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‚Postdigitales Schultheater‘
Einladung zur Gegenstandserkundung
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Felix Büchner und Sören Jannik Traulsen
Eine neue Kultur?
Seit Ende des Jahres 2020 gewinnt ein neuer Kanal auf dem Videoportal Twitch TV an Popularität. Die als ‚Codemiko‘
bekannte Persona streamt täglich mehrere Stunden vor durchschnittlich über 7000 Zuschauer:innen. Das
Außergewöhnliche: ‚Miko‘ ist kein Mensch, sondern ein dreidimensional animierter Avatar – programmiert und live per
Motion Capture von seiner als ‚Technician‘ bekannten Programmiererin gesteuert. ‚Miko‘ sitzt in ihrem virtuellen Zimmer
an ihrem virtuellen Schreibtisch und interviewt regelmäßig echte Personen, die per Videochat auf ihrem virtuellen
Computerbildschirm digital zugeschaltet sind. In einem Textchat, über den sie parallel mit den eingeloggten ‚Digital
Doubles‘ ihres Publikums interagiert, tauchen immer wieder Twitch-eigene Sprachformen auf, welche die jungen
Zuschauer:innen längst in ihren eigenen, auch verbalen Sprachgebrauch übernommen haben
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.
In diesem Beispiel realisiert sich ein kultureller Zustand, in dem sich Digitales/Analoges, Virtuelles/Reales oder
Online/Offline nicht mehr scharf trennen. Ähnliche Feststellungen bietet auch der Blick auf eine weniger futuristisch
anmutende klassische Theateraufführung: Was auf der Bühne wie ein analoges Spektakel erscheinen mag, ist in Wahrheit
ein ebenso digitales Phänomen – denken Sie nur an den Newsletter, der Sie auf das Stück aufmerksam gemacht hat; die
Rollenrecherche der Darsteller:innen, die größtenteils im Internet stattfand; die Technikabteilung, die hinter der Bühne mit
Headsets, Rechnern und Lichtsignalen das Stück koordiniert oder das ausbleibende junge Publikum, das seine Unterhaltung
lieber über Twitch bezieht (vgl. Ackermann 2020).
Kultur der Digitalität – Postdigitalität – ‚Postdigitales Schultheater‘
Der Kulturwissenschaftler Felix Stalder bezeichnet diesen Zustand als ‚Kultur der Digitalität‘. Es ist ein Zustand, in dem
die Transformationen durch digitale Medientechnologien soweit fortgeschritten sind, dass sie in all unsere Lebensbereiche
tiefgreifend und unumkehrbar eingeschrieben sind. Das bedeutet nicht, dass heutzutage alles digital ist oder sein sollte,
denn „auch unter den Bedingungen der Digitalität verschwindet das Analoge nicht, sondern wird neu be- und teilweise
sogar aufgewertet“ (Stalder 2016, S. 18). Um bei der Betrachtung und Analyse der Kultur der Digitalität nicht in die Falle
des Technozentrismus zu tappen, welcher grob gesagt der naiv anmutenden Argumentationskette ‚Digitalität ist
Technologie macht Entwicklung führt zu Fortschritt ist gut‘ folgt, eignet sich der Begriff der ‚Postdigitalität‘
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. Das Präfix
‚post‘ signalisiert in diesem Zusammenhang nicht, dass das digitale Zeitalter hinter uns läge, sondern dass umfassende
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Wir danken den Kolleg:innen des von der Leibniz-Gemeinschaft und dem Niedersächsischen Ministerium für
Wissenschaft und Kultur geförderten Leibniz-WissenschaftsCampus - Postdigitale Partizipation - Braunschweig für die
Unterstützung und den hilfreichen Austausch zum Postdigitalitätskonzept.
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So beispielsweise der Ausdruck ‚Kappa‘ – ursprünglich die Portraitfotografie eines ehemaligen Twitch-Mitarbeiters,
welches als memefiziertes Emojicon ( ) an Aussagen angehängt wurde, um diese als ironisch zu markieren, jedoch
zunehmend in gleicher Funktion als Text ausgeschrieben oder eben als Wort ausgesprochen wird.
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Stalder positioniert sich 2016 explizit gegen den Begriff der Postdigitalität, da dieser „den engen Kontext der
Medienkunst und deren Technikfixierung [braucht], um als Gegenposition lesbar zu werden“ (Stalder 2016, S. 20). Neuere
postdigitale Forschungsstränge lassen diesen Kontext allerdings hinter sich, wodurch auch in diesem Artikel die ‚Kultur der
Digitalität‘ nahezu synonym mit der ‚Postdigital Condition‘ verstanden werden kann.
