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JfAD Thementeil
MANUELA KELLER-SCHNEIDER
Was beschäftigt Studierende in der Rolle als Lehrpersonen?
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen
Abstract
Im Beitrag wird die Frage untersucht, was Studierende als angehende Lehrpersonen in von ihnen geführten
Unterrichtssequenzen wahrnehmen, welcheSituationensiebeschäftigenundwiesichzugrundeliegendeberuf-
liche Entwicklungsaufgaben ausbildungsphasenspezifisch konkretisieren lassen. In diesem Zusammenhang
kam ein stress- und ressourcentheoretisch begründetes Reflexionsinstrument zum Einsatz, welches subjektiv als
bedeutsam wahrgenommene Situationen ins Zentrum stellt. Die aus der Bearbeitung des Reflexionsinstruments
hervorgehenden Dokumente werden mittels Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse analysiert. Ergebnisse
zeigen, dass den Studierenden insbesondere Anforderungen der Klassenführung wichtig sind, wobei im ersten
Studienjahr die Sicherung des Unterrichtsablaufs, die durch Fehlverhalten von Kindern gefährdet wird, im Vor-
dergrund steht. Im zweiten Studienjahr werden Quellen von auf die Dynamik einwirkenden Interaktionen nicht
nur beim Kind gesehen, sondern teilweise auch bei der Lehrperson; zudem erkennen die angehenden Lehrper-
sonen nicht nur direkte, sondern auch indirekte und einen größeren Zeithorizont einnehmende Interventions-
möglichkeiten.
Keywords
Studierende als angehende Lehrpersonen, Reflexion von Erfahrungen im Schulfeld, berufliche Entwicklungs-
aufgaben, Klassenführung, Berufsrolle, individuelle Ressourcen
1 Einleitung
Reflexion ist ein viel verwendeter, aber insgesamt unscharf definierter Begriff, da Reflexion
an unterschiedlichen Ausgangspunkten ansetzen, aus unterschiedlichen Perspektiven erfol-
gen und auf unterschiedliche Zielsetzungen ausgerichtet werden kann. In der Lehrerinnen-
und Lehrerbildung wird Reflexion nicht nur zur zielgerichteten Optimierung von Handlun-
gen eingesetzt, sondern auch für die Verzahnung von allgemeinem, theoriebezogenem Wis-
sen mit spezifischen, schulfeldbezogenen Erfahrungen und – je nach professionstheoreti-
schem Ansatz – auch mit individuellen Faktoren, die als Ressourcen Professionalisierungs-
prozesse prägen. Reflexionsanlässe können, auf unterschiedliche Zielsetzungen ausgerich-
tet, vielfältig gestaltet, über spezifische Impulse ausgelöst werden und (angehende) Lehrper-
sonen sowie Schülerinnen und Schüler adressieren. Reflektieren als metakognitive (Mandl
& Friedrich, 2006) und didaktisch einsetzbare Tätigkeit (Kaiser, Kaiser, Lambert & Hohen-
stein, 2018; Keller-Schneider, 2018a) erfordert eine engagierte Auseinandersetzung mit
Wahrnehmungen und Sichtweisen, wenn eine über eine Deskription hinausgehende und
Erkenntnisse generierende Reflexionstiefe erreicht werden soll (Häcker, 2017; Hatton &
Smith, 1995; Leonhard & Rihm, 2011; Tiefel, 2004).
