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I
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Fakultät für Chemie und Geowissenschaften
Geographisches Institut
Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Science
Matchmaker Coworking-Space
Wie Coworking-Spaces als neue intermediäre Orte organisationsübergrei-
fenden Wissensaustausch und Kooperationen unterstützen
Vorgelegt von
David Stoitner
Studiengang M.Sc. Geographie ê Matrikelnummer: 5305114
stoitner@stud.uni-heidelberg.de
Erstgutachterin: Jun.-Prof. Dr. Anna Growe
Zweitgutachter: Dr. Michael Handke
01. Dezember 2020
II
Eidesstattliche Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als
die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Alle Ausführungen, die anderen veröffent-
lichten oder nicht veröffentlichten Schriften wörtlich oder sinngemäß entnommen wurden, habe ich
kenntlich gemacht. Die Arbeit hat in gleicher oder ähnlicher Fassung noch keiner anderen Prüfungs-
behörde vorgelegen.
______________________________ ______________________________
Ort, Datum Unterschrift
III
Zusammenfassung
Diese Masterarbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie Coworking-Spaces organisationsübergreifenden
Wissensaustausch und Kooperationen unterstützen. Coworking-Spaces sind Orte, an denen überwie-
gend Selbstständige, Gründer*innen und Teams flexibel Arbeitsplätze oder Räume für Workshops und
Events anmieten. Es entstehen Gelegenheiten für vielfältigen Wissensaustausch, der aufgrund unter-
schiedlicher professioneller Hintergründe von Akteur*innen zur Überwindung organisationaler und
disziplinärer Grenzen beiträgt. Für die Untersuchung wurde das Ebenenmodell der kreativen Stadt (Co-
hendet et al. 2010) als Analyserahmen auf Coworking-Spaces angewendet. Es wurden Erkenntnisse
integriert, die räumliche Wissensdynamiken als Zusammenspiel von räumlichen, sozialen und tempo-
ralen Aspekten verstehen. Die Ergebnisse von zehn leitfadengestützten Expert*inneninterviews und
Erfahrungen aus eigenem Coworking erklären, dass Coworking-Spaces Wissensaustausch sowohl zwi-
schen Coworker*innen als auch zu externen Akteur*innen unterstützen, weswegen sie als intermedi-
äre Orte fungieren. Coworking-Spaces ermöglichen aus mehreren Blickwinkeln Offenheit, die für den
Wissensaustausch unterstützend wirkt. Es wird gezeigt, dass sowohl permanente, als auch temporäre
Formen von Nähe zwischen Akteur*innen von Relevanz sind. Insbesondere vielfältige Personenfluktu-
ationen ermöglichen heterogene Wissensflüsse. Die Arbeit bestätigt zudem die zentrale Position von
Coworking-Hosts für den Wissensaustausch (Cabral/van Winden 2016; Merkel 2015).
Abstract
This master thesis deals with the question to what extent coworking spaces support cross-organiza-
tional knowledge exchange and cooperation. Coworking spaces are places where mainly self-employed
people, founders and teams flexibly rent workplaces or rooms for workshops and events. Opportuni-
ties for diverse knowledge exchange arise, which helps to overcome organizational and disciplinary
boundaries due to different professional backgrounds of actors. For this study, the layer model of the
creative city (Cohendet et al. 2010) was applied as an analysis framework to coworking spaces. The
analysis uses insights that understand spatial knowledge dynamics as an interplay of spatial, social and
temporal aspects. The results of ten guided expert interviews and insights from the author’s own
coworking experiences explain that coworking spaces support the exchange of knowledge between
coworkers as well as with external actors, which is why they function as intermediary places. Cowork-
ing spaces allow openness from several perspectives, which supports the exchange of knowledge. It is
shown that both permanent and temporary forms of proximity between actors are relevant. In partic-
ular, a wide variety of person fluctuations enable heterogeneous knowledge flows. The thesis also
confirms the central position of coworking hosts for knowledge exchange (Cabral/van Winden 2016;
Merkel 2015).
IV
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................................................. VI
Abbildungsverzeichnis .................................................................................................................. VII
Tabellenverzeichnis ..................................................................................................................... VIII
1 Einleitung ..................................................................................................................................... 1
2 Thematischer Hintergrund ............................................................................................................ 3
2.1 Informations- und Netzwerkgesellschaft ...................................................................................... 3
2.2 Flexibilisierung von Arbeit ............................................................................................................ 5
2.3 Selbstständigkeit als Form flexibilisierter Arbeit .......................................................................... 7
2.4 Coworking und Coworking-Spaces .............................................................................................. 11
3 Theoretischer Hintergrund ......................................................................................................... 16
3.1 Wissen als Ressource wirtschaftlicher Entwicklung .................................................................... 16
3.2 Räumliche Organisation von Wissensdynamiken ....................................................................... 16
3.2.1 Konzepte des Wissensaustauschs zwischen Unternehmen durch räumliche Nähe ............ 17
3.2.2 Buzz – Wissensaustausch durch Face-to-Face-Interaktionen .............................................. 18
3.2.3 Sozialer Kontext und die Qualität von Beziehungen für Wissensaustausch ........................ 19
3.2.4 Temporäre räumliche Nähe für Wissensaustausch ............................................................. 22
3.3 Coworking-Spaces und Wissensdynamiken ................................................................................ 24
3.3.1 Coworking-Spaces als Microcluster ..................................................................................... 24
3.3.2 Coworking-Spaces als Middleground? ................................................................................ 27
4 Herleitung der Fragestellung ....................................................................................................... 31
5 Empirie ....................................................................................................................................... 33
5.1 Untersuchungsraum ................................................................................................................... 33
5.2 Methodenauswahl ...................................................................................................................... 34
5.3 Operationalisierung der Fragestellung und Leitfadengestaltung ............................................... 35
5.4 Durchführung und Interviewbearbeitung ................................................................................... 37
6 Ergebnisse .................................................................................................................................. 41
6.1 Quantitative Übersicht der Kategorien ....................................................................................... 41
V
6.2 Qualitative Analyse der Kategorien ............................................................................................ 43
6.3 Zusammenfassende Erkenntnisse .............................................................................................. 62
7 Fazit ........................................................................................................................................... 69
8 Qualität der Forschung und Forschungsgrenzen .......................................................................... 70
Literaturverzeichnis ....................................................................................................................... 72
Anhang .......................................................................................................................................... 83
VI
Abkürzungsverzeichnis
BAG Bundesarbeitsgericht
BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales
CWS Coworking-Space(s)
F2F Face-to-Face-Interaktionen
IKT Informations- und Kommunikationstechnologien
KuK Kultur- und Kreativwirtschaft
SGB IV Viertes Buch Sozialgesetzgebung
VII
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl von selbstständig Beschäftigten in Deutschland (in Tausend) .... 8
Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl an Coworking-Spaces auf der Welt ........................................... 12
Abbildung 3: Entwicklung der Anzahl der Mitglieder von Coworking-Spaces auf der Welt ................. 12
Abbildung 4: Offene Bürolandschaft in einem Coworking-Space in Heidelberg .................................. 15
Abbildung 5: Modell der räumlichen Wissensdynamiken mit Buzz und Pipelines ............................... 22
Abbildung 6: Zusammenwirken verschiedener Formen von Nähe zur Unterstützung des
Wissensaustauschs innerhalb des Coworking-Spaces ..................................................... 26
Abbildung 7: Räumliche Darstellung lokaler und globale Beziehungen zum Austausch von Wissen
zwischen Community-Insidern und -Outsidern ............................................................... 27
Abbildung 8: Die Anatomie der kreativen Stadt und das Zusammenspiel von Upper-, Middle- und
Underground für Wissensdynamiken von Kreativbranchen ............................................ 30
Abbildung 9: Verteilung der Oberkategorien an allen vergebenen Kategorien in Prozent .................. 42
Abbildung 10: CWS bieten häufig eine offene, lichtdurchflutete Bürolandschaft an ........................... 44
Abbildung 11: CWS besitzen oft mehrere Teilräume innerhalb der Bürolandschaft. Hier sind links
Räume für persönliche oder Videomeetings und rechts Telefonzellen in das
Großraumbüro eingelassen ........................................................................................... 45
Abbildung 12: Ein Manifest benennet eigene Werte, die für CWS1 stehen sollen .............................. 48
Abbildung 13: Offene Begegnungsflächen wie ein Foyer, Sitzgelegenheiten oder die Kaffeeküche in
einem CWS in Heidelberg bieten Gelegenheiten zum informellen Austausch ............. 52
Abbildung 14: Ein begrünter Innenhof in CWS7 bietet Platz für vielseitige Nutzungen ....................... 55
Abbildung 15: Ein ehemaliges Lehrschwimmbecken dient heute als Raum für Events in CWS7 ........ 55
Abbildung 16: CWS versprechen neue Perspektiven und die Möglichkeit, Dinge anders zu machen . 60
Abbildung 17: Typen von Kollaborationsansätzen in CWS ................................................................... 66
Abbildung 18: CWS als intermediärer Ort und Plattform verschiedener Wissensdynamiken zur
Verknüpfung von Upper- und Underground ................................................................. 68
VIII
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Klassifikation gesellschaftlicher Orte nach Oldenburg ......................................................... 14
Tabelle 2: Typen temporärer Nähe bei geplanten Austauschprozessen („Move and Manage“) ........ 23
Tabelle 3: Anzahl der Coworking-Spaces der Großstädte der Metropolregion Rhein-Neckar und
jeweiliger Anteil derjenigen, die in der Untersuchung betrachtet wurden ......................... 34
Tabelle 4: Übersicht der durchgeführten Interviews und der Interviewpartner*innen ....................... 37
Tabelle 5: Differenzierung der Interviewpartner*innen nach deren Rollen ......................................... 39
1
1 Einleitung
Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei, und besonders nicht, daß er alleine arbeite;
vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn etwas gelingen soll.
Johann Wolfgang von Goethe
Schon 1830 bemerkte Goethe in den Gesprächen mit seinem Freund Johann Peter Eckermann, wie
wichtig die gegenseitige Anregung für die eigene Inspiration ist. So bekam er u. a. durch Eckermann
selbst, aber auch durch seine tiefe Freundschaft zu Friedrich Schiller, neue Ideen für seine Werke. Goe-
the würdigte den Austausch mit Freund*innen und Kolleg*innen als wichtigen Impulsgeber, ohne den
er nicht die gleichen literarischen Ergebnisse hätte erzielen können.
Die Möglichkeiten des Austauschs sind heutzutage nicht weniger relevant, sondern gehören wie selbst-
verständlich zum gesellschaftlichen Leben dazu. Es gibt sowohl in analogen, wie auch in digitalen Be-
reichen diverse Möglichkeiten, miteinander zu kommunizieren, Informationen auszutauschen und zu-
sammenzuarbeiten. Besonders Gelegenheiten, bei denen Akteur*innen unterschiedlicher Hinter-
gründe zusammentreffen und ihr Wissen teilen, versprechen das Kennenlernen von unterschiedlichen
Perspektiven und die Entwicklung neuer, kreativer Ideen. Informationen sind handelbare Ressourcen
geworden, deren erfolgreiche Verwertung zu unternehmerischer Wettbewerbsfähigkeit und der Lö-
sung von Problemen führt. In der Wirtschaft sind Team- und Projektarbeiten, (Video-)Konferenzen o-
der Messen alltägliche Beispiele solcher Gelegenheiten. Auch das eigene Arbeitsumfeld trägt hierzu
bei, dessen Rolle aktuell vermehrt diskutiert wird. Dabei stehen nicht mehr nur die Arbeitsplätze im
Fokus, die Arbeitgebende zur Verfügung stellen und an denen sich Arbeitnehmende fünf Tage in der
Woche befinden. Arbeit findet hingegen häufiger multilokal statt. Die Entwicklungen in den Informa-
tions- und Kommunikationstechniken (im Folgenden: IKT), die steigende Anzahl von Selbstständigen
und zuletzt die Corona-Pandemie sind Treiber des flexiblen Arbeitens. Dabei beschränken sich die Dis-
kussionen nicht mehr nur auf Home Office. Vielmehr entwickeln sich neue Orte der Arbeit heraus, die
flexibles Arbeiten von Anfang an mitdenken. Hierzu zählen Coworking-Spaces (im Folgenden: CWS),
die den Anspruch haben, einen zu mietenden Arbeitsplatz anzubieten, der professionelles Arbeiten,
soziale Teilnahme und gegenseitige Anregungen ermöglicht. Die Anzahl der CWS wächst seit Jahren
weltweit und sie finden sich in Städten und Dörfern aller Größenklassen.
Die vorliegende Masterarbeit betrachtet CWS nicht nur als reine Arbeitsorte, die Vorteile für die An-
mietenden bieten. Viel mehr widmet sie sich der Frage, welche Rolle CWS dabei spielen, Wissensaus-
tausch über physische, kognitive und organisationale Grenzen hinaus zu organisieren. Dies ist vor dem
2
Hintergrund interessant, weil Innovationsdynamiken als offene Prozesse diskutiert werden, die neue
Wissensorte, Akteur*innen und Netzwerke und somit auch CWS einschließen.
Die Arbeit gliedert sich in sieben Abschnitte und ist wie folgt aufgebaut:
Im folgenden zweiten Kapitel wird der thematische Kontext beschrieben, in dem sich die Arbeit ein-
ordnet. Es wird mit Manuel Castells Theorie der Informations- und Netzwerkgesellschaft und dem Be-
griff der Informatisierung beschrieben, dass Informationen und Wissen eine umfassende Rolle in der
heutigen Gesellschaft einnehmen. Hieraus folgen Veränderungen in der Arbeits- und Wirtschaftsorga-
nisation, die insbesondere die Flexibilisierung von Arbeit beinhalten. Das globale Wachstum von CWS
ist hieraus eine Folge, wodurch neue Möglichkeiten für das Kennenlernen von Personen und den Wis-
sensaustausch geschaffen werden.
Das dritte Kapitel fasst die wichtigsten theoretischen Erkenntnisse zu räumlichen Wissensdynamiken
zusammen. Diese beschreiben, welche Faktoren erstens das Kennenlernen und zweitens den erfolg-
reichen Wissensaustausch zwischen Personen beeinflussen. Sie zeigen zum einen die Relevanz des Zu-
sammenspiels von physisch-räumlichen und sozialen Aspekten und betonen zweitens, dass auch tem-
poräre Treffen Wissensaustausch unterstützen. Diese Konzepte werden anschließend genutzt, um
Wissensdynamiken in CWS zu beschreiben. Die Theorie der „Anatomie der kreativen Stadt“ (Cohendet
et al. 2010) wirft anschließend die Frage auf, wie organisationsübergreifender Wissensaustausch in
einer Stadt organisiert wird. Sie ist die zentrale Theorie der Arbeit, die den Analyserahmen für die
Bearbeitung der Fragestellung bietet.
Kapitel vier widmet sich der Herleitung der Fragestellung. Es verdeutlicht die Relevanz der Untersu-
chung, untergliedert drei Frageblöcke und stellt heraus, welchen Beitrag die Arbeit leistet. An dieser
Stelle wird zudem definiert, was „Matchmaking“ für diese Masterarbeit bedeutet und inwiefern es für
die Fragestellung von Interesse ist.
Das daran anschließende Kapitel fünf gibt eine Übersicht über die Empirie. Hierunter fallen die Vor-
stellung des Untersuchungsraums, die Beschreibung der genutzten Untersuchungsmethoden und die
Operationalisierung der Fragestellung und des Leitfadens. Zuletzt geht das Kapitel auf die Durchfüh-
rung der Empirie ein, wobei die interviewten Akteur*innen und die Interviewbearbeitung im Fokus
stehen.
Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse sowohl quantitativ als auch qualitativ dargestellt. Eine Zu-
sammenfassung setzt die einzelnen Erkenntnisse der Empirie sowohl mit dem theoretischen Kontext,
als auch mit der Fragestellung in Verbindung. Insbesondere die Eigenschaften einzelner Beobachtun-
gen und Aussagen werden kombiniert, wodurch die Fragestellung beantwortet wird.
Zusammenfassend zieht Kapitel sieben ein Fazit der Arbeit. Im Schlusskapitel wird auf die wissenschaft-
lichen Gütekriterien und die Forschungsgrenzen eingegangen.
3
2 Thematischer Hintergrund
2.1 Informations- und Netzwerkgesellschaft
Manuel Castells Theorie zur Informations- und Netzwerkgesellschaft (Castells 1996) fußt auf der Er-
kenntnis, dass gesellschaftliche Organisation insbesondere mit der technischen Revolution der IKT seit
Mitte der 1970er stark durch Informationen, Informationsprozesse und Technologien geprägt ist. Er
konstatiert eine Entwicklung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft hin. Den Begriff „Informa-
tionsgesellschaft“ führte Castells selbst nicht ein, sondern er ist aus der Betrachtung wissensbasierter
wirtschaftlicher Aktivitäten entstanden (Steinbicker 2011: 14-19). Die Arbeiten lieferten die Erkennt-
nis, dass ein nicht zu unterschätzender Teil von Produktionskosten auf Wissens- und Informationsar-
beit zurückgeht (z. B. Forschung, Marketing, Design etc.), wodurch sie eine zentrale Rolle im Wirt-
schaftssystem haben.
Andere Autor*innen nennen dies „Informatisierung“, die einen „soziale[n] Prozess der systematischen
Erzeugung und Nutzung von Informationen [beschreibt] um daraus weitere Informationen erzeugen
zu können“ (Boes/Pfeiffer 2006: 22). Informatisierung ist nicht neu, sondern kann in historische Phasen
unterteilt werden. Insbesondere die Wirtschafts- und Arbeitsorganisation hat verschiedene Phasen
der Informatisierung erlebt. Beispiele sind Akteien oder frühe Rechenmaschinen, durch die Informati-
onsmengen erstellt wurden, um Arbeitsprozesse systematisch zu ordnen und zu überwachen
(Schmiede 2006: 463). Der Prozess der Informatisierung wird seit den 1970ern durch vier wesentliche
Entwicklungen beeinflusst:
Erstens ist im Vergleich zu früheren Phasen ein erheblicher qualitativer Sprung von IKT in kurzer Zeit
möglich gewesen, der sich insbesondere in der Weiterentwicklung von PCs bemerkbar gemacht hat
und wirtschaftliche Wertschöpfung beeinflusst.
Zweitens entstand durch das Internet ein weltumspannendes Netz zur Informationsübertragung, das
durch Standardisierungen geprägt ist (z. B. durch Programmiersprachen, Website-Gestaltungen, Zu-
gangsinfrastruktur) und somit eine einfache Benutzung überall erlaubt. Globale IKT-Netze operieren
dauerhaft in Echtzeit und relativieren Raum und Zeit. Das Internet bietet so nicht nur Organisationen,
sondern auch privaten Akteur*innen einen Anschluss an seinen virtuellen Kommunikationsraum. Wie
der Computer ist auch das Internet ein „verwendungsoffener Informationsraum“ (Boes/Pfeiffer 2006:
25) und bietet flexibel neuartige Möglichkeiten zur Erstellung von Informationen.
Drittens durchlebt die kapitalistische Wirtschaftsordnung durch die Krisen ab den 1970ern eine Neu-
strukturierung. Das Paradigma der fordistisch geprägten und standardisierten Massenproduktion
wurde hinterfragt, wodurch die Ressource Wissen eine Aufwertung erfuhr. Die Relevanz von Wissen
war schon immer hoch, „weil der Produktionsprozess immer auf einem gewissen Wissensniveau und
auf der Verarbeitung von Information beruht“ (Castells 2017: 19). Lundvall und Johnson (1994) erklä-
ren aber, dass sich die Rolle von Wissen in der Ökonomie verändern kann. Wissen war in „einfachen“
4
Ökonomien in Routinen und Traditionen eingebettet, die generationsübergreifend weitergegeben
wurde (ebd.: 24). In der Industrialisierung wurden aufgrund neuer und komplexer Maschinen und Me-
thoden Wissen und Lernen zu einer elementaren Voraussetzung. Für die gewachsene Komplexität wa-
ren gleichbleibende und stabile Wissensschätze nicht ausreichend. Der Prozess der Wissensgenerie-
rung und das Lernen sind internalisiert und institutionalisiert worden (ebd.: 26). In der „Learning Eco-
nomy“ ist die Aufnahme von neuem Wissen elementar für die flexible Weiterentwicklung von Unter-
nehmen und Personen.
Viertens erfordern neue Technologien zwar neues Wissen, aber in der Informationsgesellschaft ist Wis-
sen nun nicht mehr nur eine Notwendigkeit zur Nutzung bestimmter Technologien. Wissensintensive
Prozesse werden genutzt, um Selbige wiederum zu verbessern (Castells 2017: 19). Das gängige Para-
digma lautet daher, dass Wertschöpfung auf Innovationen beruht, die durch einen stetigen Technolo-
giewandel und die potenzielle Steigerung des Komplexitätslevels vorangetrieben wird. Aufgrund des-
sen ist für Castells (2017) das Aufkommen neuer IKT zwar ein entscheidendes Ereignis, jedoch ist die
Veränderung der Produktionsverhältnisse der eigentliche Treiber dieses Wandels.
Unter diesen Voraussetzungen sind Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit davon abhängig, dass In-
formationen effizient gewonnen, verarbeitet und angewendet werden können. Die Notwendigkeit
ergibt sich aus der gestiegenen Unsicherheit des wirtschaftlichen Umfelds. Rapider technologischer
Wandel und globale Konkurrenz erhöhen den Druck auf die Unternehmen, sich durch wissensbasierte
Innovationen weiterzuentwickeln (Maillat et al. 1995).
