Beitrag zum Plenum 2 »Disruptiver sozialer Wandel«-organisiert von Martina Löw und Hartmut Rosa Soziologische Zeitdiagnostik, gleichzusetzen mit Gegenwarts-oder Gesellschaftsdiagnostik, wird immer wieder als ein ›Genre‹ und damit als eine besondere Gattung soziologischer Literatur bezeichnet (zum Beispiel Schimank 2007). Ihr Gegenstand ist die Beschreibung, Bestimmung und Analyse der aktuellen
... [Show full abstract] gesellschaftlichen Situation, wie es zu ihr gekommen ist und manch-mal auch, wie es weitergeht. In der Regel wird dabei ein soziales Phänomen in den Mittelpunkt gerückt. Zeitdiagnosen sind besonders leicht zu erkennen, wenn sie eine spezifische Verbindung mit dem Wort ›Gesellschaft‹ im Titel führen. Der beigestellte Begriff benennt dann das besonde-re Charakteristikum der als prägnant ermittelten sozialen Situation: Dienstleistungsgesellschaft, Informationsgesellschaft, Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Netzwerkgesellschaft, aber auch Spaßgesellschaft, Stressgesellschaft oder neuerdings eine Gesellschaft der Angst. Zeitdiagnosti-sche Motive finden sich auch in Titelkonstruktionen, die grundlegende Prozesse sozialen Wan-dels wie zum Beispiel Technisierung, Entfremdung oder Beschleunigung ausmachen, in der Benennung von Wesensmerkmalen etwa beim ›flexiblen Menschen‹ oder beim ›erschöpften Selbst‹ sowie schließlich beim Ausrufen einer an einer neuen Generation festgemachten Grundorientierung. Beispiele hierfür sind die skeptische Generation, die 1968er oder Generation Golf, X, Y oder @ (Dimbath 2016). Vielen dieser Diagnosen liegt eine Vorannahme zugrunde, die Bestandteil des soziologischen Kultursediments geworden zu sein scheint. Sie besteht in dem für die moderne Gesellschaft typischen und für selbstverständlich genommenen Wissen, dass sich die soziale Welt bzw. die gesellschaftliche Ordnung im Laufe der Zeit verändern kann. Fragt man nicht nach den Voraus-setzungen zeitdiagnostischer Aussagen, erscheinen sie zunächst als in der Regel auf Gemeinver-ständlichkeit angelegte Gesellschaftstheorien, indem sie Mutmaßungen über den Zustand und den Wandel gesellschaftlicher Ordnung anstellen. Nicht immer gehen sie dabei wissenschaftlich in dem Sinne vor, dass sie die in ihnen entwickelten Ideen an die bereits vorliegende Literatur