Der folgende Aufsatz untersucht schriftlich verfasste Ergebnisse von strukturierten Reflexio-
nen eigener Erfahrungen im Schulfeld von angehenden Lehrpersonen, um zu erkennen, wel-
che Situationen als bedeutend wahrgenommen werden und wie sich zugrundeliegende
berufliche Entwicklungsaufgaben ausbildungsphasenspezifisch konkretisieren lassen. Die
Reflexionsimpulse fokussieren auf Faktoren, welche zum subjektiven Verständnis einer
Situation beitragen. Die Reflexionsanlässe fanden im Rahmen von Begleitseminaren der
schulpraktischen Ausbildung der einphasigen Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der
Pädagogischen Hochschule Zürich statt, sollen ein vertieftes, mehrperspektivisches Verste-
hen erlebter Situationen ermöglichen und über die Diskussion eigener und fremder Sicht-
weisen zur Erweiterung möglicher Handlungsoptionen führen. Die in diesen Reflexionsan-
lässen entstandenen Dokumente werden im Rahmen einer Begleitstudie auf die subjektiv
wahrgenommenen Anforderungen hin untersucht, um dem Modell beruflicher Entwick-
lungsaufgaben folgend zu erkennen, was Studierende als angehende Lehrpersonen in spezi-
fischen Phasen ihrer Ausbildung beschäftig. Zudem wird untersucht, inwiefern sich die
Themen (focus of concerns, Fuller & Bown, 1975) und der Umgang damit ändert und inwie-
fern über Leitfragen ein Bewusstmachen von mitwirkenden individuellen Ressourcen und
ihr Zusammenwirken ermöglicht werden kann.
Nach Ausführungen zur theoretischen Fundierung der Studie und dem eingesetzten Refle-
xionsinstrument (Kap. 2), zu den Forschungsfragen (Kap. 3) sowie zum methodischen Vor-
gehen (Kap. 4) folgen Ergebnisse (Kap. 5), die abschließend auf die Professionalisierung
von Studierenden und auf Erkenntnisse für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung diskutiert
werden (Kap. 6).
2TheoretischeRamung
2.1 Wissen und Kompetenz als Basis von Professionalisierungsprozessen
Für das berufliche Handeln von Lehrpersonen ist Professionswissen grundlegend. Dieses
lässt sich nach Shulman (1986) und Bromme (1992) in Fachwissen, fachdidaktisches Wissen
und pädagogisch-psychologisches Wissen gliedern, ergänzt um curriculares, organisa-
tionales Wissen und Beratungswissen. Professionswissen kann erworben werden und wird
im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung vermittelt, wie sich in kompetenz-
orientierten Studien nachzeichnen lässt (König, 2014). Wissen zeichnet sich jedoch auch
durch unterschiedliche Wissensformen (Shulman, 1986) aus, die über unterschiedliche for-
schungsparadigmatische Zugänge untersucht werden. Als propositionales Wissen über
Schule lässt sich dieses erwerben, als Wissen aus der Schule wird dieses über biografische
(Lortie, 1975; Bremer, 2007; Helsper, 2018) sowie über schulfeldbezogene Erfahrungen auf-
gebaut (Arnold et al., 2011; Koˇsin´ar, Leineweber & Schmid, 2016; Keller-Schneider, 2016),
als Wissen für die Schule muss dieses in reflexionsbasierten Verarbeitungsprozessen
(Häcker, 2017; Keller-Schneider, 2018a) unter Berücksichtigung von Einstellungen (Cope-
land et al., 1993) eigenaktiv entwickelt werden.
Kompetenz als Handlungsdisposition liegt der Bewältigung von Anforderungen zugrunde.
Als Kontinuum verstanden (Blömeke, Gustafsson & Shavelson, 2015) beinhaltet Kompe-
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 41
tenz komplexe kognitive und motivational-affektive Faktoren, die der spezifischen
Situationswahrnehmung, Interpretation und Handlungsentscheidung zugrunde liegen, in
beobachtbaren Handlungen sichtbar werden und in ihrem Zusammenwirken die Perfor-
manz prägen. In diesen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Entscheidungsprozessen wirken
über das Wissen hinausführende motivationale, affektive und biografisch geprägte Fakto-
ren mit (Weinert, 2001; modelliert in Keller-Schneider, 2020a). Um diesem Verständnis
entsprechend Kompetenz über Reflexion zu fördern, müssen ergänzend zur Reflexion von
Handlung und ihrer Wirkung auch die der Handlung zugrundeliegenden Einstellungen
beleuchtet werden (Copeland et al., 1993), welche die Wissensaufnahme (Blömeke, Kaiser &
Lehmann, 2008, S. 305), die Wissensverarbeitung (Cochran-Smith & Zeichner, 2005, S. 52),
die Deutung von Situationen und daraus hervorgehende Anforderungen (Keller-Schneider,
2020b) und damit auch die Ausrichtung des Handeln mitbestimmen (Keller-Schneider,
2017).
