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Flexible Interviews besprechen
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Fallstudie und Reflexion des flexiblen Interviews mit Hilfe von «sharing the video»
Bianca Werfeli, SHP, Stefan Meyer, Dozent HfH
Zürich, April 2019
Abstract
Die Fallstudie untersucht die Wirkungen der Analyse eines flexiblen Interviews mit der Methode «sharing
the video». Im Mai 2017 wurde mit Ada (Name geändert; 3. Klasse Primarschule) ein flexibles Interview
zum Thema Geld im Zahlenraum 1000) durchgeführt. Am 22.6.2017 schauten Ada und ich (SHP) die
Videoaufnahme an. Wir besprachen, wie wir die Situation empfunden und was wir gedacht hatten. Diese
Erfahrungen wirkten sich positiv auf das nachfolgende Lernen und meine pädagogischen Kompetenzen
aus. Das flexible Interview erwies sich in Kombination mit dem Ansatz «sharing the video» zu einem
noch wirkungsvolleren Werkzeug.
Schlüsselwörter: flexibles Interview, mathematische Kompetenzen, Videobetrachtung mit SuS,
Fallstudie, mixed methods, sharing the video, Dialog, Autonomie
Abstract
The case study examines the effects of analyzing a flexible interview using the "sharing the video"-
method. In May 2017 a flexible interview was conducted with Ada (name changed; 3rd grade primary
school) about money in the number space 1000). On 22.6.2017 Ada and I (SHP) watched the video
recording. We discussed how we felt about the situation and what we had thought. These experiences
had a positive effect on the subsequent learning and my pedagogical competences. The flexible
interview in combination with the "sharing the video" approach proved to be an even more effective tool.
Keywords: flexible interview, mathematical skills, video viewing with students, case study, mixed
methods, sharing the video, dialogue, autonomy
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Inhalt
1. Einleitung ...................................................................................................................................................... 3
2. Einführung in die Fallarbeit......................................................................................................................... 3
3. Die gemeinsame Videobetrachtung .......................................................................................................... 4
3.1 Die Anfangssituation sichten ........................................................................................................................ 4
3.2 Die Ordinalzahlen .......................................................................................................................................... 4
3.3 Mentales Operieren ....................................................................................................................................... 5
3.4 Beim (grosse) Zahlen vorlesen: ................................................................................................................... 5
4. Wie es weiterging ........................................................................................................................................ 5
5. Methodologischer Kommentar ................................................................................................................... 6
5.1 Das klassische flexible Interview systemisch erweitern .................................................................... 6
5.2 Das flexible Interview in der Lehrerbildung ......................................................................................... 7
5.3 “Sharing the video” – flexible Interviews und Metakommunikation ........................................................ 8
6 Ausblick – Flexible Interviews mit Kindern und Jugendlichen besprechen .............................................. 9
Literatur: ............................................................................................................................................................... 10
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1. Einleitung
Dieser Erfahrungsbericht und die methodologische Analyse zeigen exemplarisch, wie systemische
Pädagogik in Wechselwirkung tritt mit emanzipatorischer Forschung. In Anlehnung an Nind (2014a, S.
530) wird sichtbar, wie ein diagnostischer Prozess nicht nur (statisch) erfasst, wie ein Kind spricht und
handelt, sondern wie die Schulische Heilpädagogin neue und wesentliche Möglichkeiten der
Wechselwirkungen umsetzen kann, welche die Pädagogik augenblicklich verändern. Das ist ein
weiterer Meilenstein in den Aktionsforschungen für die Weiterentwicklung des flexiblen Interviews.
2. Einführung in die Fallarbeit
Weil Ada ein sehr unregelmässiges Leistungsbild zeigte, führte ich mit ihr eine breite
Lernstanderfassung durch, welche möglichst alle Bereiche der Mathematik abdeckte.
