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LEAN PRODUCTION UND FÜHRUNG
OPERATIONAL EXCELLENCE IN JAPAN
TESSEI: Das '7-Minuten-Wunder' –
Insider-Einblick in die Verwirklichung des
'Shinkansen-Theaters'
Artikel von Teruo Yabe 矢部輝夫
2020
OPER
ATIONAL EXCELLENCE IN JAPAN TESSEI: DAS '7-MINUTEN-
WUNDER'
© RD interlogue
www.interlogue.de
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Artikel zur Hintergrundlektüre
Titel
TESSEI: Das '7-Minuten-Wunder' – Insider-Einblick in die Verwirklichung des 'Shinkansen-
Theaters'
Autor
Teruo Yabe 矢部輝夫
Veröffentlicht
auf Firmenwebseite von Link and Motivation Inc., Rubrik 'The Meaning of Work', 27.11.2020
lm
-tmw.com/the-meaning-of-work/omotenashi-company/
Übersetzung
Roman Ditzer
Version
Mai 2021
Der Autor Teruo Yabe ist ehemaliger Vorstand der Shinkansen-Reinigungsfirma TESSEI. Diese ist eine Toch-
terfirma der East Japan Railway Company (JR-EAST) und dafür zuständig, die Shinkansen-Waggons an der
Endhaltestelle Tokyo-Station innerhalb weniger Minuten zu reinigen, bevor die Züge wieder losfahren. Der
Autor hat in seiner Zeit bei TESSEI die Firma reformiert und eine unternehmenskulturelle Revolution bewirkt.
In dem Zuge gelang es, die Arbeitsabläufe zu verbessern und konsequent zu standardisieren. Rückblickend
sagt er, die größte Hürde dabei sei die Einstellung der Mitarbeiter gewesen. Der Durchbruch kam mittels
der Änderung dieser Einstellung.
Die Reinigungstätigkeiten wurden von den Mitarbeitern selbst als minderwertige Arbeit angesehen und als
das, was im Japanischen mit dem Kürzel '3K' bezeichnet wird: schmutzig, anstrengend, gefährlich. Yabe
deutete dieses Kürzel kurzerhand um in das, was die Kunden empfinden sollten angesichts der Arbeit der
TESSEI-Mitarbeiter: 'Dankbarkeit, Schauspiel, Begeisterung'. Damit führte er einen Perspektiven- und Para-
digmenwechsel herbei. Mit dem Schlüsselbegriff 'Gastfreundschaft' (omotenashi) gelang es, den Mitarbei-
tern Stolz auf ihre Arbeit zu vermitteln. Mit dieser veränderten Haltung wurden eine konstruktive Zusam-
menarbeit und hocheffiziente Abläufe möglich.
"Bevor ich zu TESSEI kam, war 'Putzen' die allgemein herrschende Auffassung der Arbeit. Meine
Botschaft war: Das Putzen gehört natürlich dazu, ebenso aber auch Hilfe für Fahrgäste mit irgend-
einem Problem und das Erzeugen einer fröhlichen Atmosphäre für Reisende bei der Abfahrt. Mit
dem Begriff 'Rundum-Service' wollte ich ausdrücken, dass wir einen allumfassenden Service für die
Fahrgäste des Shinkansen anstreben sollten." Teruo Yabe1
Der Bericht zeigt eindrucksvoll, dass Führung den größten Hebel darstellt bei einer Unternehmensreform.
Weiterhin erweist sich, dass es bei der Umsetzung eine richtige Mischung gibt zwischen Top-down- und
Bottom-up-Maßnahmen.
Bei TESSEI arbeiten etwa 900 Mitarbeiter. Diese reinigen täglich 171.000 Sitzplätze von 179 Zügen
(Firmenwebseite, Stand 2020). Die Firma genießt in Japan Kult-Status, sogar Arnold Schwarzenegger hat
sie schon besucht und es gibt sowohl ein Comic als auch ein Musical (!) über sie.
______________________
1 Aus einer E-Mail des Autors vom 3. Mai 2021
TESSEI:
DAS '7-MINUTEN-WUNDER' OPERATIO
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Es ist nicht 'Putz-Zeit', sondern 'Showtime
im Shinkansen-Theater'!