Die verbesserten IKT reduzieren Raumüberwindungskosten und ermöglichen es, wirtschaftliche Akti-
vitäten global zu organisieren (Benner 2006). Verschiedene Wirtschaftsstandorte mit unterschiedli-
chen Aufgaben können so in das Netzwerk (des-)integriert werden, was eine dezentrale Wissensgene-
rierung ermöglicht. Das bedeutet, dass unternehmenseigene Forschungs- und Entwicklungsabteilun-
gen nicht mehr die einzigen Quellen von Wissen und Innovationen sind, sondern das Wissensmanage-
ment vor der Aufgabe steht, auch andere Quellen außerhalb des Unternehmens zu nutzen.
Die einzelnen Unternehmen bauen in dieser Dynamik neue Wissensnetzwerke auf (Schmiede 2006:
466-467). Interorganisationale Netzwerke beschreiben Kooperationen zwischen Unternehmen und
anderen Akteur*innen im Bereich von Produktionsverbünden oder bei strategischen Partnerschaften,
damit spezialisiertes Wissen gebündelt wird. Innerorganisationale Netzwerke hingegen verdeutlichen
die veränderten Arbeitsprozesse innerhalb des Unternehmens, zu denen eine horizontale Organisation
zählt, die durch flachere Hierarchien charakterisiert ist. Beispiele hierfür sind die Ausbreitung von
Gruppen-, Team- oder Projektarbeiten. Zuletzt erklären makrostrukturelle Netzwerke den gesteiger-
ten Bedarf nach Lernen und Wissenserwerb in und durch die Praxis.
5
2.2 Flexibilisierung von Arbeit
Die Ausführungen des vorangegangenen Kapitels zeigen, dass die Entwicklung zu einer Netzwerkge-
sellschaft mit den damit zusammenhängenden Prozessen die wirtschaftliche Organisation sehr stark
beeinflusst. Auf der organisationalen Ebene von Arbeit spricht man von Entgrenzung, die mit den Brü-
chen des fordistisch geprägten Wirtschaftsmodells zusammenhängt (Gottschall/Voß 2003;
Jürgens/Voß 2007). Entgrenzung beschreibt einen Prozess, durch den historisch gewachsene gesell-
schaftliche Strukturen, die einen auf soziales Handeln regulierenden Rahmen boten, mindestens teil-
weise erodieren (Gottschall/Voß 2003: 18). Jürgens und Voß (2007) weisen darauf hin, dass die Trenn-
linie zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben zunehmend zerfließt. Während in der vorindustriellen
Phase Arbeit häufig dort verrichtet wurde, wo man wohnte (z. B. in der Landwirtschaft auf Höfen),
waren die Industrialisierung und der Fordismus geprägt durch die Trennung beider Sphären. Es ent-
stand die industrielle und hierarchisch organisierte Erwerbsarbeit und damit die Verlagerung der Ar-
beitstätigkeiten für viele Arbeiter*innen in separierte Produktionsstätten. Das Verhältnis von Erwerbs-
arbeit und Privatleben war jahrzehntelang geprägt von langfristigen Anstellungen für Männer, die die
Rolle der Ernährer der Familien einnahmen und Frauen, die den Haushalt führten. Das Heim diente der
Erholung. Raumstrukturell manifestierte sich dieses Bild durch das Leitbild der funktionalen Stadt und
ihrer Funktionstrennungen (Fürst et al. 1999: 29-33).
Informatisierung, Globalisierung und internationale Konkurrenzen führten zur Entgrenzung national-
staatlicher Grenzen, aber auch zur Erosion der zuvor beschriebenen strikten Trennung der beiden
Sphären. Für Beschäftigte bedeutete das mehr Eigenverantwortung und Selbstkontrolle im Arbeitspro-
zess durch flachere Hierarchien im Betrieb, verstärkte Projekt- und Teamarbeit und der Auflösung des
Paradigmas der Arbeitsregelung nach Zeit zugunsten der Arbeitsregelung nach Leistungszielen. Durch
die Entgrenzung schreitet die „Subjektivierung von Arbeit“ (Kleemann/Voß 2010) voran und steigert
die Relevanz der „Subjekt-Qualitäten“ von Individuen (Gottschall/Voß 2003). Die sozial hergestellten
Grenzen haben über einen langen Zeitraum hinweg Orientierung für das Handeln geboten, da sie als
kulturelle Normen wirkten (ebd.).
Für eine Übersicht über die Flexibilisierung von Arbeit bietet sich das SWET-Modell von Benner (2006)
an, in dem er die vier Ebenen Space, Work, Employment und Time beschreibt, auf denen die Flexibili-
sierung stattfindet:
Space
Space beschreibt die räumliche Reorganisierung von Arbeit über einen sogenannten „Telemediated
space“ (Benner 2006: 1028). Über verschiedene IKT interagiert dieser mit den „Territorial spaces“, also
physischen Arbeitsorten. Damit können Arbeitsprozesse räumlich verlagert werden. Der Autor erklärt
dies über das Beispiel von in Europa ansässigen Firmen, die in Südafrika Call Center aufbauen, mit
6
diesen über IKT kommunizieren und sie somit steuern. Kleinmaßstäbiger bedeutet dies eine Ausdiffe-
renzierung von Arbeitsorten (Halford 2005). Neben dem klassischen Unternehmensarbeitsplatz kann
Arbeit an vielfältigen privaten und öffentlichen Orten stattfinden. Halford, die in ihrer Analyse fast
ausschließlich Büroarbeitskräfte als Betroffene sieht, nennt die Reorganisation der Arbeitsorte „Hybrid
workspaces“, da z. B. das Arbeiten aus dem Zug heraus ebenfalls über einen „Telemediated space“
organisiert sein kann, wenn mit Computer und Internet gearbeitet wird (ebd.). Die These der ortslosen
Arbeit kann jedoch verworfen werden, da eine starre Fixierung auf Space zu kurz greift und Arbeit in
ihrer Mehrdimensionalität nicht abbildet (Will-Zocholl et al. 2019).
Work
Work ist die Ebene, in der Arbeitsaktivitäten analysiert werden und wozu Bildungs- und Wissensgrund-
lagen gehören. Aktivitäten beinhalten neben reinen Arbeitsschritten auch genutzte Werkzeuge und
die Beziehungen zu anderen Personen (Mitarbeiter*innen, Kunden*innen etc.). Insbesondere sind Ar-
beitstätigkeiten entstanden, in denen ein hoher Grad an Wissensarbeit verrichtet wird und die stark
digitalisiert sind. In deren Konsequenz sind Selbstorganisation und -kontrolle zu wichtigen Bestandtei-
len des Arbeitsprozesses geworden, die in der verstärkten Projektarbeit zum Tragen kommen und spe-
zifische Soft Skills voraussetzen (Petendra 2015: 34-36).
Employment
Bei Employment geht es um das vertragliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer. Benner
(2006) beobachtete hierbei z. B. vermehrt temporäre Verträge und fehlende soziale Absicherungen.
Beschäftigte oder gar ganze Abteilungen werden u. a. durch Personalagenturen weitervermittelt,
wodurch das Problem entsteht, dass Personen zwar für eine/n Kund*in arbeiten, deren Arbeit aber
von anderen Akteur*innen überwacht wird. So sind Beschäftigte nicht mehr vollständig durch die Ar-
beitssicherungssysteme des Landes abgedeckt. Wie Petendra anmerkt, ist diese Form der Flexibilisie-
rung der Arbeitswelt besonders durch die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses
1
und des Wachs-
tums atypischer Beschäftigungen geprägt (Petendra 2015: 32-33). Sie erklärt dies dadurch, dass ein
unsichereres Umfeld für Unternehmen flexible Organisationsformen erfordert und die verstärkte Pro-
jektarbeit zeitlich flexible und lockere Arbeitssituationen schafft (ebd.).
1
Das Normalarbeitsverhältnis bezeichnet in Vollzeit ausgeübte, unbefristete und abhängige Beschäftigungen,
bei denen der Arbeitnehmer direkt für Unternehmen arbeitet und voll in Sozialversicherungssysteme einge-
bunden ist (Destatis 2020). Im Gegensatz dazu sind atypische Beschäftigungen zeitlich befristet oder Beschäfti-
gungen mit maximal 20 Wochenarbeitsstunden, die knapp über 20% in Deutschland darstellen (Destatis 2018)
7
Time
Time fokussiert auf Entwicklungspfade von Individuen und der herzustellenden Produkte und Dienst-
leistungen. Beiden bescheinigt Benner ein unbeständigeres Umfeld, in dem Prozesse durch disruptive
Technologien in ihrer Linearität gestört werden. Für allgemeine wirtschaftliche Entwicklungen ist auf-
grund des globalen Innovationsdrucks und den durch die Informatisierung freiwerdenden Möglichkei-
ten ein sprunghafter Wandel möglich, weswegen schnelle Anpassungsmechanismen greifen müssen.
Für Individuen steigt die Relevanz des persönlichen Lernens und der Flexibilität. Individuelle Entwick-
lungspfade sind daher mehr durch Karrieren geprägt. Als Konsequenz sind häufigere Jobwechsel ge-
nauso möglich wie das Verschwimmen der Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben. Hierzu konsta-
tiert Ehlscheid im Arbeitsmanagement einen „Wechsel von der Zeitorientierung hin zur Ergebnisorien-
tierung“ (Ehlscheid 2006: 228), der dazu führt, dass Arbeit auch außerhalb der Kernarbeitszeiten erle-
digt werden kann.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Flexibilisierung von Arbeit die Grenzen zwischen Ar-
beits- und Privatsphäre verwischt und letztere immer mehr Aspekte der Arbeitssphäre beinhaltet. Pri-
vatheit müsse „als Leistung der Person“ selbst konstituiert werden (Jürgens/Voß 2007). Individuen sind
dadurch zusehends gefordert, die „Arbeit des Alltags“ (ebd.) mit seinen diversen Anforderungen an
das Arbeits- und Privatleben selbst zu organisieren. Dies erfordert einen hohen Grad an individueller
Flexibilität und ein selbst verwaltetes Zeit- und Raummanagement.
2.3 Selbstständigkeit als Form flexibilisierter Arbeit
Die Flexibilisierung von Arbeit ist besonders im Bereich der selbstständigen Arbeit sichtbar. Selbststän-
dige Arbeit wird in Deutschland gesetzlich in Abgrenzung zu nichtselbstständiger Arbeit definiert. Letz-
tere ist laut Sozialgesetzbuch (SGB) „eine Tätigkeit nach Weisung und eine Eingliederung in die Arbeits-
organisation des Weisungsgebers“ (§ 7 Absatz 1 SGB IV). Wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) hierzu
verdeutlichte, ist zur Unterscheidung der Arbeitsverhältnisse der Grad der persönlichen Abhängigkeit
des Beschäftigten entscheidend. In nichtselbstständigen Arbeitsverhältnissen können die Weisungsge-
ber*innen „Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit“ bestimmen, wodurch der/die Ar-
beitnehmer*in „im Wesentlichen [nicht] frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen
kann“ (BAG 2019). Aus dieser Differenzierung geht hervor, dass Selbstständige ihre Arbeit deutlich
flexibler gestalten können als abhängig Beschäftigte. Sie sind dementsprechend auch selbst für ihr Ein-
kommen verantwortlich und handeln mit einem höheren Risiko bei Lohnausfall.
Die Anzahl der Selbstständigen in Deutschland hat in den letzten Jahren zugenommen und erreicht
derzeit einen Stand von 4,1 Millionen (s. Abbildung 1), was ca. 10% aller Erwerbstätigen ausmacht und
8
unter dem europäischen Durchschnitt liegt (Conen et al. 2016: 6-7). Das Wachstum ist fast ausschließ-
lich auf den Anstieg von Selbstständigen zurückzuführen, die keine weiteren Personen beschäftigen
(„Solo-Selbstständige“). Deren Anstieg ab 2003 ist auf die staatliche Förderung von Existenzgründung
von Arbeitslosen – sogenannte „Ich-AGs“ – zurückzuführen (BMAS 2016: 18).
Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl von selbstständig Beschäftigten in Deutschland (in Tausend). Quelle: BMAS 2018: 13.
Das Feld der Selbstständigen ist heterogen und zum Teil nicht klar abgrenzbar (Bögenhold/Fachinger
2012). Neben klassischen Gewerbetreibenden werden freie Berufe unterschieden, die eine eigene Ka-
tegorie bilden und in Abgrenzung zu Gewerbetreibenden keine Gewerbesteuer, sondern Einkommens-
steuer zahlen. Daher erfolgt die Definition über das Einkommenssteuergesetz (EStG). Diesem folgend
beschreiben freie Berufe eine „selbständig ausgeübte wissenschaftliche, künstlerische, schriftstelleri-
sche, unterrichtende oder erzieherische Tätigkeit“ (§ 18 Absatz 1 EStG). Sie sind Selbstständige in vom
Gesetzgeber vorgegebenen Branchen, in der sie spezialisiert sind. Deren Anzahl ist kontinuierlich ge-
stiegen und machte 2019 ca. 1,43 Millionen Beschäftigte aus (IFB 2019), was ca. 35% aller Selbststän-
digen entspricht.
Interessant in Bezug auf die Informationsgesellschaft und den Wandel der Ökonomie ist der Wandel
der Selbstständigkeit durch das Aufkommen von „Neuen Selbstständigen“, deren Arbeitsform sich von
klassischen Selbstständigen unterscheidet (Vondernach 1980). In den Neuen Selbstständigen sieht
Gerd Vondernach insbesondere einen qualitativen Wandel von Selbstständigkeit (ebd.). Als „sozioöko-
nomische Träger einer wachsenden Gegentendenz der Entmodernisierung“ (ebd.: 153) praktizieren
sie einen alternativen Wirtschaftsstil, in dem es ihnen insbesondere um Eigeninitiative und Selbstver-
wirklichung und das Ausbrechen aus etablierten Karrierewegen geht. Die Kritik dieser Personen richtet
sich gegen die Strukturen der industriellen Gesellschaft, die in den 1970ern in eine Krise geraten ist.
9
Vondernachs Thesen kommen jedoch aus einer Zeit, in der die Informatisierung wenig fortgeschritten
war. Mit der Ausbreitung der IKT haben sich auch das Bild und die Rolle von Neuen Selbstständigen
gewandelt. Der Wille zur Eigeninitiative und der Selbstverwirklichung ist weiterhin eines der dominan-
ten Charakteristika, jedoch sind heutige Neue Selbstständige keine Kritiker der Modernisierung, son-
dern im Gegenteil ihr Beschleuniger. Das „Neue“ wird insbesondere durch die zentrale Bedeutung von
IKT für die Geschäftsprozesse beschrieben:
„Die neuen Selbständigen im Netz sind diejenigen Existenzgründer und Erwerbstätigen, die selbst-
ständig oder freiberuflich arbeiten und neben Telefon und Telefax mindestens einen weiteren in-
teraktiven Dienst (z. B. Internet, Videokonferenz) regelmäßig für die Kommunikation mit Kunden,
die Kooperation mit Geschäftspartnern, die Herstellung von Produkten oder die Bereitstellung von
Dienstleistungen nutzen“ (Oertel et al. 2003).
Die Nutzung des Internets bietet für Selbstständige, besonders für Kleinst- oder Solo-Unternehmen
besondere Vorteile. Hierzu gehören die Möglichkeiten eines einfach zu erstellenden und kostengüns-
tigen Geschäftsauftritts, diverse Informations- und Dienstleistungsangebote, des Aufbaus von Netz-
werken und der Nutzung von Werkzeugen zur Analyse des Kundenverhaltens (ebd.: 22-23). Oftmals
sind physische Gewerberäume nicht mehr nötig. Das Internet ermöglicht die kostengünstige eigene
Präsentation auf globaler Ebene, was zuvor überwiegend großen Unternehmen möglich war.
Neue Selbstständige sind mehrheitlich in den Bereichen Dienstleistungen, Beratungen, Werbung, IKT
und Multimedia tätig (ebd.: 35) und repräsentieren dadurch den Trend der Tertiärisierung und Digita-
lisierung. Sie sind Teil der Knowledge-Intensive Business Services (KIBS), die für Innovationsprozesse
wichtige Rollen einnehmen (Strambach 2001). Gleichzeitig gehören viele der Kultur- und Kreativwirt-
schaft an (im Folgenden: KuK), die in elf Teilbranchen vom Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-
nologie definiert wurde (Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009) und bedeutsam für
organisationsübergreifende Kollaborationen und Innovationen sind (Lange et al. 2016; Wellmann
2009). Nach Wellmann (2009) sind gerade sie durch ihre Art der Arbeitsorganisation „hybride Ak-
teure“, die keine eindeutige Berufsbezeichnung haben, sondern sich als Schnittstelle zwischen ver-
schiedenen Branchen und Projekten bewegen. Dadurch besitzen sie wichtige Funktionen des Überset-
zens und Vermittelns in der Ökonomie der Projekte. Sie arbeiten häufig alleine und fallen zu einem
Großteil in die Kategorie der Kleinstunternehmen (Oertel et al. 2003: 37). Neue Selbstständige sind
häufig Freelancer, die eine besonders starke Flexibilisierung aufweisen. Freelancer arbeiten als freie
Mitarbeiter und sind somit nicht fest angestellt. Sie erledigen häufig temporäre Auftragsarbeiten für
Unternehmen, die für bestimmte Aufgaben keine eigenen Beschäftigten haben oder Freelancer z. B.
aus Kostengründen vorziehen. Die Arbeitsorganisation über das Internet macht aus Freelancern „E-
Lancer“ in einer „E-Lancer economy“ (Malone/Laubacher 1998). Die Autor*innen beschreiben die De-
zentralisierung in der Ökonomie durch IKT, in der die Bedeutung von großen Unternehmen abnimmt
und Produktion nicht mehr hierarchisch, sondern netzwerkförmig organisiert ist. Unternehmen lagern
10
Abteilungen entweder aus oder beauftragen je nach Aufgabe gezielt kleinere und spezialisierte Unter-
nehmen, wie z. B. Selbstständige. Ergebnisse werden durch temporäre Projekte erzielt, in der eine
Zusammenarbeit stattfindet, die nach Abschluss des Projekts aufgelöst wird. Dadurch entstehen im-
mer wieder neue Konstellationen an Projektpartner*innen. Dezentralisierung findet dann statt, wenn
es günstiger ist, auf externes Wissen zuzugreifen und keine eigene Abteilung innerhalb des Unterneh-
mens aufzubauen (ebd.: 16).
Die Ausführungen zeigen, dass insbesondere Neue Selbstständige diejenigen sind, die Arbeit am flexi-
belsten organisieren. Sie sind „Idealtypen des Arbeitskraftunternehmers [...], der seine Arbeitskraft wie
ein Unternehmer behandelt und auf dem Arbeitsmarkt verkaufen muss“ (Obermeier/Schultheis 2014)
und daher Ergebnis und Nutznießer der Informatisierung und Netzwerkgesellschaft. Sie arbeiten in
beratender, dienstleistungsorientierter Funktion und nutzen dabei IKT. Dabei sind sie sehr stark auf
Netzwerke angewiesen, um Projektakquise zu betreiben oder um neues Wissen zu erhalten, da sie
auch selbst dafür verantwortlich sind, sich weiterzubilden (Freelancemap 2019).
Das wichtigste Werkzeug von Neuen Selbstständigen ist der Laptop, mit dem sie den Zugang zum In-
ternet haben und ihr Arbeitsleben organisieren. Die Relevanz eines dauerhaften physischen Arbeitsor-
tes schwindet dadurch. Gerade als Solo-Selbstständiger oder jemand, der noch relativ jung in der
Selbstständigkeit ist, ist der Arbeitsplatz eine Kostenfrage. Arbeit findet daher überwiegend von zu
Hause oder von öffentlich zugänglichen Orten aus statt, wie Cafés oder Bibliotheken. Diese Freiheit,
quasi von überall zu arbeiten, bedeutet aber, dass deutliche Abstriche in sozialen Aspekten hingenom-
men werden müssen: „their freedom to work anywhere often means isolation, inability to build trust
and relationships with others, and sharply restricted opportunities for collaboration and networking“
(Spinuzzi 2012.: 402). Weitere Herausforderungen sind das eigenverantwortliche Beschaffen von Ar-
beitsplatz und -mitteln, die Akquise von Expertise und Kooperationspartner*innen, fehlende Dienst-
leistungen einer Arbeitsorganisation (Kantinen, Rechtsabteilungen, Weiterbildungen etc.) und die
Selbstorganisation von Arbeitszeit und -einsatz (Merkel/Oppen 2013: 3). Hinzu kommt, dass die Auf-
tragslage schwankt und die Tätigkeit daher insgesamt mit großen Risiken und einer mitunter hohen
Belastung einhergeht.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen hat sich in den letzten 15 Jahren ein weiterer Arbeitsplatz
herausgebildet, der versucht, die Freiheit und Flexibilität des Heimatarbeitsplatzes und die Routine
und soziale Integration eines dauerhaften „Unternehmens-Arbeitsplatzes“ zu verbinden. Sogenannte
Coworking-Spaces wurden von Selbstständigen gegründet und global verbreitet. Sie entstammen der
Kritik an den bis dahin verbreiteten Arbeitsorten für überwiegend Neue Selbstständige und sollen die
Herausforderungen aufgreifen, vor denen Selbstständige stehen. Das nächste Kapitel beschreibt diese
neuen Arbeitsorte und die mit ihnen verbundene Praxis des Coworkings.
