der Antiken (Abb. ).³
37 Neuer Überblick : L e Laocoon, histoire et réception. Hg. von Élisabeth Décultot, Jacques Le Rider
und François Queyrel. Paris : Presses Univ. de France 2003 (=Revue Germanique Internationale
19).
38 Vgl. Paul Wescher : Kunstraub unter Napoleon. Berlin : Gebr. Mann 1976, S.76f. Natürlich war
das Ereignis in Deutschland gut bekannt. Vgl. N. Cornelissen, Historisch-critische Nachrichten
80 Hans-Jürgen Schings
Es handelt sich um die Heimkehr aus dem Exil in die revolutionäre Republik
der Freiheit– so rechtfertigt man die kruden Tatsachen. Die Revolution macht
frei. Wie sie die Befreiung der Völker versprochen hat, so vollzieht sie jetzt die
Befreiung auch der Kulturgüter aus despotischer Knechtschaft. Das revolutionäre
Frankreich ist das Vaterland aller großen Kunstwerke, die förmlich auf die Revo-
lution gewartet haben, um in dies Vaterland zurückkehren zu können. So hatte
sich die Revolution schon im Jahr  angesichts der erbeuteten Kunstschätze
aus den Niederlanden geäußert :
Vertreter des Volkes !
Die Früchte des Genies stellen das Erbe der Freiheit dar […]. Zu lang waren diese Meis-
terwerke durch den Anblick der Sklaverei beschmutzt worden. Im Herzen der freien
Völker sollen diese Werke berühmter Männer ihre Ruhe nden ; die Tränen der Skla-
ven sind ihrer Größe nicht würdig, und die Ehrung der Könige beunruhigt nur ihren
Grabesfrieden. Nicht länger benden sich diese unsterblichen Werke im fremden Land ;
heute sind sie im Vaterland der Künste und des Genies, der Freiheit und Gleichheit, in
der französischen Republik angekommen.³
über einige aus Italien nach Paris verpanzte antike Statuen. (Geschrieben bey Gelegenheit des
Festes am 9ten und 10ten ermidor. J. 6.). In : Minerva, 1798, 3. Bd., S.348–361. Hier eine
Beschreibung der wichtigsten »verpanzten« Antiken, darunter auch der Laokoon (S. 356–358).–
Grundlegend zur Kunstraub-Politik Bonapartes : Ernst Steinmann : Der Kunstraub Napoleons.
Hg. von Yvonne Dohna. Rom : Bibliotheca Hertziana 2007. Neuere Forschungen : Wilhelm
Treue : Kunstraub. Über die Schicksale von Kunstwerken in Krieg, Revolution und Frieden. Düs-
seldorf : Droste-Verl. 1957 ; Édouard Pommier : La théorie des arts. In : Aux armes & aux arts ! Les
arts de la Révolution 1789–1799. Ausstellungskatalog. Hg. von Philippe Bordes, Régis Michel.
Paris : Editions Adam Biro 1988, S.167–199 ; Dominique Poulot : La naissance du musée. In :
Bordes : Aux armes & aux arts !, S.201–231 ; Édouard Pommier : La révolution et le destin des
œuvres d’art. In : Antoine C. Quatremère de Quincy : Lettres à Miranda sur le déplacement des
monuments d’art de l’Italie. Introduction et notes par Édouard Pommier. Paris : Macula 1989,
S.7–83 ; Édouard Pommier : Der Louvre als Ruhestätte der Kunst der Welt. In : Die Erndung
des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution. Hg. von
Gottfried Fliedl. Wien : Turia + Kant 1996, S.7–25 ; Bénédicte Savoy : Kunstraub. Napoleons
Konszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Mit einem Katalog der Kunst-
werke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon. Wien u.a.: Böhlau 2011 (=erw. Überset-
zung von B. S.: Patrimoine annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de
1800. 2 Bde. Paris : Éditions de la Maison des sciences de l’homme 2003).
39 Aus der Ansprache des Leutnants der Nordarmee J. Luc Barbier am 20. September 1794, zit. nach
Wescher : Kunstraub unter Napoleon (Anm. 38), S.38. Vgl. Pommier : Der Louvre als Ruhestätte
(Anm. 38), S.14.
81
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
Der Abbé Grégoire nannte den Vorgang »rapatriement«, Heimführung in das
»dernier domicile«. Den Künstlern aller Zeiten verkündet François de Neufchâ-
teau, der aktuelle Innenminister, am festlichen  thermidor des Jahres  (also am
. Juli ), wo ihre wahre Heimat liegt :
Dites, lorsque vous éprouviez le tourment de la gloire, aviez-vous le pressentiment du
siècle de la liberté ? Oui. C’était pour la France que vous enfantiez vos chefs-d’œuvre. En-
n donc ils ont retrouvé leur destination [et] viennent prendre seulement la place qui leur
était due, en décorant ici le berceau de la Liberté de tant de nations. […] Les beaux-arts,
chez un peuple libre, sont les principaux instruments du bonheur social et les trompes
auxiliaires dont se sert la philosophie qui veille au bien du genre humain.¹
Wie zu sehen ist, beruft sich die Idee des rapatriement unmittelbar auf die re-
volutionäre eorie von der einen republikanischen Tugend-Wirklichkeit, der
sich auch die Kunst zu unterwerfen habe. Das riskante Phantasma von der te-
leologisch gesteuerten Einheit von freiem Volk und freier Kunst landet in deren
Trivialisierung. Die Antiken, darunter immer auch die Laokoon-Gruppe, werden
solchermaßen in jeder Hinsicht beschlagnahmt. Der ideologischen (und militäri-
schen) sollte sich folgerecht die kulturelle Hegemonie des revolutionären Vater-
landes anschließen. Paris sollte die Rolle Roms übernehmen.²
Allerdings erhob sich auch gewichtige Kritik an der Eroberungspolitik des Direk-
toriums. Quatremère de Quincy protestierte schon im Jahr  nachdrücklich und
nahm kein Blatt vor den Mund. Seine Lettres à Miranda () brandmarken die
in Imperialismus umschlagende Politisierung der Kunst durch die Revolution– die
Vermischung von »esprit de conquête« und »esprit de liberté«,³ die Zerstörung des
großen Museums Italien, insbesondere die »décomposition du muséum de Rome«,
den oen nationalistischen Angri auf die alte respublica litteraria– und beken-
nen sich zum Geist Winckelmanns. Zwei öentliche Petitionen an das Direkto-
rium, beide von Dutzenden von Künstlern unterzeichnet, geben den auch in der
Presse ausgetragenen Meinungsstreit wieder. Die eine schließt sich Quatremère an
40 Pommier : La théorie des arts (Anm. 38), S.191.
41 Zit. nach ebd., S.195f. Vgl. Steinmann : Der Kunstraub Napoleons (Anm. 38), S.249. Vgl. Mo-
niteur, Bd. 19 (Anm. 11), S.1254.
42 Vgl. Steinmann : Der Kunstraub Napoleons (Anm. 38), S.166.
43 Quatremère de Quincy : Lettres à Miranda (Anm. 38), S.93.
44 Ebd., S.100.
45 Ebd., S.88f.
46 Ebd., S.103.– Zu den Einzelheiten besonders lesenswert die Einleitung von Édouard Pommier.
82 Hans-Jürgen Schings
und ersucht um eine Kommission von Fachleuten aus Kunst und Wissenschaft, die
erst einmal zu den römischen Plänen Stellung nehmen soll. Die andere wiederholt
selbstbewusst die revolutionären Standpunkte, verkündet die politische Erziehung
durch Kunst und die neue Weltstellung des revolutionären Paris.
Le véritable but des arts ne fut jamais de contenter la vanité d’un petit nombre de riches ;
les arts ont une n plus utile et plus grande, c’est d’instruire une nation, de former ses
mœurs, son goût, et de graver dans sa pensée des images qui lui rappellent sans cesse de
hautes vertus et sa propre dignité.
[…]
La République française, par sa force, la supériorité de ses lumières et de ses artistes, est le
seul pays au monde qui puisse donner un asile inviolable à ces chefs-d’œuvre. Il faut que
toutes les nations viennent emprunter de nous les beaux-arts avec autant d’empressement
qu’elles ont jadis imité notre frivolité […].