Ada arbeitete während einer Abklärungsphase mit verschiedenen Tests (Standortbestimmungen,
BesMath, MKT, Prüfungen in der Klasse sowie dem flexiblen Interview). Im zuerst durchgeführten
flexiblen Interview im Zahlenraum 1 000 mit Geld zeigten sich Schwierigkeiten und auch Interessen im
Zusammenhang mit der Stellenwerttafel des dezimalen Stellenwertsystems. Es wurde bewusst, dass
die bisherigen Hilfestellungen und die eigenen Versuche des Kindes gescheitert waren.
Die einzeln und im Nachgang von mir begleitete standardisierten Durchführung des MKT gab Einblicke
in ihr mathematisches Können. Gleichzeitig traten psychosoziale (Arbeitsbeziehungen) und emotionale
Faktoren (Selbstbild) ins Bewusstsein! Die Durchführung deckte bewusste und unbewusste
Wechselwirkungen in bisherigen pädagogischen Settings auf. Die Förderdiagnostik bestand aus einer
Kombination der standardisierten Testmethodik und der qualitativen, prozessbegleitenden und
adaptivenTestmethodik (vgl. Meyer & Wyder, 2017; MKT, flexibles Interview, sharing the video).
Diese Kombination hatte mehrere Effekte: Offenbar bewirkte die nicht-suggestive Ko-Konstruktion von
Lösungen sowie die Prozessbegleitung während dem FI und dem MKT so viel Schutz (vgl. Winnicott,
1984, 2002; Wygotski, 1986), dass Ada ihre Kognitionen und Emotionen auf die Aufgabe projizieren
konnte. Man kann von einer funktionalen Triangulierung des pädagogischen Settings sprechen (vgl.
Prange, 1983; Hierdeis, 2016). Dies stand im Gegensatz zu anderen Situationen, in denen Ada
verzweifelte, und der Kontext in eine hilflose Helferdynamik hineingeraten war.
Mathematisch blieb ein hoher Denkdruck bestehen. Im flexiblen Interview und in der Prozessbegleitung
wurde nämlich weniger auf den Handlungsaspekt «Operieren und Benennen» Wert gelegt. Ada wurde
vielmehr zum Erforschen, Argumentieren, Darstellen und Mathematisieren (vgl. LP21) eingeladen.
Das flexible Interview und die adaptiven, prozessbegleitenden Methoden des MKT bewirkten, dass sich
Ada und ich als SHP an den Möglichkeiten der Kreativität, der Interessen und der Stärken orientieren
konnten. Ich musste nicht das Scheitern und die Krisen «therapieren», sondern konnte mich auf einen
konstruktiven Prozess einlassen.
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Ob diese Einsichten wahr sind, das versuchte ich kommunikativ zu validieren (vgl. Altrichter, Posch &
Spann, 2018), indem ich mit Ada eine Videobetrachtung (vgl. «sharing the video») durchführte, welche
im nächsten Abschnitt vorgestellt wird.
3. Die gemeinsame Videobetrachtung
Anfangs Juli 2017 fragte ich Ada als erstes, wie sie sich grundsätzlich gefühlt hatte. „Ich hatte grossen
Spass, dass Sie alles auf Video aufgenommen haben, es war aufregend für mich, und als ich dann noch
mit richtigem Geld arbeiten durfte anstatt mit Spielgeld, war das richtig toll. Ich habe die Kamera schnell
vergessen, nur ab und zu kam sie mir wieder in den Sinn. Es hat grossen Spass gemacht, mit Ihnen
alleine arbeiten zu dürfen und so viele Sachen zeigen zu können, die ich schon kann. Auch dass ich
von meinem Bankkonto erzählen durfte, und dass Sie die Bank kennen, hat mich gefreut, und dass wir
dann das Geld aufgeschrieben haben, das ich auf dem Konto habe, auch.“
Auch ich äussere mich grundsätzlich: „Für mich war es weniger lustig, da ich wusste, dass die Kamera
läuft, ich fühlte mich vor allem am Anfang etwas unsicher. Wir hatten es aber schnell lustig und
interessant zusammen und ich vergass die Kamera tatsächlich auch zwischendurch. Ich fand es sehr
spannend, so viel von dir zu erfahren, ich hatte nicht gewusst, dass du ein Bankkonto hast, immer wieder
Geschenke von der Bank bekommst. Und dass du so genau weisst, wie viel Geld du schon gespart