11
2.4 Coworking und Coworking-Spaces
CWS sind geteilte Büroflächen, die flexibel nutzbare Mitgliedschafts- und Mietmodelle anbieten und
zum überwiegenden Teil von Freelancern und Kleinstunternehmen genutzt werden (Deskmag 2019:
4). Im Gegensatz zu Großraumbüros arbeiten verschiedene Klein- und Kleinstunternehmen in diesen
Büros, wodurch es dort eine hohe Diversität an Nutzergruppen gibt. Die Kundengruppe sind eben jene
Personen, die zeit- und ortslos und mithilfe von IKT selbstständig arbeiten. CWS können im Kontext
der „Sharing Economy“ (Botsman/Rogers 2011) verstanden werden, da sowohl die Bürofläche (Räume,
Tische, Sitzplätze) als auch die dazugehörigen Infrastrukturen (Küche, Internet, Drucker etc.) geteilt
und daher günstig angemietet werden können. Je nach CWS sind Monats-, Wochen- oder sogar Tages-
mieten möglich, sodass auf die aktuelle Arbeitssituation der Personen flexibel reagiert werden kann.
Daher passt das Modell zu dem flexiblen Arbeitsstil der Selbstständigen. Coworking beschreibt dahin-
gehend die Art und Weise der Arbeitsorganisation, die in CWS gelebt wird. Sie korreliert mit den Ar-
beitstrends der flexibilisierten Arbeit (s. auch Spinuzzi 2012).
Der Begriff der CWS und des Coworkings erschien zum ersten Mal Anfang des 21. Jahrhunderts. Zwar
gibt es verschiedene Entwicklungsgeschichten, alle haben aber gemeinsam, dass Coworking einen be-
sonderen Wert auf das Teilen und das Miteinander legt. Gleichzeitig sollte es einen Gegenentwurf zur
üblichen Arbeitsorganisation darstellen, weswegen viele Coworker*innen Hierarchien und Leistungs-
denken kritisch gesehen haben. Viele haben die damals gängigen Bürolandschaften als nicht inspirie-
rend und unsozial empfunden (Neuberg o. J.). Coworking beschreibt ein „working together as equals“
(De Koven 2013). Es sollte insbesondere die unbefriedigende Situation von Freelancern und Kleinstun-
ternehmen verbessert werden. Sie sind es, durch die die Coworking-Bewegung wuchs und zu einem
globalen Trend wurde. CWS sind in diesem Kontext „neue Arbeitsräume für neue Arbeitsformen“ (Poh-
ler 2012), weswegen deren Entwicklung untrennbar mit dem Wandel der Arbeitswelt verbunden ist.
CWS sollen für eine möglichst breite Personengruppe offene Arbeitsorte sein, bei denen nicht die Zu-
gehörigkeit zu einer Organisation das entscheidende Kriterium für die Nutzung des Arbeitsorts ist.
Selbstständige arbeiten zwar für sich und bringen unterschiedliche Professionen mit ein. Sie können
aber als Gleichgesinnte angesehen werden, da sie sich aktiv für diese Form der Arbeitsorganisation
entscheiden und Erfahrungen mit der Selbstständigkeit oder der Branche, in der sie arbeiten, haben.
Die grundsätzliche Diversität wird als anreichernd angesehen (s. Coworking-Werte auf S. 13-15).
Aus der Idee wurde eine globale Bewegung, die seit Jahren wächst (s. Abbildung 2 und 3). Dennoch
befindet sich die Mehrzahl der CWS in als „kreativ“ geltenden US-amerikanischen und europäischen
Städten (Moriset 2013; Waters-Lynch et al. 2016).
12
Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl an Coworking-Spaces auf der Welt. Quelle: Deskmag 2019: 4. Eigene Darstellung.
Abbildung 3: Entwicklung der Anzahl der Mitglieder von Coworking-Spaces auf der Welt. Quelle: Deskmag 2019: 4. Eigene
Darstellung.
CWS reihen sich ein in eine Vielzahl von sogenannten Shared Offices – geteilte Büroflächen (Moriset
2013; Waters-Lynch et al. 2016) bzw. „Open Creative Labs“ (Schmidt/Brinks 2017). Diese unterschei-
den sich nach Waters-Lynch et al. (2016) nach dem Grad, ob das Office-Konzept tendenziell Kollabora-
tion oder Wettbewerb unter den Nutzenden fördert und ob das Ziel individuelle Arbeit oder gegensei-
tiges Lernen adressiert (ebd.: 4). CWS bieten hier einen Mittelweg. Auf eine genaue Differenzierung
aller Konzepten soll an dieser Stelle verzichtet werden. Wie Moriset (2013: 6-7) feststellt, werden auch
in anderen Shared Offices Elemente des Coworkings umgesetzt, sodass keine klaren Grenzen zwischen
den Arbeitsplatzkonzepten gezogen werden können. Mit dem Erfolg und der Verbreitung wird das
Konzept „Coworking“ kommerzialisiert, was daran erkennbar wird, dass große und global operierende
0
5000
10000
15000
20000
25000
30000
2015 2016 2017 2018 2019* 2020*
* geschätzt
Anzahl weltweiter Coworking-Spaces
0
0,5
1
1,5
2
2,5
3
2015 2016 2017 2018 2019* 2020*
* geschätzt
Anzahl weltweiter Mitglieder von Coworking-Spaces
(in Millionen)
13
Shared Office-Anbieter wie Regus oder WeWork auch Coworking-Flächen anbieten, teilweise innerhalb
von Business-Centern. Hierdurch beschleunigt sich die Hybridisierung von Arbeitsorten (Halford 2005)
und CWS werden zudem als standardisiertes Büro-Konzept angeboten.
Die Coworking-Bewegung hat jedoch den Anspruch, einen Unterschied zu anderen Arbeitsplatzkon-
zepten herzustellen. Statt „nur“ günstige Bürofläche anzubieten, kann ein Unterschied auf drei Ebenen
festgestellt werden (Waters-Lynch 2016 et al.: 9-11):
Normativ getriebene Entwicklung durch erste Coworker*innen
Andere Bürokonzepte, wie Serviced Offices, bieten überwiegend individuelle und kostengünstige Bü-
roarbeitsplätze in einer professionellen Atmosphäre an. Im Gegensatz hierzu war die Entwicklung von
CWS von Anfang an normativ getrieben (ebd.: 9-10). Die Open-Source-Bewegung hatte viel Einfluss,
weswegen das Modell „Coworking“ als frei veränderbar verbreitet werden durfte und so individuelle
CWS entstehen.
Die Grundidee ist bis heute, dass bestimmte Werte das „eigentliche“ Coworking prägen und es sich
hierdurch von anderen Arbeitsformen unterscheidet. Diese sind als gleichwertige „Core Values“ von
der Coworking-Bewegung zusammengefasst und beinhalten die folgenden Werte (Coworking.com o.
J.):
Community
Openness
Collaboration
Sustainability
Accessibility
Die Ausgestaltung dieser abstrakten Werte folgt keiner gültigen Definition. Das bedeutet, dass jeder
CWS für sich selbst definiert, was sie im konkreten Fall bedeuten.
Soziale Interaktion und Community als zentrale Elemente
Soziale Isolation wird nicht nur durchbrochen, sondern es werden soziale Interaktionen durch gemein-
same Mittagspausen, Spieleabende oder Kommunikationstools unter Coworker*innen gezielt genutzt,
um eine Bürogemeinschaft zu bilden (Waters-Lynch 2016 et al.: 10). Hierbei wird dem Wert „Commu-
nity“ Rechnung getragen. Dies ist wichtig, weil viele Selbstständige weniger feste Arbeitskolleg*innen
haben, die sie jeden Tag am Arbeitsplatz treffen und mit denen sie direkten Kontakt pflegen. Aus die-
sem Grund werden CWS mit „Third Places“ verglichen, die informelle soziale Interaktionen unterstüt-
zen und gesellschaftliche Treffpunkte darstellen (Oldenburg 1989, 1999). Sie sollen einen gemein-
schaftsorientierten Zweck erfüllen, an dem sich Personen treffen und austauschen können. Sie glie-
dern sich in die Typisierung verschiedener gesellschaftlicher Orte ein (s. Tabelle 1).
14
Tabelle 1: Klassifikation gesellschaftlicher Orte nach Oldenburg. Quelle: Oldenburg (1989, 1997, 1999). Eigene Darstellung.
Ortstyp
Funktion
Beispiele
„Erster Ort“
Privatheit, Erholung, Familie
Zuhause
„Zweiter Ort“
Erwerbstätigkeit
Arbeitsplatz
„Dritter Ort“
Soziale Interaktion, Gemein-
schaft
Bars, Cafés, Bibliotheken
Wie in Kapitel 2.3 beschrieben wurde, haben viele Selbstständige keinen Zugriff auf einen „Zweiten
Ort“, weswegen sie entweder von zu Hause arbeiten oder Dritte Orte aufsuchen. In beiden Fällen be-
steht ein gesteigertes Risiko der Ablenkung und einer unproduktiven Arbeitsweise. Weiter gibt es we-
nig physischer Kontakt zu Personen, mit denen man sich über die Branche, das Projekt oder ähnliche
Erfahrungen austauschen kann. Diese Möglichkeit bieten „Zweite Orte“. Auf die Relevanz von physi-
schem Kontakt geht Kapitel 3.2.2 vertiefend ein. CWS bieten überwiegend eine Kombination aus dem
Zweiten und Dritten Ort an (Schmidt 2020: 70). Sie bieten eine professionelle Arbeitsumgebung und
gleichzeitig die Möglichkeit der sozialen Interaktion. Von klassischen „Dritten Orten“ unterscheiden sie
sich dadurch, dass sie nicht öffentlich sind und durch das Mietmodell nur eine bedingte Offenheit be-
sitzen.
Offene und individuelle Innenarchitektur
Die Innengestaltung von Büros steht in enger Verbindung mit allgemeinen gesellschaftlichen Trends
und hat sich über Jahrzehnte verändert. Dementsprechend steht auch das Innendesign im Zeichen von
flexibilisierter Arbeit, Individualisierung und Kollaboration (Budd 2001; van Meel/Vos 2001).
CWS unterscheiden sich von anderen Arbeitsplatzkonzepten durch eine Vielzahl an Elementen des
„Activity Based Working“ (Veldhoen/Piepers 1995). Hierbei werden feste Raum- und Arbeitsplatzkon-
zepte durch ein offenes und informelles Design (Open Space) ersetzt. Weit verbreitet ist, dass es einen
oder wenige große Räume gibt, in denen die Coworker*innen verteilt an verschiedenen Stellen zusam-
mensitzen und individuell an ihren Projekten arbeiten. Es gibt deutlich weniger Privatsphäre, sodass
eine hohe gegenseitige Sichtbarkeit entsteht. Hinzu kommt flexibleres Arbeiten im Sinne von Hot
Desking bzw. Desk Sharing, also einem flexiblen Arbeitsplatz innerhalb des CWS. Zum anderen ist es
ein individuelles statt standardisiertes Büroraumkonzept, indem verschiedenartige Sitzgelegenheiten
(Hängematten, Sofas, Stühle etc.) und individuelle Gestaltungsmerkmale vorhanden sein können (Wa-
ters-Lynch et al. 2016: 10-11).
Die heterogene und lebendige Atmosphäre unterstützen das Work & Play und damit die Kreativität.
Wagner und Growe (2018) fanden heraus, dass ein bestimmtes Design für die Kreativität anregend
wirken kann, da es als Teil einer „Eventisation“ etwas Besonderes ist und erkundet werden kann. Eine
15
nicht-perfekte Gestaltung lässt Freiräume, sich das Büro anzueignen und mitzugestalten. Die Autorin-
nen betonen, dass physische Büroelemente auch die Art der Interaktionen beeinflussen. Physischer
und sozialer Raum sind daher direkt miteinander verknüpft. Die Wirkung des physischen Raumes auf
Interaktionen darf aber nicht überbewertet (van Meel/Vos 2001: 332-333; Parrino 2015) oder sogar
verneint werden (Bernstein/Turban 2018). Für diesen Fall betont Janet Merkel die Funktion von
„Coworking hosts“ (Merkel 2015: 128-134). Diese haben die Aufgabe, die Interaktionen zwischen
Coworker*innen anzuregen. Sie haben einen Überblick über den CWS und seine Nutzer*innen und
nehmen dadurch die Aufgabe eines Boundary-spanners ein (Cabral/Van Winden 2016).
Abbildung 4: Offene Bürolandschaft in einem Coworking-Space in Heidelberg. Eigenes Foto.
Zusammenfassend sind CWS Arbeitsorte für Menschen, die keine festen Arbeitsorte benötigen, da sie
von überall arbeiten können. Sie bieten aber einen für die besonderen Herausforderungen von Selbst-
ständigen zugeschnittenen Arbeitsplatz und so die Möglichkeit, kollaborativ zu arbeiten (Merkel/Op-
pen 2013). Dadurch können die Mieter*innen Netzwerke aufbauen, die für ihre Tätigkeit relevant sind.
CWS stehen für eine Verräumlichung der Flexibilisierung und Informatisierung von Arbeit, bei der ei-
genverantwortliches Handeln und Vernetzung wichtige Charakteristika darstellen.
Die Tatsache, dass in CWS Coworker*innen in räumlicher Nähe zusammenarbeiten und damit soziale
Interaktionen befördern, wird von verschiedenen Autor*innen als Möglichkeit des Wissensaustauschs
gesehen (Brown 2017; Capdevila 2013, 2014, 2015, 2017; Merkel 2015; Parrino 2015). Diese Erkennt-
nisse reihen sich ein in jene über theoretische Konzepte der Organisation räumlicher Wissensdynami-
ken, die im nächsten Kapitel vorgestellt werden.
16
3 Theoretischer Hintergrund
3.1 Wissen als Ressource wirtschaftlicher Entwicklung
Informationen und Wissen sind relevante Ressourcen im Wirtschaftssystem. Der Austausch dieser Res-
sourcen ist immer wichtiger geworden, um Innovationen hervorzubringen und wettbewerbsfähig zu
bleiben. Neue Rahmenbedingungen wie globale Konkurrenzen erhöhen den Druck, flexibel auf sich
verändernde Märkte zu reagieren, etablierte Produktions- und Organisationspfade zu verlassen und
zu innovieren, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben (Maillat et al. 1995). Zwar sind alle Ökono-
mien auf Wissen und Lernen angewiesen, der Unterschied sei aber Folgender:
„But in the modern learning economy, technical and organisational change have become increas-
ingly endogenous. Learning processes have been institutionalised and feed-back loops for
knowledge accumulation have been built in so that the economy as a whole, including both its
production and consumption spheres, is 'learning by doing' and 'learning by using“ (Lundvall/John-
son 1994: 26).
Erfolgreiche Strukturanpassungen erfordern Lernprozesse, in denen Wissen hinterfragt und angepasst
wird. Es wird daher von einer „Learning economy“ gesprochen, die über die Wissensökonomie hinaus-
geht (ebd.). Dementsprechend relevant ist eine Analyse der Organisation von Unternehmen und kom-
plementären Akteur*innen. Für Lernprozesse sind Austauschbeziehungen wichtig, über die Informati-
onen und Wissen transportiert werden können. Dies ist u. a. davon abhängig, in welcher Form Wissen
vorliegt. Michael Polanyi differenziert explizites und implizites Wissen (Polanyi 1967). Explizites Wissen
ist objektives Wissen, das formuliert und niedergeschrieben werden kann. Durch ein Zeichen- und
Sprachsystem kann es relativ problemlos vermittelt werden. Ein Beispiel hierfür sind mathematische
Formeln oder Texte. Implizites Wissen hingegen besitzt eine subjektive Qualität. Anlehnend an die An-
nahme, dass wir mehr wissen als wir erzählen können (ebd.: 4), ist implizites Wissen stark vom indivi-
duellen Kontext abhängig. Dieses kann z. B. über Jahre aufgebaute Expertise, Intuition oder bestimm-
tes Können im Sinne von Know-How sein, was von hoher Relevanz für die wirtschaftliche Weiterent-
wicklung ist (Nonaka/Takeuchi 1995). Es ist ein Erfahrungswissen, das nicht einfach dokumentier- und
reproduzierbar ist, weswegen es schwieriger zu vermitteln ist. Der Wissensaustausch impliziten Wis-
sens ist damit ein Prozess sozialer Interaktionen.
3.2 Räumliche Organisation von Wissensdynamiken
Aus wirtschaftgeographischer Sicht ist durch die New Economic Geography das Interesse gewachsen,
zu erklären, wie Wissen von einer Organisation auf eine andere übertragen wird (Brökel 2016). Maillat
schlussfolgert, dass Globalisierung und wirtschaftliche Strukturanpassung Einfluss auf regionale Öko-
nomien haben (Maillat 1998a). Diese fasst er in vier Auswirkungen zusammen. Erstens verändern sich
durch den Niedergang alter Industrieregionen räumliche Hierarchien. Vormalige Wachstumsmotoren
17
verlieren an Dynamik und andere Regionen profitieren, in denen neue Wachstumsbranchen sitzen und
die auf die veränderten globalen Bedingungen besser angepasst sind. Zeitgleich verstehen sich Regio-
nen vielmehr als aktive Gestalter ihrer regionalen Wirtschaftsstruktur. Zweitens spezialisieren sich Re-
gionen, um Produktionsmittel und -abläufe zu steuern, Wettbewerbsvorteile zu erhalten und im glo-
balen Wettbewerb konkurrenzfähiger zu werden. Drittens verändern Unternehmen ihre Organisation
auf der horizontalen Ebene. Es werden Netzwerke aufgebaut, projektförmige Arbeitsprozesse einge-
führt und Arbeitsschritte in teilautonome Abteilungen verlagert. Viertens wachsen verschiedene Ak-
teur*innen durch die drei schon erläuterten Auswirkungen in dem Sinne zusammen, dass sie mitei-
nander interagieren. Interaktionen nehmen quantitativ zu und werden qualitativ aufgewertet, da Tref-
fen mit Akteur*innen und der Austausch mit diesen als wichtiger Bestandteil unternehmerischer Lern-
prozesse gesehen werden. Räumliche Konzepte verweisen darauf, dass geographische Nähe im Sinne
von kurzen Distanzen zwischen Unternehmen und weiteren Akteur*innen vorteilhaft für den Wissen-
saustausch ist.
In den nachfolgenden drei Kapiteln steht die räumliche Organisation von Wissensdynamiken im Vor-
dergrund. Im ersten Kapitel werden drei Konzepte vorgestellt, die Wissensaustausch in räumlicher
Nähe von Unternehmen erklären und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit dieser und von Regionen
steigt. Das zweite Kapitel geht auf die sozialen Beziehungen ein und zielt darauf ab, dass bestimmte
sozial-psychologische Faktoren Vertrauen zwischen räumlich nahen Akteur*innen aufbauen und des-
halb Wissensaustausch wahrscheinlicher machen. Im letzten Kapitel wird die Frage geklärt, welche
sozialen Faktoren die Beziehungen zwischen Akteur*innen stärken und was für die richtige „Chemie“
bedeutsam ist.
3.2.1 Konzepte des Wissensaustauschs zwischen Unternehmen durch räumliche Nähe
In Vergleichsstudien verschiedener Regionen fanden Alfred Marshall durch sein Konzept von „Indust-
riellen Distrikten“ und Michael E. Porter durch sein Konzept von „Räumlichen Clustern“ heraus, dass
Regionen wettbewerbsfähiger sind, wenn sich Unternehmen der gleichen Wertschöpfungskette räum-
lich ballen (Marshall 1890, 1919; Porter 1990, 1998; s. auch Belussi/Caldari 2009). Hierbei spielen
räumliche Nähe zwischen Akteur*innen für einen gegenseitigen Wissensaustausch eine wichtige Rolle
(Boschma 2005). Durch die Ansiedlung von spezialisierten Unternehmen an einem Standort organisie-
ren sie untereinander die Arbeitsteilung. Sie profitieren von kurzen Distanzen, durch die schnelle und
spontane formelle oder informelle Treffen möglich sind und bauen so engere Beziehungen zueinander
auf. Das begünstigt neben Wissensaustausch und Netzwerkbildung auch den Wettbewerb. Der regio-
nale Wettbewerb ist wichtig für die Innovationskraft der Unternehmen (Glaeser et al. 1992). Wissen
und Erfahrungen lägen nach Marshall „in der Luft“ (Marshall 1890: 271). Porter definiert Cluster
zusammenfassend als „geographic concentrations of interconnected companies and institutions in a
18
particular field. Clusters encompass an array of linked industries and other entities important to com-
petition” (Porter 1998: 78). Porter betont im Gegensatz zu Marshall, dass nicht nur Unternehmen für
den Erfolg von Wissensaustausch und Wettbewerbsfähigkeit relevante Rollen einnehmen, sondern
auch komplementäre Akteur*innen. Anhand der Analyse des Kalifornischen Weinclusters benennt er
z. B. Fassbauer oder Restaurants, aber auch unterstützende Akteur*innen wie Forschungsinstitute,
Kreditgeber oder öffentliche Institutionen (Porter/Bond 1999). Hierdurch zeigt er, dass nicht nur die
reine Präsenz von Akteur*innen, sondern auch netzwerkartige Beziehungsstrukturen zwischen ihnen
wichtig für die Konzepte sind.