Die deutsche Öentlichkeit wird von ihren wichtigsten publizistischen Organen
über diese Debatte rasch und gründlich informiert. In der Minerva erscheinen
sofort die ersten sechs Quatremère-Briefe und die beiden Petitionen in Über-
setzung, ein Verzeichnis der entwendeten Kunstwerke und weitere Diskussions-
beiträge. Besonders aufmerksam ist man in Weimar, wo der gelehrte und gut ver-
netzte Böttiger sich der Sache annimmt. Aus Rom sendet der Kunstschriftsteller
Fernow empörte Berichte, die sogleich im Neuen Teutschen Merkur erscheinen.
Bénédicte Savoy, die den besten Einblick in die heftige und keineswegs wohl-
wollende deutsche Reaktion gibt, beschreibt deren Tonlage : Abweichend von
der oziellen französischen Terminologie bezeichnete man »die ›Entfernun-
gen‹ (enlèvements) der Kunstwerke abwechselnd als ›Kunstplünderungen‹, ›Raub‹,
›Ausleerungsgeschäft‹ , ›scheußlichen Vandalismus‹, ›Spolierung‹ oder sprach von
›dilapidierten Werken‹, um nur einige Beispiele zu nennen.« Dabei neigt die
Autorin durchaus zu Beschwichtigungen.
47 Abdruck bei Quatremère de Quincy : Lettres à Miranda (Anm. 38), S.141f. Übersetzung : Bitt-
schrift der vornehmsten Künstler in Frankreich an das französische Directorium. In : Minerva
(1796), 3. Bd., S.500–504.
48 Pétition adressée au Directoire, le 12 vendémiaire an IV (30 octobre 1796), par trente-sept artistes,
pour soutenir la politique des saisies d’œuvres d’art en Italie. Abdruck bei Quatremère de Qincy :
Lettres à Miranda (Anm. 38), S.143–146, hier S.144 und 145. Übersetzung : Eine revolutionäre
Bittschrift von Pariser Künstlern an das Directorium in Frankreich. Die italienischen Kunstwerke
betreend. In : Minerva (1796), 4. Bd., S.476–482.
49 Savoy : Kunstraub (Anm. 38), S.206. Zu den deutschen Verhältnissen auch Ingrid Oesterle : Der
83
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
Resigniert schildert Fernow mit Datum vom . April , wie entschieden
und professionell der Abtransport vonstattengeht :
Der größte eil der Statuen ist bereits eingepackt und mehrere sind wirklich schon
weggeführt. Das Museum Klementinum scheint jetzt nur eine große Tischlerwerkstatt
zu seyn, und die leeren Piedestalle und Wände gewähren einen traurigen Anblick. Von
den Statuen, welche an freystehenden Ex tremitäten ergänzt waren, z. B. vom Laokoon,
Antinous etc. sind diese neuern Ergänzungen vorher abgenommen worden, und die, wel-
che durch einen zu freyen Stand oder durch abstehende eile der Beschädigung zu sehr
ausgesetzt seyn würden, wie Apollo, Meleager, Laokoon, Antinous u. a. hat man mit
Gyps bekleidet, sie überdem mit Blöcken von Travertinstein ummauert, durch eiserne
mit Bley eingegossene Klammern wohlbefestigt und in äusserst starke, tüchtig zusam-
mengefügte Kisten eingezimmert, dergestalt daß so leicht keine Beschädigung derselben
zu befürchten ist.
Zwei Anklagepunkte rufen besondere Empörung hervor, das Beutemachen unter
dem Vorwand der Befreiung und der oene Vandalismus. Beide Male handelt es
sich um Seitenhiebe gegen die noch keineswegs beendete Revolution. Ein unbe-
kannter Korrespondent aus Paris beklagt am . Juli , dass die vermeintliche
Befreiung in Pariser »Kunstgefängnissen« ende :
Die herrlichen Kunstwerke Roms […] werden nicht in das Museum des antiques […]
sondern in die größern Säle im Louvre, wo das Museum national des arts errichtet wird,
mitten unter den niedlichen Sklavenguren von Ludwigs XV und Heinrichs IV Bild-
säulen, im bunten Allerley des französischen Geschmacks paradiren. Welch ein Tausch
zwischen den Rotonden und Sälen des Vatikans oder des Kapitoliums und diesen Kunst-
gefängnissen im Louvre !¹
Erbittert schreibt Fernow am . Oktober  aus Rom :
»neue Kunstkörper« in Paris und der »Untergang Italiens«. Goethe und seine deutschen Zeitge-
nossen bedenken die »große Veränderung« für die Kunst um 1800 durch den »Kunstraub«. In : Po-
esie als Auftrag. Festschrift für Alexander von Bormann. Hg. von Dagmar Ottmann und Markus
Symmank. Würzburg : Königshausen & Neumann 2001, S.55–70. Französisch in : Johann Wolf-
gang Goethe. LUn, l’Autre et le Tout. Année Goethe, Paris 1999. Hg. von Jean-Marie Valentin.
Paris : Klincksieck 2000, S.229–259.
50 Der neue Teutsche Merkur (1797), 2. Bd., S.81. Zu den haarsträubenden Umständen des Trans-
ports besonders drastisch Treue : Kunstraub (Anm. 38), S. 210–237.
51 Der neue Teutsche Merkur (1797), 2. Bd., S.372.
84 Hans-Jürgen Schings
Machen Sie nun den Schluß von dem was der Kunst geschieht, wie es in allen übrigen
Fächern der Administrazion unserer neuen Republik zugehen mag, wo die Beuten noch
weit ergiebiger ausfallen, und Sie werden mir zugeben, daß Genserich und Attila sammt
ihren Visigothen und Hunnen Ehrenmänner waren gegen die Gothen und Vandalen des
neusten Roms.²
Der Philosoph Heydenreich wählt die wohl stärksten Ausdrücke, er spricht, im
August , von einem »Verbrechen gegen die Menschheit«, das die Franzosen
und ihren Anführer in einen heillosen Widerspruch verwickelt, haben sie doch so
getan, »als führten sie die Sache der Menschheit, und hätten Freyheit, Cultur und
Glück der Nationen zum Zwecke. Sie werden den Widerspruch nie lösen können,
in dem sie dadurch vor den Augen der Unpartheyischen erscheinen.«³
Man hat sich noch gar nicht vor Augen geführt, wie sehr der italienische
Kunstraub die Weimarer Kunstfreunde treen musste. Ihr Protest spielt in der
Klassik-Forschung so gut wie keine Rolle. Aber er war deutlich und hielt lange an.
Mit besonderem Ingrimm hat Schiller den Vandalen-Topos aufgegrien. Im Jahr
 entsteht das Gedicht Die Antiken zu Paris, das  gedruckt wird :
Was der Griechen Kunst erschaen,
Mag der Franke mit den Waen
Führen nach der Seine Strand,
Und in prangenden Musäen
Zeig er seine Siegstrophäen
Dem erstaunten Vaterland !
Ewig werden sie ihm schweigen,
Nie von den Gestellen steigen
In des Lebens frischen Reihn.
Der allein besitzt die Musen,
Der sie trägt im warmen Busen,
Dem Vandalen sind sie Stein.
52 Ebd., 3. Bd., 1798, S.286.
53 K. H. Heydenreich : Darf der Sieger einem überwundenen Volke Werke der Litteratur und Kunst
entreißen ? Eine völkerrechtliche Quästion. In : Deutsche Monatsschrift (1798), 2. Bd., S.290–
295, hier S.294 und 295.