TERUO YABE – PRÄSIDENT DER 'OMOTENASHI3 CREATION COMPANY'
Am Arbeitsplatz herrschte das Gefühl: "Wir werden
nicht wahrgenommen"
Im Jahr 2005 kam ich von East Japan Railway (JR-
EAST) und trat meine Position als General Manager
der Unternehmensplanung bei der Railway Mainte-
nance Company (Vorläuferfirma von TESSEI)4 an.
Ehrlich gesagt war dies damals keine Firma, von der
man bei Japan Railways viel Gutes gehört hätte: Das
Personal wechselte häufig, Unfälle und Verletzungen
waren keine Seltenheit. Ich erinnere mich, dass ich
mit einem unbehaglichen Gefühl zu meinem neuen
Arbeitsplatz ging.
Den ersten Monat verbrachte ich mit 'Sehen und Ler-
nen'5, also damit, mir die Arbeitsplätze anzusehen
und kennenzulernen. Dort war ich überrascht, wie
sehr sich die Mitarbeiter, meist Männer und Frauen
______________________
2
「
7
分間の奇跡」
'7-Minuten-Wunder ' ist die bewundernde Bezeichnung, die
sich in Japan eingebürgert hat für den Reinigungsprozess der Shinkansen-
Fahrgastwagen an der Endhaltestelle Tokyo-Station. Diese werden inner-
halb von 6 bis 7 Minuten gereinigt, bevor die Züge wieder losfahren.
3
「おもてなし」
Auch wenn er in diesem Text nicht erscheint, so ist 'Gast-
freundschaft' doch ein Schlüsselbegriff der Reform bei TESSEI, mit dem es
gelang, den Mitarbeitern Stolz auf ihre Arbeit zu vermitteln. Mit dieser ver-
änderten Haltung wiederum wurden konstruktive Zusammenarbeit und
hocheffiziente A bläufe möglich. Der Autor Teruo Yabe war General M anager
der Abteilung 'Omot enashi Creation' bei TESSEI und hat anschließend auch
seine eigene Firma so genannt.
4
鉄道整備株式会社
Die Railway Maintenance Company wurde 1952 gegrün-
det. Zum 60jährigen Firmenjubiläum wurde der Firmenname 2012 in 'JR-
East Japan Techno Heart TESSEI' geändert (
株式会社
JR
東日本テクノ
ハート
TESSEI). 'Techno Heart' steht dabei für 'Gastfreundschaft schaffen
mit Technik und Herz'. Quelle: tessei.co.jp/company1.html (2021)
in etwas fortgeschrittenem Alter, ins Zeug legten. Es
GAgawar ganz anders als das Bild, das ich hatte. Tat-
sächlich gab es viele, die sich Gedanken um die Fahr-
gäste machten und ihre Aufgabe ernst nahmen. Ich
wunderte mich, dass die Leute so häufig wechselten
und wieso es Kundenbeschwerden gab.6
Es gab viele Begegnungen und zum Monatsab-
schluss ging ich mit den neuen Kollegen aus. Dabei
sprach mich eine ältere Mitarbeiterin an:
"Yabe-san, die in der Zentrale, die wissen
doch gar nichts!"
Das war ein Aha-Effekt für mich: Die Leute, die die
Arbeit verrichten, dachten also, dass sie von der
Zentrale oder ihrer eigenen Firma nicht wahrgenom-
men werden. Bzw., dass man dort überhaupt keine
Ahnung von ihrer Arbeit habe.
In der Tat fand im System Kommunikation nur von
oben nach unten und in der Form von Anweisungen
statt, und die Entfernung vom Management zum
'Genba'7 war groß.
5
見習い
eigentlich 'Lernen durch Anschau en' oder 'Abschauen'. Dies ist das
traditionelle Konzept der Ausbildung in japanischen Handwerksberufen,
ebenso in der Geisha-Ausbildung oder in den Kampfkünsten.
6 In der Fallstudie 'Trouble at Tessei' (2015) wird die Situ ation wie folgt
beschrieben: "As of 2005, the majority of Tessei’s employees worked part
time. The average worker was 53 years old, had held a number of previous
jobs, and often had encountered difficulties on their career path. […] Turn-
over was a major challenge. Tessei hired 20-30 part-time employees per
month, as many proved unable to endure the hard work the job entailed.