Durch eine zunehmende Spezialisierung von Unternehmen wächst die Nachfrage nach spezialisiertem
Wissen (Bathelt/Glückler 2018: 262). Diese kann durch Unternehmen bedient werden, die sich mit der
Zeit ansiedeln und mit nachfragenden Unternehmen kooperieren. Dies unterstützt gemeinsame Prob-
lemlösungskompetenzen und wiederum den Wissensaustausch. Hiervon profitiert nicht nur ein Unter-
nehmen, sondern der ganze Cluster, da andere Unternehmen auch auf diesen Pool an spezialisiertem
Wissen und Arbeitskräften zugreifen können. Transaktionskosten der Unternehmen sinken, da weni-
ger Zeit für die Suche nach entsprechendem Wissen investiert werden muss und man sich untereinan-
der besser kennt (Porter 1998: 81-83). Hiervon können besonders kleine und mittelgroße Unterneh-
men profitieren, da sie weniger Human- und Finanzkapital besitzen, um in Forschung und Entwicklung
zu investieren (Parrilli et al. 2010).
Im Gegensatz zu den zwei vorgestellten Konzepten betont Jane Jacobs, dass eine hohe Diversität unter
den Akteur*innen die Innovationskraft stärker befördert als ein sehr homogenes Umfeld (Jacobs
1970). Viele kleine und heterogene wirtschaftliche Akteur*innen besitzen nach Jacobs unterschiedli-
che Ansichten, Strategien und Ideen, die in einer Stadt zirkulieren. Treffen diese aufeinander, können
sie miteinander kombiniert werden und so etwas Neues schaffen. Glaeser et al. (1992) stützen in einer
Untersuchung US-amerikanischer Städte Jacobs Theorie, indem sie Wachstumsraten von fast 30 Jah-
ren vergleichen. Sie kommen zum Schluss, dass lokaler Wettbewerb und hohe Diversität mit hohen
Wachstumsraten einhergehen.
3.2.2 Buzz – Wissensaustausch durch Face-to-Face-Interaktionen
Dass im Allgemeinen räumliche Nähe Wissensaustausch unterstützt, erklären verschiedene Autor*in-
nen durch den besonderen Kommunikationskontext, der bei Face-to-Face-Kontakten (im Folgenden:
F2F) entsteht (Gertler 1995; Bathelt et al. 2004; Storper/Venables 2004). F2F enthält wichtige sozial-
psychologische Elemente, wodurch emotionale Nähe aufgebaut und Vertrauen geschaffen wird (Short
et al. 1976; Storper/Venables 2004). Gleichzeitig können Akteur*innen sich gegenseitig besser ein-
schätzen, da durch Sprache, Betonung, Mimik, Gestik und direkte physische Anwesenheit schlechtes
19
Verhalten sanktioniert und gutes Verhalten gelobt werden kann. In diesem Umfeld sei ein Wissensaus-
tausch wahrscheinlicher, wenn vorteilhafte Bedingungen herrschen. Der These, dass durch neue IKT
die Relevanz von Distanz und Nähe abnimmt und damit physische Treffen seltener werden (Cairncross
2001), wird nur bedingt zugestimmt. Stattdessen sei die Kommunikationsart abhängig davon, in wel-
chem wirtschaftlichen Bereich man sich befindet und welche Art von Wissen kommuniziert werden
soll (Storper/Venables 2004: 366ff.). Die Kodifizierung von explizitem Wissen durch IKT ist einfacher
und neue technische Möglichkeiten und die Globalisierung ermöglichen dessen ortsunabhängige Ver-
fügbarkeit. Das gleiche kann jedoch nicht über implizites Wissen gesagt werden, da es durch individu-
elle und kollektive Erfahrungen personengebunden ist. Dementsprechend schwer ist die Kommunika-
tion und Interpretation (Nonaka 1994). Je komplexer eine zu kommunizierende Technologie und je
impliziter das damit zusammenhängende Wissen, desto wichtiger werden räumliche Nähe und F2F-
Kontakte (Maskell/Malmberg 1999: 180; Lundvall 2016: 67f.). Bathelt et al. (2011) heben hervor, dass
dadurch Unsicherheiten zwischen Akteur*innen reduziert und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut
wird. Dies sei die Grundlage zur Kommunikation impliziten Wissens, für den Wissenstransfer und damit
kooperative Arbeitsorganisationen. Dementsprechend wichtig sind räumliche Ballungen.
Storper und Venables (2004) nennen den Kommunikationskontext, der durch Ko-Präsenz und F2F ge-
prägt ist und einen konstanten Informationsfluss bereitstellt „Buzz“. Dieser besteht aus verschiedenen
Kommunikationsgelegenheiten (spontane Treffen, geplante Treffen, regelmäßige Projektarbeit etc.)
und vermittelt verschiedene Informationsarten (Klatsch, Informationen, Wissen etc.) (Bathelt et al.
2004). Je kleiner die räumliche Distanz, desto mehr und einfacher können solche Kommunikationsge-
legenheiten stattfinden. Um am Buzz teilzunehmen und Informationen zu erhalten, genüge bereits die
reine Anwesenheit (Gertler 1995).
3.2.3 Sozialer Kontext und die Qualität von Beziehungen für Wissensaustausch
Buzz muss nicht automatisch förderlich für den Wissensaustausch sein. Bestimmte sozial-regulatori-
sche Aspekte beeinflussen den qualitativen Charakter von Interaktionen. Unter anderem schränken
fehlendes Vertrauen oder unerwünschtes Verhalten zwischen den Akteur*innen den Buzz ein (Bathelt
et al. 2004: 38). Für ein Umfeld, in dem sowohl quantitativ viele als auch qualitativ hochwertige Inter-
aktionen stattfinden, bedarf es erstens ein Netzwerk unterstützender Akteur*innen. Sie sind nicht di-
rekt am Produktionsprozess beteiligt, betten ihn aber in einen regulatorischen Rahmen ein. Amin und
Thrift (1994) führen den Begriff der „Institutional thickness“ ein, wodurch gegenseitiges Vertrauen und
kollektives Denken erklärt wird. Hierzu zählen nicht nur Firmen, sondern darüber hinaus Organisatio-
nen wie Kreditinstitute, Handelsorganisationen, Wirtschaftsförderungen, administrative Akteur*in-
nen, Forschungs- und Innovationszentren etc. (Amin/Thrift 1995: 102). Die „Dichte“ wird nicht rein
20
durch die Anwesenheit der Akteur*innen geschaffen, sondern im Sinne eines „interlocking and in-
tegrated web of supportive organizations and institutions“ (Keeble et al. 1999) durch ihre Beziehungs-
struktur, die die Akteur*innen unterstützt und sie in ein regionales Netz integriert. Beispiele hierfür
sind die Rolle der Wissensproduktion und -verteilung von Universitäten in einer Region (Keeble et al.
1999) oder das Zusammenspiel von Unternehmen, Forschungs- und Lobbyeinrichtungen (Maillat et al.
1995). Hierdurch ergeben sich die Möglichkeiten, dass sich Regionen z. B. von einer reinen Industrie-
zu einer Technologieregion weiterentwickeln (ebd.).
Zweitens ist eine sozial-regulatorische Komponente wichtig. Nach North beschreiben „Institutionen”
„the rules of the game in a society; [...] the humanly devised constraints that shape human action“
(North 1990: 477). Ihre Notwendigkeit rührt daher, dass Kooperationen erschwert werden, wenn In-
formationsdefizite oder -asymmetrien vorherrschen, z. B. wenn das Handeln der Kooperations-
partner*innen kaum bekannt ist oder viele potenzielle Kooperationspartner*innen vorhanden sind
(North 1991: 97). Institutionen bieten hierfür einen kognitiven Rahmen, an dem Akteur*innen ihr Han-
deln orientieren. Neben formalen Regeln (Gesetze, Eigentumsrechte etc.) gibt es noch informelle
„Zwänge“ (Tabus, Traditionen, Gewohnheiten etc.) (ebd.). Erstere werde auch „formelle“ und zweitere
„informelle Institutionen“ beschrieben (Amin 1999: 367; Helmke/Levitsky 2004: 727). Während for-
melle Institutionen Regeln und Rahmenbedingungen sind, die von organisationalen oder „offiziellen“
Akteur*innen kreiert, kommuniziert und sanktioniert werden, sind informelle Institutionen soziale Re-
geln, die meist nicht über offizielle Wege kommuniziert werden und mit sozial-kulturellen Kontexten
zusammenhängen. Informelle Institutionen sind meist zeitlich gewachsene soziale Strukturen.
Die Ausgestaltung von formellen und informellen Institutionen ist territorial unterschiedlich. Maillat
(1998a, 1998b) bezeichnet das Beziehungs- und Austauschsystem von Akteur*innen einer regionalen
Ökonomie, das zudem beide Formen von Institutionen enthält, als „Milieu“. Das Milieu ist für Maillat
wichtig für das Fortbestehen von regionalen Ökonomien unter veränderten Rahmenbedingungen wie
Globalisierung und Strukturwandel (Maillat 1998a). Regional vernetzte Akteur*innen wirken, indem
sie gemeinsame wirtschaftliche Entwicklungen vorantreiben. Informelle Institutionen wie gemeinsam
geteilte Arbeitspraktiken, Solidarität oder gegenseitiges Vertrauen beeinflussen die „Chemie“ unterei-
nander. Das Milieu wächst zusammen, wenn z. B. Personen an gemeinsamen Projekten arbeiten, sich
schon lange kennen oder ähnliche Karrierebiographien besitzen (Maillat et al. 1995: 259).
Gerade aufgrund der Globalisierung ist es aber wichtig, dass das Milieu in der Lage ist, flexibel auf sich
verändernde Marktprozesse zu reagieren und globales Wissen regional einfließen zu lassen. Neue Kon-
kurrenzen erhöhen den Druck, technologischen Wandel und Wissensaufnahme durch überregionale
und globale Kooperationsstrukturen voranzutreiben. Institutionen und „Institutional thickness“ wirken
jedoch nicht automatisch wachstumsfördernd in einer Region, sondern können auch das Gegenteil
21
bewirken (Rodríguez-Pose 2013). Zu starke oder asymmetrische Macht- und Beziehungsstrukturen o-
der „blindes Vertrauen“ in technologische Pfade können den Blick auf neue Entwicklungen verengen
und verkrustete Strukturen – sogenannte Lock-Ins – befördern (Unruh 2000). Anlehnend dazu wird im
Hinblick auf Wissensdynamiken am Beispiel des Clusterkonzepts kritisiert, dass zu stark auf interne
Prozesse des Clusters eingegangen und externen wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden. Martin
und Sunley (2003) weisen aus diesem Grund auf die Gefahren von Lock-Ins hin, da sie die Gefahr eines
schnellen wirtschaftlichen Niedergangs in Clustern befördern. Das Beispiel der Stahlindustrie des Ruhr-
gebiets zeigt, dass zu starke Beziehungsstrukturen zwischen Firmen und zur Politik negativen Einfluss
auf das Innovationsgeschehen hatten (Grabher 1993). So wurden im Sinne von Boundary-spanning
nicht mehr genügend Informationen über den gesamten Markt aufgenommen (functional lock-in). Ak-
teur*innen hatten gleiche Ansichten und schätzten somit Situationen und Strategien gleich ein (cogni-
tive lock-in), während politische Vertreter*innen aufgrund der engen Verflechtungen zur Wirtschaft in
kritischen Situationen nicht genügend Druck ausübten (political lock-in).
Entsprechend wichtig ist die Kombination aus starken und schwachen Beziehungen (Uzzi 1996). Uzzi
findet heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Vertrag zwischen Akteur*innen eines Netzwerks ab-
zuschließen, sinkt, wenn die Beziehungsstrukturen entweder sehr schwach (under-embedded) oder
sehr stark (over-embedded) sind. Ein Mix aus beiden Formen sei wichtig, da sie unterschiedliche Auf-
gaben einnehmen. Sogenannte Embedded ties haben Uzzi zufolge die Aufgabe, Beziehungen zu koor-
dinieren, während Arm‘s-length ties Informationen über den Markt bereitstellen, um einen Lock-In zu
verhindern (ebd.: 684). Für diese Aufgabe definiert Maillat (1998a, 1998b) sogenannte „innovative Mi-
lieus“. Innovativ sei ein Milieu dann, wenn es fähig ist, Lock-Ins dadurch zu verhindern, dass Marktver-
änderungen aufgenommen, Lernprozesse angestoßen und dadurch regionale Produktionsorganisatio-
nen technologisch weiterentwickelt werden können.
Das Wissen von außerhalb des Clusters fließt sinnbildlich über „Pipelines“ in die Region (Owen-
Smith/Powell 2004). Sie müssen erst aufgebaut werden, was Zeit und Kosten verursacht, weswegen
sie einen zielgerichteten Charakter haben. Im Gegensatz dazu fließen Informationen im regional ver-
ankerten Buzz über informelle Treffen, sind spontaner und unstrukturierter: Buzz erfolgt „automa-
tisch“ (Bathelt et al. 2004: 40).
Die Erkenntnisse der vorherigen Abschnitte lassen sich anhand von Abbildung 5 verdeutlichen. Die
räumliche Nähe von Akteur*innen einer Region begünstigt deren Wissensaustausch, wobei Wissen
verschiedene Ausprägungen haben kann. Dies führt zu Lernprozessen und erhöht dadurch die regio-
nale Innovationskraft. Durch die kurzen Distanzen sind schnelle formelle und informelle Treffen mög-
lich, sodass sich Akteur*innen besser kennenlernen. Informationen und insbesondere implizites Wis-
sen fließen durch den Buzz besser zwischen den Akteur*innen. Hierbei spielt der sozial-psychologische
22
Kommunikationskontext von F2F eine wichtige Rolle. Formelle und informelle Institutionen unterstüt-
zen Kooperationen, schaffen gegenseitiges Vertrauen und sorgen dafür, dass „die Chemie stimmt“.
Das Modell zeigt, dass geteilte Werte etc. auch überregionale Akteur*innen betreffen können. Sind
diese zu stark, erhöhen sie jedoch das Risiko von Lock-Ins, weswegen Global pipelines unerlässlich sind.
Sie stehen außerhalb des Buzz, müssen erst aufwendig aufgebaut werden und bringen neues Wissen
in die Region hinein.
Abbildung 5: Modell der räumlichen Wissensdynamiken mit Buzz und Pipelines. Quelle: Bathelt et al. (2004): 46.
3.2.4 Temporäre räumliche Nähe für Wissensaustausch
Anknüpfend an die Notwendigkeit, über Global pipelines Wissen von außerhalb in den Cluster hinein-
fließen zu lassen, stellen Maskell et al. (2006) fest, dass dies auch über temporäre Interaktionsmuster
geschehen kann. Die Kapitel zuvor beschäftigten sich stets mit Formen permanenter Interaktionsmus-
ter. Im Hinblick auf die gestiegene Mobilität von Menschen, Gütern und Informationen und der Durch-
dringung von IKT drängte sich die Frage auf, inwiefern räumliche Nähe im Sinne permanenter Ko-Prä-
senz von Personen als Analyserahmen für Wissensaustausch Geltung findet (Torre/Rallett 2005). Auf-
grund dessen gibt es Situationen, in denen Wissensaustausch in räumlicher Nähe in einem zeitlich be-
fristeten Rahmen stattfindet (ebd.: 53-55). Maskell et al. (2006) kommen zum Ergebnis, dass räumliche
Organisationen von Wissensdynamiken mit dem jeweiligen Fokus der Wissensaneignung und dem zeit-
lichen Rahmen zusammenhängt (ebd.: 1002-1005). Hierbei wird zwischen unternehmensübergreifen-
den Projekten (Torre 2011) und Messen bzw. Konferenzen (Bathelt/Schuldt 2008; Bathelt/Henn 2015)
23
unterschieden. Erstere sind zielgerichteter, während der Wissensaustausch bei zweiteren eher unko-
ordiniert und spontan stattfinden kann. Growe (2019) unterscheidet zwei Formen von temporärer
räumlicher Nähe in den Aktivitäten von KIBS und zeigt dabei, dass die Formen von temporärer räumli-
cher Nähe und der stattfindenden Interaktionen mit den Eigenarten der jeweiligen physischen Treff-
punkte und der beabsichtigten Ziele der Treffen zusammenhängen. „Move and Manage“ lehnt sich an
den zielgerichteten Charakter von Projekten an, bei dem bestimmte Akteur*innen temporär zusam-
mentreffen, um sich auszutauschen (s. Tabelle 2). Sie unterscheidet drei Typen (ebd.: 440-443):
Tabelle 2: Typen temporärer Nähe bei geplanten Austauschprozessen („Move and Manage“). Quelle: Growe (2019): 440-
445. Eigene Darstellung.
Typen
Beschreibung
„Temporary spatial proximity
in company workplaces“
Sie stellen alltägliche Treffen im Arbeitsalltag an Arbeitsorten
dar. Es werden Teamkolleg*innen, Projektpartner*innen oder
Kund*innen für arbeitsbezogene Absprachen und zum Aus-
tausch getroffen.
„Temporary spatial proximity
in transit spaces”
Hierzu zählen Treffen außerhalb des Arbeitsortes. Als Orte gelten
Flughäfen, Messehallen oder Konferenzcenter. Sie werden als
funktional beschrieben, die jedoch keine Atmosphäre für längere
Aufenthalten bieten.
„Temporary spatial proximity
at retreat places”
Kreativität und Inspiration kann durch den temporären Wechsel
von Arbeitsorten stattfinden. Bekannte Arbeitsumgebungen und
Routinen werden dabei durchbrochen. Gleichzeitig stärkt es die
Identifikation mit dem Team und/oder Projekt.
„Meet and Mingle“ hingegen beschreibt das temporäre Zusammentreffen von Personen an einem Ort,
bei dem Wissen nicht zielgerichtet ausgetauscht werden kann (ebd.: 436-437). Es ähnelt den Eigen-
schaften von „temporären Clustern“, wie bei Messen (Bathelt/Schuldt 2008). Die Anzahl an Teilneh-
menden ist meist größer und weniger bekannt als bei „Move and Manage“. Neue Kontakte können so
geknüpft werden und spontane Interaktionen stattfinden. Auch hier sieht sie den Vorteil, von arbeits-
bezogenen Routinen abzuweichen und neue Orte mit anderen Atmosphären kennenzulernen (Growe
2019: 437). Raumgestalterische Elemente und Anordnungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Wie z.
B. Flögel und Zademach (2017) herausfanden, beeinflusst die Anordnung von Büros und deren Erreich-
barkeit bei Bankfilialen die Kommunikation, was ein wichtiger Hintergedanke für den Wissensaus-
tausch ist. Eine inspirierende Gestaltung von Räumen unterstützt auf verschiedenen Ebenen Kreativi-
tätsprozesse (Wagner/Growe 2020). Eine offene Raumgestaltung fördert so eine Atmosphäre des
Wohlfühlens, wodurch soziale Interaktionen wahrscheinlicher werden.
24
3.3 Coworking-Spaces und Wissensdynamiken
Die Erkenntnisse aus der Literatur zu räumlichen Wissensdynamiken werden nun auf CWS als analyti-
sche Einheit dieser Arbeit angewendet. Um Wissensdynamiken innerhalb von CWS sowie zwischen
CWS und deren Umwelt zu verstehen, werden an dieser Stelle die theoretischen Ansätze des „Micro-
clusters“ und des „Middleground“ vorgestellt. Die hierbei angewendete mikroanalytische Ebene fo-
kussiert sehr viel stärker auf Netzwerke, Gruppen und Individuen und wie diese miteinander interagie-
ren (Crevoisier/Jeannerat 2009). Wissensgenerierung und -austausch finden aufgrund der stärkeren
Mobilität von Personen und Wissen an diversen Orten statt. Nähe zwischen Personen als analytisches
Werkzeug bleibt weiterhin zentral, wird aber gerade auf der kleinräumlichen Ebene von CWS differen-
ziert. Insbesondere die Relevanz sozialer Dynamiken wird betont (Rutten 2017).
Gleichzeitig verändert sich durch die Mikroperspektive der Blick auf Innovationen und organisations-
übergreifende Zusammenarbeiten. Hierdurch soll der steigenden Komplexität von Innovationen Rech-
nung getragen werden. Sie beschreibt nicht nur das Aufbrechen regional verankerter Wissensdynami-
ken zugunsten von mehr globalen, sondern ist in der Hinsicht komplexer, da neue Akteur*innen, Netz-
werke und Kanäle integriert und etabliert werden (Grillitsch/Trippl 2014). Die klassische Sichtweise
von Innovationsgenerierung durch die Zusammenarbeit von Unternehmen und nicht-wirtschaftlichen
Organisationen ist zwar maßgeblich. Im Sinne eines offenen Verständnisses von innovationsfördern-
den Konstellationen (Chesbrough 2003) entstanden aber eine Vielzahl von neuen Innovationsmodellen
(Warnke et al. 2016). Damit verbunden ist eine Abkehr des Paradigmas von regionaler Wissensakku-
mulation zugunsten einer flexiblen Kombination verschiedener Wissensformen und -quellen, welche
die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteur*innen erfordert (Asheim 2007; Crevoisier/Jeannerat
2009; Strambach/Klement 2012).
Die nachfolgenden Abschnitte erklären zwei theoretische Ansätze. Der erste erläutert die Gemeinsam-
keiten und Unterschiede zwischen dem klassischen Cluster-Konzept und CWS. Wissensdynamiken in-
und außerhalb von CWS sind durch verschiedene Formen von Nähe und einer breiten Öffnung des
Wissensaustauschs geprägt. Der zweite Abschnitt geht näher auf das breiter gefasste Verständnis of-
fener Innovationsprozesse ein. Durch ein dreiteiliges Ebenensystem wird erklärt, wie durch intermedi-
äre Instanzen wissenssuchende und wissensgebende Akteur*innen zusammengebracht werden. Dies
ist für die Kombination von unterschiedlichem Wissen wichtig und rückt neue Akteur*innen ins Zent-
rum der Betrachtung.
