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Floris Biskamp
Rechtsruck, welcher Rechtsruck?Organisationen zum Sprechen
bringen
Verlag Barbara Budrich
Opladen • Berlin • Toronto 2021
Der Aufsatz Rechtsruck, welcher Rechtsruck? von Floris Biskamp
steht unter der Creative Commons Lizenz Attribution-
Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0):
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de
Diese Lizenz erlaubt die Verbreitung, Speicherung, Vervielfältigung
und Bearbeitung bei Verwendung der gleichen CC-BY 4.0-Lizenz und
unter Angabe der Urheber*innen, Rechte, Änderungen und
verwendeten Lizenz.
Der Aufsatz ist erschienen in:
Markus Baum/Julia Maria Breidung/Martin Spetsmann-Kunkel
(Hrsg.) (2021): Rechte Verhältnisse in Hochschule und
Gesellschaft. Rassismus, Rechtspopulismus und extreme Rechte
zum Thema machen. Opladen: Verlag Barbara Budrich.
Dieser Beitrag steht im Open-Access-Bereich der Verlagsseite zum
kostenlosen Download bereit (https://doi.org/10.3224/84742498.03).
ISBN 978-3-8474-2498-7
DOI 10.3224/84742498.03
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Rechtsruck, welcher Rechtsruck?
Floris Biskamp
1 Einleitung
2017 gelang mit der AfD zum ersten Mal seit 1961 einer Partei rechts von
Union und FDP der Einzug in den Deutschen Bundestag. Weil diese Partei
nicht nur rechts von Konservativen und Liberalen sitzt, sondern den gängigen
Standards zufolge auch als rechtsradikal, rechtsextrem, rechtsaußen oder
völkisch-autoritär einzustufen ist (Pfahl-Traughber 2019; Quent 2019, 40ff),
haben ihre Erfolge verständlicherweise Alarmstimmung ausgelöst. In dieser
Stimmung wird immer wieder die These vertreten, dem Aufstieg der AfD
liege ein allgemeiner gesellschaftlicher Rechtsruck zugrunde. Jeder Wahler-
folg der AfD in Deutschland oder anderer rechter Parteien im Ausland, jede
rassistische Äußerung in der Öffentlichkeit und jeder Tweet von Donald
Trump gilt als weiterer Beleg für das Ausmaß des vermeintlichen Rucks nach
rechts.
Jedoch gibt es keine ernsthafte empirische Grundlage, auf der man in Be-
zug auf Deutschland von einem gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck spre-
chen könnte – jedenfalls nicht, wenn man darunter eine Bewegung hin zu
radikal oder extrem rechten Positionen versteht. Ein solcher Ruck müsste
sich dadurch ausdrücken, dass völkischer Nationalismus, die Abwertung von
Minderheiten sowie eine positive Bezugnahme auf Tradition und Autorität
zunehmend Akzeptanz und Verbreitung finden. Dies könnte auf mehreren
Ebenen der Fall sein – lässt sich aber auf keiner davon konsistent beobachten.
Dies zeige ich im Folgenden nacheinander für die Einstellungsebene (2), für
die Ebene rechter Gewalt (3), für die Ebene des öffentlichen Diskurses (4)
und für die Ebene staatlicher Politik (5). Anschließend schlage ich eine alter-
native Perspektive vor, mit der man den Aufstieg der Rechtsaußenparteien
nicht als Ergebnis eines gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks, sondern als
Formierung eines rechten Projekts in Reaktion auf einen ambivalenten Libe-
ralisierungsprozess versteht (6).
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2 Einstellungsebene: eine relativ konstante
Minderheit mit radikal rechtem Weltbild
Zunächst liegt es nahe, den Rechtsruck auf der Einstellungsebene zu suchen:
Je weiter die Gesellschaft nach rechts außen rückt, desto mehr Menschen
müssten autoritäre und menschenfeindliche Einstellungen vertreten. Fände
ein gesamtgesellschaftlicher Rechtsruck statt, dann müsste die Verbreitung
dieser Einstellungen nicht nur anwachsen, sondern dies sogar ruckartig tun.