Safety was another important issue. The number of on-the-job accidents re-
ported by Tessei employees had risen sharply from 2001 to 2005. Com-
plaints from customers were also on the rise. Commonly reported issues
included untidy bathrooms and forgotten items left behind on the Shinkan-
sen that were not returned."
7
現場
'Genba' bezeichnet allgemein den Ort des Geschehens, im Zusammen-
hang mit Kaizen ist damit meist die Produktion oder der Ort, an dem die
Arbeit geschieht, gemeint.
TESSEI: Das '7-Minuten-Wunder'
2
– Insider-Einblick in
die Verwirklichung des 'Shinkansen
-Theaters'
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WUNDER'
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Der Arbeit einen neuen Kontext geben ('reframen')
Ich fasste meine Eindrücke aus dem ersten Monat in
einem Bericht zusammen, machte einen Vorschlag
auf der Managementversammlung und startete eine
Reform. Worum es dabei in erster Linie ging, war: Wie
gelingt es, die Blockade aufheben und die Mitarbei-
ter dazu zu bewegen sich zu öffnen? Bei jeder
Fortbildung, wenn Mitarbeiter oder Teilzeitarbeits-
kräfte zusammenkamen, verkündete ich fortan diese
Botschaft:
"Liebe Kollegen, Sie glauben vielleicht, die
Welt des Putzens, in der Sie arbeiten, liege zu
Recht im Dunkeln und Verborgenen, aber
dies ist falsch!"8
"Ohne Ihre Reinigung bewegen sich die Shin-
kansen-Züge von East Japan Railway nicht
von der Stelle. Sie sind nämlich die Techni-
ker, die die JR-East-Züge warten mit einer
Pflege namens Putzen."
Es war fast so wie in einem Anime-Zeichentrickfilm,
wenn die Augen der Hauptfigur plötzlich zu leuchten
beginnen: Ich spürte, wie sich die Blicke der Werker
veränderten. Die Worte hatten eine Wirkung: Auf ein-
mal fiel Licht auf ihre Arbeit, von der sie glaubten,
dass sie nicht wahrgenommen werde. So eine Art von
Empfindung war es wohl. Die Herzen begannen sich
zu öffnen. Und ab da begannen wir mit der Umset-
zung einer Reihe von Maßnahmen, um die Mitarbei-
terzufriedenheit zu erhöhen.
Während wir diese Maßnahmen vorantrieben,
verkündete eine Mitarbeiterin in einer Präsentation:
"Unser Arbeitsplatz ist ein Theater!"
"Die Fahrgäste haben die Hauptrolle, wir
spielen die Nebenrollen. Und zusammen füh-
ren wir wunderbare Szenen auf der Bühne
des Shinkansen-Theaters auf. Das sollten wir
anstreben!"
______________________
8 Wörtlich heißt es im Text: "[…] Sie glauben vielleicht, die Welt des Put zens, in
der Sie arbeiten, sei ein dunkler Ort, […]" In der Übersetzung wurde der
Das hat mich sehr überrascht. Auf diese Formulie-
rung wäre ich selbst nie gekommen. Dass diese
Worte von einem Mitarbeiter kamen, macht sie so
bedeutend. Da hat etwas stattgefunden, das man als
'Reframing' bezeichnet. Die eigene Arbeit ist neu
definiert worden: Auf einmal war nicht mehr 'Putz-
Zeit', sondern 'Showtime im Shinkansen-Theater'.
Auf keinen Fall sollten sie denken, dass sie 'Reini-
gungskräfte' sind.
Was ich danach getan habe, bestand vor allem darin
zu verhindern, dass sie sich selbst als 'Putzfrau' oder
'Putzmann' sehen. Ich nahm mir vor, dieses Selbst-
bild mit allen Mitteln zu verhindern. Eine Möglichkeit
dafür war die Arbeitskleidung. Bis dahin hatte es nur
Uniformen für Reinigungskräfte gegeben, aber ich
ließ nun alle möglichen Kataloge kommen, von Gast-
ronomie bis Unterhaltungsindustrie. Und ab da tru-
gen sie mal Hawaii-Hemden, mal verkleideten sie
sich als Weihnachtsmänner. Mit der Kleidung ändert
sich das Bewusstsein. Nicht als 'Reinigungskraft',
sondern als 'Mitglied des Shinkansen-Theaters' soll-
ten sie sich sehen. Dafür habe ich alle Mittel genutzt.