hast, hat mich überrascht!“
3.1 Die Anfangssituation sichten
Ada: „Habe ich das richtig gemacht?“
Bia: „Was denkst du denn, jetzt, da du es noch einmal siehst?“
Ada: „Ich glaube, das stimmt alles!“
Bia: „Genau, du hast das Geld schön geordnet und immer erklärt, was du überlegst. Am Schluss hast
du den Geldbetrag richtig zusammengezählt und aufgeschrieben.“
Ada: „Das hat auch so Spass gemacht! Ich würde gerne viel öfter solche Stunden machen, und ich
würde gerne mehr Sachen „in echt“ machen.“
Bia: „Kannst du mir erklären, was du mit „in echt“ meinst?“
Ada: „Ja, dass man echtes Geld nimmt oder Sachen wiegt oder misst, und dass sie nebendran sind und
ich es immer gerade erklären kann, was ich mache. Das hilft mir beim Denken.“
3.2 Die Ordinalzahlen
Situation der Prüfung der Ordinalzahlen im AnSe-FI, ich erkläre Ada, warum ich ihr vorgeschlagen
habe, die Münzen nebeneinander zu legen statt in 1Fr.-Häufchen übereinander.
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Bia: „Ich wusste, dass ich dich fragen will, welches die 3. Münze ist, und so (zeigt auf die Situation) geht
das fast nicht. Deshalb habe ich vorgeschlagen, die Münzen anders hinzulegen.“
Ada: „Ich habe dann überlegt, ob ich vorher etwas nicht gut gemacht habe, obwohl sie gesagt haben,
das sei gut gewesen so. Als Sie dann nach der 3. Münze gefragt haben, meinte ich immer, ich muss die
3.-Grösste finden und das fand ich so schwierig. Dann bin ich gar nicht mehr draus gekommen.“
Bia: „Ja, ich habe gemerkt, dass dich das Ganze verunsichert hat, und ich wollte dir so gerne helfen,
weil ich sicher war, dass du das kannst, aber irgendwie ging es einfach nicht. Wollen wir es jetzt noch
mal zusammen anschauen?“
Ada: „Ja gerne!“
(Es folgt eine kurze Sequenz, in der Ada und ich klären, dass sie weiss, was 3., 6. etc. bedeutet. Das
war für mich nach dem FI ein offener Punkt geblieben, der jetzt in Kürze geklärt war.)
3.3 Mentales Operieren
Sequenz, als Ada sich auf beiden Seiten des Geldbetrages je 10 Fr. dazu denken musste.
Bia: „Diese Stelle hat mir am besten gefallen. Du hast so genau erklärt, wie du das rechnest, ich konnte
genau verstehen, wie du das machst, das hat mich sehr gefreut. Beim Aufschreiben hast du zuerst die
Rappen vergessen, es dann aber beim Erklären selber gemerkt, das fand ich super! Ich habe gestaunt,
dass du das alles im Kopf behalten konntest.“
Ada: „Wenn ich mich anschaue im Video, merke ich, wie gut ich mich da konzentrieren konnte. Ich habe
alles im Kopf gerechnet, das kann ich sonst nicht so gut.“
3.4 Beim (grosse) Zahlen vorlesen:
Ada: „Oh, das habe ich am allerliebsten gemacht, ich fand es toll, dass Sie fragten, ob sie noch grössere
Zahlen für mich aufschreiben sollen!“
Bia: „Ich habe gemerkt, dass du das gern machst und es dir leichtfällt, und du wurdest am Schluss ganz
mutig und hast sehr grosse Zahlen gelesen!“
Ada: „Ich hätte selber nicht gedacht, dass ich so grosse Zahlen lesen kann. Ich bin sehr stolz, jetzt, wo
ich mich selber sehe. Schauen Sie, wir strahlen beide am Schluss! Machen wir das wieder einmal?“
4. Wie es weiterging
Der Prozess mit Ada ging vor den Sommerferien sehr bedeutsam weiter. Im Gespräch mit Ada und bei
der Lektüre von Fachliteratur hat sich die Idee ergeben, einen Schätzwettbewerb zu organisieren. Ada
wurde Organisatorin und war gleichzeitig Teilnehmerin. Wir planten zusammen, wie ein
Schätzwettbewerb für die Klasse aussehen könnte und bereiteten gemeinsam alles vor. Der Anlass
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wurde dann der Klasse vorgestellt und die Kinder durften ihre Tipps für die Anzahlen der verschiedenen
Gegenstände (Federn, Steine, Teigwaren, …) abgeben. Auch Ada tippte, da sie ja die genaue Anzahl
nicht kannte.