Abb. 1: Entwicklung rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung 2002-2018/19
(Angaben in Prozent) (Friedrich-Ebert-Stiftung 2019, 2)
Dank mehrerer langfristig angelegter Forschungsprojekte existieren für
die Jahre seit der Jahrtausendwende hinreichend gut vergleichbare Daten zur
Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und autoritärer Ein-
stellungen in Deutschland – also derjenigen Haltungen, die dem Programm
von Rechtsaußenparteien entsprechen. Das Bielefelder Projekt Gruppenbezo-
gene Menschenfeindlichkeit, die Leipziger Autoritarismus-Studien sowie die
Mitte-Studien zeigen, dass solche Einstellungen bei einer relevanten Minder-
heit der Bevölkerung fest etabliert sind. Zwar hängen die genauen Werte von
der Definition und Operationalisierung ab, in erster Näherung kann man
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jedoch festhalten, dass über die Jahre hinweg ca. 5 Prozent ein geschlossen
rechtsextremes Weltbild aufweisen, ca. 20 Prozent deutliche Affinitäten zu
radikal rechten Positionen haben und sich bei wenigstens der Hälfte der Be-
völkerung zumindest Fragmente solcher Einstellungen finden. Dieses rechts-
radikale Potenzial ist beunruhigend, aber die Zahlen sind seit der Jahrtau-
sendwende relativ konstant und in der Gesamttendenz eher leicht rückläufig
als ansteigend (Friedrich-Ebert-Stiftung 2019; Decker et al. 2018, 82ff). Älte-
re Daten sind nur bedingt vergleichbar, bieten aber keinen Anlass zu dem
Glauben, dass rechte Einstellungen vor der Jahrtausendwende weniger weit
verbreitet gewesen wären als heute. So kam die SINUS-Studie 1981 zu dem
Ergebnis, dass in der damaligen Bundesrepublik 13% der Bevölkerung ein
geschlossen rechtsextremes Weltbild hegten (Quent 2019, 100).
Abb. 2: Verlauf der Zustimmung zu den Elementen Gruppenbezogener Menschen-
feindlichkeit 2002-2018/19 (Angaben in Prozent) (Friedrich-Ebert-Stiftung 2019, 4)
All diese Zahlen sind mit einiger Vorsicht zu interpretieren, weil sie
höchstwahrscheinlich durch Effekte sozialer Erwünschtheit verzerrt sind.
Beispielsweise könnte eine erhöhte Politisierung von Migration, wie sie 2015
stattgefunden hat, das Antwortverhalten verzerren: Womöglich befürchten
Menschen, eine ehrliche Antwort könne dazu führen, dass sie dem Rechtsau-
ßen-Lager zugerechnet würden, was sie vermeiden wollen. Als vorauseilende
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Reaktion darauf könnten sie unaufrichtig antworten, sodass sich in den Daten
ein Rückgang rassistischer Einstellungen zeigen würde, obwohl diese in
Wahrheit konstant wären. Jedoch wäre im Falle eines allgemeinen Rechts-
rucks gerade davon auszugehen, dass entsprechende Hemmungen eher zu-
rückgehen als zunehmen – wenn die Gesellschaft nach rechtsaußen rückte,
sollten die Einzelnen weniger Angst davor haben, als rechtsaußen zu erschei-
nen.
Insofern deuten die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung recht
deutlich darauf hin, dass in Deutschland in den letzten Jahren auf der Einstel-
lungsebene kein gesellschaftlicher Rechtsruck stattgefunden hat. Stattdessen
legen sie nahe, dass es in der Bundesrepublik schon lange ein Potenzial für
eine im zweistelligen Bereich erfolgreiche Rechtsaußenpartei gibt, es der
AfD aber als erster Partei seit Jahrzehnten gelingt, dieses Potenzial auch zu
mobilisieren. Dazu passt, dass sich Personen mit gruppenbezogen-menschen-
feindlichen und autoritären Einstellungen bis dato recht vielfältig über die
Wähler_innen diverser Parteien sowie die Nichtwähler_innen verteilten, sich
in den letzten Jahren aber zunehmend in der Wähler_innenschaft der AfD
sammeln (Heitmeyer 2018, 197-267; Decker et al. 2018, 93-95). Die Rechts-
außen-Weltbilder haben sich also nicht weiter verbreitet, aber bei der Min-
derheit, die diese Weltbilder hegt, hat eine politische Aktivierung und Mobi-
lisierung stattgefunden. Während die Mehrheit der Bevölkerung diese Positi-
onen ablehnt, wurde die entsprechend eingestellte Minderheit nun politisch
aktiviert, sodass die Bereitschaft, entsprechend den Einstellungen zu handeln,
wächst.
3 Gewalt von rechtsaußen: ständig präsent, aber nicht
ständig eskalierend
Eine weitere Weise, auf die sich ein Rechtsruck äußern könnte, wäre eine
Zunahme rechter Gewalt. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren eine Häu-
fung entsprechender Taten, auf die die Vertreter_innen der Rechtsruck-These
verweisen können. Dazu zählen zahlreiche Anschläge auf geplante sowie auf
bereits bezogene Unterkünfte für Geflüchtete insbesondere in den Jahren
2015 und 2016, das Massaker im Münchener Olympia-Einkaufszentrum von
2016, der Mord an Walter Lübcke in Wolfhagen 2019, der Anschlag auf eine
Synagoge und einen Döner-Imbiss in Halle 2019, sowie der Anschlag auf
eine Shisha-Bar in Hanau. Diese Taten zeigen, dass politische Gewalt von
rechtsaußen für alle von der extremen Rechten zu Feind_innen erklärten
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Menschen lebensgefährlich ist und von Zivilgesellschaft und Sicherheitsbe-
hörden sehr ernst genommen werden sollte.