Einmal war es wohl so, dass eine 62jährige Mitarbei-
terin ihre Arbeitskleidung mit nach Hause genommen
hatte. Als sie diese vor ihrem Enkelkind anlegte,
sagte dieses:
"Oma, toll siehst du aus! Das steht dir gut!
Cool!"
Das erzählte sie mir mit Lachfalten im Gesicht. Mich
hat das auch sehr glücklich gemacht. Ich habe es
gleich an unsere Kommunikationsabteilung weiter-
gegeben und in der Firma verbreitet. Ich dachte, es
sei wichtig, eine solche Anekdote gleich mit allen Mit-
arbeitern zu teilen.
Nun hatte ich zwar dazu aufgerufen, mit Wünschen
in Bezug auf die Uniformen auf mich zuzukommen.
Eine unserer Seniorinnen sprach mich darauf an und
sagte, sie würde sich gern in einer Art Lady-Gaga-
'dunkle Ort' (
暗い場所
) als Bereich interpretiert, der den Blicken der Fahr-
gäste entzogen ist, weil man nicht zeigen will, was man dort tut.
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Look als 'Lady Baba'9 präsentieren. Das habe ich
dann allerdings doch nicht aufgegriffen.
"Die Fahrgäste und die Kollegen nehmen mich
wahr!"
Dann führten wir eine Maßnahme namens 'Angel-Re-
ports' ein. Ein Team hat etwa 20 Mitglieder, eine Per-
son darin wurde zum 'Angel-Reporter' ernannt. Und
dieser trugen wir auf, all die Dinge, die sie während
der Arbeit sah oder hörte, an die Firma zu berichten.
Als Regel habe ich festgelegt, nur 'gute Dinge' zu be-
richten. Über schlechte Dinge brauchten wir keine
Meldungen. Was ich damit erzeugen wollte, war das
Gefühl: "Jemand bemerkt es!"
Das ist das genaue Gegenteil des misstrauischen
Gefühls: "Jemand beobachtet mich!" Dieses nämlich
ruft unbegründete Befürchtungen hervor. Deshalb
schrieb die Regel vor, nur über Positives zu berichten.
Es war auch nicht festgelegt, was 'gute Dinge' sind.
Ich sagte: "Berichtet über das, was Ihr selbst für gut
haltet." Ich dachte, sobald man einen Maßstab fest-
legt, was gut und was schlecht ist, wird die Abgren-
zung schwierig und es wird kompliziert. Den Maßstab
habe ich deshalb den 'Angel-Reportern' überlassen,
mir ging es einfach darum, so viele 'gute Dinge' wie
möglich zu entdecken.
"Herr / Frau X kommt immer ein wenig früher
zur Arbeit und arrangiert das Werkzeug so,
dass alle gut arbeiten können."
______________________
9 'Baba' ist im Japanischen die Alte, Greisin.
10 Im Jahr 2015 hatte TESSEI etwa 900 Beschäftigte, darunter 30 'Angel-Re-
porter'. Rechnerisch entfielen auf jeden Mitarbeiter elf (!) solcher Meldun-
gen im Jahr. Darin sind zwar Doppelungen enthalten, die Zahl zeigt jedoch,
dass eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung tatsächlich entstanden
"Herr / Frau Y ist erst seit drei Monaten in
der Firma und ist so engagiert, dass es uns
alle motiviert."
Diese Art von Meldungen begann sich anzusammeln.
Wir wählten die schönsten aus und verteilten sie in
der Belegschaft. Und das führte zu Kommunikation:
"Hier steht etwas über mich!" oder "Hier, das ist ein
Bericht über Dich!" In der Anfangszeit gab es etwa
400 dieser Meldungen im Jahr. 2015 war die Zahl
angewachsen auf mehr als 10.000 Meldungen pro
Jahr.10
Wenn Vertreter aus dem Firmenmanagement sich
heute für Beratung an mich wenden, höre ich oft:
"Bei uns in der Firma gibt es keine Kultur des
Lobens."