In einem zweiten Schritt folgte das Auszählen der Gegenstände. Hier ergaben sich „natürliche“
Fragen: Wie zählt/ bündelt/ versorgt man am besten? Ziel ist es, die Anzahl verlässlich feststellen zu
können. Vor allem bei grösseren Anzahlen wird die Diskussion, wie man am besten vorgeht, zwingend
und bedeutsam. Für Ada ist es nicht selbstverständlich, dass sich die Bündelungseinheit 10 anbietet.
Das kann man diskutieren, ausprobieren,… In der konkreten Situation haben wir zwei Freundinnen
von Ada beigezogen. Dadurch ergaben sich viele spannende und bedeutsame Momente der
Diskussion und des Aushandelns. Weiter stiessen wir natürlich genau auf das "Problem", dass es
mehr als 10 Hunderter waren und dass wir das in die Stellentafel übertragen mussten, etc. (siehe
Anhang 1).
Die Gruppe war gut zusammengesetzt und ich war begeistert ob den Aussagen und Diskussionen
zwischen den Kindern. Für Ada war es teilweise etwas schnell gegangen, sie hätte noch etwas mehr
Zeit gebraucht, alles selber "durchzudenken", aber ich kann es mit ihr ja noch einmal vertiefen,
entweder mit FI-Aufgaben aus dem MKT 2017 und MKT 2008 oder gerade mit den Beispielen aus
dem Schätzwettbewerb.
5. Methodologischer Kommentar
Der Abschnitt thematisiert das flexible Interview als Methode in der inklusiven Pädagogik und stellt die
Verbindung her zu einer dialogischen Analyse- und Feedback-Methode, dem «sharing the video».
5.1 Das klassische flexible Interview systemisch erweitern
Nach Inhelder, Sinclair & Bovet (1974), Ginsburg (1987), Clement (2000), Diriwächter & Valsiner
(2006), Burkart (2010) und Mast (2011) besteht das flexible Interview, auch revidierte klinische
Methode oder kritische Methode genannt, aus dem kreativen und kritischen Einsatz der Beobachtung,
der Befragung, des Experiments und des Tests. Forschungsmethodisch wird es zum qualitativen
Experiment gezählt. Piaget (1967) nannte es «kritische Methode» und entwickelte diese ausgehend
von der klinischen Methode der Psychiatrie.
Frei übersetzt sollte die Methode nach Piaget (1967) eine kritische sein, in der die freie Konversation
mit dem Subjekt Vorrang hat. Die Einschränkung auf feste und standardisierte Fragen wird überwunden.
Die Methode sollte so adaptiv wie möglich sein, sodass die Kinder die maximal mögliche Bewusstheit
und Ausdrucksweise ihrer geistigen Einstellungen erreichen können. Die Methode ist der Grundhaltung
verpflichtet, dass Fragen und Diskussionen erst nach oder im Zuge von Manipulationen an Objekten
eingebracht werden. Dadurch soll ein entschlossenes Handeln des Subjekts provoziert werden.