Alles andere als klar ist dagegen, dass diese Gewalt insgesamt zunimmt.
Dies einzuschätzen, ist nicht einfach, weil die systematische Erhebung der
relevanten Daten erst seit den 1990ern begonnen und die Zählweise einiger
Erhebungen sich immer wieder verändert hat, sodass keine zuverlässigen
langfristigen Vergleichsmöglichkeiten existieren: Polizeiliche Statistiken
hängen stark von der Bereitschaft der Opfer, Anzeige zu erstatten, von der
Bereitschaft der Behörden, diese Anzeigen aufzunehmen, sowie von den
Kriterien der statistischen Erfassung ab. Daher sind sie weit davon entfernt,
die objektive Repräsentation der Realität zu bieten, als die sie oft missver-
standen werden – insbesondere, weil sich in allen drei Bereichen über die
Jahre viel verändert hat. Befragungen unter Betroffenen, die mithin das beste
Bild bieten könnten, werden in Deutschland erst seit zu kurzer Zeit und im-
mer noch nicht hinreichend systematisch durchgeführt, um ein verlässliches
langfristiges Bild liefern zu können. Auch zivilgesellschaftliche oder wissen-
schaftliche Recherche kann weiter in der Vergangenheit liegende Gewalt nur
sehr bedingt aufarbeiten, weil sie von der Existenz entsprechender Berichte
abhängt und man keinesfalls davon ausgehen kann, dass rassistische Über-
griffe in den 1970ern und 1980ern von der Presse berichtet worden wären –
nicht in der BRD und erst recht nicht in der DDR.
Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass Gewalt von rechtsaußen
kein neues Phänomen und keine Ausnahme, sondern eher ein beständiger
Teil des Regelzustandes der deutschen Nachkriegsgesellschaften ist. Relativ
deutlich ist dies in Bezug auf Rechtsterrorismus. Die durch Sicherheitsbehör-
den und weite Teile der Medien rassistisch fehlgedeutete NSU-Mordserie
wurde in den Jahren 2000 bis 2006 begangen – und somit in der Zeit vor dem
vermeintlichen Rechtsruck der letzten Jahre. Blickt man weiter zurück, ergibt
sich eine lange Liste von rechten Terrororganisationen und Anschlägen in der
alten Bundesrepublik (Bundeszentrale für politische Bildung 2013). In Hin-
blick auf das Münchener Oktoberfest-Attentat von 1980, bei dem 13 Men-
schen getötet wurden, finden sich auch deutliche Anzeichen für einen Unwil-
len der Behörden, Hinweisen auf einen organisierten rechtsterroristischen
Hintergrund nachzugehen, was rückblickend wie ein Vorspiel für die ent-
sprechenden Nicht-Ermittlungen bei der NSU-Mordserie erscheint.
Blickt man nicht ausschließlich auf organisierten Rechtsterrorismus, son-
dern auf rechtsextreme und rassistische Morde im Allgemeinen, sind diese
dank zivilgesellschaftlicher Initiativen für die Zeit seit 1990 relativ gut do-
kumentiert (Abb. 3). Am häufigsten waren diese Morde in den 1990ern sowie
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Abb. 3: Die jährliche Zahl rechtsextremer Morde seit 1990 inklusive Verdachtsfälle
(eigene Darstellung basierend auf Daten der Amadeu Antonio Stiftung)
den frühen 2000ern. Während die hohen Opferzahlen zu dieser Zeit auf eine
Vielzahl einzelner Morde zurückgehen, liegen den hohen Zahlen 2016 und
2020 die beiden Massenmorde von München und Hanau zugrunde. Das
Ausmaß entsprechender Gewalt zur Zeit der alten BRD und der DDR ist nur
lückenhaft dokumentiert. Es ist jedoch sicher, dass es entsprechende Taten
auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze in erheblichem Umfang gab
(Quent 2019, 100-106), wenn auch wahrscheinlich nicht in demselben Aus-
maß wie in den Jahren unmittelbar nach der Wiedervereinigung.
Die Bedrohung, die rechte Gewalt für die Sicherheit und das Leben der
von der extremen Rechten zu Feind_innen erklärten Menschen bedeutet,
sollte ernstgenommen werden. Hinreichende Anhaltspunkte für einen Ruck
nach rechts finden sich jedoch auch auf dieser Ebene nicht.
Allerdings ist in dieser Frage ohnedies zu bedenken, dass wachsende Ge-
waltbereitschaft am rechten Rand nicht unbedingt mit einer gesamtgesell-
schaftlichen Entwicklung nach rechts verbunden sein muss. Auch das Gegen-
teil kann der Fall sein: Wenn potenzielle rechtsextreme Täter_innen sehen,
dass ihr Lager die Gesellschaft nicht mit legalen Mitteln umgestalten kann,
könnte dies Radikalisierung beschleunigen und Gewaltbereitschaft erhöhen.