Darauf entgegne ich dann:
"Ist es bei Ihnen nicht etwa so, dass Belobi-
gungen nur von Management und Führungs-
kräften kommen?"
Natürlich ist es wichtig, dass Management und Füh-
rungskräfte Anerkennung aussprechen, aber es gibt
Grenzen. Es gibt nämlich Orte, an denen sich jemand
einsetzt, ohne dass dieses Engagement vom Ma-
nagement wahrgenommen wird. Aber die Kollegen,
die am selben Ort arbeiten, nehmen es wahr.
Deshalb ist es wichtig, dass sie ihre Arbeit gegensei-
tig anerkennen und sich gegenseitig loben. Das
stärkt den Teamzusammenhalt und erzeugt ein Band
zwischen den Mitarbeitern.
Wichtig dabei war, keinen Beurteilungsmaßstab vor-
zuschreiben. Damals kam eine Firma auf mich zu
und kündigte an, sie würden den Angel-Report ein-
führen. Das taten sie dann offenbar auch, aber es
funktionierte nicht. Weil sie eben eine Definition vor-
gegeben hatten, eine Einstufung in der Art: "In so ei-
war (aus E-Mails des Autors vom 3. und 10. Mai 2021). Aktuelle Beschäf-
tigtenzahlen (2020): 904 Beschäftigte, 37 % Teilzeit-, 34 % weibliche
Arbeitskräfte. Quelle: Firmenwebseite tessei.co.jp/company1.html (2021)
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nem Fall gibt es 500 Yen". Dies führte in den Arbeits-
bereichen zu Unzufriedenheit und es gab Stimmen
wie: "Das ist unfair" oder "Das ist voreingenommen".
Das Management möchte präzise und genau sein
und hätte halt gern einen Orientierungsmaßstab.
Aber wenn man die Regeln zu detailliert ausarbeitet,
funktioniert es nicht. Unser Ziel war, das Gefühl zu
erzeugen: 'Meine Leistung wird anerkannt'. Von die-
sem Ziel her betrachtet, war der Ansatz 'nur Positives'
und 'den Maßstab überlassen wir den Reportern'
jedenfalls der richtige.
Warum Harvard auf das das '7-Minuten-
Wunder' aufmerksam wurde
Ein Anruf von der Harvard Universität
Im Jahr 2010 etwa bekam ich einen Telefonanruf:
"Mein Name ist Soundso von Harvard, ist Herr Yabe
zu sprechen?" Zuerst hielt ich es für einen Anruf von
einer Versicherung (lacht). Und dann war ich über-
rascht, als klar wurde, dass die Harvard Universität
mehr über unseren Ansatz erfahren wollte.
In der Eisenbahnbranche hatten wir schon Aufmerk-
samkeit erregt. So hatten uns etwa 20 Personen von
einem Internationalen Eisenbahnverband in Europa
für eine Besichtigung besucht. Sie waren alle
erstaunt, dass in einem Bereich, in dem die Arbeit
hart ist und mit vielen älteren Beschäftigten11, eine
______________________
11
高齢者
wörtlich 'Personen hohen Alters'. Der Autor erläutert dazu: "In Japan
bezeichnet man im Allgemeinen ein Alter ab 65 Jahren als 'hoch'. Bei
TESSEI gab es keine exakte Definition, ich selbst habe Personen ab einem
Alter kurz vor 60 dazugezählt." (aus E-Mail des Autors vom 3. Mai 2021) Im
Text übersetzt als 'ältere', 'betagte Beschäftigte' oder 'Senioren'.
so hochwertige Dienstleistung erbracht wurde. Ab da
war der Lauf der Dinge etwa so: Der Sender CNN aus
Amerika stieß auf den Bericht des Eisenbahnver-
bands, die entsprechende CNN-Berichterstattung
wurde weltweit ausgestrahlt und dies führte dann zur
Anfrage der Harvard Universität.