3.3.1 Coworking-Spaces als Microcluster
Das Konzept des Microclusters erklärt Wissensaustausch durch Beziehungsstrukturen innerhalb und
außerhalb des CWS und die Kombination von Formen von Nähe zwischen Akteur*innen (Capdevila
2013). Es lehnt sich zwar an die Konzepte klassischer industrieller Cluster an (s. Kapitel 3.2.1), kritisiert
25
jedoch, dass die wissenschaftliche Analyse von lokalisierten Produktionssystemen überwiegend auf
einer Makro-, Meso- und Organisations-Ebene stattfindet (ebd.). Deswegen nimmt das Konzept der
Microcluster eine mikrogeographische Perspektive ein, die sinnvoll sei, weil Wissen „intrinsically an
individually centred phenomenon“ ist (Howells/Roberts 2000: 20). Wissensaustauschprozesse sind
über Netzwerke organisiert, die von Individuen getragen werden. Es stehen heterogene Kleinstunter-
nehmen und Einzelpersonen statt größere Unternehmen im Fokus der Betrachtung. Dennoch können
CWS Eintrittsbedingungen stellen und sie z. B. an der Branche festmachen, in der sich ein Unterneh-
men bewegt. Somit spezialisieren sich CWS und Coworker*innen haben untereinander mehr Anknüp-
fungspunkte, um sich auszutauschen. Ähnlich wie Porter es für industrielle Cluster beschreibt besteht
somit eine Nachfrage nach spezialisiertem Wissen, was Subunternehmen aus komplementären Bran-
chen anlockt (Capdevila 2013: 8).
Die Analyse der Cluster-Charakteristika erfolgt hingegen auf einer kleinteiligeren Ebene. Dadurch wer-
den nicht nur Hintergründe und Netzwerke der Akteur*innen relevant, sondern auch raumgestalteri-
sche Elemente der Büros. Die offenen und informellen innenarchitektonischen Gestaltungen von CWS
unterstützen Prozesse von Kreativität und Inspiration, indem sie soziale Interaktionen anregen (Wa-
ters-Lynch et al. 2016: 10-11). Es ist aber zugleich wichtig, dass Teilräume je nach Grad der gewünsch-
ten Interaktion bestehen, wie z. B. Kaffeeküchen für informelle Gespräche, Telefonräume für private
Gespräche etc. Zuletzt ist das Vorhandensein von kreativitätsfördernden Materialien ein unterstützen-
der Faktor, um eigene Arbeitsroutinen zu durchbrechen (Wagner/Growe 2020). Für den Wissensaus-
tausch im CWS ist diese mikrogeographische Perspektive relevant, da sie sowohl professionelles Ar-
beiten als auch vielfältige soziale Interaktionen anbieten möchten.
Räumliche Nähe von Akteur*innen ist wiederum ein wichtiges Kriterium. Diese wird im Gegensatz zu
industriellen Clustern innerhalb eines CWS deutlicher, da sich Akteur*innen durch Ko-Präsenz im CWS
in einem unmittelbaren Umfeld aufhalten. Dadurch erhöht sich die Chance eines „glücklichen Zusam-
mentreffens“ (Olma 2012; Moriset 2013). Coworker*innen haben die Chance, dass spontane Treffen
im CWS stattfinden, sie ins Gespräch kommen und sich austauschen (Capdevila 2013). Räumliche Nähe
allein führt aber nicht automatisch zu Interaktionen, da soziale Aspekte wichtige Rollen spielen (Rutten
2017; Wagner/Growe 2020). Räumliche Nähe muss durch weitere Aspekte ergänzt werden, damit Wis-
sensaustausch im CWS stärker angeregt wird (Liimatainen 2015). Parrino fand in einer empirischen
Studie heraus, dass ein gewisser Grad an Organisation notwendig ist, damit Interaktionen stattfinden
(Parrino 2015). In einem Vergleich von zwei CWS bietet der eine lediglich gemeinsam genutzte Büro-
fläche ohne zusätzliche Aktivitäten. Der zweite besitzt darüber hinaus u. a. Events zum Netzwerken,
wöchentliche Newsletter oder gemeinsam genutzte Online-Plattformen. Nur in letzterem finden Inter-
aktionen statt. Der Vergleich verschiedener Formen von Nähe nach Boschma (2005) zeigt, dass insbe-
26
sondere kognitive und organisationale Nähe bedeutsam sind. Ähnliche Branchenhintergründe, Karrie-
repfade und Modi zum Vernetzen und Austauschen fördern Interaktionen zwischen Coworker*innen
(Le Nadant et al. 2018).
Zusammenfassend zeigt sich, dass auch in CWS erst das Zusammenspiel von verschiedenen Formen
von Nähe zu Wissensaustausch führt (s. Abbildung 6). Kognitive Nähe vereinfacht die Kommunikation
zwischen Personen und besteht im Kontext des Coworkings aus ähnlichen Ansichten und einem ähnli-
chen Branchenwissen, sodass Anknüpfungspunkte für einen Austausch gefunden werden (Capdevila
2013; Le Nadant et al. 2018). Diese Aspekte definieren die gemeinsame „Sprache“, was bedeutet, dass
Coworker*innen gemeinsame Definitionen haben, wenn sie über etwas sprechen. Kognitive Nähe
steigt durch einen unterstützenden Buzz (s. Kapitel 3.2.2), förderliche informelle Institutionen (s. Ka-
pitel 3.2.3) und gemeinsame Handlungslogiken. Diese steigern den Aufbau gegenseitigen Vertrauens.
Organisationale Nähe aktiviert von außen die Interaktion zwischen Personen. In CWS sind gemeinsam
genutzte Tools, Events und Host-Aktivitäten hierfür wichtig (Cabral/van Winden 2016; Merkel 2015;
Parrino 2015).
Abbildung 6: Zusammenwirken verschiedener Formen von Nähe zur Unterstützung des Wissensaustauschs innerhalb des
Coworking-Spaces. Eigene Darstellung.
Capdevila (2017) verweist auf die Vielschichtigkeit von Wissensdynamiken bei der Untersuchung von
Communities, die u. a. in CWS organisiert sind. Seine Analyse zeigt, dass CWS in ein ausgeprägtes Netz-
werk von Wissensflüssen integriert sind, bei denen unterschiedliche geographische, gruppenspezifi-
sche und zeitliche Merkmale eine Rolle spielen. Insbesondere verdeutlicht der Autor die Relevanz von
Interaktionen, die Grenzen von CWS oder Communities überwinden. Wissen fließt räumlich zwischen
thematisch spezialisierten Communities, die u. a. in CWS verortet sind, und weiteren Akteur*innen (s.
Abbildung 7). Er bestätigt noch einmal die kritische Rolle von kognitiver Nähe für den Wissensaus-
tausch, da verschiedene Formen von Buzz nur zwischen Communities auftreten, was auf thematische
27
Überschneidungen und regelmäßigen Kontakt hindeutet. Zu anderen Akteur*innen bestehen Pipe-
lines, die aufwändiger im Aufbau sind und weniger Interaktionen zulassen, aber externes Wissen in-
tegrieren.
Abbildung 7: Räumliche Darstellung lokaler und globale Beziehungen zum Austausch von Wissen zwischen Community-Insi-
dern und -Outsidern. Quelle: Capdevila (2017): 66.
Die kleinteiligere Betrachtung ermöglicht die Analyse der Rolle von einzelnen Orten, wie CWS, für Wis-
sensaustausch. Es stellt sich die Frage, wie Beziehungen zu Akteur*innen hergestellt werden, die nicht
dem CWS angehören und daher nicht von diesen Aspekten betroffen sind. Wie können sie von dem
Wissen aus dem CWS profitieren? Welche Akteur*innen sind relevant, um Wissen in Wert zu setzen?
Im Sinne von räumlich nahen, aber organisatorisch fernen Beziehungen bietet das Konzept des Midd-
legrounds eine Sichtweise zur Beantwortung dieser Frage.
3.3.2 Coworking-Spaces als Middleground?
Arbeiten über verschiedene Branchen der KuK versuchen die räumliche Dynamik von kreativen Pro-
zessen innerhalb einer Stadt zu erklären (Cohendet/Simon 2007; Cohendet et al. 2010; Grandaham et
al. 2013; Lange/Schüßler 2018). Die KuK besitzt einen hohen Anteil an symbolischem Wissen, das im-
pliziter Natur ist und stark vom informellen lokalen Kontext abhängt (Cohendet et al. 2010: 93). Die
Zirkulation dieses Wissens kann durch die „Anatomie der kreativen Stadt“ erklärt werden, die aus drei
miteinander interagierenden analytischen Ebenen besteht, durch die lokales Wissen in der Stadt zwi-
schen Individuen, Communities und Organisationen verteilt wird (ebd.).
28
Die Ausgangsfrage ist, wie kreative Ideen von Individuen genutzt oder vermarktet werden können.
Hierfür sei es notwendig, dass deren Potenzial von Akteur*innen erkannt wird, die die Vermarktung
durchführen. Diese Akteur*innen werden dem sogenannten „Upperground“ zugeordnet. Dort finden
sich formale Organisationen wie Unternehmen, Hochschulen, öffentliche Akteur*innen oder Kultur-
einrichtungen. Sie haben die Möglichkeiten der Projektfinanzierung, der Zusammenführung verschie-
denen Wissens und des Testens neuer Formen der Kreativität auf dem Markt (ebd.: 95). Akteur*innen
des Uppergrounds haben ein Interesse daran, neues Wissen zu nutzen oder zu integrieren, das sie u.
a. im „Underground“ finden. Dieser fasst die „kreativen, künstlerischen und kulturellen Aktivitäten [zu-
sammen], die außerhalb jeglicher formalen Organisation oder Institution stattfindet“ (übersetzt nach
Cohendet et al.: 96). Kreative Individuen bilden zukünftige Trends durch ihre Ansichten und der Art
ihres Lebens ab. Dementsprechend interessant ist das dort liegende Wissen. Akteur*innen des Upper-
grounds gehen in ihrem Suchprozess nach neuen Ideen flexibel vor und suchen kreative Individuen
und Communities, die in Innovationsprozesse eingebunden werden.
Beide Ebenen stehen in einer Beziehung gegenseitiger Interessen, die durch eine Erkundungs- und
Verwertungslogik bestimmt ist. Akteur*innen des Uppergrounds möchten das kreative Potenzial und
Wissen des Undergrounds erkunden und für Innovationsprozesse nutzen. Jene des Undergrounds hin-
gegen möchten es in Wert setzen und vermarkten.
Den Autor*innen zufolge sind der Underground und seine Mitglieder schwer zu identifizieren, da deren
Kultur bestimmten informellen Normen folgt, die außerhalb einer unternehmerischen Logik liegen und
somit für Außenstehende „unsichtbar“ sind. Aus diesem Grund wird der „Middleground“ eingeführt,
der als intermediäre Ebene hilft, eine Beziehung zwischen Upper- und Underground zu realisieren.
Hierzu kommen ihm zwei wichtige Aufgaben zu. Zum einen bündelt und strukturiert er das kreative
Wissen und Potenzial des Undergrounds. Da dieser überwiegend aus Individuen besteht, wird ange-
nommen, dass deren Wissen breit gestreut und schlecht vernetzt isz. Der Middleground bietet hierfür
einen kognitiven Raum an, damit sich Individuen mit gleichen Interessen oder Ansichten finden, aus-
tauschen und Interessensgruppen, sogenannte „Communities of specialists“, bilden können (Cohen-
det/Simon 2007). Zum anderen übernimmt er eine Übersetzungsfunktion zwischen der formellen und
informellen „Sprache“ der beiden anderen Ebenen, damit sich die Communities und Organisationen
auch kommunikativ identifizieren. Kurz gesprochen „kennt“ der Middleground die Strukturen und In-
teressen der anderen Ebenen. Die Strukturen der Ebenen verdeutlicht Abbildung 8.
Bisherige empirische Arbeiten analysierten anhand dieser Perspektive Wissensdynamiken in Kreativ-
branchen in Städten, wie bei den Fallbeispielen der Videospielbranche in Montreal (Cohendet et al.
2010; Grandadam et al. 2013) oder der Designbranche in Berlin (Lange/Schüßler 2018). Hierbei kam
dem Middleground eine entscheidende Rolle zu. Ein effektiver Middleground unterteilt sich in die vier
Teilelemente Place, Space, Project und Event (Grandadam et al. 2013: 1704-1705):
29
Place beschreibt Orte des physischen Treffens, in denen Akteur*innen die Möglichkeit besitzen, in F2F-
Interaktionen zu treten und sich auszutauschen. Diese können sowohl private als auch öffentliche Orte
sein, wie Cafés, Restaurants, umgewidmete Lagerhäuser, Kunstgalerien oder Arbeitsplätze. Sie sollen
das „Work and Play“ anregen (Lange/Schüßler 2018) und so professionelle und kreativitätsfördernde
Umgebungen anbieten.
Space bietet den kognitiven Rahmen, der überwiegend für den Wissensaustausch in räumlicher Nähe
verantwortlich ist und Vertrauen zwischen den Akteur*innen schafft. Er ermöglicht erst die effektive
Nutzung von Place. Ein gewisser Grad an Organisation unterstützt dabei den Aufbau von Kommunika-
tion und kognitiver Nähe. Es können dabei Initiativen und Formate im Fokus stehen, durch die sich
Personen auf niedrigschwellige Art kennenlernen und miteinander sprechen. Das können gemeinsame
Aktivitäten sein oder Initiativen, die ein kollektives Gefühl erzeugen.
Project dient der zielgerichteten Zusammenarbeit zwischen Akteur*innen. Sie ist zwar in der Regel nur
temporär, bietet aber in diesem Zeitraum eine dauerhafte und intensive Kommunikation. Dabei kann
Wissen ausgetauscht oder kombiniert werden. Beispiele können gemeinsame Ausstellungen von
Künstler*innen sein, auf die gemeinsam hingearbeitet wird, oder wenn neue Programme program-
miert werden.
Event fasst Formate temporärer räumlicher Nähe zusammen, bei denen Individuen und Communities
sich treffen und miteinander interagieren. Beispiele hierfür sind Informationsveranstaltungen oder
Messen, bei denen die Möglichkeit besteht, sich und seine Arbeit einem großen Publikum zu präsen-
tieren. Oft zeigen sie Ergebnisse von Projekten, wie Messen, Vernissagen oder Hackathons.
Places und Spaces sind die geographischen, organisatorischen und kognitiven Räume, die eine dauer-
hafte F2F-Interaktion und damit dauerhaften Wissensaustausch ermöglichen. Projects und Events ak-
tivieren diese durch die Öffnung nach Außen und die temporäre Integration von Wissen. Als Middle-
ground werden in der Literatur häufig Instanzen genannt, die Brancheninteressen vertreten, Netz-
werke steuern und Aktivitäten organisieren. Hierzu zählen z. B. Vereinigungen und Interessensgruppen
oder große länger stattfindende Festivals.
30
Abbildung 8: Die Anatomie der kreativen Stadt und das Zusammenspiel von Upper-, Middle- und Underground für Wis-
sensdynamiken von Kreativbranchen. Quelle: Cohendet et al. 2010: 100.
Dieses Ebenenmodell bietet durch die Kombination aus physischen mit sozial-kognitiven Räumen und
der Integration von aktivierenden Elementen, einen Analyserahmen, wodurch interdisziplinäre Ak-
teur*innen in Kontakt miteinander kommen können und Kooperationen gefördert werden. Einige
Punkte sprechen dafür, dass CWS ebenfalls mindestens in Teilen diese Rolle übernehmen können. Ja-
net Merkel schreibt ihnen diese explizit zu, wodurch sie besonders in der Start-Up-Szene wichtige Ko-
ordinierungsfunktionen erfüllen und als „pre-incubators“ dienen (Merkel 2015: 133). Sie bieten ver-
schiedene Räume für Formen von Begegnungen an und fördern dadurch regelmäßige Kommunikation,
insbesondere, wenn CWS spezialisierte Gruppen ansprechen, die durch kognitive Nähe geprägt sind
(Capdevila 2015; Le Nadant/Marinos 2020). Die Öffnung von CWS für temporäre Begegnungen von
Personen spielt dabei ebenfalls eine Rolle und verdeutlicht die Relevanz von verschiedenen Kommu-
nikationskanälen über die CWS hinaus (Capdevila 2017). Schmidt et al. (2014) untersuchten, inwiefern
sich temporäre räumliche Konstellationen in kreativfördernden Orten auf Innovationen auswirken.
Temporäre räumliche Nähe z. B. in CWS entsteht durch dauerhafte Personenfluktuationen und durch
die Offenheit des Arbeitsortes für Externe (ebd.: 239) Gleichzeitig bieten CWS diverse Formate an, bei
denen es zu einer Verschneidung von Wissen aufgrund des kurzweiligen Treffens von Personen kommt
(Kuebart/Ibert 2020). Hierzu gehören Events, Coaching-Programme, Matching-Formate etc. Zuletzt
31
entstehen zielgerichtete Projekte innerhalb des CWS mit anderen Coworker*innen und außerhalb mit
externen Firmen (Capdevila 2015).
4 Herleitung der Fragestellung
Die Ökonomie der Netzwerkgesellschaft ist zunehmend geprägt durch organisationsübergreifende Ko-
operationen, wodurch Innovationen durch temporäre und projektbasierte Kooperationen befördert
werden. Das Zustandekommen neuer Kooperationen zwischen unterschiedlichen Akteur*innen bedarf
der Betrachtung von Matchmaking-Prozessen aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Begriff des
Matchmakings in der vorliegenden Masterarbeit orientiert sich an Faktoren, die Lange et al. (2016) für
„branchenübergreifende Kooperationsprozesse“ bedeutsam halten (ebd.: VIII-IX). Sie sehen im Zusam-
menspiel aus physischen Treffpunkten zum Austausch, Boundary-spannern zum Vermitteln von Ak-
teur*innen und kreativitätsfördernden Formaten einen großen Mehrwert für das erfolgreiche
Matchmaking. Diese Betrachtungsweise trägt der Tatsache Rechnung, dass Wissensaustausch durch
räumliche, soziale und temporale Faktoren beeinflusst wird. Es integriert zudem Aspekte der Arbeits-
organisation der Netzwerk- und Informationsgesellschaft und hochgradig flexibel Arbeitenden.
Matchmaking ist daher ein komplexer Vorgang, insbesondere im Falle von disziplinären und organisa-
tionalen Grenzen. Für die Überwindung dieser Grenzen sind daher bestimmte Öffnungsprozesse nötig.
Die Rolle von CWS für das Matchmaking ist bisher noch nicht ausreichend untersucht worden. Eine
weitere Untersuchung dieser Thematik ist aus drei Gründen relevant und von Interesse:
1. Flexible und organisationsübergreifende Kooperationen mit neuen Akteur*innen sind zuneh-
mend als Organisationsform von Arbeit sichtbar (Benner 2006; Castells 1996; Halford 2005).
CWS sind Orte, die diese Formen von Arbeit ermöglichen und unterstützen (Spinuzzi 2012).
2. Lösungsansätze für wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragestellungen und Innovationen
sind zunehmend interdisziplinär und multilokal (Grillitsch/Trippl 2014; Warnke et al. 2016). In
CWS finden sich Coworker*innen mit teils sehr unterschiedlichen Professionen. Die Kombina-
tion dieses Wissens innerhalb eines CWS und mit externen Akteur*innen bieten neue Mög-
lichkeiten.
3. CWS (und andere Open- und Shared-Space-Konzepte) sind im Trend (Deskmag 2019;
Schmidt/Brinks 2017). Ihnen wird eine stimulierende Wirkung für die Regionalentwicklung zu-
geschrieben und finden so Einzug in die Strukturförderung (Engstler et al. 2020; Krüger et al.
2017).
32
Zwar deuten erste Arbeiten darauf hin, dass CWS als Teil des Middlegrounds einen Beitrag zur Über-
windung der organisationalen Grenzen tragen (Capdevila 2015; Le Nadant/Marinos 2020). Jedoch wer-
den die genauen Mechanismen und ihr Zusammenwirken nicht oder nur unzureichend erforscht. Aus
diesem Grund beschäftigt sich diese Masterarbeit mit der folgenden Fragestellung:
Inwiefern unterstützen Coworking-Spaces organisationsübergreifenden Wissensaustausch
und Kooperationen?
An den Beispielen von CWS in den Städten Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg wird untersucht,
inwiefern sie ein Teil des städtischen und regionalen Middlegrounds sind. „Organisationsübergreifend“
meint in diesem Zusammenhang die Interaktion erstens zwischen heterogenen Coworker*innen, die
selbstständig sind oder bei verschiedenen Unternehmen angestellt und dadurch unterschiedlichen Or-
ganisationen angehören. Hierbei wird davon ausgegangen, dass durch unterschiedliche Hintergründe
der Personen unterschiedliches Wissen im CWS vertreten und somit eine gewisse Wissensdiversität
vorhanden ist. Zweitens meint es die Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Teilebenen der kre-
ativen Stadt, wodurch CWS eine Rolle als intermediäre Instanz einnehmen können. Eine organisations-
übergreifende Rolle von CWS schafft somit die Möglichkeit, Grenzen des Wissensaustauschs zu über-
winden, wodurch diverse Wissensbestände aufeinandertreffen.