In solchen Fällen wäre eine Zunahme rechtsextremer Gewalt mithin kein
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Zeichen auf eine gesamtgesellschaftliche Rechtsbewegung, sondern eine
Reaktion auf eine Liberalisierung.
4 Diskursebene: Die Grenzen des Sagbaren sind
umkämpft, aber sie rücken nicht immer weiter
nach rechts.
Drittens könnte man vermuten, dass der Rechtsruck sich in erster Linie auf
der Ebene des öffentlichen Diskurses abspielt: Dann ginge es weniger um die
Frage, welche Einstellungen Menschen hegen, als vielmehr darum, welche
Aussagen in der Öffentlichkeit als legitim gelten und welche nicht. Im Rah-
men eines Rechtsrucks würden einstmals als inakzeptabel geltende rechte
(menschenfeindliche, autoritäre) Äußerungen zunehmend normalisiert bzw.
einstmals als akzeptabel geltende linke Äußerungen zunehmend problemati-
siert. Insbesondere ersteres wird in den letzten Jahren immer wieder behaup-
tet: Die ‚Grenzen des Sagbaren‘ verschöben sich immer weiter nach rechts
außen. Dies wird beispielsweise geäußert, wenn wieder AfD-Politiker_innen
einen Skandal provozieren und dann darüber diskutiert wird, ob man ‚das
sagen können muss‘.
Jedoch gibt es auch für diese Version der Rechtsruck-These keine über-
zeugenden empirischen Belege. In der Tat sind die Grenzen des Sagbaren
umkämpft und in der Tat nutzt die AfD diese Kämpfe strategisch, um Skan-
dale zu provozieren und die so entstehende Aufmerksamkeit für die eigene
Inszenierung als Opfer einer vermeintlichen Meinungsdiktatur zu nutzen –
Wodak (2016, 38) spricht in diesem Zusammenhang von einem „rechtspopu-
listische[n] perpetuum mobile“. Dass die Grenzen des öffentlich Sagbaren
dabei aber ruckartig oder kontinuierlich nach rechts erweitert würden, ist in
der Gesamtbetrachtung nicht zu erkennen. Für fast jede in den letzten Jahren
getätigte skandalöse Äußerung aus den Reihen der AfD findet man eine Ent-
sprechung aus vergangenen Jahrzehnten – nur dass die Äußerungen damals
aus der gesellschaftlichen ‚Mitte‘ kamen und auch nicht in allen Fällen so
laut skandalisiert wurden wie es heute der Fall ist.
Dies lässt sich in Bezug auf Vergangenheitspolitik besonders deutlich
zeigen. Björn Höcke sprach 2017 vom Berliner Denkmal für die ermordeten
Juden Europas als „Denkmal der Schande“ und provozierte damit einen
handfesten Skandal. Martin Walser bezeichnete eben dieses Denkmal 1998
im Rahmen seiner in der Paulskirche gehaltenen Dankesrede anlässlich der
Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels „vor Kühnheit
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zitternd“ als „Monumentalisierung der Schande“. Zwar kam es auch nach
Walsers Rede zu einer öffentlichen Kontroverse, jedoch bleibt es bemer-
kenswert, dass die entsprechenden Äußerungen 2017 innerhalb einer Rechts-
außenpartei getätigt wurden und dort zu einem (scheiternden) Ausschlussver-
fahren führten, sie 1998 aber von einem Friedenspreisträger kamen und zu-
nächst von weiten Teilen der anwesenden Bildungseliten mit stehenden Ova-
tionen bedacht wurden (Höcke 2017; Walser 1998; Czollek 2018).
Auch in früheren Jahrzehnten findet man vergangenheitspolitische Äuße-
rungen aus der politischen ‚Mitte‘, die heute fast ausschließlich rechts außen
getätigt werden. So sprach Helmut Kohl kurz vor seiner Wahl zum Bundes-
kanzler im Bundestag die folgenden Sätze:
„Meine Damen und Herren, wir müssen uns doch fragen: Sollten wir uns in der
Bundesrepublik Deutschland damit abfinden, daß uns allein die finsteren, unbe-
streitbar schrecklichen Kapitel deutscher Geschichte — Auschwitz und Treblinka,
Kriegsschulden und die Pflicht der Wiedergutmachung und vieles andere mehr —
zugeschoben werden? Sollten wir uns von der besten Geistestradition Preußens
selbst lossagen […]? Wohin sind wir geraten, wenn so etwas möglich ist [...]? Es
ist doch genau diese einäugige, engstirnige Betrachtungsweise, mit der in unserem
Land schon seit Jahren grundlegende Werte, Tugenden, Institutionen diffamiert
werden, z.B. elterliche Autorität; Mut zur Erziehung in der Familie und in der
Schule; der Leistungsgedanke; das Prinzip des Wettbewerbs; die notwendige För-
derung einer Elite; die menschliche Solidarität in der Berufsausbildung im Betrieb;
vor allem aber auch das Bekenntnis zu unserem Staat, zur deutschen Nation, zu
unserer Geschichte und zur Bereitschaft, dieses Erbe zu verteidigen“ (Kohl 1982,
6771).