Da das Handeln von Lehrpersonen kontextuell, situativ und individuell mitbestimmt ein
laufendes Abwägen von sich teilweise auch widersprechenden Wissensbeständen, Anforde-
rungen und Zielen erfordert (Keller-Schneider, 2010), ist zumindest implizite Reflexion als
reflection in action (Schön, 1983) eine dem Lehrberuf immanente Tätigkeit. Als reflection on
action (Schön, 1983) wird sie im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung gefördert
(Häcker, 2017; Keller-Schneider, 2018a). Reflexionen zu explizieren und damit sicht- und
diskutierbar zu machen, ist eine Voraussetzung, um in reflexiven Prozessen und auf Refle-
xion ausgerichteten Lehrveranstaltungen und Supervisionen an der Entwicklung von Kom-
petenz und deren Performanz zu arbeiten.
2.2 Individuelle Ressourcen als auf die Professionalisierung einwirkende Faktoren
Für Professionalisierungsprozesse sind damit nicht nur der Erwerb und die Nutzung von
Wissen von Bedeutung, sondern auch individuelle Merkmale, die als Ressourcen zur Wahr-
nehmung, Deutung und Bearbeitung von Anforderungen beitragen (Keller-Schneider,
2020a). Überzeugungen rahmen die Wahrnehmung von Anforderungen und selektionieren
über subjektive Bedeutungszuschreibungen (Lazarus & Folkman, 1984) und über die Pas-
sung zum eigenen Überzeugungssystem (Blömeke et al., 2008, S. 305) deren Aufnahme.
Motive und Ziele wirken als dynamisierende Komponenten auf Handlungsabsichten und
Handlungsziele ein (Heckhausen, 2009; Kleinbeck, 2006). Regulationsmöglichkeiten prägen
das Engagement und die Intensität der Auseinandersetzung (Zimmermann & Schunk,
2011). Stabile Persönlichkeitsmerkmale wirken als Filter auf die Wahrnehmung und Deu-
tung ein (Asendorpf, 2007), Emotionen färben diese affektiv (Boekaerts, 2011). Bedingt
durch das Mitwirken individueller Ressourcen können spezifische Situationen interindivi-
duell verschieden wahrgenommen werden. Cochran-Smith und Zeichner schreiben (2005,
S. 52): „Beliefs and attitudes are the lenses through which teachers enact and interpret their
daily work, and also the filters through which they use knowledge to construct practice“.
Professionalisierungsprozesse resultieren im Zusammenwirken unterschiedlicher Facetten
individueller Ressourcen; soziale Ressourcen können aktiviert werden, institutionelle
Erwartungen und Vorgaben tragen zur Ausrichtung bei (Keller-Schneider, 2010, 2018b).
42 Manuela Keller-Schneider
Diese in Reflexionsprozessen zu beleuchten kann zur Klärung von begrenzenden Faktoren
und zur Erweiterung von Handlungsoptionen beitragen.