Das war kurz nach der Finanzkrise. Auf der ganzen
Welt wurde die bisherige Art des Managements in
Frage gestellt und nach Alternativen gesucht. In die-
sem Umfeld erregte unser damaliger Ansatz
Aufmerksamkeit. Ausgehend von einer pyramidalen
Organisation wurde viel über Top-Management und
effiziente Kontrolle diskutiert. Ich denke, in akademi-
schen Kreisen wurde zu dieser Zeit auch nach Wegen
gesucht, wie man die Leistung der Mitarbeiter an der
Basis der Pyramide ins rechte Licht setzt. Dafür wur-
den wir als Beispiel herangezogen.12
Innovationen, hervorgebracht durch die traditio-
nelle Kultur13 japanischer Unternehmen
Ich glaube, die traditionelle Kultur japanischer Unter-
nehmen war die Grundlage, die es uns ermöglicht
hat, die Mitarbeiter mittels des 'Shinkansen-Thea-
ters' glänzen zu lassen. Lebenslange Beschäftigung
und das Senioritätsprinizip werden zwar oft als nicht
mehr zeitgemäß bezeichnet. Aber es gibt eine
bestimmte Kultur, die sich in einem solchen System
herausbildet: sich langfristig mit einer Aufgabe
beschäftigen und sich darin entwickeln zu können.
12 Unter dem Titel 'Trouble at Tessei' gibt es dazu eine Fallstudie der Harvard
Business School (2015), siehe Quellen.
13
風土
eigentlich: geographische Eigenart; Landschaft; Landschaftscharak-
ter; Klima; Witterungsverhältnisse; hier in der Bedeutung von
企業風土
'Betriebsklima' oder 'Unternehmenskultur'
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Die Bande zwischen den Menschen, die in den
Teams entstehen. Harmonie als gemeinsamer Wert.
Gegenseitige Anerkennung und gegenseitiger
Ansporn. Diese Art von Betriebsklima war als Basis
für unsere Reform vorhanden.
Unsere Organisation war geprägt durch die hohe
Anzahl älterer Mitarbeiter. Der Einsatz solcher Mitar-
beiter wird ja oft gefordert14. Mein Eindruck damals
war: Ältere Mitarbeiter stecken noch voller Energie!
Bei uns gab es Werker in ihren 70ern, die mit vollem
Einsatz gearbeitet haben. Bei Innovation denkt man
oft an das 'Hervorbringen völlig neuer Ideen'. Ich ver-
stehe den Begriff eher im Sinne von 'Das Alte befra-
gen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen'. Das, was
junge Leute im Silicon Valley entwickeln, sind ebenso
Innovationen, wie wenn ein Team betagter Mitarbei-
ter am Tokyo-Bahnhof die täglichen Arbeitsabläufe
überarbeitet und verbessert.15 Mit einem neuen An-
satz an die eigene Arbeit herangehen und in Frage
stellen. 'Das Alte befragen' bedeutet sinngemäß: Je
älter die Organisation, desto mehr Weisheit steckt
und schlummert in ihr. Man soll nicht verzagen, nur
weil etwas alt ist, sondern vielmehr die Perspektive
ändern zu einer positiven Erwartung wie: 'Das hat Ge-
schichte' oder 'Da steckt viel Knowhow drin'. Und
dann geht es darum, die kleinen Potenziale 16 zu ent-
decken und dies kontinuierlich immer weiter zu tun.
______________________
14 Vor dem Hintergrund der 'Überalterung der Gesellschaft' (
高齢化社会
), die
sich in Japan besonders schnell vollzieht, fordert die Politik die Unterneh-
men seit vielen Jahren dazu auf, das ungenutzte Arbeitskräftepotenzial äl-
terer Mitarbeiter sowie Frauen stärker zu nutzen.
15 Die Unterscheidung zwischen Produkt- und Prozessinnovationen ist auch in
der Betriebswirtschaftslehre üblich.