54 SNA 2 I, S.408. Schon ganz ähnlich : August Wilhelm Schlegels Gedicht Die entführten Götter :
»[…] Ihr aber, die ihr, siegberauscht,/Ausoniens myrtumkränzte Fluren/Gleich eurem Rhodan
85
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
Mit dem Ausdruck »Vandale« hat es hier wie auch sonst in der Kunstraub-Dis-
kussion eine besondere Bewandtnis. Ihn lediglich als ferne historische Reminis-
zenz nehmen, hieße ihn seiner Schärfe berauben. Der Titel »Vandale« bezieht
sich (auch) auf einen ganz jungen Vandalismus, den eng mit der Terreur der Jahre
 und  verbundenen »vandalisme révolutionnaire«, der sich jetzt fortsetzt
oder mit neuem Programm wiederholt. Jedermann kannte die ideologisch ge-
steuerten Vernichtungsaktionen der Revolution gegen Kunstwerke und Bauten
des Ancien régime und des Katholizismus, und jedermann wusste, dass dafür, vom
Abbé Grégoire geprägt, der Neologismus »vandalisme« existierte. Diese Allu-
sion macht sich Schiller zunutze. Man könnte sogar erwägen, ob er in den ersten
Versen der zweiten Strophe auch das Bonmot Grégoires ins Spiel bringt, das im
Blick auf die Eroberung der belgischen Kunstwerke von einer levée en masse ge-
sprochen hatte– »Die ämische Schule erhebt sich in Massen, um unsere Mu-
seen zu schmücken.«
Die beiden Rom-Kenner Goethe und Meyer waren ja auch ganz unmittelbar
betroen, el ihre für  geplante Italienreise doch dem »weit und breit gewal-
tigen Buonaparte« und dessen militärischen wie kunstpolitischen Erfolgen zum
Opfer. Meyer äußert sich in den Propyläen, zur Erönung seines Aufsatzes über
Die capitolinische Venus :
Der Raub der italiänischen Kunstwerke hat gewiß jedem ächten Liebhaber der Kunst,
jedem Freunde des Guten und Schönen schmerzhafte Gefühle verursacht. Durch ihn,
der mit unsäglich viel anderm Unheil verknüpft war, worüber die Menschheit ränen
vergießt, hat die Kunst, das Studium derselben und insbesondere die Alterthumskunde,
indem viele Sachen von sichrer Stelle gerückt, die wichtigsten Sammlungen vereinzelt,
zerstreut und manches barbarisch verdorben worden, unsäglichen, unersetzlichen Scha-
wogend überrauscht,/Und einem Brennus folgt auf Brennus Spuren !//Ruft uns mit reiner Opfer
Glut,/So soll euch unsre Huld belohnen./Allein ihr trotzet in der Freyheit Hut,/Und wollt uns
zwingen, unter euch zu wohnen ?//Habt ihr für uns ein Heiligthum ?/Und läßt sich Hellas Reiz
erfechten ?/Sind Götter auch ein menschlich Eigenthum ?/Ihr geizt umsonst nach des Olympus
Mächten !//Wer würdig uns zu ehren weiß/Trägt uns in seiner Brust, sein eigen./Doch trittst du
ungeweiht in unsern Kreis,/So deckt uns Nacht und die Orakel schweigen.« (Musen-Almanach
für das Jahr 1798. herausgegeben von Schiller. Tübingen : Cotta [1797], S.202f.).
55 Vgl. Jean Tulard : Le vandalisme révolutionnaire. In : Jean Tulard, Jean-François Fayard, Alfred
Fierro : Historie et dictionnaire de la Révolution française. Paris : Robert Laont 1987, S.281.
Ein Standardwerk : Réau : Histoire du vandalisme (Anm. 5), S.233–551 (»Le vandalisme jacobin«).
56 Zitiert nach Pommier : Der Louvre als Ruhestätte (Anm. 38), S.13.
57 Goethe an Böttiger, 25.10.1797 (WA IV, 12, S.343).
86 Hans-Jürgen Schings
den gelitten, der freylich jetzt noch bloß geahndet, aber in der Zukunft erst recht emp-
funden und sichtbar werden wird.
Die Erregung war noch ganz frisch, als Goethe im Jahr  über den Laokoon
schrieb, der selbstverständlich an der Spitze der beschlagnahmten Antiken stand.
Als er den Aufsatz ein Jahr später in seiner Zeitschrift veröentlicht, ist ihm frei-
lich nur leise Besorgnis anzumerken : »Möge dieses [sc. treiche Kunstwerk]
bald wieder so aufgestellt seyn, daß jeder Liebhaber sich daran freuen und darü-
ber nach seiner Art reden könne.« Deutlicher wird die Einleitung in die Propy-
läen, fertiggestellt im August , einen Monat nach dem Einzug der Antiken
in Paris, wenn sie über die »große Veränderung« und ihre Folgen spricht :
Man hat vielleicht jetzo mehr Ursache als jemals, Italien als einen grossen Kunstkörper
zu betrachten, wie er vor kurzem noch bestand. Ist es möglich davon eine Uebersicht zu
geben, so wird sich alsdann erst zeigen, was die Welt in diesem Augenblicke verliehrt, da
so viele eile von diesem grossen und alten Ganzen abgerissen wurden.
Was in dem Act des Abreissens selbst zu Grunde gegangen, wird wohl ewig ein Ge-
heimniß bleiben ; allein eine Darstellung jenes neuen Kunstkörpers, der sich in Paris bil-
det, wird in einigen Jahren möglich werden ; die Methode, wie ein Künstler und Kunst-
liebhaber Frankreich und Italien zu nutzen hat, wird sich angeben lassen, so wie dabey
noch eine wichtige und schöne Frage zu erörtern ist : was andere Nationen, besonders
Deutschland und England, thun sollten, um, in dieser Zeit der Zerstreuung und des Ver-
lustes, mit einem wahren, weltbürgerlichen Sinne, der vielleicht nirgends reiner als bey
Künsten und Wissenschaten statt nden kann, die mannigfaltigen Kunstschätze, die
bey ihnen zerstreut niedergelegt sind, allgemein brauchbar zu machen, und einen idealen
Kunstkörper bilden zu helfen, der uns mit der Zeit, für das was uns der gegenwärtige
Augenblick zerreißt, wo nicht entreißt, vielleicht glücklich zu entschädigen vermöchte.
Nimmt man das aktuelle Schicksal der römischen Antiken wahr, hat man andere
Augen für Goethes Laokoon-Aufsatz.
Was sofort auällt, sind deutliche Berührungen mit den Briefen des Quatre-
mère de Quincy. Dass der »wahre, weltbürgerliche Sinn« in der Sphäre der »Künste
und Wissenschaften« zu Hause ist und geradezu eine respublica stiftet, hatte schon
Quatremère den aufkeimenden nationalen Leidenschaften entgegengehalten :
58 P III.1, S.157.
59 P I.1, S.1 ; vgl. MA 4.2, S.73, und Kommentar, S.984.
60 P I.1, S.XXXVIIf.; vgl. MA 6.2, S.26.
87
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
In der at machen die Künste und Wissenschaften seit langer Zeit in Europa eine
Republik aus, deren Mitglieder durch die Liebe zum Schönen, und zur Wahrheit, und
durch die Untersuchung derselben gleichsam wie durch einen gesellschaftlichen Vertrag
miteinander verbunden, weit weniger sich von ihrem Vaterlande zu isoliren, als vielmehr
das Interesse desselben mit dem Interesse der übrigen Länder unter dem so schönen
Gesichtspuncte einer allgemeinen Brüderschaft zu vereinigen suchen.¹
Goethe wählt die ungewöhnliche Metapher vom »Kunstkörper«, um die Dis-
lozierung der Kunstwerke umso drastischer als Akt des ›Abreißens‹ und der
›Zerstreuung‹, des ›Zerreißens‹ und des ›Entreißens‹ hinstellen zu können. Auch
darin folgt er Quatremère, der von »Zerstreuen und Zerstören« und von »Zerstü-
ckelung« spricht und den römischen Komplex, das »wirkliche Museum zu Rom«,
als integratives Ganzes von Kunst, Landschaft und Stadt begreift :
Es ist ein Coloß, dem man einige Glieder abreissen kann, um Fragmente davon mitzu-
nehmen ; dessen Masse aber, wie die Masse der großen Sphynx von Memphis mit dem
Boden zusammenhängt. Irgend eine theilweise Versetzung ist nichts anders, als eine für
deren Urheber eben so schimpiche, als unnütze Verstümmelung.²
Der unverletzte römische Kunstkörper repräsentiert ein Erbe der Menschheit,
der zerrissene die Beutelust der Nationen. Seine Kritik versteckt Goethe hinter
dem Vorschlag, auch für England und Deutschland einen »idealen Kunstkörper«
zu bilden– ein Parallelunternehmen zum Louvre ? Nahe genug liegt jedenfalls
die Annahme, dass Goethe den Laokoon, also das Erönungsstück der Propyläen
und damit diese selbst, ins Zeichen einer Konzeption rückt, die Front bezieht
gegen den Kunstraub Bonapartes und die Kunstpolitik der Revolution, um wei-
terzubauen an jenem universellen Kunstkörper, in dem die wahren Weltbürger zu
Hause sind.³
61 [Antoine C. Quatremère de Quincy :] Ueber den nachtheiligen Einuß der Versetzung der Mo-
numente aus Italien auf Künste und Wissenschaften. In : Minerva (1796), 4. Bd., S.87–120 u.