Der Ton ist etwas vornehmer als in Alexander Gaulands Rede, der zufolge
„Hitler und die Nazis […] nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher
deutscher Geschichte“ seien (Die Zeit 2018). In ihrem vergangenheitspoliti-
schen Gehalt sind sich Kohls und Gaulands Aussagen jedoch allzu ähnlich.
Vergangenheitspolitische Äußerungen, die heute in der AfD für Skandale
sorgen würden, finden sich in der Geschichte der Bonner Republik nicht nur
bei Politiker_innen der Union. Die FDP forderte schon 1949 (!) auf Wahlpla-
katen einen „Schlussstrich“ unter die nationalsozialistische Vergangenheit
(Schneeberger 2015). Bezieht man noch die Äußerungen der parlamentari-
schen Gegenspieler ein – etwa die persönlich beleidigenden Zwischenrufe
Herbert Wehners (Kulke 2013) –, zeigt sich, dass sich die heutige Debatte
gemessen an den Standards der alten Bundesrepublik auch nicht durch eine
verbale Enthemmung oder zunehmende Polarisierung auszeichnet.
Auch in Bezug auf antisemitische, rassistische, heterosexistische oder an-
derweitig gruppenbezogen-menschenfeindliche Aussagen findet man in der
Geschichte der Bundesrepublik keine harmlose Epoche. Wieder könnte man
über den rechten Flügel der Union sprechen – etwa über Franz Josef Strauß,
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1980 Kanzlerkandidat der Union, oder über Alfred Dregger, von 1982 bis
1991 Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag. Beide produzierten
regelmäßig rassistische Aussagen, die heute in der AfD für Skandale sorgen
würden (z.B. Jäger 2017, 89f). Noch deutlicher wird die Normalität von öf-
fentlich geäußerter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in vergangenen
Jahrzehnten aber beim Blick auf Formate der eher liberalen Öffentlichkeit.
Noch in den 1990ern zählte es zur Normalität von ‚Comedy‘-Sendungen im
deutschen Fernsehen, dass eine Anspielung auf die vermeintliche oder reale
Homosexualität einer Person allein als Pointe eines Witzes hinreichte. In der
eher linksliberalen Harald-Schmidt-Show dagegen gab es zeitweise einen
‚täglichen Polenwitz‘, dessen Pointe in aller Regel auf irgendetwas mit Auto-
diebstahl hinauslief (Urban 2009) – freilich war dieser Rassismus auch da-
mals schon irgendwie ‚ironisch gemeint‘, aber das behaupten auch heute
noch die meisten entsprechend Kritisierten. Wenn es in jüngerer Zeit ver-
mehrten Streit um Rassismus und Heterosexismus in den Medien gibt, sollte
das nicht vorschnell darauf zurückgeführt werden, dass der mediale Diskurs
immer rassistischer und heterosexistischer würde, die Grenzen des Sagbaren
sich stetig erweiterten. Im Gegensatz ist davon auszugehen, dass die zuneh-
menden Konflikte gerade daher rühren, dass Rassismus und Heterosexismus
heute aufgrund von langjährigem Aktivismus viel besser benannt, skandali-
siert und problematisiert werden können, die Grenzen des unkritisiert (!)
Sagbaren sich also eher verengen – mit guten Gründen (El-Mafaalani 2018).
Was sich durch die Digitalisierung sehr wohl verändert hat, ist die Dyna-
mik des öffentlichen Diskurses. Auch wenn es keine Belege dafür gibt, dass
bei der analogen Äußerung von Menschenfeindlichkeit an Stammtischen, auf
Schulhöfen, in der Familie oder am Arbeitsplatz früher größere Hemmungen
bestanden hätten als heute in digitalen Medien, hat sich die Sichtbarkeit von
Menschenfeindlichkeit doch doppelt erhöht: Einerseits können Einzelperso-
nen mit ihren menschenfeindlichen Äußerungen an allen bis dato wirksamen
medialen Filtern vorbei sehr schnell eine breite Öffentlichkeit erreichen,
sodass sie für ihre Äußerungen schnell ein viel größeres Publikum finden, als
es an einem Stammtisch möglich gewesen wäre; andererseits kann auch die
Kritik dieser Äußerungen sehr viel schneller und sehr viel weiter verbreitet
werden, was die Sichtbarkeit der entsprechenden Äußerungen als Menschen-
feindlichkeit erhöht. Dies ist zweifelsohne eine tiefgreifende Transformation
des öffentlichen Diskurses, aber es ist kein Ruck nach rechts.