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Transformationsprozesse durch digitale Medientechnologien bereits stattgefunden haben und wir uns demzufolge in einer
‚Postdigital Condition‘ befinden. Der Begriff der Postdigitalität ermöglicht es, neben technologischen Aspekten unserer
Gesellschaft, auch Veränderungen auf institutionellen, sozialen oder kulturellen Ebenen in den Blick zu nehmen sowie
Dimensionen von Macht, Herrschaft oder Ungleichheit zu reflektieren und ist damit äußerst anknüpfungsfähig an kultur-,
bildungs- und medientheoretische Überlegungen (vgl. Jandric et al. 2018).
Mit diesem Artikel wird das Anliegen verfolgt, den Begriff des ‚Postdigitalen Schultheaters‘ einzuführen
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. Dafür wird er in
der aktuellen Forschung zur Digitalität in der Kulturellen Bildung verortet, mit dem Diskurs um Theater und Digitalität
verknüpft und um Beobachtungen aus der Theaterpraxis ergänzt. Über den Artikel hinausgehend sollte es ein Anliegen der
(schul-)theaterpädagogischen Forschung sein, das ‚Postdigitale Schultheater‘ unter Einbezug zeitgenössischer
theaterwissenschaftlicher, theaterpädagogischer und theaterdidaktischer Phänomene grundständig zu konzeptualisieren und
zu theoretisieren, um beispielweise unterrichtspraktische oder didaktische Überlegungen sowie bildungstheoretische
Reflexionen vornehmen zu können
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.
Digitale Kulturelle Bildung – Theater – Schultheater
Zu Beginn der Auseinandersetzung mit dem ‚Postdigitalen Schultheater‘ lohnt sich ein Blick in die aktuelle Forschung zur
Digitalität in der Kulturellen Bildung. Aktuellen Forschungsprojekten
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liegt die Argumentation zugrunde, dass die
‚Postdigital Condition‘ so komplex, so multidimensional verschränkt sei, dass sie rein kognitiv nicht mehr zu durchdringen,
beschreiben oder verstehen ist. In der Digitalen Kulturellen Bildung hingegen läge „das Potenzial, Digitalisierung im
Rahmen ästhetischer Prozesse und Vollzüge umfassender zu erfahren und zu verstehen, als es mit bloßen kognitiven
Mitteln möglich wäre“ (Jörissen & Unterberg 2019/2017, S. 8). Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass postdigitale
Künste dazu beitragen könnten „Persönlichkeiten zu stärken“, „die Gemeinschaftsbildung anzuregen“ und im Hinblick auf
den Umgang mit digitalen Medientechnologien Impulse zu geben, „die demokratische Werte stimulieren und in die Lage
versetzen, dem postdigitalen Zeitalter kreativ, kritisch, fragend und produktiv zu begegnen“ (Ackermann et al. 2019, S.
179).
Kulturelle Bildung scheint also prädestiniert für die kritische Begegnung und Auseinandersetzung mit Phänomenen der
‚Kultur der Digitalität‘. Dass das Theater in dieser Forschung aktuell kaum eine Rolle zu spielen scheint, verwundert – ist
es doch diejenige Kunstform, die sich traditionell am ehesten das Spiegeln, Verhandeln und Imaginieren von
Gesellschaften als „ureigenes Terrain“ (Jörissen 2020, S. 8) auf die Fahnen schreibt. Ein Blick in die (deutsche)
Theaterszene zeigt darüber hinaus, wie die ‚Postdigital Condition‘ das Bühnengeschehen zunehmend prägt. So
experimentieren bspw. Regisseure wie Schlingensief, Castorf und Pollesch seit Mitte der 90er Jahre mit unkonventionellen
Technologien auf der Theaterbühne (vgl. Warstat 2011) und zeitgenössische Theaterkollektive wie machina eX,
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Eine Verbindung von Schultheater und Postdigitalität wurde bereits von der Theaterlehrerin und -forscherin Sabine
Köstler-Kilian (ebenfalls Autorin in dieser Ausgabe) gezogen, als sie im Rahmen der ‚Zentralen Arbeitstagung‘ des BVTS
im November 2020 einen Vortrag mit dem Titel ‚Schultheater und Postdigitalität. Positionen im Spannungsfeld
ästhetischer, kultureller und digitaler Bildung‘ hielt.