16 Der Autor spricht hier wörtlich von 'kleinen Entdeckungen' (
小さな発見
) und
ergänzt: " 'Kle ine Entdeckungen' ist wörtlich zu verstehen: D inge entdecken,
die im eigenen Arbeitsumfeld liegen, die man im Team selbst umsetzen
Erfolgsfaktoren für die Veränderung einer Organisa-
tion
Inzwischen habe ich an vielen Stellen über das 'Shin-
kansen-Theater' und das das '7-Minuten-Wunder'
berichtet. Und ich freue mich, wenn Manager und
Personaler beeindruckt sind und die Maßnahmen
nachahmen und umsetzen. Das ist soweit zwar sehr
erfreulich, allerdings scheitern viele und werden frus-
triert. Weshalb ist das so? Ich bin mir sicher, es liegt
daran, dass sie nur die Oberfläche unserer Maßnah-
men kopieren. 'Die Arbeit reframen', 'mittels neuer
Arbeitskleidung das Bewusstsein verändern', 'mit An-
gel-Reports eine Kultur der gegenseitigen Anerken-
nung schaffen' sind zwar alles Dinge, die hübsch klin-
gen, wichtig aber ist, wie 'gründlich' man bei der Um-
setzung ist. Es gibt kein Wundermittel für die Verän-
derung einer Organisation, entscheidend für Erfolg
oder Misserfolg ist die tagtägliche Konsequenz.17
Bisweilen höre ich von Managern, bei denen es nicht
funktionierte, Aussagen wie diese: "Wir waren ja be-
reit, es mit neuen Maßnahmen versuchen, aber dann
hieß es: Wir sind doch Fachkräfte für dieses oder je-
nes, so weit müssen wir nicht gehen." Denen ent-
gegne ich, dass es bei uns auch nicht anders war.
Man mag noch so oft vom 'Shinkansen-Theater' spre-
chen, das Bewusstsein verändert sich nicht so leicht.
Wir waren aber festen Willens, dieses Selbstbild von
der 'Reinigungskraft' zu ändern und haben es mit ver-
schiedenen Maßnahmen immer wieder versucht.
Eine solche Veränderung kommt nicht von allein,
deshalb darf man sich die Anzeichen nicht entgehen
lassen: 'Der Gesichtsausdruck ist ein wenig anders.'
oder 'Jetzt gehen langsam auch Rückmeldungen ein'.
Solche Dinge muss man aufgreifen und teilen und
dies immer wieder. Leicht verändert sich das Be-
wusstsein nicht, aber irgendwann geschieht es doch.
Mit diesem Glauben muss man am Ball bleiben, an-
ders geht es nicht.
kann und diese mit praktischer Intelligenz und Einsatz zu lösen. Das ver-
steht man in Japan unter 'Kaizen'. Ich glaube, wenn man dann durch gegen-
seitige Anerkennung dieses Einfallsreichtums und des Arbeitseinsatzes
Bande in der Belegschaft schafft, dass dies dann weiter zu einer gr oßen
Entdeckung (bahnbrechende Innovation) führen kann." (aus E-Mail des Au-
tors vom 3. Mai 2021)
17 Ganz ähnlich formuliert es Masaaki Matsuo in seinem Artikel 'Weltspitze':
"Zaubertricks für Erhalt und Verbesserung der Qualität gibt es nicht. Es gibt
nur die täglichen und stetigen Verbesserungsaktivitäten!" (siehe Quellen)
OPER
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Außerdem muss man sich damit abfinden, dass man
halt nicht alle Menschen ändern kann. Es ist illuso-
risch, die Motivation aller Mitarbeiter gleichermaßen
erhöhen zu wollen oder eine Organisation zu erschaf-
fen gefüllt mit hoch motivierten Leuten. In einer stag-
nierenden Organisation sind es anfangs vielleicht
5 % der Belegschaft, die eine Veränderung bewirken
können. Wichtig ist, diese Leute ausfindig zu machen
und sie zu Führungskräften heranzuziehen. Hier geht
es nicht um Bevorzugung, sondern um Strategie,
man könnte es strategische Personalplanung nen-
nen. Zeit und Geld sind nur begrenzt vorhanden, wie
kann man unter diesen Umständen etwas bewirken?
Schauen Sie genau hinein in Ihre Organisation und
finden Sie diese Mitarbeiter, die leuchten und die Po-
tenzial haben.
In diese Leute investieren Sie dann schwerpunktmä-
ßig und lassen sie zu Anführern Ihrer Reform werden.