S.271–309, hier S.88.
62 Ebd., S.109f.
63 Reinhold R. Grimm sieht hier zutreend eine Korrespondenz zum Konzept der »Weltliteratur«
und betont die Konkurrenz zur Pariser Kunstpolitik. Reinhold R. Grimm : Die Weimarer Preis-
aufgaben für bildende Künstler im europäischen Kontext. In : Die schöne Verwirrung der Phanta-
sie. Antike Mythologie in Literatur und Kunst um 1800. Hg. von Dieter Burdorf und Wolfgang
Schweickard. Tübingen : Francke 1998, S.207–234. Besonders instruktiv Élisabeth Décultot : Le
cosmopolitisme en question. Goethe face aux saisies françaises d’œuvres d’art sous la Révolution et
88 Hans-Jürgen Schings
Schiller, wie immer der aggressivste der Weimarer, verteilt in seinem Antiken-Ge-
dicht die Rollen zwischen Paris und Weimar ähnlich. Ganz auf Goethe und den
Laokoon schneidet August Wilhelm Schlegel seine lange– Goethe gewidmete–
Elegie über Die Kunst der Griechen () zu. Hier wird sogar ausdrücklich das
von Goethe entzierte »Wundergebild« des Laokoon zum Paradigma, das dem
Eroberer-»Proconsul« entgegentritt :
Kämpfend verwirrt sich die Welt, und neue Verhängnisse stürmen
Dir, kunsthegendes Land, Hellas geliebteres Kind,
Dunkel heran ; es versinkt in erneuerten Flammen Korinthus,
Und der Proconsul häuft wieder in Schie den Raub,
Stolz den Ersatz androhend ; gefeßelte Geniuswerke
Führt barbarischer Pomp wiederum auf in Triumph.
Du indessen enthüllst, der hellenischen Muse Geweihter,
Goethe, mit sinnendem Blick, mancherlei Wundergebild,
Wie es emporstieg einst in dem Geist prometheïscher Männer,
Ruhig beschwörend den Wahn, welcher nur gat und verkennt.
Dir entringeln die Schlangen um Ilions Held und die Knaben
Ihre Gewinde : wir sehn, wie die bewanete Kunst
Zögernd der Götter Gerichte vollführt ; die schonende Hand goß
Linde der Anmuth Oel über den duldenden Stein.
Selbst die pathosmindernde Laokoon-Deutung Goethes versteht Schlegels Ge-
dicht als Antwort auf den neuen Kunsträuber. Die Propyläen sind nicht blind für
die politische Lage der Kunst im revolutionären Europa. Der Pariser Horizont
muss beachtet werden.
sous l’Empire. In : Goethe cosmopolite. Revue Germanique Internationale 12 (1999), S.161–175.
Auch Oesterle : Der »neue Kunstkörper« (Anm. 49), S.80 bemerkt : »Die Erschütterung [über den
Kunstraub] bebt auch in Goethes Propyläen nach, in ihrer Anzeige, Einleitung und Gesamtan-
lage ebenso wie in einzelnen Artikeln.« In der Laokoon-Forschung kommen solche Außenbezüge
freilich nicht zur Geltung, dort geht es weiterhin um die Subtilitäten von Zeichen- und Medien-
theorie. Vgl. etwa Wilhelm Voßkamp : Goethe et le Laocoon. L’inscription de la perception dans la
durée. In : Décultot u.a.: Le Laocoon (Anm. 37), S.159–166.
64 Athenaeum, 2. Bd. (1799), 2. St., S.181.
89
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
III. La Mort de Marat   K  R
Jacques-Louis Davids La Mort de Marat, der Konkurrent, den wir dem La-
okoon gegenüberhalten wollen, unbestritten »the masterpiece of the French
Revolution«, hatte zu diesem Zeitpunkt seine glanzvolle politische Karriere
schon hinter sich. Sie dauerte vom Herbst  bis zum Frühjahr . Wie sein
Held politisch untragbar geworden und aller Ehren beraubt, verschwand Davids
Gemälde danach wieder im Atelier des Künstlers.
Das Bild und sein Maler sind aufs engste mit dem mouvement révolution-
naire verbunden, und dies in einer Phase rasch zunehmender Radikalität. Am
. Juli  ersticht Charlotte Corday den journalistischen Revolutionsfüh-
rer Marat in seiner Wohnung. Die Erregung auf der Straße, in den Sektionen
und im Konvent ist ungeheuer. Aufwendige Bestattungsfeierlichkeiten werden
veranstaltet. In ihrem Zuge bildet sich der sogenannte Marat-Kult, ein erster
Nutznießer von vandalisme und déchristianisation. Schon am . Juli erhält Da-
vid, der auch für die Organisation der Pompes funèbres verantwortlich ist, im
Konvent den Auftrag für das Gemälde Marats. Drei Monate später, am . Ok-
tober, stellt er es, gemeinsam mit dem Parallelbild des am . Januar ermorde-
ten Le Peletier de Saint-Fargeau (Abb. ), im Hof des Louvre vor, nach einem
weiteren Monat, am . November, übergibt er es feierlich dem Konvent, der
die beiden Bildnisse der ersten Märtyrer der Republik in seinem Sitzungssaal
aufhängt– zu Andenken, Mahnung und Propaganda. Auftragsgemäß wird der
Marat darüber hinaus in Tausenden von Stichen verbreitet. Alle Revolutions-
tribunale sollten mit ihm ausgestattet werden. Als der Leichnam Marats, erst
im September  ins Pantheon überführt, im Frühjahr  schon wieder
›depantheonisiert‹ wird, muss auch das Bild seinen Platz räumen. In Brüssel,
Davids Exilort, taucht das Original erst  wieder auf, dort bendet es sich
auch heute noch (Abb. ) ; zweimal soll die französische Regierung Ankaufsan-
gebote abgeschlagen haben. Im Louvre und in Versailles hängen Kopien von
David-Schülern.
65 Warren Roberts : Jacques-Louis David, Revolutionary Artist. Art, Politics and the French Revolu-
tion. Chapel Hill, London : e University of North Carolina Press 1989, S.83.
66 Michail W. Alpatow : Der Tod des Marat von J. L. David (zuerst 1938). In : M.W.A.: Studien zur
Geschichte der westeuropäischen Kunst. Mit einem Vorwort von Werner Hofmann. Köln : Du-
Mont 1974, S.276–291, hier S.289.
67 Zu den Einzelheiten der Katalog Jacques-Louis David 1748–1825. Musée du Louvre, départe-
ment des peintures, Paris, Musée national du château, Versailles, 26 oct. 1989 - 12 févr. 1990. Hg.
von Antoine Schnapper. Paris : Ed. de la Réunion des Musées Nationaux 1989, S.282., Nr. 118.
90 Hans-Jürgen Schings
Das Schicksal des Bildes gleicht dem seines Malers. Schon vor der Revolution
eine europäische Berühmtheit, wird der in den Anfangsjahren der Revolution
noch moderate David im September  auf Vorschlag Dantons und Marats
in den Nationalkonvent gewählt und zeigt sich dort als überzeugter und kämp-
ferischer Montagnard, der zum innersten Zirkel um Robespierre gehört, bis zur
Katastrophe des  thermidor. Rasch steigt er zum obersten Kunst- und Kultur-
funktionär der Republik auf. Er plant deren Feste, entwirft die Monumente, hält
die großen Augenblicke im Bilde fest, so (allerdings unvollendet) den Ballhaus-
schwur (Le Serment du Jeu de Paume), und malt die Märtyrer der Revolution, Le
Peletier de Saint-Fargeau, Marat, Bara. Sogar die Gemälde von Römertugend,
die er vor der Revolution und im Auftrag des Königs gemalt hat, wie der Schwur
der Horatier (Le Serment des Horaces, ) oder den Brutus (Les Licteurs rappor-
tent à Brutus les corps de ses ls, ), verleibt die Revolution umstandslos ihrem
eigenen heroischen Repertoire ein. Die Ämter, die man ihm zuspricht, bezeugen
das Vertrauen, das er genießt. David, der im Prozess gegen den König für die
Todesstrafe und deren unmittelbaren Vollzug stimmt, wird unter anderem Vor-
sitzender des Jakobinerclubs, Sekretär des Comité d’instruction publique und, für
zwei Wochen, Präsident des Konvents. Beträchtliche Macht besitzt er als Mit-
glied des Comité de sûreté général. Er denunziert Verdächtige, darunter wohl auch
Maler-Konkurrenten, und unterzeichnet zahlreiche Haftbefehle, die angesichts
der Praktiken des Revolutionstribunals Todesurteilen gleichkamen. Nach dem
ermidor zweimal in Haft gesetzt, kommt er glimpich davon und wird im Ok-
tober  amnestiert.