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Rund 50 Jahre später kritisierte Bronfenbrenner (1978) die in der Entwicklungspsychologie nach wie
vor gängigen Laborexperimente:
Viele dieser Experimente (...) beinhalten [Situationen], die unvertraut, künstlich und kurzlebig sind; dies ruft
ungewöhnliche Verhaltensweisen hervor, die schwer auf andere Settings zu übertragen sind. Aus dieser
Perspektive heraus kann bemerkt werden, dass die gegenwärtige Entwicklungspsychologie zu einem
grossen Teil die Wissenschaft fremdartigen Verhaltens von Kindern in fremden Situation mit fremden
Erwachsenen in kürzestmöglichen Zeitabschnitten ist. (Bronfenbrenner, 1978, S. 35)
In Anlehnung an Piaget (1967) und Bronfenbrenner (1978) werden Fragen für die aktuelle systemische
und integrative Pädagogik abgeleitet:
- Sind die Settings künstlich oder lebensweltorientiert?
- Sind die entwicklungspsychologischen Annahmen statisch oder dynamisch auf die
Wechselwirkungen ausgerichtet?
- Werden die entwicklungspsychologischen Annahmen pädagogisch kontextualisiert, bzw. in
pädagogische Situationen konvertiert?
- Ist die Methode adaptiv oder wird eher ein Konstrukt auf die Person projiziert, z.B. die Lösung
einer Aufgabe?
- Sind die Inhalte im Erleben der Personen und der Bildungserfahrung verankert und abgeleitet,
oder entspringen die Inhalte illusionären Systemen, wie es Freudenthal (1977) für die
mathematische Bildung charakterisierte?
- Können die Personen ihren Interessen an einem Thema nachgehen, oder werden diese
weggeschwiegen (vgl. Derrida, 1976). (Siehe Abschnitt 3.1)
- Ist das Sprechverhalten der Lehrperson suggestiv oder gelingt es, Fragen, Handlungen und
Diskussionen zu kreieren, welche die Erfahrungen der Personen integrieren und vertiefen?
5.2 Das flexible Interview in der Lehrerbildung
Montada formulierte einen optimistischen Gedanken zur Integration des flexiblen Interviews in die
Pädagogik. Er schrieb 1982 in der ersten Ausgabe der «Entwicklungspsychologie»:
Im Lichte dieser Überlegungen ist Piagets klinische Methode der Befragung von Kindern zu Phänomenen
und Problemen, die von ihm als eine Methode der Diagnose des Strukturniveaus seiner Probanden
verstanden wird, in Wahrheit bereits die ideale Methode des Unterrichtens: Probleme werden gestellt, aber
keine Lösungen durchgesetzt und auf oberflächlichem Niveau automatisiert. (Montada, 1998, S. 559)
Die mehrjährigen Erfahrungen mit dem flexiblen an der HfH zeigen, dass die Beherrschung der
Methode nicht automatisch zum dialogischen und operativen Lehrverhalten führt. Mast & Ginsburg
(2009) sowie Mast (2011) stellten fest, dass Lehrpersonen, welche mit der in Japan entwickelten
Methode der Lehrerbildung, der Lesson Study, und dem flexiblen Interview arbeiteten, besser mit den
Denkoperationen und Ressourcen der Kinder umgehen konnten als Lehrpersonen, welche mit der
Lesson-Study-Methode allein gearbeitet hatten. Bei der Lesson-Study geht es darum, dass
Lehrpersonen den Unterricht in Gruppen vorbereiten, durchführen und beobachten und evaluieren.
Dabei stehen ihnen Experten ko-konstruktiv und supervidierend zur Seite.
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Ähnliche Erfahrungen konnten an der HfH gesammelt werden, wenn die Studentinnen und Studenten
in Learntools, Leistungsnachweisen, Unterrichtsvorbereitungen, Praxisprojekten oder Masterarbeiten
mit dem flexiblen Interview gearbeitet hatten. – Die Wirkung des flexiblen Interviews hängt wesentlich
davon ab, wie die Lehrpersonen mit den Lehrmitteln, mit den SuS und der Organisation der
Schulstunden umgehen, und wie die pädagogischen und fachdidaktischen Grundannahmen definiert
sind.