Diese Anführer sind es, die sich an ihren Arbeitsplät-
zen engagieren und kämpfen und die ihre Anhänger
verändern. So vollzieht sich ein Wandel. Bei uns gab
es viele Mitarbeiter, die einen Wechsel der Arbeits-
kleidung oder die Angel-Reports und andere Maß-
nahmen auch negativ sahen und dies auch sagten.
Aber es gab auch Leute, die sich damit identifizierten
und die freudig erregt waren. Besser, als sich von den
negativen Meinungen beeinflussen zu lassen, ist es
in einer solchen Konstellation, mit den Verände-
rungswilligen gemeinsam voranzugehen, auch wenn
es nur wenige sind.
Ich werde oft gefragt, wie ich mit den Widerständen
umgegangen bin, und die Antwort ist: nicht weiter
beachten. Wichtiger ist, dass die Leute, die die Ver-
änderung vorantreiben, im Rampenlicht stehen, und
das Bewusstsein zu ändern, eine Person nach der an-
deren. Irgendwann, wenn deren Anzahl eine Grenze
übersteigt, ändert sich die Firmenkultur. Menschen
können sich Einflüssen nicht entziehen und werden
von ihrer Umwelt stark beeinflusst. Sobald die
Minderheit zur Mehrheit wird, werden diejenigen, die
immer dagegen gewesen sind, sich entweder verän-
dern oder die Firma verlassen. Und das ist in
Ordnung.
Kurzlebenslauf:
Teruo Yabe 矢部輝夫
Präsident der 'Omotenashi Creation Company'
Eintritt in die Japanische Staatsbahn 1966. 40 Jahre
lang zuständig für Sicherheitsmaßnahmen für Züge
und Fahrgäste. Ab 2005 Vorstand und General Ma-
nager der Abteilung für Unternehmensplanung bei
Railway Maintenance Company (heute JR-East
Techno Heart TESSEI Co., Ltd.). Verwandelte die Shin-
kansen-Reinigungsfirma in einen 'Dienstleister für
Gastfreundschaft', indem er die Idee des 'Rundum-
Service' etablierte. Nach Positionen als Senior-Ma-
naging-Director und General-Manager der Abteilung
'Omotenashi Creation' (Schaffung von Gastfreund-
schaft) 2015 Eintritt in den Ruhestand. Gründung
der 'Omotenashi Creation Company', Beratertätig-
keit.
TESSEI:
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Internet-Quellen und Sicherungskopien18
Artikel
Der obige Artikel ist unter dem Titel 「7分間の奇跡」を実現する新幹線劇場誕生秘話 am 27.11.2020 auf der
Webseite der Firma Link and Motivation Group Inc. erschienen in der Rubrik 'The Meaning of Work'.
Quelle: lm-tmw.com/the-meaning-of-work/omotenashi-company/ (20210504)
Sicherungskopie:
web.archive.org/web/20210504093720/https://lm-tmw.com/the-meaning-of-work/omotenashi-company/
Artikel
Ethan Bernstein; Ryan W. Buell, 'Trouble at Tessei'; Harvard Business School, Oct. 2015
Quelle: hbsp.harvard.edu/home/
Artikel
Masaaki Matsuo 松尾政明, 『世界一』の“夢”を現実のものに・・・生き残りをかけた工場再生へ;
in: IE レビュー (IE Review), Vol. 50 No. 2 2009.5, S. 15–21
Übersetzung: Roman Ditzer, 'Weltspitze – Verwirklichen eines Traums und die Wiederbelebung eines Werks
– Alternative: Untergang', 2019
Quelle: researchgate.net/publication/343722520_Weltspitze_-_Verwirklichen_eines_Traums_und_die_Wie-
derbelebung_eines_Werks_-_Alternative_Untergang
______________________
18 Internet-Inhalte können sich ändern, deshalb haben wir (soweit dies möglich war) Sicherungskopien der Internet-Quellen auf web.archive.org angelegt.
Impressum
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20457 Hamburg
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Übersetzung mit freundlicher Genehmigung des Autors, Rechte vom Herausgeber erhalten im Februar 2021:
"editing and photos by courtesy of THE MEANING OF WORK, a project of the Link and Motivation Group, © 2020"
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