Über die radikale Phase Davids weiß man nicht besonders gut Bescheid, na-
turgemäß weckt der Künstler ein größeres Interesse als der Revolutionär. Doch
hat es nicht den Anschein, als habe sich David in die Revolution verirrt. Er macht
sie zu seiner Sache. Zum Vorschein kommt ein ziemlich unbekannter David, ein
rasch entammter Kämpfer, der die fehlende politische Erfahrung durch beson-
deren Einsatz wettzumachen sucht : »[I]l ne cesse d’intervenir avec la Montagne,
souvent avec une impétuosité et une violence verbale dont seul Marat pouvait
68 Sehr nützlich die Dokumentation von Wildenstein : Documents complémentaires (Anm. 14),
S.27–140. Übersichtliche Zusammenstellung der Quellen und Daten auch bei Jörg Traeger : Der
Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes. München : Prestel 1986, S.208–227, und Jacques
Guilhaumou : La mort de Marat. Bruxelles : Éditions Complexe 1989, S.157.– Vgl. ferner : E. J.
Delécluze : Louis David. Son école et son temps. Préface et notes de Jean-Pierre Mouilleseaux. Pa-
ris : Macula 1983 (Paris 1855), S.133.; Antoine Schnapper : J.-L. David und seine Zeit. Fribourg-
Würzburg : Edition Popp 1981, S.97–167 ; Roberts : Jacques-Louis David, Revolutionary Artist
(Anm. 65), S.39–91.
91
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
lui donner l’exemple.« Ungehemmt beschimpft er im Frühjahr , als sich
der Kampf gegen die Gironde zuspitzt, deren Führer. So am . April . Von
Robespierre angegrien, beschwert sich Pétion erregt über das Klima von Ein-
schüchterung und Mord, das über dem Konvent liegt : »Nous ne devons pas souf-
frir qu’on nous menace sans cesse du poignard des assassins.« Den ausbrechenden
Tumult nutzt David und stürmt in die Mitte des Saals : »Je demande que vous
m’assassiniez … Je suis un homme vertueux aussi … La liberté triomphéra … (Une
assez vive agitation succède pendant quelques minutes à ces apostrophes.)« Pétion
besitzt so viel Fassung, um sich David zuzuwenden : »Qu’est-ce que prouve l’action
de David ? le dévouement d’un honnête homme en délire et trompé. (David :
Non !) Vous vous en apercevrez.« Jedermann konnte das im Moniteur nachlesen.
Am . Mai ist es Vergniaud, den David in gleicher Manier angeht :
 : […] ils sont donc les assassins des citoyens qui se dévouent à la défense de
la patrie, ceux qui entravent ainsi votre marche. […]
. C’est toi qui es un assassin !
Les membres de la partie droite sont dans une vive agitation.– Plusieurs demandent que
David soit envoyé à l’Abbaye.
[…]
. Ils sont donc les assassins de nos frères, de la patrie elle-même, ceux …
. C’est toi, monstre, qui es un assassin !¹
69 Philippe Bordes : »Brissotin enragé, ennemi de Robespierre«. David, conventionnel et terroriste.
In : David contre David. Actes du colloque organisé au Musée du Louvre par le service culturel
du 6 au 10 décembre 1989. 2 Bde. Hg. von Régis Michel. Paris : Documentation Française 1993,
Bd.1, S.319–347, hier S.328.
70 Moniteur, Bd. 16 (Anm. 11), S.126. Hinweis bei Delécluze : Louis David (Anm. 68), S.153f. und
Bordes : »Brissotin enragé, ennemi de Robespierre« (Anm. 69), S.330. Dort auch die Bemerkung
des scharfen Montagne-Kritikers Mortimer-Ternaux : »Pétion dedaigne de répondre à ce mani-
aque qui a quitté ses pinceaux pour broyer du rouge, suivant sa propre expression.« (Mortimer-
Ternaux : Histoire de la Terreur 1792–1794. D’après des documents authentiques et inédits. 8
Bde., Paris 1862–1881, Bd. 7, S.128.) Noch schärfer G.-J. Sénar : Révélations puisées dans les car-
tons des Comités de salut public et de sûreté générale. Hg. von A. Dumesnil. Paris 1824, S.131 :
»D(avid). était grossier, ordurier dans ses expressions, brusque dans l’émission de ses opinions
[…]. Son mot favori était : Broyons, broyons du rouge. Il était l’espion de Robespierre. Souvent
on se cachait de lui lorsqu’il s’agissait du Comité de salut public. Il était toujours de l’avis le plus
dur. Lorsqu’il avait de la haine contre quelqu’un, il l’eût volontiers condamné à mort, exécuté lui-
même.« Zit. nach Bordes : »Brissotin enragé, ennemi de Robespierre« (Anm. 69), S.346.
71 Moniteur, Bd. 16 (Anm. 11), S.435f.; vgl. Bordes : »Brissotin enragé, ennemi de Robespierre«
(Anm. 69), S.332.
92 Hans-Jürgen Schings
Es dauerte wenig mehr als eine Woche, und die journées vom . Mai und
.Juni brachten den von bewaneter Gewalt terrorisierten Konvent dazu,  gi-
rondistische Deputierte auszuschließen und unter Hausarrest zu stellen. Ein Teil
von ihnen wurde am . Oktober guillotiniert, darunter Vergniaud. Andere konn-
ten aus Paris iehen und wurden auf Proskriptionslisten gesetzt, viele verübten
Selbstmord, darunter Condorcet und Pétion. Wie man sieht, beteiligt sich David
im Konvent an diesem erbitterten Kampf. Die Fronten werden klar abgesteckt.
Wie sich Marat am . April, als er einer Anklage der Gironde begegnen mußte,
als »l’apôtre et le martyr de la liberté« bezeichnet,² so erklärt David bei seiner
Wahl zum Vorsitzenden des Jakobinerclubs am . Juni : »[J]e suis un soldat de
la liberté, et je mourrai pour sa défense«.³ Und die Erklärung gilt auch, wie zu
sehen sein wird, für sein Marat-Gemälde. Als Marat zum Märtyrer der girondis-
tischen Konterrevolution wird, setzt ihm Davids La Mort de Marat ein Denkmal,
das zugleich Wae in diesem Kampf ist.
Nicht immer hat die lebhafte Rezeptionsgeschichte des Bildes diesem Zusam-
menhang die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, nicht selten gehen ästhetische
und politische Faszination unsichere Verbindungen ein. Ästhetisch glaubt man
sich schon in der Moderne, politisch sucht man nach den Kontexten von 
und , Vermittlungen zwischen beiden Ansätzen sind schwierig. In seiner
Histoire des Montagnards () hatte der Frühsozialist Alphonse Esquiros die
einprägsam-sympathisierende Bildformel von der »Pietà jacobine« gefunden.
Starobinski nimmt sie auf. Gelehrt und mit vielen Detailfunden greift insbe-
72 Moniteur, Bd. 16 (Anm. 11), S.275.
73 Zit. nach Bordes : »Brissotin enragé, ennemi de Robespierre« (Anm. 69), S.332.
74 Folgende monographische Darstellungen wurden herangezogen : Alpatow : Der Tod des Marat
(Anm. 66) ; Wil libald S auerländer : Davids Marat à son dernier soupir oder Malerei und Terreur. In :
Idea. Jb. der Hamburger Kunsthalle 2 (1983), S.49–88 ; Klaus Herding : Davids Marat als »dernier
appel à l’unité révolutionnaire«. In : Idea. Jb. der Hamburger Kunsthalle 2 (1983), S.89–112 ; La
mort de Marat. Hg. von Jean-Claude Bonnet. Paris : Flammarion 1986 ; Traeger : Der Tod des Ma-
rat (Anm. 68) ; Guilhaumou : La mort de Marat (Anm. 68) ; Jörg Traeger : La Mort de Marat et la
religion civile. In : Michel : David contre David (Anm. 69), Bd. 1, S.399–419 ; Klaus Herding : La
notion de temporalité chez David à partir du Marat. In : Michel : David contre David (Anm. 69),
Bd. 1, S.421–439 ; omas W. Gaehtgens : Davids Marat (1793) oder die Dialektik des Opfers.