42
5 Staatliche Politik: manchmal rechts, aber
ambivalent
Schließlich könnte man den Rechtsruck noch auf einer vierten Ebene suchen,
nämlich in der staatlichen Politik. Dann sollte er sich insbesondere auf dem
Themenfeld der radikalen Rechten finden lassen, nämlich der Migrationspoli-
tik. Tatsächlich kennt die Asylgesetzgebung seit den 1990ern vor allem eine
Richtung, nämlich die Verschärfung: Vom ‚Asylkompromiss‘ 1993 bis zu
den diversen ‚Asylpaketen‘ der letzten Jahre zielten die meisten Reformen
darauf ab, den Zugang zum Rechtsanspruch auf Asyl oder Flüchtlingsstatus
einzugrenzen. Der Deutung dieser Politik als Rechtsruck steht jedoch zweier-
lei entgegen. Erstens sind die zunehmenden rechtlichen Restriktionen vor
allem eine Reaktion darauf, dass die Möglichkeiten, überhaupt nach Deutsch-
land zu kommen und Asyl zu beantragen, seit den 1970ern deutlich gewach-
sen sind. Die restriktive Reaktion darauf kann man normativ für falsch hal-
ten, aber man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass in BRD oder DDR
jemals eine unwidersprochene, politisch mehrheitsfähige Bereitschaft bestan-
den hätte, hunderttausenden Flüchtenden aus asiatischen und afrikanischen
Ländern einen wirksamen Flüchtlingsstatus zu gewähren – so offen und aras-
sistisch war Deutschland nie. Zweitens steht der Verschärfung des Asylrechts
eine Institutionalisierung von Integrationspolitik gegenüber. An dieser kann
man vieles problematisch finden. Dennoch existiert heute ein von einer brei-
ten gesellschaftlichen Mehrheit gestützter und weite Teile der Unionsparteien
umfassender politischer Konsens, akzeptierten Flüchtlingen und anderen
(post-) migrantischen Gruppen einen Weg zu gesellschaftlicher Teilhabe zu
ermöglichen. Das war im 20. Jahrhundert weder in der DDR noch in der
BRD der Fall (Poutrus 2019; El-Mafaalani 2018; Oltmer 2016, 55ff).
Bezieht man auch Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein, lässt sich
in gewisser Weise tatsächlich ein Ruck nach rechts feststellen – jedenfalls
wenn man die neoliberale Ideologie des freien Marktes als rechts versteht.
Jedoch sind die europäischen Rechtsaußenparteien und ist insbesondere die
AfD gerade auf diesem Themenfeld gespalten, sodass alles andere als klar ist,
dass rechtsaußen zu stehen heißt, für einen freien Markt einzustehen (Becker
2018). Zudem fand der wirtschafts- und sozialpolitische Ruck nach rechts
gerade nicht in den letzten Jahren statt, sondern begann in den angelsächsi-
schen Ländern in den 1970ern und setzte sich in Deutschland in den 2000ern
durch.
Das Politikfeld, auf dem in den letzten Jahren tatsächlich eine Entwick-
lung zu verzeichnen ist, in der sich der Mainstream den Positionen der
Rechtsaußen-Parteien annähert, ist die Polizeigesetzgebung. Mehrere Bun-
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desländer haben in den letzten Jahren neue Polizeigesetze verabschiedet, bei
denen die Zugriffsrechte der Behörden gestärkt und die Abwehrrechte der
Bürger_innen geschwächt wurden (Amnesty International/Gesellschaft für
Freiheitsrechte 2019). So besorgniserregend diese Entwicklungen aus men-
schenrechtlicher und rechtsstaatlicher Sicht sind, reichen sie jedoch nicht hin,
um von einem allgemeinen Ruck nach rechts auf der Ebene staatlicher Politik
zu sprechen.
6 Alternative Erklärung: die Formierung eines
rechten Projekts im Kontext einer ambivalenten
Liberalisierung
Man könnte die Frage des Rechtsrucks noch differenzierter und ausführlicher
diskutieren. Man könnte weitere Ebenen einbeziehen – beispielsweise die
zunehmend umkämpfte Zivilgesellschaft (Schroeder et al. 2020) oder den
gesellschaftlichen und politischen Einfluss verschiedener rechter Eliten in
Politik und Verwaltung. Auch bei letzterem liegt jedoch die Vermutung nahe,
dass etwa die Seilschaften, die extrem rechte Studentenverbindungen in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Unionsparteien und verschiedene
Staatsapparate hinein hatten, ihnen mehr effektiven Einfluss gewährten, als
sie ihn heute im Umfeld der AfD ausüben können. Zudem könnte man versu-
chen, ein mehrdimensionales, zeitlich ausdifferenziertes Bild gesellschaftli-
cher und politischer Entwicklungen zu zeichnen, in dem sich zu verschiede-
nen Zeiten, in verschiedenen Dimensionen verschiedene Entwicklungen nach
links oder rechts zeigen – dann würde man wie oben in Hinblick auf die Poli-
zeigesetze angedeutet auch Rechtsbewegungen finden. All dies würde jedoch
nichts am Ergebnis der hier präsentierten Überlegungen ändern, dass die
These eines generellen gesellschaftlichen Rechtsrucks empirisch bis dato
nicht haltbar ist. Daher will ich zum Abschluss des Textes lieber der Frage
nachgehen, was die Alternativen zur Rechtsruck-Hypothese sind.