Die Arbeit orientiert sich an folgenden Frageblöcken:
1. Wie sind die Teilelemente Place, Space, Project und Events in CWS sichtbar? Welche Rollen
spielen sie und welche Beispiele gibt es hierfür? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander?
2. Welche Akteur*innen und Gruppen repräsentieren die einzelnen Ebenen? Welche Akteur*in-
nen spielen eine Rolle beim Aufbau von Middleground-Strukturen und wie sieht deren Enga-
gement aus?
3. Welche Rolle haben verschiedene Akteur*innen bei der Vernetzung und welche Rolle haben
CWS für sie?
Die vorliegende Masterarbeit leistet einen Beitrag dazu, neue Formen des Matchmakings von kreati-
ven Individuen und Organisationen dadurch zu erklären, dass CWS mit dem Konzept des Middleg-
rounds betrachtet werden. Diese Perspektive hilft, Interaktionen und Zusammenarbeit als offenen und
heterogenen Prozess zu betrachten, bei dem physisch-räumliche Aspekte mit verschiedenen sozialen
und zeitlichen Interaktionsmustern verstanden werden. CWS werden als Orte angesehen, in denen
diese Aspekte der Arbeitsorganisation zusammenkommen. Diese reihen sich ein in die übergeordnete
Debatte um die Informations- und Netzwerkgesellschaft, in die Ausdifferenzierung von Arbeits- und
Wissensorten und in die Öffnung von Wissensdynamiken. Gleichzeitig wirft die Masterarbeit die Frage
33
auf, an welchen Orten räumliche Wissensdynamiken, wie zuvor im theoretischen Hintergrund be-
schrieben, auftreten.
5 Empirie
5.1 Untersuchungsraum
Die Untersuchung fand in den drei Großstädten Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg in der Met-
ropolregion Rhein-Neckar statt. Coworking entstammt einem urbanen Milieu und CWS finden sich in
überwiegender Mehrzahl in Metropolen und großen Städten, insbesondere in solchen, die als „kreativ“
gelten (Moriset 2013: 10-16). Zugleich konzentrieren sich wissensintensive Wirtschaftsprozesse in
Städten (Growe 2012). Aus diesem Grund und um dem zeitlichen Rahmen der Masterarbeit gerecht zu
werden, erfolgte die Auswahl nur in den Großstädten der Region. Die Rhein-Neckar-Region ist davon
geprägt, dass sie eine Vielzahl an erfolgreiche Unternehmen, 22 Hochschulen und diverse Kulturein-
richtungen bzw. kulturfördernde Institutionen beheimatet (Metropolregion Rhein Neckar o. J.). Viele
haben ihren Sitz in einer der drei ausgewählten Städte. Die Region besitzt einen relativ hohen Anteil
an Wirtschaftsbranchen, für die Coworking interessant sein kann. Hierunter fallen zum einen wissens-
intensive Unternehmens-Dienstleistungen (KIBS), die im Bereich des technologisch-orientierten und
des Wissenssektors stark ausgeprägt sind (Growe 2016: 209; Stahlecker 2014: 6
2
). Zum anderen ist die
KuK überdurchschnittlich präsent. Der Datenreport 2012 zur KuK in Baden-Württemberg zeigt, dass
zumindest im baden-württembergischem Teil der Rhein-Neckar-Region 17% der landesweiten Be-
schäftigten der KuK leben und die KuK 5,36% der regionalen Gesamtwirtschaft ausmachen, was lan-
desweit überdurchschnittlich ist (Söndermann 2012: 76). Besonders stark vertreten sind die Teilmärkte
Buch-, Kunst- und der Software-/Games-Markt. Letzterer wird u. a. durch das Software-Unternehmen
SAP in Walldorf geprägt. Die KuK erhält gleichzeitig lokal Aufschwung, da Mannheim UNESCO City of
Music und Heidelberg UNESCO City of Literature ist. Eine aktuellere und feingliedrigere Analyse der
Branche, insbesondere der Beschäftigtenzahlen, war nicht möglich, da die KuK keine statistische Ein-
heit bildet. Sie ist eine Aufsummierung von 71 Wirtschaftszweigen aller Teilbranchen, die vier- bis fünf-
stellige Wirtschaftszweig-Codes enthalten und somit sehr feingliedrig ist (Söndermann 2016: 27-29).
Diese Daten sind nicht öffentlich für die jeweiligen Regionen erhältlich. Aufgrund des Preises für den
Erhalt der Daten wurde sich gegen einen Datenkauf entschieden und mit bestehenden Studien gear-
beitet.
2
Die Daten beziehen sich auf das gesamte Regierungspräsidium Karlsruhe und beinhalten daher Regionen, die
nicht Teil der Untersuchung in dieser Arbeit waren.
34
Besonders in Mannheim und Heidelberg ist das Thema KuK institutionell verankert. So sitzen in Hei-
delberg mit der „Stabsstelle Kultur- und Kreativwirtschaft“ und in Mannheim „Next Mannheim“ expli-
zit für die KuK arbeitende städtische Akteur*innen, haben eigene Förderprogramme, Veranstaltungen
und betreiben eigene Innovationszentren. Ludwigshafens institutioneller Rahmen hierfür ist bisher
noch schwächer ausgeprägt. Gleichzeitig ist in der Region mit den Breidenbach Studios ein Unterneh-
men, das im Bereich KuK sehr aktiv ist, den Städten als Ansprechpartner dient und CWS in der Region
entwickelt. Die Breidenbach Studios sind zudem in bundesweiten Coworking-Netzwerken aktiv.
Durch eine Internetrecherche im Mai 2020 wurden für alle drei Städte insgesamt 24 CWS identifiziert.
Hierbei wurde streng darauf geachtet, dass es sich tatsächlich nur um reine CWS handelt. Maker-
Spaces oder andere Open Creative Labs wurden nicht in die Untersuchung einbezogen, da nur Arbeits-
orte im Fokus standen, die Arbeitsplätze für Wissensarbeitende mit Laptop anbieten. Eine genaue Ab-
grenzung zwischen CWS und Shared Space erfolgte bei der Auswahl nicht, da eine klare Definition fehlt
und eine Unterscheidung via Internetrecherche nicht machbar war. Daher wurden zuerst alle CWS
aufgelistet, die sich selbst „Coworking-Space“ nennen. Die Heterogenität in der Region zwischen den
CWS ist sehr groß. Eine Verteilung der Anzahl an CWS nach der jeweiligen Stadt zeigt die folgende Liste:
Tabelle 3: Anzahl der Coworking-Spaces der Großstädte der Metropolregion Rhein-Neckar und jeweiliger Anteil derjenigen,
die in der Untersuchung betrachtet wurden. Eigene Darstellung.
Stadt
Anzahl CWS
In Untersuchung betrachtet3
[Absolut / Relativ]
Mannheim
12
6 / 50%
Ludwigshafen
1
1 / 100%
Heidelberg
11
6 / 55%
Gesamt
24
13 / 54%
5.2 Methodenauswahl
Die Durchführung der Empirie folgt einem qualitativen Design (Mayring 2016). Es eignet sich gut, In-
teraktionsprozesse und Wissensdynamiken als soziale Prozesse zu ergründen. Die Organisation von
CWS ist zudem vom Denken, Handeln, Engagement und den Sichtweisen insbesondere der Betrei-
ber*innen abhängig. Dieses subjektbezogene Wissen gilt es zu erforschen. Das dadurch generierte Ma-
terial wird interpretiert und in einen größeren Sinnzusammenhang gesetzt.
Die Daten wurden mittels zehn leitfadengestützten Experteninterviews erhoben (Liebold/Trinczek
2009; Helfferich 2019). Diese sind Kombinationen aus leitfadengestützten- und Experteninterviews.
3
Ein CWS wurde in der Untersuchung betrachtet, wenn mit der Gründer*in/Betreiber*in oder dem Host ein
Interview geführt wurde oder vor Ort selbst Coworking betrieben wurde
35
Leitfadengestützte Interviews sind durch ihre „Zwitterposition“ (Liebold/Trinczek 2009: 36) charakte-
risiert, weil sie eine Mischung aus strukturierter und offener wissenschaftlicher Datenerhebung sind.
Zum einen dient der Leitfaden aufgrund des Forschungsinteresses als Orientierung zur Beantwortung
der Fragestellung. Dieser wird durch das theoretische Vorwissen geprägt. Im Falle dieser Masterarbeit
flossen die Theorien der räumlichen Wissensdynamiken und insbesondere das Ebenenmodell der kre-
ativen Stadt nach Grandadam et al. (2013) ein. Zum anderen bietet die Interviewmethode die Mög-
lichkeit, offen und flexibel auf neue Themen und Gesprächssituationen zu reagieren. Dies erklärt sich
daraus, dass das „Interview [...] in diesem Sinne eine Interaktions- und Kommunikationssituation [ist]“
(Helfferich 2019: 671). Das meint, dass Interviewende/r und Interviewte/r eine Konversation führen,
durch die die Daten erzeugt werden. Dabei wird von einer starren Abfolge des Leitfadens abgewichen
und je nach Situation zwischen Themen gesprungen, nachgefragt, um Erläuterung gebeten oder neue
Fragen gestellt, die zur Situation passen. Dadurch können neue Erkenntnisse erzeugt werden. Die Of-
fenheit half, das Thema Coworking und CWS in einem größeren Kontext zu betrachten und zu verste-
hen, weil gezielt andere Themengebiete angesprochen werden konnten, die einer induktiven Katego-
rienbildung bei der Transkriptauswertung entgegenkam (s. Kapitel 5.4).
Experteninterviews sind dadurch geprägt, dass das Interesse auf dem spezifischen Wissen der Ex-
pert*innen liegt. Expert*innen gelten als solche Personen, „die über ein spezifisches Rollenwissen ver-
fügen, solches zugeschrieben bekommen und eine darauf basierende besondere Kompetenz für sich
selbst in Anspruch nehmen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 133). Dieses Rollenwissen ist wichtig für
die Beantwortung der Fragestellung und das Abfragen kann durch einen Leitfaden gezielt unterstützt
werden. Als Expert*innen wurden zwei Gruppen identifiziert: Zum einen Personen, die CWS gegründet
haben, betreiben und/oder als Host/Community-Manager arbeiten. Sie haben durch ihre Tätigkeit Ein-
fluss auf die Organisationsstruktur des CWS, besitzen einen Gesamtüberblick, veranstalten Events, ver-
netzen Coworker*innen, kennen und verfolgen dahinterliegende Ziele. Dieses Insiderwissen ist sehr
wertvoll für die Identifizierung von Place, Space, Event und Project. Zum anderen wurden Personen
befragt, die nicht direkt mit CWS zu tun haben, aber das Thema Coworking in einem größeren Kontext
sehen. Sie besitzen eine komplementäre Rolle und treiben durch ihre Arbeit die Vernetzung von CWS
voran. Hierzu zählten insbesondere städtische oder unternehmerische Akteur*innen.
5.3 Operationalisierung der Fragestellung und Leitfadengestaltung
Die Operationalisierung der Fragestellung folgt den in Kapitel 4 aufgeworfenen Frageblöcken. In Fra-
geblock 1 steht die Identifizierung der Teilelemente des Middlegrounds nach Cohendet et al. (2010)
im Vordergrund, da über diese die intermediäre Funktion erklärt werden können. Dementsprechend
galt es, diese zu erfragen, insbesondere inwiefern sich diese in einem CWS widerspiegeln. Empirische
Arbeiten wurden zur Orientierung herangezogen (Capdevila 2015; Grandadam et al. 2013;
36
Lange/Schüßler 2018). In den Frageblöcken 2 und 3 geht es um die Identifizierung von relevanten Ak-
teur*innen in den Ebenen der kreativen Stadt, deren Vernetzungsrolle zwischen diesen und welche
Rolle hierbei CWS spielen. Diese Fragestellung ist vor dem Hintergrund wichtig, dass sich verschiedene
komplementäre Akteur*innen vernetzen und dadurch Synergien entstehen (Amin/Thrift 1994, 1995).
Theoretische Erkenntnisse zur Erklärung von räumlichen Wissensdynamiken wurden in den Überle-
gungen zur Ausgestaltung der Fragestellungen integriert.
Der Leitfaden wurde dementsprechend nach den deduktiven Oberkategorien Place, Space, Project,
Event und Akteursnetzwerk unterteilt. Am Anfang standen stets offen gehaltene Eingangsfragen, um
in das Interview einzusteigen und von dort ausgehend weitere Fragen zu stellen. Es wurde meistens je
nach Gesprächsverlauf bewusst von der vorgegebenen Fragereihenfolge abgewichen.
Eine Übersicht über die Operationalisierung und die verwendeten Teilfragestellungen liefert Anhang
1. Dort finden sich drei Spalten: Die erste stellt Definitionen der verwendeten Oberkategorien auf, die
auf dem theoretischen Vorwissen beruhen. In der zweiten sind Fragestellungen aufgelistet, die entwi-
ckelt wurden und die theoretischen Vorkenntnisse auf den speziellen Fall von CWS transferieren. So
sollen die Oberkategorien ergründet werden. Die Fragestellungen sind teilweise abstrakt und spiegeln
so das Erkenntnisziel wider. Genauere Fragestellungen wiederum wurden oft auch direkt in den Leit-
faden übernommen. Die dritte und letzte Spalte beinhaltet je ein Ankerbeispiel aus den ersten drei
Interviews für die spätere Zuordnung von Textstellen.
Anhang 2 und 3 zeigen beispielhafte Fragebögen für je eine/n Akteur*in (s. Tabelle 4 für die Differen-
zierung der Akteur*innen nach den IDs NWA und CWS). Die Fragebögen wurden teilweise modifiziert,
um bestimmte Eigenarten der Interviewpartner*innen abzudecken und auf neue Erkenntnisse aus vor-
herigen Interviews zu reagieren, wobei das Grundgerüst stets erhalten blieb.
37
5.4 Durchführung und Interviewbearbeitung
Es wurden insgesamt zehn Interviews im Zeitraum von Juni bis August 2020 durchgeführt. Die folgende
Tabelle gibt einen Überblick über die Interviewpartner*innen:
Tabelle 4: Übersicht der durchgeführten Interviews und der Interviewpartner*innen.
Lfd. Nr.
ID
Datum
Beschreibung
1
NWA1
04.06.
Leiterin der Stabsstelle Kultur- und Kreativwirtschaft, Stadt
Heidelberg
2
CWS1
09.06.
Gründer*innen und Betreiber*innen eines CWS in Mannheim
mit angeschlossenem Accelerator. Thematischer Schwer-
punkt: Sozialunternehmertum.
3
CWS2
16.06.
Gründerin und Betreiberin eines CWS in Heidelberg. Thema-
tischer Schwerpunkt: Frauen in der Wirtschaft.
4
CWS3
17.06.
Community-Manager eines CWS innerhalb eines städtischen
Gründungszentrums in Mannheim. Thematischer Schwer-
punkt: Technologieunternehmen.
5
CWS4
30.06.
Mit-Gründer und Organisator eines CWS in Mannheim. The-
matischer Schwerpunkt: Kreativwirtschaft.
6
CWS5
10.07.
Gründer und Organisator eines CWS in Mannheim. Themati-
scher Schwerpunkt: keiner.
7
NWA2
23.07.
Leiter der Abteilung „Kreative und kulturelle Stadtentwick-
lung“, Stadt Mannheim.
8
NWA3
03.08.
Unternehmensberater für mittelständische Unternehmen,
der mit einem CWS in Heidelberg kooperiert.
9
CWS6
05.08.
Geschäftsführer des Coworking-Space-Unternehmens „Brei-
denbach Studios“, das sechs Coworking-Spaces in Heidelberg
und Mannheim betreibt. Thematischer Schwerpunkt: unter-
schiedlich.
10
CWS7
07.08.
Vertriebsleiter eines Coworking-Spaces in Ludwigshafen, der
in einem städtischen Gründungszentrum liegt. Thematischer
Schwerpunkt: keiner.
Die Anzahl der Interviews wurde durch das Konzept der „Theoretischen Sättigung“ beeinflusst, was
Glaser und Strauss (1967) für die Grounded Theory einführten. Theoretische Sättigung wird durch den
38
Umstand erreicht, dass neu erhobene Daten keinen substanziellen Erkenntnisgewinn mehr erzielen
(Eisenhardt 1989: 545). Konkret bedeutet das, dass nach der Sichtung der Interviewdaten von CWS6
und CWS7 kein qualitativer Zugewinn mehr stattfand und alle erhobenen Daten zusammen eine Be-
antwortung der Fragestellung zugelassen haben, weswegen keine weiteren Interviews mehr geführt
wurden.
Neben den Interviews wurde das Feld über die Teilnahme an dem Branchentreffen „Fensterlunch“ der
KuK Heidelberg und dem aktiven Kennenlernen von CWS erschlossen. Ersteres gab einen Überblick
über die Branche, erste informelle Gespräche und Kontakte. Der Zugang zu den CWS war ebenfalls
sehr hilfreich. Persönliche Interviews bei drei CWS ermöglichten, vor Ort die Räumlichkeiten kennen-
zulernen, welche Gedanken hinter diesen stecken und wie vielfältig CWS sein können. Zudem gab es
die Möglichkeit, einmal in einem CWS in Mannheim (ID: CWS_A) und regelmäßig im Zeitraum Juni bis
Oktober 2020 in einem Heidelberger CWS für die Masterarbeit zu arbeiten (ID: CWS_B). Die Gründerin
von CWS_B bot nach einem persönlichen Austausch für die Erstellung der Masterarbeit an, einen Zu-
gang zu erhalten und als Coworker Teil der Community zu werden. Dies war sehr wertvoll, um eigene
Erfahrungen zur Praxis des Coworkings zu sammeln und Dynamiken vor Ort aufzugreifen. Die Gründe-
rin half mit spezifischen Informationen aus der Coworking-Szene. Informelle Gespräche mit ihr und
anderen Coworker*innen gaben direkte Einblicke in die Aktivitäten. Durch ihr Vernetzen konnten Kon-
takte zu verschiedenen CWS aufgebaut werden. Beide CWS, in denen Coworking selbst betrieben wer-
den konnte, haben einen starken unternehmerischen Fokus. Die jeweiligen Netzwerke bestehen aus
unternehmerischen Akteur*innen und die Events und Fortbildungsangebote zielen auf geschäftliche
Mehrwerte ab. Die Gründer*innen beider CWS arbeiteten zudem ursprünglich in regionalen Konzer-
nen und machten sich mit eigenen CWS selbstständig. Es fließt daher viel Erfahrungswissen aus den
jeweiligen Branchen in die CWS.
Die unterschiedlichen Erfahrungen finden insofern Beachtung, als dass sie zum Verständnis für Cowor-
king beitrugen und die gesammelten Informationen aus den Interviews ergänzen. Als Vorteil gegen-
über den zeitlich befristeten Gesprächen durch die Interviews ermöglichte der dauerhafte direkte Kon-
takt mit Coworker*innen, dass direkte Nachfragen gestellt werden konnten, insbesondere wenn etwas
aufgrund der Dynamiken vor Ort auffiel. Es konnten auch Gespräche vom Vortag am nächsten Tag
fortgeführt und die täglichen Gedanken über CWS und Coworking ausgetauscht werden. Sie waren
sehr interessant und wertvoll für neue Gedanken und spätere Interpretationen.
Die größte Gruppe mit sieben Interviews gehört zu Akteur*innen, die direkten Einfluss auf einen CWS
nehmen (ID: CWS). Hierzu gehören Gründer*innen, Betreiber*innen und Community-Manager von
CWS. Hinzu kommen drei Interviews mit Akteur*innen, die nicht direkt zum CWS gehören, aber Netz-
werke zu CWS aufbauen und damit externe Interaktionen beeinflussen (ID: NWA).
39
Im Zuge der Erhebung konnten Kontakte zu vielen unterschiedlichen Personen geknüpft werden. Diese
Heterogenität zeigt die Vielfalt der Coworking-Szene und damit unterschiedliche Ziele, Zielgruppen
und Aktivitäten, die sich in den Ergebnissen der Interviews widerspiegeln. Zum Verständnis legt die
nachfolgende Tabelle die Differenzierung der Akteur*innen dar:
Tabelle 5: Differenzierung der Interviewpartner*innen nach deren Rollen.
Typ der Akteur*in
Beschreibung
Liste der Akteur*innen
Städtische Ak-
teur*innen
Sie arbeiten für städtische Gesellschaften und sind
zentrale Interessensorgane der KuK. Durch deren
Arbeit werden Akteur*innen vermittelt und die
Arbeitsbedingungen vor Ort verbessert.
NWA1, NWA2
Organisator*innen
einzelner CWS
Sie organisieren/betreiben selbstständig jeweils
einen CWS und sind keinem CWS-Entwickler zuge-
ordnet.
CWS1, CWS24, CWS4,
CWS5, CWS_B
Organisator*innen
von CWS in einem
Innovationszent-
rum
Sie organisieren einen CWS, der räumlicher und
funktionaler Teil eines größeren Innovationszent-
rums ist. Hierbei entstehen Synergien zu den an-
deren Funktionen im Zentrum. Beide kennenge-
lernte CWS sind Teil von städtisch betriebenen In-
novationszentren.
CWS3, CWS7
Unternehmerischer
Akteur
Die Person ist in erster Linie Unternehmer, der ei-
nen CWS für sich als Arbeitsort nutzt, für seine Ar-
beit in einem CWS Mehrwerte sieht und dort des-
wegen Aktivitäten durchführt.