Fennema et al. (1996) konnten in einer dreijährigen experimentellen Studie beobachten, dass sich
Lehrpersonen im Lehrverhalten und den Grundannahmen des Lehrens qualitativ auf verschiedenen
Niveaus bewegen. Auf dem elementarsten Niveau hielten sich die Lehrpersonen konsequent an die
Lehrmittel, mit denen die Lehrgänge linear organisiert worden waren. Ein leicht höheres Niveau
erreichten Lehrpersonen, welche zum Hauptlehrmittel zusätzliche Lehrmittel beizogen, welche eine
gewisse Differenzierung ermöglichte. Auf dem dritten Niveau gingen die Lehrpersonen freier mit den
Lehrmitteln um. Sie setzten bewusst alternative und offene Lernumgebungen ein, welche die
Binnendifferenzierung stärkte. Erst auf dem vierten Niveau gingen die Lehrpersonen von den
Ressourcen, den Interessen und den kognitiven Konflikten der Lernenden aus. Die konsequente
Orientierung am Verstehen trug dazu bei, dass die Lehrmittel nicht mehr linear, sondern zirkulär und
rekursiv verwendet wurden.
Carpenter et al. (1999) hatten im Anschluss an Fennema et al. (1996) ein Konzept entwickelt und
erprobt. Es nennt sich «cognitively guided instruction», ein rigoroser auf dem Verstehen begründeter
Ansatz der mathematischen Bildung.
Wenn wir in Erfahrung bringen möchten, wie das flexible Interview die Lehrerbildung beeinflussen
kann, müssen das Lehrerverhalten im Umgang mit den Lehrmitteln (Mathematikaufgaben, Methoden
der Unterrichtsvorbereitung) und die pädagogisch-fachdidaktischen Grundannahmen berücksichtigt
werden (vgl. Mast & Ginsburg, 2009; Mast, 2011).
Nind, Kilburn & Wiles (2015) sowie Nind und Lewthwaite (2018) schlagen für die Lehrerbildung vor,
dass Expertengruppen, video-gestützter Dialog, Gruppendiskussionen und das Forschungstagebuch
kombiniert werden sollen. Die Fallstudie von Bianca Werfeli ist insofern eine Novität, als das flexible
Interview mit der Methode des «sharing the video» kombiniert worden waren.
5.3 “Sharing the video” – flexible Interviews und Metakommunikation
Morgan (2007) präsentierte eine differenzierte und kritische Studie über die “video-stimulated recall
dialogues” (VSRD). Man erhoffte sich von der Studie, dass die VSRD ein wirkungsvolles Werkzeug
sind, um die Wahrnehmung der Kinder über das Lernen in der Klasse zu vertiefen. Bei der
Intervention wurde auch mit metakognitiven Fragen gearbeitet, um das Denken über das Denken zu
fördern. Ausgehend von dieser Studie experimentierte Bianca Werfeli frei mit methodischen und
pädagogischen Elementen, um in den kreativen Dialogen die Wechselwirkungen zwischen
Lehrperson und Kind noch besser zu verstehen.
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Die gemeinsame Videoanalyse des flexiblen Interviews im Abschnitt 3 machte deutlich, dass und wie
Wechselwirkungen entstanden waren. Dabei gab es auch Sequenzen von Metakommunikation. Nach
Watzlawick definiert den Metakommunikationsbegriff mit dem 2. Axiom seines
Kommunikationsmodells: „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt,
derart, dass letzterer den ersteren bestimmt und daher eine Metakommunikation ist" (Watzlawick et
al., 1996, S. 53).
Schulz von Thun (1981) erweiterte dieses 2. Axiom zu vier Aspekten einer Nachricht: Sachinhalt,
Appell, Selbstoffenbarung, Beziehungsaspekt. Eine geglückte Kommunikation findet dann statt, wenn
die vier Ebenen Appell, Selbstoffenbarung, Beziehungsaspekt und Sachinhalt von den
Kommunikationspartnern als ausgewogen empfunden werden. Im Abschnitt 3 wurde deutlich, wie die
verschiedenen Aspekte der Kommunikation im flexiblen Interview und im Austausch während der
Betrachtung des Videos zum Zuge kommen konnten.