Es steht außer Frage, dass sich die politische Landschaft in Deutschland
mit dem Aufstieg der AfD grundlegend verändert hat. Zum ersten Mal
kommt es zur erfolgreichen „Formierung“ eines „rechten Projekts“ (Friedrich
2017, 96ff) jenseits der Union. Das ist erklärungsbedürftig. Will man aber die
gesellschaftlichen Entwicklungen erfassen, die dieser rechten Formierung
zugrunde liegen, so sollte man diese eher als einen ambivalenten Liberalisie-
rungsprozess denn als eine Verschiebung oder gar einen Ruck nach rechts
verstehen. Denn fast alle oben beschriebenen Entwicklungen der letzten Jahre
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und Jahrzehnte lassen sich als eine Liberalisierung fassen: sowohl in wirt-
schafts- und sozialpolitischen als auch in gesellschaftspolitischen Fragen ist
die Berliner Republik im 21. Jahrhundert liberaler als die alte BRD, die DDR
oder das wiedervereinigte Deutschland in den 1990ern. Jedoch können gera-
de solche Liberalisierungsprozesse eine Gelegenheit für die Formierung eines
rechten Projekts bieten – aus mindestens zwei Gründen.
Erstens werden Liberalisierungsprozesse in aller Regel nicht von allen
Teilen der Gesellschaft mitgetragen – und so gibt es auch aktuell in Deutsch-
land eine gesellschaftliche Minderheit, die die Liberalisierung der letzten
Jahre entschieden ablehnt. Diese Minderheit hatte ihre politische Repräsenta-
tion lange Zeit innerhalb der Unionsparteien. Seit dem Ende der Ära Kohl
tragen diese jedoch den gesellschaftlichen Öffnungsprozess auf verschiede-
nen Feldern mit (Abschaffung der Wehrpflicht, Atomausstieg, Familienpoli-
tik, Migrationspolitik etc.) – und wenn sie angesichts einer zunehmend liberal
eingestellten Bevölkerungsmehrheit politisch relevant bleiben wollen, müs-
sen sie das auch. Jedoch fühlen sich die antiliberalen Bevölkerungsminder-
heiten immer weniger von der Union repräsentiert – und von FDP, Grünen,
SPD oder Linkspartei noch weniger. Gerade weil einige dieser illiberalen
Minderheitenmilieus ein ausgeprägtes Elitenbewusstsein haben oder sich als
eigentliche Mehrheit missverstehen, bieten sie einen fruchtbaren Boden für
politische Mobilisierung von rechtsaußen – und auf diesem Boden kam es in
den letzten Jahren zur Formierung eines rechten Projekts. Die Dynamiken
rechter Mobilisierung unter Bedingungen gesamtgesellschaftlicher Liberali-
sierung wurden sowohl international (Norris/Inglehart 2019) als auch für
Deutschland (Quent 2019; Friedrich 2017) vielfach beschrieben.
Zweitens können Liberalisierungsprozesse eine Mobilisierung von rechts-
außen auch deshalb begünstigen, weil Liberalisierung immer ambivalent ist.
Dem liegen Ambivalenzen des Liberalismus selbst zugrunde: Auf der einen
Seite stellt Liberalismus Freiheit und Gleichheit der Individuen normativ in
den Mittelpunkt; auf der anderen Seite konzipiert er Freiheit und Gleichheit
in einer Weise, die in der Praxis immer wieder Unfreiheit und Ungleichheit
hervorbringt: erstens bedarf Liberalismus einer Staatsgewalt, die die Freiheit
der Einzelnen einschränken muss, um sie rechtsstaatlich durchzusetzen;
zweitens ist diese Staatsgewalt bis dato und auf absehbare Zeit immer natio-
nalstaatlich-partikular organisiert und produziert somit systematisch Un-
gleichheiten zwischen Bürger_innen und Nichtbürger_innen; drittens ist
Liberalismus eng mit der Idee des Privateigentums verknüpft – und die Frei-
heit des Privateigentums geht notwendig mit ökonomischer Ungleichheit
einher. Aufgrund dieser Ambivalenzen des Liberalismus ist damit zu rech-
nen, dass konkrete Liberalisierungsprozesse nicht nur von besonders konser-
vativen Milieus abgelehnt werden, die an einer alten illiberalen Ordnung
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hängen. Vielmehr bringen Liberalisierungsprozesse selbst neue Ungleichhei-
ten hervor – und somit auch eine Grundlage für Ideologien der Ungleichheit.
Einige Ambivalenzen der jüngsten Liberalisierungsprozesse wurden unter
dem Stichwort des „progressiven Neoliberalismus“ beschrieben (Fraser
2017).