In : Das Attentat in der Geschichte. Hg. von Alexander Demandt. Köln, Weimar, Wien : Böhlau
1996, S.187–213 ; Jacques-Louis David’s Marat. Hg. von William Vaughan und Helen Weston.
New York : Cambridge Univ. Press 1999.
75 Vaughan, Weston : Jacques-L ouis David’s Marat (Anm. 74), S.10.
76 Jean Starobinski : 1789. Die Embleme der Vernunft. Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 1981,
S.96.
93
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
sondere die von der deutschen Forschung geübte ikonographische Methode da-
rauf zurück. Im bislang umfangreichsten Unternehmen dieser Art kommt Jörg
Traeger zu dem starken, doch schwerlich haltbaren Urteil : »das größte Kunstwerk
[…], das der moderne Parlamentarismus hervorgebracht hat«. Aber auch die
Fraktion der Kritiker meldet sich früh. Schon Heine zitiert in den Salons eine Be-
merkung des französischen Experten Louis de Maynard, der  schreibt : »Es
begann durch ihn [David] ein Terrorismus auch in der Malerei.«
In Weimar war David kein Unbekannter, spätestens seit der öentlichen Prä-
sentation des Serment des Horaces  in Rom. Im Teutschen Merkur schrieb
Aloys Hirt dazu einen langen Artikel, der die Sensation herausstreicht :
Man ließt in der Geschichte der Kunst von keinem Gemälde, das mehr Geräusch erwekt
hätte, als die Erscheinung von diesem. Nicht nur die Künstler, Liebhaber und Kenner,
sondern selbst das Volk läuft truppweise vom Morgen bis zum Abend herbey, es zu sehen.
[…] Keine Staatsangelegenheit des älteren Roms, und keine Pabstwahl des neuern, sezte
je die Gemüther in eine grössere Bewegung.
Noch Goethe wird in der Italienischen Reise auf das Ereignis anspielen, das ein
Jahr vor seinem Eintreen in Rom stattfand, auch Meyer kommt darauf zu-
rück.¹ Die Aufmerksamkeit für den Stern der französischen Malerei, der, wie
man meinte, den Vergleich mit Raael und Michelangelo, Caravaggio und Cor-
reggio nicht zu scheuen hatte, war geweckt. Für die Jahre der Revolution feh-
len, so scheint es, Weimarer Zeugnisse. Doch wer den Moniteur aufmerksam
las, konnte Davids neue Karriere auch dort verfolgen.² Erstaunlich deshalb der
Aufsatz über David, den Karl August Böttiger im Frühjahr  im Journal des
Luxus und der Moden erscheinen lässt.³ Er nimmt geradezu Züge eines Plädo-
77 Traeger : Der Tod des Marat (Anm. 68), S.193.
78 Heinrich Heine : Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Elster. Bd. 4. Leipzig, Wien : Bibliographisches
Institut o. J., S.78.
79 [Aloys Hirt :] Briefe aus Rom, über neue Kunstwerke jeztlebender Künstler. In : Der Teutsche
Merkur (1786), 1. Vierteljahr, S.169–186, hier S.169f.
80 Zweiter römischer Aufenthalt. Bericht. August 1787 (MA 15, S.474). Im Kommentar S.1116f.
der Bericht Tischbeins über Davids Horaces und das Aufsehen, das sie in Rom erregten.
81 Entwurf einer Kunstgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts (MA 6.2, S.298f.).
82 Noch einmal sei dazu verwiesen auf Wildenstein : Documents complémentaires (Anm. 14), S.27–
140.
83 Karl August Böttiger : Artistischer Lebenslauf des Malers David zu Paris. In : Journal des Luxus
und der Moden 10 (März 1795), S.108–126.
94 Hans-Jürgen Schings
yers an, das den großen Maler vor seinen revolutionären Verirrungen zu retten
sucht. Wohl sei David, geleitet von antikischen Freiheitsideen, angelockt und in-
strumentalisiert vom großen Verführer Robespierre, »in der ehrlichsten Absicht,
ein Erzjacobiner, und dann durch den Strom, der keine Dämme mehr kannte,
fortgerissen, selbst Königsmörder, und ein wüthender Beförderer und Ausschmü-
cker der blutigsten Feste der empörenden Revolutionsscenen« geworden, auch
könne man nicht leugnen, dass er die »reine Kunst« verriet und nur noch, »gigan-
tisch und colossal«, schier unerklärliche »Mißgeburten« in die Welt setzte, doch
von »Raubsucht und Eigennutz« müsse man ihn freisprechen und allenthalben
sein Eintreten für die Kunst gelten lassen. Nur ganz am Rande ist von »je-
nem Blutrathe des permanenten Sicherheitsausschusses« die Rede, dem David
angehörte, und dessen (tödlichen) »Verhaftsbefehlen«, die er mitunterzeichnete.
Erwähnt wird immerhin auch das Marat-Bildnis, doch lediglich mit der Anmer-
kung, dass der unvorstellbar leidenschaftliche Marat-Kult eine große Zahl von
Reproduktionen in Medaillon-Form in die Welt setzte– nach vorsichtiger Schät-
zung seien mindestens . Abdrücke verkauft worden.
Dies der Kenntnisstand in Weimar ein gutes halbes Jahr nach dem ermidor.
Das Interesse an Davids Malerei überstand das revolutionäre Intervall, kehrte
auch in Weimar bald zurück und beschäftigte die Weimarischen Kunstfreunde
Goethe und Meyer in der Propyläen-Zeit nachhaltig, wenn auch ohne jeden
Überschwang.
Man kennt David als den Anführer der »französischen Malerschule«, regist-
riert »die neue Energie unter David«, übt leise Kritik am waenklirrend Zacki-
gen und eatralischen der David’schen Manier, nimmt nachträglich durchaus
auch die Revolutionsanität seiner Kunst wahr. Beiläug, im Anhang zum Leben
des Benvenuto Cellini, räsoniert Goethe über die Vergänglichkeit revolutionärer
Kunst :
Und sehen wir nicht, in unsern Tagen, das, mit großem Sinne und Enthusiasmus entwor-
fene, mit schätzbarem Kunstverdienst begonnene, revolutionäre Bild Davids, den Schwur
84 Ebd., S.120f.
85 Ebd., S.121f.
86 Ebd., S.124.
87 Ebd., S.122.
88 MA 6.2, S.973. Dazu vorzüglich Martin Dönike : Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik
des Weimarer Klassizismus 1796–1806. Berlin, New York : Walter de Gruyter 2005 (=Quellen
und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, NF Bd. 34), S.302–304 u. 274–278.
95
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
im Ballhause vorstellend, unvollendet ? und wer weiß was von diesem Werke in drei Jahr-
hunderten übrig sein wird.
Goethe selbst besaß eine (schlechte) Handzeichnung des Brutus. Vom Ehepaar
Humboldt lässt er sich aus Paris über David und dessen Schule informieren. In den
Propyläen erscheint ein Aufsatz über die Versöhnung der Römer und Sabiner. Noch
 erfreut man sich in Weimar an Lebenden Bildern nach Vorlagen von David.¹
Soweit der Hintergrund für unser Experiment– der oene, wenn auch unter-
schiedliche Zugri der Revolution auf die beiden Kunstwerke, die hier in Rede
stehen. Noch einmal : Die Konfrontation von Laokoon und Marat ist hypothe-
tisch und experimentell, aber sie verdankt sich nicht assoziativer Willkür. Zwar
gibt es keinen wechselseitigen, unmittelbaren Austausch der beiden großen Soli-
täre durch Zitat, Parallele oder Kommentar, dafür aber einen gemeinsamen Ho-
rizont, ja Nährboden, der in Aktionen, eorien und Kontexten gegenwärtig ist :
die Revolution.
IV. Laokoon  Marat I
I
Ein furchtbares und schier unentwirrbares Knäuel von Leibern hier, die Laokoon-
Gruppe, und der still und einsam in einer Badewanne Sterbende dort, La Mort
de Marat– um es gleich zu sagen : Unsere Betrachtung wird die ersten Eindrü-
cke, die beide Werke vermitteln, auf den Kopf stellen. Je mehr man die Bilder in
dieser Konstellation auf sich wirken lässt, desto paradoxer werden die Resultate.