2.3 Berufsphasenspezifische Charakteristika der Wahrnehmung von Situationen und
Anforderungen
Professionalisierung zeichnet sich der Novizen-Expertenforschung folgend durch unter-
schiedliche Verdichtungen und Vernetzungen aus (Dreyfus & Dreyfus, 1986; Berliner, 2001;
Bromme, 1992; Neuweg, 2004; Keller-Schneider, 2010). Das Wissen von Novizinnen und
Novizen ist von Regeln geleitet, die, als nützlich und den eigenen Überzeugungen entspre-
chend wahrgenommen (Blömeke et al., 2008), in unterschiedlichen Kontexten erworben
werden. Als voneinander isolierte Wissensfacetten bleiben diese regelgeleiteten Kenntnisse
an die je spezifischen Kontexte gebunden (Berliner, 2001; Neuweg, 2004); ein Transfer in
Anwendungsfelder erfordert metakognitive Reflexionsprozesse. In der Auseinandersetzung
mit situativ sich stellenden Anforderungen zeigen sich Widersprüchlichkeiten zwischen
einzelnen, unverbundenen Wissensfacetten, die eine Weiterentwicklung des regelgeleiteten
Wissens erfordern, zu einem von Richtlinien geleiteten Wissen führen und sich in Hand-
lungsplänen niederschlagen, die größere, über den Moment hinausgehende Zeithorizonte
in den Blick nehmen (Berliner, 2001; Neuweg, 2004). Professionalisierung zeigt sich somit
in der Veränderung der latenten Strukturen von subjektiv verankertem und von individuel-
len Ressourcen geprägtem Wissen, das als Kompetenz in der Bewältigung von Anforderun-
gen zum Tragen kommt. Situationen und eigene Ressourcen zu reflektieren wird in der
Ausbildung von Lehrpersonen vermehrt praktiziert, um über die daraus hervorgehenden
Erkenntnisse und Ziele Verdichtungen und Vernetzungen zwischen unterschiedlichen
Wissensbereichen zu ermöglichen, Situationen vertiefter zu verstehen und in der professio-
nellen Entwicklung voranzukommen.
Dem entwicklungspsychologisch begründeten Konzept von Entwicklungsaufgaben folgend
(Havighurst, 1948) stellen sich gesellschaftlich bedingte, subjektiv angenommene und
lebensphasenspezifisch geprägte Entwicklungsaufgaben, die vom Individuum als Heraus-
forderungen angenommen und bearbeitet werden und zu Erkenntnissen führen, die, in die
individuellen Ressourcen integriert (Neuweg, 2014), diese verändern (Dreyfus & Dreyfus,
1986) und nachfolgende Anforderungen in einen veränderten Referenzrahmen stellen (Kel-
ler-Schneider, 2020a, S. 151). Entwicklungsaufgaben stützen sich auf bereits gelöste, eröff-
nenneuePerspektivenundgebendamitdenBlick auf nächste Entwicklungsaufgaben frei.
Berufliche Entwicklungsaufgaben fokussieren auf Kernbereiche eines spezifischen Berufs
und lassen sich für den Lehrberuf in Anforderungen an die Person, an die Vermittlung von
Sach- und Fachinhalten, an Anerkennungs- und Führungsanforderungen sowie an Koopera-
tionsanforderungen im institutionellen Kontext (Hericks, 2006; Keller-Schneider, 2010; Her-
icks, Keller-Schneider & Bonnet, 2019). Diese wurden für den Berufseinstieg empirisch
gestützt konkretisiert (Keller-Schneider, 2010). Dem Konzept von Entwicklungsaufgaben
folgend müssen den sich stellenden Entwicklungsaufgaben bereits gelöste vorausgehen. Wie
sich diese für die Ausbildung konkretisieren, wurde in einem heuristischen Modell ent-
wickelt (Keller-Schneider, 2020c).
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 43
2.4 Reflexionsinstrument zur multifaktoriellen Analyse subjektiv wahrgenommener Situa-
tionen
In diesen theoretischen Herleitungen wird deutlich, dass die individuelle Wahrnehmung
von situativ sich stellenden und mittels individueller Ressourcen subjektiv gedeuteter
Anforderungen, auf unterschiedliche Entwicklungsaufgaben fokussierend, für die Professi-
onalisierung von (angehenden) Lehrpersonen von Bedeutung ist. Um die Reflexion von
subjektivem Wahrnehmen und Deuten von schulfeldbezogenen Erfahrungen von (ange-
henden) Lehrpersonen zu initiieren, wurde ein Reflexionsinstrument entwickelt, das, aus-
gehend von subjektiv relevanten im Schulfeld erlebten Begebenheiten, über die Reflexion
von individuellen Ressourcen und die Synthese unterschiedlicher Zugänge zu einem tiefe-
ren Verständnis der Situation und zu erweiterten Handlungsoptionen führen kann. Dieses
stellt eine subjektiv als bedeutsam erlebte Situation ins Zentrum und regt über Leitfragen
Reflexionsprozesse an, über welche die Situation über unterschiedliche Zugänge reflektiert
wird. Die zu reflektierende Situation wird von sechs Feldern unterschiedlicher Zugänge
gerahmt, die über Leitfragen angeregt werden (Abb. 1); Situationsbeschreibung und Refle-
xionen werden von den Studierenden in die entsprechenden Felder geschrieben. In Abbil-
dung 1 wurde die Schrift der Leitfragen vergrößer, um deren Lesbarkeit zu ermöglichen,
woduch die für die Texte vorgesehenen Freiräue entfallen.