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Der Erziehungswissenschaftler Benjamin Jörissen bietet für diese Überlegungen ein Modell zur Reflexion der ‚Postdigital
Condition‘ auf das Schultheater an und vier Ebenen der Veränderungen: Die Ebene der Theaterschüler:innen (A), ihrer
szenischen und performativen Lerngewohnheiten und -strategien (B), des Theaters als zentralen Gegenstandsbereichs (C)
und dem gesellschaftlich-kulturellem Umfeld, in dem Theaterunterricht entsteht (D) (vgl. Jörissen 2020).
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Es wird sich primär auf die Verbundsforschung ‚Digitalisierung in der kulturellen Bildung‘ (BMBF 2017) bezogen.
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CyberRäuber, The Agency und Rimini Protokoll loten das reziproke Verhältnis von Theater und Digitalität grundsätzlich
neu aus. Der Regisseur und Gründer der ‚Akademie für Theater und Digitalität‘ Kay Voges spricht in diesem
Zusammenhang sogar von den Potenzialen des Theaters als „Schule der Medienmündigkeit“ (Nioduschewski 2019, S.14)
und auch die Theaterpädagogik bietet interessante Anknüpfungspunkte, reflektiert sie doch zunehmend Aspekte der
Partizipation und Teilhabe (bspw. Kup 2019). Welche Impulse aus der Theaterszene können nun aber für die
Konzeptualisierungen des ‚Postdigitalen Schultheaters‘ aufgenommen werden?
Das ‚Theater der Digital Natives‘
Eine besonders anknüpfungsfähige Vorarbeit bietet der dem Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) entsprungene Begriff
des ‚Theater der Digital Natives‘. Im Rahmen des ON/LIVE-Festivals erkunden Theatermacher:innen und
Theatertheoretiker:innen seit 2016 jährlich die Implikationen einer neu aufkommenden Theaterpraxis, die programmatisch
als ‚Theater der Digital Natives‘ bezeichnet wird. Diese begriffliche Setzung rückt raffinierterweise die Lebenswelt der
praktizierenden Akteur:innen, in der sich die ‚Postdigital Condition‘ realisiert, ins Zentrum, anstatt die Verwendung
bestimmter digitaler Technologien im Theater zu fokussieren. Im Rahmen des ON/LIVE Festivals 2020 wurde der
Charakter dieser Theaterform reflektiert und durch zwei zentralen Beobachtungen beschrieben:
Die erste Beobachtung lautet, „Es gibt kein Publikum mehr“ (Barca et al. 2020, S. 6), und spielt auf die Involviertheit des
Publikums in Produktionen des ‚Theaters der Digital Natives‘ an. Die Trennung von Bühne und Publikum wird hier
durchstoßen und teilweise sogar aufgelöst. Das ‚Theater der Digital Natives‘ ist also durchzogen von Momenten der
Partizipation und bietet somit das Potenzial, das Theater als einen Raum des Dialogs umzudeuten und als Forum der
politischen Reflexion und Aktion (wieder) zu entdecken. Die zweite Beobachtung lautet: „Das Theater der Digital Natives
ist ein Theater der Generationen“ (ebd.). Aus der Verschiebung von Wissenshierarchien durch digitale Praktiken folgt eine
Umkehrung gesellschaftlich tradierter Machtverhältnisse. Im ‚Theater der Digital Natives‘ werden „Kinder und
Jugendliche nicht als User*innen, sondern als selbstbewusste Expert*innen, Mitgestalter*innen und Hacker*innen“ (ebd.)
erlebt und Generationenverträge neu ausgehandelt.
Darüber hinaus wird das sogenannte ‚Cultural Hacking‘ als Hauptmotiv des ‚Theater der Digital Natives‘. ‚Cultural
Hacking‘ kann als „kritisches und subversives Spiel mit kulturellen Codes, Bedeutungen und Werten“ (Meyer 2013, S. 15)
begriffen werden, das der sich verändernden gesellschaftlichen Umgebung mit Mitteln des Störens, der Irritation, der
Subversion und der Hyper-Affirmation begegnet. Der Theaterlehrer Stefan Valdes Tittel imaginiert dafür beispielsweise
Inszenierungsmomente, „in denen In-App-Käufe nötig sind, die das Publikum tätigen ‚muss‘, damit das Stück weitergeht“
(Tittel 2020, S. 5). Das Theater sollte sich in diesem Sinne „mit all seinen Ressourcen als Hackspace für die Digital Natives
imaginieren“ (Barca et al. 2020, S. 8) – das Schultheater könnte sich diesem Selbstverständnis anschließen und dem
‚Cultural Hacking‘ eine umfängliche Medienreflexion als didaktisches Konzept zugrunde legen.
Wohin mit dem ‚Postdigitalen Schultheater‘?