Die Verschlungenheiten der Laokoon-Figuren klären sich, buchstäblich, auf– die
Ruhe des sterbenden Marat hingegen erweist sich als trügerisch, das Bild stürzt
ab ins Abgründige und Unheimliche. Die ›Umwertung‹ kommt zustande, wenn
man die Werke den entrückenden Gewohnheiten musealer Kontemplation ent-
zieht und gewissen Regeln Weimarer Kunstkritik aussetzt.
89 MA 7, S.463.
90 Goethes Graksammlung. Die Franzosen. Katalog und Zeugnisse. Hg. von Gerhard Femmel.
Leipzig : E. A. Seemann 1980, S.55f. und Abbildung.
91 Zu den Details Hermann Mildenberger : Die neue Energie unter David. In : Goethe und die
Kunst. Ausstellungskatalog. Hg. von Sabine Schulze. Stuttgart : Hatje 1994, S.280–291 ; ders.:
Goethe et la peinture française. In : Art français et art allemand au XVIIIe siècle. Regards croisés.
Hg. von Patrick Michel. Paris 2008, S.117–131. Für das Weimarer Interesse an David besonders
wertvoll : Grimm : Die Weimarer Preisaufgaben (Anm. 63).
96 Hans-Jürgen Schings
Fundamente des Weimarer Klassizismus legen Meyer und Goethe in ihrem
Aufsatz Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst, der wie der Laokoon  im
ersten Stück der Propyläen erscheint. Die Grundregel der Weimarer Gegen-
standslehre lautet :
Man fordert von einem jeden Kunstwerke, daß es ein Ganzes für sich ausmache, und
von einem Werke der bildenden Kunst besonders, daß es sich selbst ganz ausspreche. Es
muß unabhängig seyn, die vorgestellte Handlung, der Gegenstand muß, im Wesentli-
chen, ohne äussere Beyhülfe, ohne Nebenerklärung, die man aus einem Dichter oder
Geschichtschreiber schöpfen müßte, gefaßt und verstanden werden.²
In negativer Wendung :
Widerstrebend und unstatthaft für die bildende Kunst sind alle diejenigen Gegenstände,
welche nicht sich selbst aussprechen, nicht im ganzen Umfange, nicht in völliger Bedeu-
tung, vor den Sinn des Auges gebracht werden können.³
Den vollständigen visuellen Eindruck betont auch Meyers erste Formulierung
der Regel : »[ J]e vollständiger sich eine Handlung durch den Sinn des Gesichts
begreifen, fassen lässt, je besser passt sie für die bildenden Künste Der Propy-
läen-Aufsatz zeigt den entscheidenden terminologischen Fortschritt, der durch
den Begri der Selbstbestimmung erzielt wird. Jetzt gilt : »Die vorteilhaftesten
Gegenstände sind die sich durch ihr sinnliches Dasein selbst bestimmen.« So
nimmt sich, sinnlich und konkret, die Forderung nach Autonomie in der Sprache
Goethes und Meyers aus.
Dass es sich tatsächlich darum handelt, zeigt die anspruchsvolle Formulie-
rung, mit der der Propyläen-Aufsatz alle Versuche abwehrt, den Gegenstand eines
Werkes durch eine »Inschrift« anzuzeigen. Zuvor geht eine unnachsichtige Kritik
am Abschied des Calas von seiner Familie (von Greuze bzw. Chodowiecki), wo das
Wichtigste ›hinzugedacht‹ werden müsse, und die ein wenig spöttische Auorde-
rung an den ähnlich arbeitenden Künstler, »er müßte, wie zwar oft bey Kupfersti-
chen, aber nicht immer bey Gemählden geschieht, billigermaßen uns durch eine
Inschrit anzeigen, was in seinem Werke zu sehen, und was dabey zu empnden
92 Ueber die Gegenstände der bildenden Kunst (P I.1, S.21 ; vgl. MA 6.2, S.28).
93 P I.2, S.58 ; vgl. MA 6.2, S.55.
94 Heinrich Meyer an Goethe, Mitte Oktober 1796 (GMB I, S.369).
95 MA 4.2, S.121. Brieiche Parallelen im Kommentar MA 6.2, S.976–982.
97
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
sey Das käme freilich einer Bankrotterklärung gleich. Mit bemerkenswerter
Entschiedenheit treten jetzt die Begrie von »Freiheit und Selbständigkeit« der
Kunst auf :
Wahrlich man geräth oftmals in Versuchung, zu glauben, die Künstler von dieser Art
hätten den Begri von Freyheit und Selbstständigkeit ihrer Kunst gar nicht zu fassen
vermocht, indem sie dieselbe so weit herabwürdigen, ihren Zweck verschieben, den Aus-
druck schwächen, ihr die Ehre, durch sich selbst zu bedeuten und zu wirken, rauben, und
sie gleichsam zu Bildern für Bänkelsänger mißbrauchen.
Die Gefahren externer und also heteronomer Nachhilfe lauern insbesondere dort,
wo die Sujets (»Gegenstände«), ohne so etwas fasslich und von sich aus zeigen
zu können, »Sittensprüche oder Gesinnungen ausdrücken sollen, durch welche
man moralisch auf den Menschen wirken will.« Durchweg ist es der Fehler des
Allegorischen, der sich dann ausbreitet. Allegorisch geht es zu, wenn man »immer
das Wesentliche hinzudenken«, selbst etwas mitbringen und es selbst hineinlegen
muss– was einer »Demüthigung« für den Künstler gleichkomme. Allegorien
sind kunstfeindlich, weil sie »das Interesse an der Darstellung selbst zerstören
und den Geist gleichsam in sich selbst zurücktreiben und seinen Augen das was
wirklich dargestellt ist entziehen«. Am schlimmsten sündigt die »neuste Zeit«, so
mit dem »Versuch die höchsten Abstraktionen in sinnlicher Darstellung wieder
zu verkörpern«.¹ Ein Schema nennt die Missgeburten, die durch »falsche An-
wendung der Abstraktion auf sinnliche Darstellung« entstehen, »Metaphysische
Bilder«.¹¹ Gemeint sind etwa die Darstellungen von »Raum und Zeit« durch As-
mus Jacob Carstens () und Johann Erdmann Hummel, die auch mit einem
Xenion bedacht werden :
Das Neueste aus Rom
Raum und Zeit hat man wirklich gemalt, es steht zu erwarten,
Daß man mit ähnlichem Glück nächstens die Tugend uns tanzt.¹²
96 P I.2, S.77f.; vgl. MA 6.2, S.66.
97 P I.2, S.78 ; vgl. MA 6.2, S.66.
98 P I.2, S.72f.; vgl. MA 6.2, S.63.
99 P I.2, S.74 ; vgl. MA 6.2, S.64.
100 MA 4.2, S.124.
101 Ebd., S.1008.
102 MA 4.1, S.792. Vgl. den spöttischen Kommentar Meyers im Brief vom 25.2.1796 (GMB I,
S.201f.).