NWA3
CWS-Entwickler
Akteur*innen betreiben mehrere CWS und es gibt
wiederkehrende Elemente der Entwickler in je-
dem CWS. CWS6 betreibt aktuell sechs CWS in der
Region.
CWS6, CWS_A
Die Interviewpartner*innen wurden jeweils am Anfang des Interviews gefragt, ob es mittels einer Auf-
nahmefunktion eines Smartphones aufgenommen, transkribiert und anschließend bearbeitet werden
darf. Alle Interviewpartner*innen haben der Audioaufnahme zugestimmt. Das Gespräch mit NWA3
wurde nicht aufgenommen, da es sich um ein 30-minütiges Telefonat ohne festen Leitfaden handelte.
Der Gesprächspartner hatte dennoch im Vorfeld die Möglichkeit, sich bereits auf einige recht offen
4
Obwohl das Konzept von CWS2 zuerst in Berlin umgesetzt wurde und Heidelberg der zweite Standort ist wird
CWS2 als einzelner CWS gezählt.
40
formulierte Fragen zu seiner Kooperation mit CWS_B und seiner Rolle in CWS vorzubereiten. So ba-
sierte auch dieses Gespräch soweit als möglich auf dem theoretischen Hintergrund. Während des Te-
lefonats wurden Notizen mitgeschrieben. Die Leitfäden für die restlichen Interviews waren für ca. eine
Stunde konzipiert und den Interviewpartner*innen entsprechend kommuniziert worden. Dies konnte
zeitlich stets eingehalten werden und die Durchschnittsdauer der Interviews lag bei 45 Minuten.
Die Bearbeitung des Interviewmaterials bestand aus zwei Schritten. Zuerst wurde das Gesagte durch
eine Transkription verschriftlicht. Im ersten Bearbeitungsprozess wurde möglichst genau das ver-
schriftlicht, was gesagt wurde. Das Ziel der Transkription war jedoch, keine wörtliche Abschrift des
Gesagten zu schaffen, sondern vor allem eine inhaltlich korrekte Version der Interviews. Im zweiten
Bearbeitungsschritt erfolgte daher eine Glättung des Schriftmaterials nach der Standardorthographie
(Kowal/O’Connell 2012). Hierbei wurden Textpassagen so angepasst, dass ein besserer Lesefluss ent-
steht, da das Gesagte oft von Gedankensprüngen unterbrochen wurde und der Inhalt der Aussage
schwerer herauszulesen ist. Daher wurden Fülllaute und -wörter herausgenommen und Sätze der Aus-
sage des Inhalts angepasst, da dies das entscheidende Kriterium für die weitere Bearbeitung ist.
Nachdem der Text angepasst wurde erfolgte im zweiten Schritt die inhaltliche Bearbeitung des Inter-
views durch eine Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). Dabei wurde das Textmaterial ge-
sichtet und Textabschnitten Kategorien zugeordnet, um die erhobenen Daten zu reduzieren und zu
ordnen. Es erfolgte auf der einen Seite eine deduktive Kategorienbildung bzw. (inhaltliche) Strukturie-
rung (ebd.: 97-103), bei der aus der Theorie heraus Kategorien entwickelt wurden. Die Strukturierung
folgte der Operationalisierung der Middleground-Elemente Place, Space, Event und Project und zusätz-
lich Akteursnetzwerk, die auch in der Leitfadenkonstruktion Verwendung fanden.
Auf der anderen Seite wurden auch induktive Kategorien vergeben bzw. eine zusammenfassende In-
haltsanalyse durchgeführt (ebd.: 69-90), die sich am Textmaterial orientierten. Hierbei wurden entwe-
der direkt neue Kategorien entwickelt oder interessante Textpassagen in Restkategorien eingeordnet
um sie im weiteren Verlauf der Analyse passenden Kategorien zuzuweisen.
Die Bearbeitung der ersten drei Interviews war wichtig, da sie die Pilotphase der Interviewbearbeitung
darstellten, bei denen die deduktiven Kategorien erprobt, angepasst und einige induktive Kategorien
entwickelt wurden. Es wurden Ankerbeispiele (s. Anhang 1) herausgestellt, die zur Orientierung für die
Kodierung nachfolgender Interviews dienten (Mayring/Fenzl 2019: 638-639)
Das hierbei entwickelte Kategoriensystem wurde überwiegend für die weitere Bearbeitung angewen-
det. Am Ende wurden alle kategorisierten Textstellen noch einmal gesichtet und geprüft, ob die Kate-
gorisierung weiterhin stimmig ist. Bei Bedarf wurde eine neue Kategorisierung vorgenommen. Zudem
wurde versucht, so weit wie möglich mehrfache Zuordnungen zu Kategorien zu vermeiden und Kate-
41
gorien mit weniger als fünf Textstellen zu vermeiden, um die Übersicht zu gewährleisten. Die dort be-
inhalteten Textstellen wurden dann anderen Kategorien zugeordnet. Eine Übersicht der Kategorien
inklusive Häufigkeiten findet sich in Anhang 4.
Die Nutzung beider Schritte ermöglicht eine theorienahe und gleichzeitig offene Bearbeitung der Da-
ten. Die Entwicklung von Unterkategorien dient der Verfeinerung und besseren Bearbeitung.
Für beide Bearbeitungsschritte wurde Software zur Unterstützung verwendet. Die Transkription er-
folgte ab dem dritten Interview mithilfe der Software f4transkript, die Kategorienbildung mittels
f4analyse.
6 Ergebnisse
Das nächste Kapitel befasst sich mit den Ergebnissen der Interviews und ist dreigeteilt. Der erste Teil
gibt eine quantitative Übersicht der Kategorien und zeigt somit, wo die Schwerpunkte der Interviews
gelegen haben. Der zweite Teil fasst die einzelnen Kategorien qualitativ zusammen und untermauert
sie mit Zitaten aus den Interviews. Der letzte Teil fasst die Ergebnisse vor dem Hintergrund des thema-
tischen und theoretischen Kontexts und der Fragestellung interpretativ zu einer Synthese zusammen.
6.1 Quantitative Übersicht der Kategorien
Abbildung 9 zeigt graphisch die relative Verteilung der jeweiligen Oberkategorien an. Dabei zeigt sich,
dass die Oberkategorien Place und Space mit insgesamt 56 % über die Hälfte aller vergebenen Katego-
rien einnehmen. Diese können als die Grundpfeiler eines CWS betrachtet werden, weswegen sie farb-
lich im Diagramm zusammengenommen wurden (hier: Blau). Während Place die physischen Gegeben-
heiten des Ortes CWS beschreiben, subsumiert Space wichtige Coworking-Werte wie „Community“
oder „Collaboration“ und ist in allen CWS in unterschiedlich starken Ausprägungen zu sehen. Project
und Event sind Kategorien, die nach Grandadam et al. (2013) Place und Space aktivieren und Wissens-
netzwerke aufbauen. Daher wurden auch diese farblich zusammengenommen (hier: Grün). Insgesamt
24% der Textpassagen sind diesen zuzuordnen. Für beide Kategorien muss einschränkend gesagt wer-
den, dass einige CWS noch relativ jung sind und bisher nicht viele Projekte oder Events durchführten
bzw. sie z. B. bei Events noch experimentieren. Zudem hat die Corona-Pandemie 2020 sehr viele Akti-
vitäten zum Zeitpunkt der Interviews mindestens eingeschränkt. Sehr konkrete Projekte konnten da-
her nur wenige genannt werden. Dennoch zeigen die Beispiele, was möglich ist. Sehr wahrscheinlich
ist zudem, dass trotzdem z. B. zwischen Coworker*innen mehr Projekte stattfanden oder stattfinden,
die die Interviewpartner*innen aber nicht alle kennen.
Die vier Oberkategorien sind rein deduktiv erstellt, repräsentieren die Teilelemente des Middleg-
rounds und machen über 75% aller Textpassagen aus.
42
Eine detailliertere Übersicht über die Verteilung aller vergebenen Kategorien findet sich in Anhang 2.
Dort sind neben den Ober-, auch Unterkategorien 1. und 2. Ordnung aufgelistet. Insbesondere die
Oberkategorien Place, Space und Event unterteilen sich auch aufgrund der Menge an vergebenen Text-
stellen zusätzlich in weitere Unterkategorien. Diese sind u. a. deduktiv erstellt worden, wie Place –
Location und Place – Physical Space (Capdevila 2015: 10-11), zudem Space – Kognitive Nähe, Space –
Organisation und deren Unterkategorien 2. Ordnung (s. theoretische Konzepte in Kapitel 3.2 und
3.3.1). Weitere Unterkategorien wurden induktiv hinzugefügt. In der Auswertung spielte eine interne
und eine externe Perspektive eine Rolle. „Intern“ und „Extern“ bezeichnet unterschiedliche Akteur*in-
nenkonstellationen, wobei „Intern“ Angehörige des CWS (in der Regel Coworker*innen) meint und
„Extern“ zusätzlich Nicht-Mitglieder einschließt, was eine Vernetzung des CWS beschreibt. Diese Be-
schreibung wird nachfolgend weiterverwendet.
Akteursnetzwerk ist weder rein deduktiv, noch induktiv, sondern eine Ergänzungskategorie, um Ak-
teur*innenkonstellationen der jeweiligen CWS und deren Vernetzung herauszufinden. Diese wurden
dennoch über eigene Fragen im Fragenkatalog abgearbeitet. Die restlichen 9% entfallen auf die rein
induktiven Oberkategorien, die zusätzliche interessante Aussagen hervorbringen und u. a. mit dem
thematischen Kontext oder Coworking-Werten korrelieren.
Abbildung 9: Verteilung der Oberkategorien an allen vergebenen Kategorien in Prozent. Eigene Erhebung.
Place; 26%
Space; 30%
Project; 7%
Event; 17%
Akteursnetzwerk; 11%
Offenheit; 4%
Interdisziplinarität; 2%
Individualität; 3%
Verteilung der Oberkategorien an allen vergebenen Kategorien in
Prozent
n= 238; Quelle: Eigene Erhebung.
43
6.2 Qualitative Analyse der Kategorien
Im Folgenden werden zuerst die einzelnen Oberkategorien und, falls vorhanden, deren Unterkatego-
rien zusammenfassend vorgestellt. Zur Verdeutlichung dienen Aussagen, die über das Schema „(Inter-
view Lfd. Nummer_ID_Datum)“ auf die jeweiligen Interviews verweisen (vgl. Tabelle 4).
Place
Place – Location
Wie schon aus der Literatur bekannt ist und was in den Interviews bestätigt wurde sind CWS grund-
sätzlich erst einmal physische Orte, die preislich günstige und flexibel nutzbare Arbeitsplätze als Miet-
modelle anbieten. Der Bedarf an solchen Orten wird von verschiedenen Seiten betont:
„Die Möglichkeit, kurzfristig Arbeitsräume zur Verfügung zu stellen und zu vermitteln ist in Heidel-
berg ein ganz großes Problem. Da sind wir sehr dankbar, dass es private Akteure gibt, die da Mög-
lichkeiten schaffen“ (Interview 1_NWA1_040620).
„Bei Startup Mannheim hat man sich 2015 gedacht, dass es natürlich ins Portfolio passen würde,
auch einen Coworking-Space zu haben, weil es von Freelancern und Gründern die Kritik gab, dass
sie noch gar nicht die finanziellen Mittel haben, sich Büroraum zu leisten“ (Interview 4_
CWS3_170620).
Manche Betreiber*innen von CWS sehen zudem einen Bedarf an Orten, in denen Personen zusam-
menarbeiten und sich treffen können, die gemeinsame Werte vertreten und ihre normativ getriebene
Art des Wirtschaftens durch den Kontakt zu Gleichgesinnten stärken. Dieses Zusammenkommen
stärke die Sichtbarkeit von einzelnen Personen und der wertgebundenen Themen. Im Falle von zwei
interviewten CWS sind dies zum einen Sozialunternehmer*innen, deren Projekte und Unternehmen
vorrangig durch soziale und ökologische Werte beeinflusst sind, und zum anderen Unternehmerinnen,
die das Thema von geschlechtlicher Diskriminierung in der Wirtschaft betonen:
„Der Ansatz war eigentlich erst mal, ein Zuhause für Changemaker zu schaffen, wie Lilli gesagt hat,
und nicht Coworking als Business-Dienstleistung anzubieten. Das heißt, wir wollten eigentlich ei-
nen Raum. Und Coworking war für uns dann auch eher das Geschäftsmodell, was das Ganze tragen
kann“ (Interview 2_CWS1_090620).
„Da braucht man manchmal einfach geschütztere Orte“ (Interview 3_CWS2_160620).
Der eigene Antrieb, bestimmte Gruppen zu fördern, bedeutet daher, einen Ort anzubieten, an dem
sich Personen physisch treffen und austauschen können. Da dieser normative Antrieb auf wirtschaftli-
che Aktivitäten abzielt, schaffen CWS-Gründer*innen Orte des Arbeitens. Coworking und CWS sind
dabei Business-Modelle. Der CWS selbst ist dabei sozusagen die „Hardware“, von der ausgehend Akti-
vitäten stattfinden.
44
Vonseiten der Kreativen und Kulturellen Stadtentwicklung wurde zudem betont, dass Orte innerhalb
einer Stadt wichtig seien, in denen disziplinare Grenzen überwunden werden können und man gegen-
seitig lernen kann. CWS können entweder für solche Orte stehen oder für bestimmte Orte dazu bei-
tragen:
„Ich glaube, dass ein Coworking-Space im Bereich wie der Multihalle ein total schöner Treiber von
diesem Austausch wäre. Der diese räumliche Trennung auflöst. Wenn wir separate Büros nehmen:
Der Austausch in der Community und das Community-Building etc. ist dort deutlich schwieriger
und mühsamer als wenn ich einen Ort habe, wo schon per se Menschen aus ganz unterschiedli-
chen Bereichen zusammensitzen und sich dann eine Selbstverständlichkeit der Kommunikation
über disziplinäre Grenzen etabliert und es sozusagen zum Usus wird“ (Interview
7_NWA2_230720).
Place – Physical Space
Ein großes Thema war die Gestaltung der Räumlichkeiten, wie deren Nutzung aussieht und wie sie im
Zusammenspiel mit anderen Räumlichkeiten wirken sollen. Alle CWS-Interviewpartner*innen haben
sich zur Gestaltung viele Gedanken gemacht. Es wird Wert darauf gelegt, dass die CWS offene und
schöne Räume anbieten, in denen man sich gerne aufhält und man die Möglichkeit bekommt, die ei-
gene Individualität spielen zu lassen. Darüber hinaus wird der Einfluss der Räumlichkeiten auf die Nut-
zenden betont. Die Räume sollen nicht kalt sein und zu Interaktionen anregen:
„Community wollen wir hier machen. Wir haben hier eine Couch stehen, einen Sessel. Das ist eine
andere Atmosphäre. Wenn wir unten Konferenzstühle aufbauen, dann ist das ein anderes Feeling.
Da vernetzt man sich wahrscheinlich weniger gern. Als die meisten Leute bei der Eröffnung hier
reingekommen sind, und wir etwas dunkleres Licht an hatten, meinten sie, es sei wie auf einer WG-
Party. Und das ist auch ein bisschen das Feeling“ (Interview 2_CWS1_090620).
Abbildung 10: CWS bieten häufig eine offene, lichtdurchflutete Bürolandschaft an. Eigenes Foto.
Die Gestaltung vieler CWS ist häufig individuell geprägt. Kein CWS gleicht dem anderen und die Gestal-
tung wird durch die Historie des Gebäudes mitbeeinflusst. CWS6 als regionaler Anbieter von CWS mit
mehreren Standorten hob hervor, dass bei jedem Standort ein neues, zu dem Gebäude passendes
45
Designkonzept kreiert wird. CWS7 sieht die unterschiedlichen Elemente in seinem CWS als besonders
interessantes Merkmal. Hier vermischen sich alte denkmalgeschützte Elemente eines alten Hallenbads
mit neuen, modernen Büroeinrichtungen.
Ein wichtiges Charakteristikum aller CWS ist ihre multiple Nutzbarkeit. Diese drückt sich darin aus, dass
einzelne Räume z. B. durch flexibel nutzbare Tische schnell unterschiedlich angeordnet werden können
und CWS in sich Räume haben, die unterschiedliche Funktionen besitzen. Neben unterschiedlichen
Arbeitsräumen (Großraum-, Team- und Einzelbüros) gibt es zu vermietende Workshop- und Event-
räume, Küchenbereiche, Communityräume (Sofas, Kickerecken etc.) oder Ruhezonen. Diese verschie-
denen Raumfunktionen bestehen nicht immer in einem CWS, sondern betten sich mitunter in einen
größeren Komplex ein. Bei CWS3 und CWS7 ist der CWS nur ein Angebot neben anderen in einem
größeren Innovationszentrum. Für CWS7 ist die Existenz von CWS und anderen Angeboten in einem
Haus wichtig, weil deren Vernetzung Synergien schafft. CWS6 sieht hierbei hingegen auch die Schwie-
rigkeit, zwischen verschiedenen Ansprüchen zu vermitteln, wenn sie eventuell unterschiedliche Ziele
verfolgen:
„Man will die ganzen Leute um sich herum haben, diese gleichzeitig aber nicht stören und kon-
zentriert arbeiten und meistens sind es auch Informationen, die nicht geteilt werden sollen. Das
ist eine spannende Herausforderung. Wie kann man solchen Leuten die Möglichkeit bieten, Cowor-
ker*innen zu sein, mit allen Vorteilen und gleichzeitig auch ermöglichen, dort in Ruhe arbeiten zu
können“ (Interview 8_CWS6_050820).
Abbildung 11: CWS besitzen oft mehrere Teilräume innerhalb der Bürolandschaft. Hier sind links Räume für persönliche oder
Videomeetings und rechts Telefonzellen in das Großraumbüro eingelassen. Eigenes Foto.
Place – Vermietung
Die zuvor angesprochene Vielschichtigkeit in den anzubietenden Funktionen eines CWS zeigt sich auch
an der Vermietung von Räumlichkeiten für Gespräche oder gar Workshops, wodurch sich CWS für Ex-
terne öffnen und sich Austausch ergeben kann. Quasi alle interviewten CWS bieten diese Möglichkeit
an und vermieten ihre Räume entweder für eigene Coworker*innen und/oder an externe Personen,
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die die Räume für Gespräche nutzen wollen, da sie z. B. keine eigenen Räumlichkeiten haben oder
Partner*innen in einer bestimmten Stadt in einem professionellen Umfeld treffen wollen. Größere
Räume sind auch interessant für ganze Workshops. NWA1 nutzt dieses Angebot u. a. aufgrund des
„kreativen Flair[s]“, des „schönen Ambiente[s]“ und geht dorthin, „wo schon Kreativunternehmen
sind“ (Interview 1_NWA1_040620). Verschiedene Seiten haben hierzu gesagt, dass die Einmietung ins-
besondere für kreative Arbeitsmethoden interessant ist und das Umfeld von CWS dafür besser geeig-
net sei:
„[...] sind ja meistens dann Workshops zum Thema Unternehmen, Unternehmensführung, Innova-
tionen entwickeln, Geschäftsmodelle aufstellen usw. Das man da direkt in einem Umfeld ist, wo
das inhaltlich passt. Und da finden wir es deutlich passender, als in irgendwelche kalten Seminar-
räume zu gehen, weil man dann in einem Umfeld ist, was auch dazu passt“ (Interview
1_NWS1_040620).
„Das heißt, es ist zum einen die Atmosphäre, zum anderen die Einrichtung, die es ermöglicht, mit
Handwerkszeug wie Pinwänden, Flipcharts im Design-Thinking-Modus zu arbeiten. Das geht in vie-
len anderen Sachen nicht. Du kaufst dann eben diesen Flair um dich herum, diesen Gründer- und
Open-Mind-Flair würde ich jetzt sagen“ (Interview 8_CWS6_050820).
Space
Space – Kognitive Nähe
Space – Kognitive Nähe – Mindset
Aus den Interviews heraus wurde deutlich, dass den Interviewpartner*innen ein bestimmter Umgang
untereinander sehr wichtig ist. Für einige ist das u. a. ein Grund, warum sie einen CWS gegründet ha-
ben: „Ich habe mir gedacht, ich möchte einen angenehmen Raum haben, ich möchte mich mit Men-
schen umgeben, die ich mag, mit denen ich gut zusammenarbeiten kann, die interessant sind“ (Inter-
view 6_CWS5_100720). Das Mindset von Coworker*innen beschreibt soziale Umgangsformen unter-
einander, die für die Zusammenarbeit im CWS relevant sind. CWS4 hat hierfür genaue Vorstellungen
und grenzt so „passende“ und „unpassende“ Coworker*innen ab:
„Was mir z. B. wichtig ist: Ich antworte jedem, der mich anschreibt mit „Du“. Ich erwarte das auch
und wenn man nicht damit klar kommt ist die Person schon mal falsch hier. Das ist für mich schon
mal ein Grundkriterium. Wir hatten erstaunlich viele Anfragen aus dem Finanzsektor. Da habe ich
schon ein eher schlechtes Gefühl. Ich habe nicht ablehnend geantwortet, aber auch nicht übermä-
ßig euphorisch und da ist auch jeweils keine Antwort mehr gekommen. Wenn jemand gesagt hätte,
er will hier arbeiten, hätte ich gesagt ‚von mir aus‘. Aber das wäre sehr anders als der Rest hier und
hätte nicht so ganz gepasst“ (Interview 5_CWS4_310620).