In diesem Beitrag haben wir aus einer Beschreibung der ‚Kultur der Digitalität‘ heraus den Begriff des ‚Postdigitalen
Schultheaters‘ vorgeschlagen, ihn im Kontext der Forschung zur Digitalität in der Kulturellen Bildung verortet sowie
konzeptuelle Impulse aus dem ‚Theater der Digital Natives‘ aufgenommen. Dieser kurze Streifzug durch die Medien-,
Theater-, Bildungs- und Kulturwissenschaft zeigt grundlegende Zusammenhänge und Verknüpfungspotenziale der
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Fachbereiche und verdeutlicht zugleich die Größe des Forschungsvorhabens, das ‚Postdigitale Schultheater‘ zu
konzeptualisieren und zu theoretisieren. Anregungen dafür könnte die Forschung zum ‚Postdigitalen Schultheater‘ durch
einen interessierten Blick auf das diesjährige Festival ‚Schultheater der Länder‘ gewinnen, bei dem sich Schüler:innen
unter den Vorannahmen, dass „vielfältige Verbindungen zwischen analoger und digitaler Welt entstanden [sind]“ und junge
Menschen als „digital natives“ aufwachsen, mit postdigitalen Themen wie den „Veränderungen von Sprache und
Kommunikation“ oder der „Gefährdung von Demokratie und Menschenrechten“ (BVTS 2021) beschäftigen.
Wir laden alle am ‚Postdigitalen Schultheater‘ interessierten Menschen aus Theorie und Praxis ein, mit uns über die
Beantwortung grundlegender Fragen in Kontakt zu treten: Wie prägen gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen das
Schultheater? Welche Auswirkungen haben digitale Transformationen auf Form und Inhalte des Unterrichtsfachs? Und
weshalb ist gerade das Fach Theater/Darstellendes Spiel als „Sprachrohr von Schülern für Schüler“ (Lippert 2003)
prädestiniert für die schulische Auseinandersetzung mit Digitalität?
Literatur
Ackermann, Judith: Auf zu neuen Publika! Zur Praxis des Zuschauens im Online-Theater. In: Netztheater. Positionen,
Praxis, Produktionen. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung & nachtrkritik.de 2020.
Ackermann, Judith, Marian Dörk, Hanne Seitz: PKKB: Postdigitale Kunstpraktiken. Ästhetische Begegnungen zwischen
Aneignung, Produktion und Vermittlung. In: Forschung zur Bildung in der Kulturellen Bildung. Barleben: Kopaed 2019.
Barca, Irina-Simona, Katja Grawinkel-Claassen, Kathrin Tiedemann: Das Theater der Digital Natives. Beobachtungen und
Erkundungen am FFT Düsseldorf. Düsseldorf: On/Live 2020.
Bundesministerium für Bildung und Forschung: Digitalisierung in der kulturellen Bildung. Bonn: 2017.
Bundesverband Theater an Schulen e.V.: Ausschreibung. 36. Schultheater der Länder in Ulm. Nürnberg: 2020.
Jandrić, Petar, Jeremy Knox, Tina Besley, Thomas Ryberg, Juha Suoranta & Sarah Hayes: Postdigital science and
education. In: Educational Philosophy and Theory (50:10) 2018.
Jörissen, Benjamin, Lisa Unterberg: Digitale Kulturelle Bildung. Bildungstheoretische Gedanken zum Potenzial Kultureller
Bildung in Zeiten der Digitalisierung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE 2017/2019.
Jörissen, Benjamin: Digital Nature. Wie Digitalisierung all unsere Lebensbereiche verändert. In: Schultheater (41).
Hannover: Friedrich Verlag 2020.
Kup, Johannes: Das Theater der Teilhabe. Zum Diskurs um Partizipation in der zeitgenössischen Theaterpädagogik. Berlin,
Milo & Strasburg: Schibri 2019.
Lippert, Elinor: Schultheater. In: Wörterbuch der Theaterpädagogik Online. Berlin, Miro, Strasburg: Schibri 2003.
Meyer, Torsten: Next Art Education. In: Kunstpädagogische Positionen 29. Hamburg: Repro Lüdke 2013.
Nioduschewski, Anja: Der Code als Kultur. Theater und Digitalität. In: Theater der Zeit (12). Berlin: Theater der Zeit 2019.
Stalder, Felix: Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp 2016.
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Valdes Tittel, Stefan: Theater schafft Welten – zunehmend auch digitale. Ein Statement zur Digitalität im
Theaterunterricht. In: Schultheater (41). Hannover: Friedrich Verlag 2020.
Warstat, Matthias: Schule der Bilder. Theater und neue Medien. In: Fokus Schultheater (10). Hamburg: Körber Stiftung
2011.