98 Hans-Jürgen Schings
Die Kritik, die der Weimarer Grundsatz mit sich führt, trit nicht nur deutsche
malende Metaphysiker und deren Bizarrerien. Wir haben allen Grund aufzuhor-
chen, wenn Meyer, der Kenntnisreiche, gleich auch die Franzosen ins Visier und
den berühmten David aufs Korn nimmt. Und zwar dessen berühmtestes Bild,
den Schwur der Horatier. Hier überfordern, so der Befund, nicht metaphysische
Abstraktionen, sondern verwickelte narrative Voraussetzungen die sinnliche Fas-
sungskraft und verdunkeln die Pointe :
Die Horatier von David sind vielleicht noch unglücklicher gewählt gewesen : wer wird
sich vorstellen können, was für eine Fehde die drey jungen Männer haben, welche die
Hände ausstrecken nach den Schwertern, die der Alte in der Hand empor hält, und daß
eines von den Mädchen ihren Liebhaber unter den Gegnern hat und wegen der Gefahr,
die dieser laufen wird, in Ohnmacht fällt ! Man hat Mühe zu begreifen, wie gute Künstler
das Wesen ihrer Kunst so wenig verstehen und doch dabey Bewundrer nden.¹³
Auch sonst stehen die Franzosen bei Meyer nicht allzu hoch im Kurs.¹
Die Lehre vom angemessenen Gegenstand, von den Alten beglaubigt,¹ bie-
tet die Handhabe für gegründete Kritik. Wer gleich von Pedanterie sprechen
möchte, greift zu kurz. Die Weimarer sind streng– »Wir dürfen kein Haar breit
vom geraden Wege abweichen«¹–, weil sie Würde und Freiheit der Kunst im
Auge haben und, damit unauöslich verbunden, Humanität, Würde und Freiheit
des Menschen. Es entspricht Goethes Denkstil, wenn Kunstautonomie als Sich-
selbstaussprechen, sinnliche Fasslichkeit, intensive Geschlossenheit der Werke
begrien wird. Hohe Anforderungen richten sich deshalb an den auszuwählen-
103 Meyer an Goethe, Mitte Oktober 1796 (GMB I, S.370).
104 Meyer an Goethe, 18.9.1796 (ebd., S.344). Meyer an Goethe, 21.12.1796 (ebd., S.403–405).
»Ich muß hier anmerken, daß, nachdem ich nun wieder so viel gesehen, mich immer noch so wie
zuvor dünkt, daß die Franzosen niemahls viel in der Kunst gethan, und wenn wir aus dem, was
geschieht und geschehen ist, auf das schließen können, was künftig geschehen wird, so werden
sie auch niemahls etwas Rechtes leisten.« (S. 403) Versteht sich, dass dieses Urteil David, den
prominentesten der Franzosen, einschließt.
105 Vgl. Meyer an Goethe, Mitte Oktober 1796 (ebd., S.371) : »Übrigens scheint mir, daß die Al-
ten weise und bescheiden zu Werke gegangen, und ich habe eine Menge Gegenstände, die ihre
Kunst behandelt hat, durch- und übergedacht und glaube, daß sie der oben angegebenen Regel
fast durchaus gefolgt sind.«
106 P I.2, S.60 ; vgl. MA 6.2, S.56. So dann auch Goethe an Schiller, 25.11.1797 : »Lassen Sie uns,
besonders da Meyer auch einen grimmigen Rigorism aus Italien mitgebracht hat, immer strenger
in Grundsätzen und sichrer und behaglicher in der Ausführung werden !« (WA IV, 12, S.362)
99
Weimarische Kunstfreunde und Französische Revolution
den Moment ; womöglich ist es nur ein einziger, der der bildenden Kunst für
solche Autonomie zur Verfügung steht.
Die Laokoon-Gruppe erfüllt jeden Wunsch der Weimarischen Autono-
miefreunde. Tatsächlich beruht Goethes Aufsatz zu weiten Teilen auf der Wei-
marer Gegenstandslehre. Das Werk ist »selbstständig« und »durch und in sich
selbst geschlossen«. Es erläutert sich selbst, hat »nach aussen keine Beziehung«.
Es zeigt eine natürliche Wirkung, hier eine leidenschaftliche Bewegung, und zu-
gleich ihre natürliche Ursache. Bestimmungen, die für einen ›ruhige[n] Gegen-
stand‹ gelten, treen auch für die leidenschaftlich-pathetische Laokoon-Gruppe
zu.¹ Goethes Text ist außerordentlich dicht und verlangt Aufmerksamkeit für
jeden Schritt und jedes Detail.
Im Zeichen der Autonomie erfolgt geradezu eine Epochè. Rigoros streift
sie alle Außenbeziehungen des Werks ab. Der Name »Laokoon« ist »ein bloser
Nahme« und tut nichts zur Sache. Alles Historische, Mythologische, Literarische
kann wegfallen, »von seiner Priesterschaft, von seinem trojanisch-nationellen, von
allem poetischen und mythologischen Beywesen haben ihn die Künstler entklei-
det«. Zielpunkt ist die pure Menschlichkeit. Sie haben »den Menschen von allem,
was ihm nicht wesentlich ist, entblößt«. Unschwer erkennt man die Wiederkehr
jener »Separation«, von der Schiller in seiner Herder-Kritik gesprochen hat. Was
bleibt, ist die menschliche Essenz, das rein Menschliche (Schiller), das Allge-
mein-Menschliche in einer »tragischen« Situation : »ein Vater mit zwei Söhnen,
in Gefahr zwey gefährlichen ieren unterzuliegen«– eine »tragische Idylle«.¹
Und nicht wie bei Vergil eine »Fabel«, eine politisch-nationale Episode, ein »rhe-
torisches Argument« in der Geschichte Trojas, das wilde Übertreibungen recht-
fertigt, aber zur »abentheuerliche[n] und ekelhafte[n] Geschichte« ausartet.¹
Begünstigt wird durch solche Epochè hingegen das Prinzip der natürlichen Ur-
sache. Deshalb geht hier alles natürlich zu ; die Schlangen sind natürlich und
107 P I.1, S.5f.; vgl. MA 4.2, S.78.
108
P I.1, S.7 ; vgl. MA 4.2, S.78. Meyer hatte ursprünglich für »tragische« Gegenstände Abweichun-
gen von der Regel erwogen. Dabei spielte die Sorge mit, daß der prägnante Augenblick des Bil-
des zum ungehemmten, geballten Augenblick des Schreckens werden könnte. Meyer an Goethe,
Mitte Oktober 1796 (GMB I, S.371) : »Die tragischen Gegenstände leiden eine Ausnahme. Man
kann oder könnte sagen : das Leiden des Laokoons wird und kann nicht ganz durch den Sinn des
Auges begrien werden, es hat ja der Künstler selbst in dem Ausdruck der Gesichter das Angstge-
schrey der Söhne, die Todesnoth, das Seufzen und Ächzen in alle Figuren gelegt. Ich werde aber
sagen, daß alle weisen Künstler zwar rühren, aber nicht Entsetzen erregen wollen und daß es gut
für die Kunst ist, wenn dergleichen Gegenstände einen eil der Wahrscheinlichkeit einbüßen.«
109 P I.1, S.18f.; vgl. MA 4.2, S.87f.
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keine mythischen Ungeheuer,¹¹ der sinnlichen Wirkung, sichtbar in den Figuren,
entspricht eine sinnliche Ursache, der Biss der Schlange.¹¹¹ Keine Härte, keine
Unwahrscheinlichkeit, keine Überrumpelung stört die ästhetische Wirkung– ars
non facit saltus. Das ist das Signum ihrer Freiheit. Sie ist ganz und nur bei sich
selbst und ihrem rein-menschlichen Gegenstand.
Ganz anders die Kunst der Revolution. Die Postulate des Laokoon, so darf man
ohne Übertreibung sagen, wären für sie schlechterdings ruinös. Und es hat durch-
aus den Anschein, als wüssten die Weimarer darüber Bescheid. Sofort zeigt un-
ser Paradigma den fundamentalen Gegensatz, der die beiden Kunstwelten trennt.
Ganz anders als im Fall des Laokoon muss der Betrachter, um Davids La Mort de
Marat zu verstehen, sehr viel mehr wissen, als er zu sehen bekommt. Und dazu
dienen Widmung und integrierte schriftliche Dokumente, ausgerechnet jene »In-
schriften« also, die man in Weimar so entschieden verwirft. Zwar handelt es sich
nicht um geradewegs allegorische (oder emblematische) Vermerke, die Herkunft
aus dieser Sphäre aber ist unverkennbar. Wir haben es mit ingeniös verkürzter
Erzählmaterie zu tun, die die verwickelten Umstände von Marats Tod in das Bild
holt und damit dessen Deutung steuert. Die »Inschriften« übernehmen damit al-
legorische Aufgaben, sie verbinden das Bild mit dem revolutionären Geschehen.
Die Informationen in Schriftform, drei an der Zahl, sind folgende : die Wid-
mung auf der Holzkiste, das Billett der Charlotte Corday in der Linken des Ster-
benden, der von Marat beschriebene Zettel mit der Assignaten-Note, der auf der
Kiste liegt. Wie sich zeigen wird, geht es nicht nur um Informationen, sondern
um Impulse zum Handeln, mit jäher oder auch nachhaltiger Tiefenwirkung. Sie
durchbrechen die kontemplative Haltung und ziehen den Betrachter gezielt in
den mouvement révolutionnaire hinein. Nicht »Separation«, sondern Eintauc