6 Ausblick – Flexible Interviews mit Kindern und Jugendlichen besprechen
Dieser Essay zeigt, dass das flexible Interview plus „sharing the video“ in Kombination mit
Unterrichtsvorbereitung, Durchführung und Evaluation etwas Ganzheitliches und Systemisches schafft.
Es geht nicht nur um die Erforschung der Denkwege des Kindes. Das FI plus „sharing the video“ deckten
Affekte, Interessen, Ko-Konstruktion, exekutive Funktionen, Ressourcen und fachliche Kompetenzen
der Unterrichtsanalyse und -Vorbereitung auf, zusammengefasst, die Wechselwirkungen.
Mit diesem Essay konnte die Integration des FI in die inklusive pädagogische Praxis weiterentwickelt
werden. Dies gilt auch methodologisch für das FI in der Lehre der HfH.
Anstelle eines Ausblicks werden einige Thesen verdichtet:
- «Sharing the video» (Morgan, 2007; Nind et al., 2016, S.159-208) bildet den methodologischen
Hintergrund für den Dialog zwischen Bianca Werfeli und Ada. Es entstehen ein
Referenzschema und Rituale für die fortlaufende reflektierende Abstraktion für alle Beteiligten.
- „Sharing the FI-Video“ ermöglicht Einsicht in das im ursprünglichen Prozess nicht Beobachtete,
nicht Gedachte und nicht Gemachte, in das Unbewusste und das Latente (Pichon-Rivière,
2003).
„Sharing the video“ ist Plattform für die Umsetzung exekutiver Funktionen (Bodrova & Leong,
2015).
Die Video-Betrachtung und die kommunikative Validierung mit dem Kind beugen der
vorurteilsbehafteten Fehlinterpretationen der Daten vor (vgl. Cuomo, 2007; Meyer, 2019).
„Sharing the video“ erlaubt ko-konstruktive kommunikative Validierung von Vermutungen und
Beobachtungen.
Die Video-Betrachtung beugt dem Wegschweigen (Derrida, 1972), d.h. dem Reduktionismus
auf die Mathematik eines Kindes vor und ermöglicht die interaktive Klärung des Vorgehens und
der Prozesse.
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Die Video-Betrachtung sensibilisiert für Wechselwirkungen der Autonomien, der Emotionen, der
Kognitionen, der Beziehungen und der Kompetenzen aller (vgl. Cuomo, 2007; Wygotski, 1986;
Bodrova & Leong, 2015).
Die kommunikative Validierung stärkt die Autonomieerfahrung und den Selbstwert der
Beteiligten.
„Sharing the video“ ist Werkzeug der partizipativen Aktionsforschung (vgl. Nind, 2014; Altrichter,
Posch & Spann, 2018). Die Fallstudie zeigt, dass es Teil eines differenzierten
Entwicklungsprozesses ist, in welcher Diagnostik und mathematische Bildung progressiv
Synergien bilden.
„Sharing the video“ wird zur didaktischen Analyse im Feld und des Feldes (vgl. Cuomo, 2007;
Meyer, 2019). Vorbereitung, Durchführung und Evaluation pädagogischer Situationen werden
in die Wechselwirkungen zwischen einer Sache und deren Pädagogik integriert. Mannoni
(1978, S. 99) bemerkte: „Dieses unaufhörliche Hin- und Her zwischen Theorie und Praxis
verhindert, dass man in Methoden verfällt, die letzten Endes jede Arbeit blockieren würden.“ –
«Sharing the video» hilft, Blockaden zu meistern.
In Anlehnung an Bryant: (1997, S. 140) werden diese Thesen zu einem allgemeinen und praktikablen
Modell zusammengefasst: “To apply Vygotsky to children’s mathematics one has to adopt, not a detailed
theory, but a general approach. We have to look at the general possibility that cultures play a role in
children’s understanding of mathematics.”
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Anhang
Anhang 1: Beispiel Einsatz Stellenwerttafel beim Auszählen