Das Mindset der interviewten CWS-Betreiber*innen beschreibt in der Regel einen informellen, hierar-
chiefreien und zwanglosen Umgang miteinander, bei dem z. B. das Duzen normal ist, man „wirklich
unkompliziert ohne Angst“ (Interview 2_CWS1_090620) miteinander umgehen kann und es idealer-
weise „ein bisschen wie in einer Familie“ ist (ebd.). Dabei steht bei einigen CWS nicht nur der rein
professionelle Umgang im Vordergrund, sondern auch freundschaftlicher und privater. Das Mindset
ist für das gemeinsame Arbeiten zudem wichtig, weil CWS überwiegend offene Bürolandschaften mit
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reduziertem Privatraumanteil besitzen und erwartet wird, sich dabei zu engagieren, den CWS zu orga-
nisieren:
„Es ist ja ein Zusammenarbeiten sozusagen, aber du befindest dich ja sechs bis acht Stunden zu-
sammen in einem Space sozusagen. Also ein gemeinsames Leben, ein gemeinsames Arbeiten, ein
gemeinsamer Austausch. Das ist für mich Community. Ein blödes Beispiel einfach, aber wir hatten
die Situation, dass alle Leute ihre Kaffeetassen einfach hingestellt haben. In einem Unternehmen
sind sie es ja gewohnt, Full-Service-Agentur-mäßig, irgendjemand stellt die Tasse halt schon weg.
Wir sind da ganz rigoros eingeschritten. Das ist für uns nicht Community. Das heißt auch, dass man
auf die anderen achtet und achtsam damit umgeht und seine Sachen z. B. auch wegstellt, damit
andere von den Sachen wieder profitieren können. Wir haben auch gesagt‚ wenn ihr so umgeht
sind wir nicht der richtige Space für euch‘“ (Interview 8_CWS6_050820).
Für viele Interviewte ist diese Gegenseitigkeit ein wesentlicher Bestandteil von „Community“. CWS
sind grundsätzlich davon geprägt, welche Erwartungen die Organisatoren haben, diese durchsetzen
und inwiefern die Coworker*innen einen entsprechenden Umgang miteinander pflegen. Weiche Fak-
toren, wie das Sozialverhalten, können in diesem Fall mitunter wichtiger sein als spezifisches Bran-
chenwissen, wie CWS6 bei einem Coworker feststellte, der von der Branche zu den übrigen Cowor-
ker*innen nicht passte, aber durch sein Sozialverhalten die Community aktivierte: „Auf keinen Fall soll
jemand nicht genommen werden, nur weil er nicht in die Sparte Kultur- und Kreativwirtschaft rein-
passt! Er muss in die Community reinpassen“ (Interview 8_CWS6_050820).
Space – Kognitive Nähe – Gemeinsame Werte/Ansichten
Aus zwei Interviews heraus wurde die Unterkategorie Gemeinsame Werte/Ansichten entwickelt. Die
jeweiligen Organisatoren der CWS verfolgen mit ihren Aktivitäten, sowohl im Privaten als auch im Ge-
schäftlichen, bestimmte wertgebundene Ziele. Diese werden auch auf den CWS übertragen bzw. durch
ihn verbreitet. Ähnlich wie schon unter Place – Location beschrieben sollen die CWS durch diese Spe-
zialisierung ein „Zuhause“ für bestimmte Personen sein. CWS1 fragt aus diesem Grund heraus:
„‘Gibt es einen Ort, ein Zuhause für Changemaker?‘ Also für Menschen, die ein ähnliches Mindset
haben, die die Welt verbessern möchten und gleichzeitig auch ihr Geld mit dem verdienen wollen,
womit sie die Welt schützen und besser machen wollen“ (Interview 2_CWS1_090620).
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Abbildung 12: Ein Manifest benennet eigene Werte, die für CWS1 stehen sollen. Eigenes Foto.
CWS1 beschreibt sich selbst als „Sammelstelle für die Ausgestoßenen“, für Personen, „die nicht ganz
ins System passen“ (Interview 2_CWS1_090620). CWS2 verfolgt eine ähnliche Strategie und möchte
einen Ort schaffen, an dem sich überwiegend Unternehmerinnen treffen und austauschen. Die Leiterin
dieses CWS betont hierzu:
„Deswegen ist mein Space nicht nur ein schöner, netter, cooler Coworking-Ort, sondern hat eine
sehr explizite Philosophie dahinter, die eben über die Coworking-Grundwerte hinausgeht, also das
Thema Community - da bleiben wir nicht stehen… Empowerment ist so ein ausgelutschter Begriff,
aber dafür gibt es kein besseres Wort. Es geht ja einfach darum, sich gegenseitig zu unterstützen.
Und das ist meiner Meinung nach noch ein Stück über Community hinaus, auch wenn man es „so-
lidarisches Miteinander“ oder wie auch immer auf Deutsch nennen möchte, weiß ich jetzt auch
nicht. Da geht es noch einen Schritt weiter. Auch generell, ob es jetzt bei Frauen ist oder für queere
Personen oder wie auch immer“ (Interview 3_CWS2_160620).
In die jeweiligen CWS kommen dann in der Regel solche Personen, die diese Werte teilen und selbst
voranbringen wollen. Beide CWS betonen, dass die Coworker*innen gemeinsame Erfahrungen ge-
macht haben und dadurch einfacher in einen Austausch kommen. Man könne so besser voneinander
profitieren.
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Über diese Überzeugungen hinaus wurde zumindest in einem Interview mit CWS1 gesagt, dass Cowor-
king als Sichtweise auf das Thema Arbeit selbst ein bestimmter Wert ist, den die Coworker*innen tei-
len. Coworking ist aus dieser Sicht heraus eine „Durchmischung von Privat und Geschäftlich“ (Interview
2_CWS1_090620), bei der nicht nur gearbeitet wird, sondern sich auch ausgetauscht oder mal Musik
gemacht wird.
Space – Organisation
Space – Organisation – Tools
Insgesamt werden kaum Tools verwendet. Die wenigen CWS, die Tools nutzen, beschränken sich auf
Kommunikationstools, wie Slack, Whatsapp oder Discord, um jederzeit schnell alle Coworker*innen zu
erreichen und Nachrichten zu versenden. Aus eigener Erfahrung durch den Zugang zu Tink Tank kann
gesagt werden, dass Slack genutzt wird, um jederzeit einen Informationsfluss aufrechtzuerhalten. Ver-
schiedene Kanäle bieten eine einfache thematische Übersicht. Hier werden Coworker*innen nochmals
vorgestellt, Events und soziale Aktivitäten verabredet oder direkt den CWS betreffende Themen dis-
kutiert. Insgesamt ist es aber überwiegend die Gründerin, die Themen streut.
Space – Organisation – Auswahlprozess/Spezifikation
Anknüpfend an Eigenschaften der kognitiven Nähe stellte sich die Frage, inwiefern CWS schon von
Anfang an darauf achten, welche Coworker*innen sich einmieten können. Fast niemand sprach dabei
davon, dass bestimmte thematische Schwerpunkte der einzelnen Coworker*innen explizit wichtig wa-
ren. Lediglich CWS3 muss sich aufgrund der Bestimmungen des Gründungszentrums, in dem sich der
CWS befindet, daran halten, nur Coworker*innen aufzunehmen, die technologisch orientiert arbeiten.
CWS4 hofft im weitesten Sinne, dass die Coworker*innen im kreativen Bereich arbeiten, da dies für
Kooperationen innerhalb des CWS von Vorteil sei. Eine weitere konkrete thematische Erwartungshal-
tung gibt es für die Auswahl nicht. Diese fokussiert aber wieder auf soziale Eigenschaften der jeweiligen
Person und deren Arbeitsweise:
„Wenn jetzt jemand kommen würde, die den ganzen Tag, sechs Stunden lang durchtelefoniert und
da dann irgendwie auch den Raum okkupiert, weil wir haben quasi nur den einen Raum. Das würde
nicht so toll passen. So was muss man teilweise abklären: ‚Wie arbeitest du? Wie sind deine Ar-
beitszeiten? Wie laut ist es bei dir?‘ Das sind alles ganz wichtige Sachen“ (Interview
3_CWS2_160620).
Die überwiegende Anzahl der Auswahlprozesse läuft demnach so ab, dass man sich kennenlernt, einen
Kaffee trinkt und die jeweiligen Erwartungshaltungen abklärt. Die Organisator*innen/Hosts der CWS
möchte nach dem Gespräch ein Gefühl davon bekommen, ob die Person in den CWS mit seinen Cowor-
ker*innen passt. Vergleichbar ist diese Prozedur mit einem Kennenlerngespräch für eine Wohnge-
meinschaft, bei dem auch zumeist in einem informellen Rahmen miteinander gesprochen wird, um
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eine Person zu finden, die passt. In beiden Fällen geht es stark um das Gefühl, das die Person hinter-
lässt.
Space – Organisation – Hosts
Die meisten CWS-Gründer*innen und -betreiber*innen sind gleichzeitig die Hosts bzw. Community-
Manager*innen des CWS und stellen hierfür keine externen Personen ein. Hosts erfüllen den Inter-
views nach vier Aufgaben:
Erstens bereiten sie den CWS für den Arbeitstag vor und sind vor Ort Ansprechpersonen. Hierbei geht
es im Grundsatz darum, „[d]ass der Space in Ordnung aussieht, er aufgeräumt ist, dass die Leute sich
wieder wohlfühlen können, dass die Kaffeemaschine an ist etc. Diese Kleinigkeiten einfach, die aber so
ein warmes Gefühl hervorrufen“ (Interview 8_CWS6_050820). Es sind also die grundsätzlich zu erledi-
genden Dinge, damit man im CWS gerne arbeitet. Vor Ort stehen sie dann für die Coworker*innen als
Ansprechpersonen zur Verfügung.
Zweitens begrüßen sie neue Coworker*innen und führen sie in den CWS ein: Viele alltägliche Termine
sind solche, bei denen interessierte Personen durch den CWS geführt oder neue begrüßt werden. Das
sogenannte „Onboarding“ soll den Beginn der Mietzeit im CWS angenehm gestalten, direkt am Anfang
die wichtigsten Fragen klären, da jeder CWS anders ist, und „alte“ und „neue“ Coworker*innen mitei-
nander in Kontakt bringen.
Drittens bieten sie einen Rahmen für Aktivitäten im CWS bzw. aktivieren die Coworker*innen: Für jeg-
liche Aktivität im CWS ist es wichtig, dass sie durch einen bestimmten Rahmen geleitet werden.
Viertens bereichern sie den CWS und die Coworker*innen mit ihrem Netzwerk: In diesen Bereichen ist
ein großes Know-Who eine sehr wichtige Ressource, da Vernetzungen Möglichkeiten und Problemlö-
sungen aufzeigen. Der Host kennt dabei nicht nur die eigenen Coworker*innen, sondern oft auch
Coworker*innen aus anderen CWS und hat weitreichende Kontakte zu Institutionen und Unterneh-
men. Da sie oft selbst Erfahrungen aus der Selbstständigkeit mitbringen oder Aussteiger aus Großun-
ternehmen sind wissen sie um die Belange der Coworker*innen:
„Wir haben auch die Fälle, wo ein Gründer auf uns zukommt und sagt, ‚Du ich habe tatsächlich
eine neue Idee, die vom Geschäftsmodell her passt, ich suche einen Mitgründer.‘ Dann sind wir
natürlich dafür da, mein Kollege und ich, um genau dieses Netzwerk einfach zu bilden und zu
sagen ‚Hey, ich kenne den und den, der ist sogar im Space oder der ist im Mafinex, kontakte dich
mit dem‘“ (Interview 4_CWS3_170620).
Für interne Interaktionen zu Coworker*innen wurde wiederum die Relevanz von sozialen Fähigkeiten
hervorgehoben. Vergleichbar ist dies mit bestimmten Führungsqualitäten von Führungskräften in Un-
ternehmen:
„Man muss auch die Leute kennen. Sowohl persönlich als auch, was sie tun, um auch da sinnvoll
connecten zu können, auch, um sie ein bisschen vorzubereiten. Es geht um Menschen. Man muss
sensibel sein, denke ich. Und wenn ich z. B. sage ‚Die Coworkerin A hat heute einen schlechten
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Tag‘; Da muss man einfach ein bestimmtes Gefühl für haben, bevor man jemanden auf den an-
deren losschickt“ (Interview 2_CWS1_090620).
Die Relevanz und die Aktivitäten von Hosts in den einzelnen CWS sind sehr stark davon abhängig, wie
sehr die Hosts ihre eigene Rolle und die des CWS definieren. Wie schon zuvor erwähnt gab es sehr
starke Unterschiede in dem Engagement und den Aktivitäten der Hosts. Während z. B. CWS1 und CWS2
durch die eigenen Werte sehr proaktiv sind und nach außen hin ausstrahlen sind CWS4 und CWS5
weniger aktiv. Für letztere ist der CWS überwiegend ein Ort, bei dem Arbeitsplätze angeboten werden
und man diese teilt. Erstere möchten aktiv etwas in der Gesellschaft verändern und organisieren viele
Aktivitäten. Verschiedene andere Hosts berichten davon, dass sie die Organisation des CWS nur ne-
benbei machen, weil sie oft wenig Zeit haben, da sie selbst ein eigenes Unternehmen zu führen haben
und Zeit für ihr Privatleben benötigen:
„Also wenn man ein bisschen Geld verdienen möchte und ich habe dir eben aufgezählt, was ich für
Aufgaben habe, dann ist da nicht mehr viel Zeit. Jetzt habe ich noch einen Sohn seit einem Jahr
und keine Tagesmutter mehr. Mein Tag ist sehr knapp und Zeit wird dann immer schwieriger und
das gilt auch viel für die anderen“ (Interview 5_CWS4_310620).
Auch die intrinsische Motivation ist sehr wichtig. So berichtet CWS5, dass er lediglich „den Raum zur
Verfügung stellt und was die Leute daraus machen, liegt dann in deren eigenen Interessen“ (Interview
6_CWS5_100720).
Space – Community
Space – Community – Interaktionen
Die Möglichkeit der Interaktion und die tatsächlich stattfindende Interaktion mit anderen sind wichtige
Charakteristika eines CWS und werden von NWA2 als „sehr zeitgemäß“ (Interview 7_NWA2_230720)
beschrieben. Gleichzeitig ist es sozusagen eines der Fundamente: „[...] einfach einen Tisch hinzustel-
len, Wlan zu machen, das ist für mich nicht Coworking“ (Interview 3_CWS2_160620). Insbesondere
Gründer*innen schätzen dies sehr, da „man sich daheim beim Gründen nicht motivieren kann“ (Inter-
view 2_CWS1_090620). Dementsprechend ist es ein Motivator, das Home Office zu verlassen, neue
Impulse zu holen und der sozialen Isolation zu entgehen. Die Interaktionen müssen dabei nicht kom-
plex sein, sondern sind im Alltag einfache Gespräche in den Kaffeeküchen, Kennenlerngespräche oder
der Erfahrungsaustausch.
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Abbildung 13: Offene Begegnungsflächen wie ein Foyer, Sitzgelegenheiten oder die Kaffeeküche in einem CWS in Heidelberg
bieten Gelegenheiten zum informellen Austausch. Eigenes Foto.
Space – Community – Internes Netzwerk
Durch die Gespräche im CWS lernt man schnell neue Leute kennen und erweitert sein Netzwerk. Ge-
rade als Selbstständiger ist die Ressource Know-Who sehr wichtig. Für die meisten Coworker*innen sei
dies einer der wichtigsten Gründe, von einem CWS aus zu arbeiten. Die Vernetzungen können durch
drei Möglichkeiten stattfinden. Zum einen findet viel spontan statt, wenn man sich in der Kaffeeküche
oder auf dem Gang trifft und sich kennenlernt. Als zweite Möglichkeit können Hosts genau hier ver-
netzen, da sie den besten Überblick über das Netzwerk besitzen. Zuletzt bieten Veranstaltungen An-
knüpfungspunkte zum Vernetzen, ggf. gesteuert über thematische Inputs.
Für CWS7 hat das Vernetzen sogar eine identitätsstiftende Komponente, weil sie die Leute zusammen-
bringt:
„Für mich ist es einfach, wenn man sich einerseits im Berufsleben helfen kann, aber auch im priva-
ten Bereich etwas gemeinsam macht. Zum Beispiel gehe ich heute Mittag mit Zwei essen. Das ist
ein bisschen Freundschaft, aber auch Unterstützung im Arbeitsleben. Das ist für mich wie: da drü-
ben ist ein einzelnes Unternehmen mit verschiedenen Mitarbeitern, die Alles etwas anderes ma-
chen, aber sie gehören zusammen. Wenn ich in einem großen Unternehmen bin, dann ist auf dem
Flur einer Buchhalter, die machen auch Alles etwas eigenes, aber sie sind trotzdem zugehörig“
(Interview 9_CWS7_070820).
Dies ist insbesondere wichtig, wenn Coworker*innen selbstständig oder allgemein sehr flexibel arbei-
ten, wodurch identitätsstiftende Elemente einer Organisation wegfallen.
Event
Event – Intern
Events ausschließlich für die Coworker*innen fallen in den meisten Fällen in den „Freizeitbereich“ und
sind „eher die Feierabendbiere, die Community-Frühstücke, die Weihnachtsfeiern“ (Interview
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4_CWS3_170620). Die überwiegende Anzahl der befragten CWS bieten in diesem Bereich nieder-
schwellige, ungezwungene Zusammenkünfte mit einem Essens- und Trink-Charakter, die entweder
nach Bedarf oder in regelmäßigen Abständen stattfinden. CWS6 fasst hierzu zusammen, dass es auch
darum geht, dass Events als Socializer und zum Netzwerken fungieren. Insbesondere bei den Perso-
nenfluktuationen im CWS ist es wichtig, eine gewisse Kontinuität zu erzeugen und die Personen mitei-
nander in Kontakt zu bringen:
„Einmal im Monat gibt es ein Frühstück, die Leute kommen zusammen, tauscht sich aus, stellt sich
noch mal kurz vor, weil es natürlich auch ein Kommen und Gehen ist. Und der ein oder andere ist
eben nur ab und zu da und es überschneidet sich nicht. So kann man sich vorstellen, man hat direkt
einen Socializer, dass man direkt frühstückt, auch mal andere Themen auf den Tisch packt. Und wir
geben auch wieder ein Update“ (Interview 8_CWS6_050820).
CWS2 ist sehr aktiv im Event-Bereich und verbindet „Freizeit-Events“ mit inhaltlichen Inputs oder ver-
anstaltet interne Events für eine spezielle Zielgruppe innerhalb des CWS, wie z. B. Unternehmerinnen
mit Kindern beim „Working-Moms-Format“. Auch hierbei geht es um einen inhaltlichen Input, weil
diskutiert wird, wie Wirtschaft „mit oder trotz Kinder“ (Interview 3_CWS2_160620) funktioniert. Bei
Formaten wie der „Role Model Night“ werden erfolgreiche Unternehmerinnen vorgestellt, die Vor-
träge halten und Fragen beantworten. Coworker*inneninnen können dabei neue Perspektiven ken-
nenlernen, sich austauschen, vernetzen. Einige CWS bieten so vielseitige Events und verbinden das
„Notwendige“ (regelmäßige Mahlzeiten) mit dem „Angenehmen“ (z. B. Feierabendveranstaltungen)
und dem „Lehrreichen“ (Inputs). Zusammen mit dem Netzwerkcharakter können die einzelnen Be-
standteile Synergien entfalten.
Es muss jedoch auch festgestellt werden, dass insbesondere die regelmäßige Organisation solcher
Events mit einem großen Aufwand verbunden ist:
„Früher, in den ersten Jahren, nachdem wir hier reingekommen sind, haben wir fast wöchentlich
gegrillt. Da haben wir uns im Hof getroffen und uns mit Grillgut versorgt. Das ist immer weniger
geworden, weil es ein hoher Aufwand gewesen ist, das zu organisieren“ (Interview
5_CWS4_310620).
Dies korreliert damit, dass viele Organisator*innen sehr viel gleichzeitig zu tun haben und dann wenig
Zeit übrig bleibt, insbesondere, wenn Coworking eher nebensächlich ist. Auch schwankt die Anzahl an
Teilnehmer*innen an solchen Events von CWS zu CWS. CWS3 sieht ein Problem in der Uhrzeit der
Events. Bei digitalen Veranstaltungen, die aufgrund der Corona-Pandemie zuletzt häufiger vorkamen,
hätten viele „einfach kein Bock mehr [...], sich um 17 Uhr noch mal in [Google] Hangout zu setzen,
nachdem sie schon das achte gehabt haben“ (Interview 4_CWS3_170620). Einige CWS verzeichnen
daher mehr Zuspruch bei Events am Morgen oder am Mittag.
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Event – Extern
CWS sind vielfach Orte, die Räumlichkeiten für Veranstaltungen anbieten, bei denen es zu einer Ver-
schneidung zwischen Coworker*innen und externen Akteur*innen kommen kann. Ähnlich wie bei der
Kategorie Place - Vermietung besteht so die Möglichkeit, dass Externe neues Wissen von außen hin-
einbringen und die CWS und die Coworker*innen kennenlernen. Grundsätzlich kann gesagt werden,
dass aus den Interviews drei Formen von externen Events hervorgehen, die jeweils unterschiedliche
Grade an Wissenstransfers aufweisen.
Erstere sind tendenziell feierliche Events, wie eine Eröffnungsfeier, bei der Akteur*innen aus der Stadt-
verwaltung oder aus Unternehmen