Diese strukturellen Verschiebungen schafften das Potenzial für die For-
mierung eines rechten Projekts. Der Weg zur Verwirklichung dieses Potenzi-
als wurde endgültig 2015 geebnet, als mit der Migrations- und Flüchtlingspo-
litik dasjenige Thema politisch salient wurde, das die Mobilisierung von
Rechtsaußen-Parteien am meisten begünstigt (Mudde 2019, 110). Weil sie
die starke Ablehnung von Immigration kurzzeitig monopolisieren konnte,
hatte die AfD beste Chancen, davon zu profitieren, was ihre politische Etab-
lierung nach dem Beinahe-Zerfall der Partei von Anfang 2015 ermöglichte
(Friedrich 2017, 67). So konnte es auch ohne einen allgemeinen Rechtsruck
in der Gesellschaft zu einem klaren Rechtsruck in der parlamentarischen
Repräsentation kommen.
Wohlgemerkt: Die radikale und extreme Rechte war, ist und bleibt eine
reale Gefahr – zuallererst für Leib und Leben derer, die sie als ihre
Feind_innen betrachtet, aber darüber hinaus auch für die demokratische Ge-
sellschaft als Ganze. Allerdings beruht diese Gefahr bis jetzt nicht darauf,
dass eine gesellschaftliche Mehrheit sich immer weiter nach rechts außen
bewegen würde. Im Gegenteil zeigen Umfragen immer wieder, dass die AfD
zwar bei einer Minderheit Erfolge feiert, bei der großen Mehrheit derer, die
sie nicht wählen, aber die mit Abstand unbeliebteste aller Parteien ist (INSA
2020). Somit spricht viel dafür, dass die AfD anders als die anderen Parteien
eine ‚harte Decke‘ sehr dicht über sich hat und – sofern es zu keinen grundle-
genden Verschiebungen kommt – nur noch sehr begrenzt wachsen kann.
Das heißt nicht, dass von den politischen Erfolgen der AfD keine Gefahr
ausginge. Vielmehr führen sie fast automatisch dazu, dass die Netzwerke
rund um diese Partei mehr Ressourcen und mehr Einfluss gewinnen. Die
Partei und ihre Abgeordneten erhalten öffentliche Gelder, mit denen sie Mit-
arbeiter_innen bezahlen können, die hauptberuflich rechte Ideologien weiter-
spinnen, verbreiten und auf ihre Realisierung drängen. Dies bedeutet vor
allem eins: Im Streit um die Ausrichtung von Politik und Gesellschaft werden
wohl auf Jahre hin Stimmen von rechtsaußen laut mitsprechen. Dies bedeutet
jedoch kein Ende der offenen Gesellschaft, sondern nur, dass es stets auf-
merksamer Gegenkräfte bedarf, die noch lauter und zahlreicher widerspre-
chen.
Die größte Gefahr für die Demokratie besteht gegenwärtig vor allem da-
rin, dass andere Parteien (insbesondere Teile von Union und FDP) die Rheto-
46
Abb. 4: Die AfD ist die Partei mit dem geringsten unausgeschöpften Wähler_innen-
potenzial sowie den höchsten Ablehnungswerten und hat somit eine harte Decke dicht
über sich, die weiteres Wachstum unwahrscheinlich macht (INSA 2020).
rik und Politik von Rechtsaußen kopieren und normalisieren – sei es, um die
AfD-wählende Minderheit zu umgarnen, sei es, um gemeinsam mit der AfD
koalitions- und mehrheitsfähig werden. Solche politischen Taktiken könnten
eine reale Rechtsverschiebung begünstigen.
Bis jetzt gibt es jedoch mindestens drei gute Gründe, die ständige Rede
von einem Rechtsruck zu unterlassen. Erstens existieren wie oben dargelegt
schlichtweg kaum Anhaltspunkte für seine Existenz. Zweitens geht mit der
Rede vom Rechtsruck eine Verklärung der Vergangenheit einher – und gera-
de in Hinblick auf Autoritarismus, Rassismus, Heterosexismus und Antisemi-
tismus sollten weder die alte BRD noch die DDR noch die mörderischen
‚Baseballschlägerjahre‘ der 1990er noch die 2000er mit ihren von der Mehr-
heitsgesellschaft rassistisch fehlgedeuteten NSU-Morden verharmlost wer-
den. Drittens schließlich reproduziert man durch die Rede vom Rechtsruck
ein zentrales Narrativ der AfD: Diese behauptet immer wieder, sie vertrete
eine gesellschaftliche Mehrheit und ihre Erfolge seien Ausdruck einer ‚Wen-
de 2.0‘, bei der immer mehr Menschen ,aufwachten‘. Damit spricht die Partei
47
sich selbst und der illiberalen Minderheit ihrer Unterstützer_innen eine grö-
ßere gesellschaftliche Bedeutung zu als sie bis dato haben. Die inflationäre
Rede vom gesellschaftlichen Rechtsruck unterstützt sie darin nur.
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Anmerkung: Der Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des am 15. No-
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