Abb. 1: Reflexionsinstrument zur mehrperspektivischen Analyse von konkreten Situationen im Schulfeld (Kel-
ler-Schneider, 2018a, S. 47)
44 Manuela Keller-Schneider
3 Fragestellungen
Das Reflexionsinstrument (Abb. 1) wurde in reflexionsorientierten Lehrveranstaltungen in
der schulpraktischen Ausbildung1
1Diese gliedert sich in der ersten Studienhälfte in Tagespraktika, Begleitseminare und Wochenpraktika, wird im vieren
Semester durch ein Quartalspraktikum mit Vorbereitungswochen, Zwischen- und Abschlussauswertungen weiterge-
führt und wird von einem dreiwöchigen Lernvikariat mit eigenverantwortlicher Unterrichtstätigkeit abgeschlossen.
angehender Lehrpersonen eingesetzt. Die daraus hervor-
gehenden schriftlichen Dokumente werden nach den folgenden Forschungsfragen unter-
sucht.
1) Welche Situationen und daraus hervorgehenden subjektiv wahrgenommenen Anforde-
rungen werden in den Analysen thematisiert?
2) Inwiefern lassen sich ausbildungsphasenspezifische Schwerpunkte erkennen?
3) Welche fallspezifischen Entwicklungenlassensicherkennen?
4) Inwiefern können über das eingesetzte Reflexionsinstrument die unterschiedlichen
Zugänge auf die subjektiv wahrgenommenen Situationen und die daraus hervorgehenden
Handlungsoptionen erschlossen werden?
4. Methodisches Vorgehen
Design: Die Studie nutzt die im Rahmen von Begleitseminaren entstandenen Dokumente
mit Analysen von Praxiserfahrungen aus Tages- und Wochenpraktika von Studierenden
der einphasigen Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Pädagogischen Hochschule
Zürich. Zur Reflexion von Erfahrungen wurde das oben beschriebene und theoretisch
begründete Reflexionsinstrument eingesetzt, welches dem berufsbiografischen Ansatz fol-
gend subjektiv als bedeutsam wahrgenommene Situationen aus unterschiedlichen Perspek-
tiven beleuchtet, die als individuelle Ressourcen die Wahrnehmung, Deutung und Bearbei-
tung von Anforderungen prägen.
Datenerhebung: Das Reflexionsinstrument wurde im zweiten und im vierten Semester
(2019 und 2020) in Begleitseminaren der schulpraktischen Ausbildung 2
2In der einphasigen Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der Schweiz werden Praxiserfahrungen und eigenes Handeln
als Lehrpersonen ab dem ersten Semester ins Studium integriert und im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung
sowie in weiteren Lehrveranstaltungen genutzt (z. B. Keller-Schneider, 2018 b).
in einer Mentorats-
gruppe3
3Mentoratsgruppen sind an der Hochschule angesiedelte konstante Ausbildungsgruppen von Studierenden, die
gemeinsam die Lehrveranstaltungen der schulpraktischen Ausbildung besuchen und von derselben Dozentin bzw.
demselben Dozenten der Hochschule (Mentor/Mentorin genannt) in Begleitseminaren ausgebildet und in den schul-
praktischen Sequenzen besucht, begleitet und beurteilt werden.
eingesetzt. Aufgrund der coronabedingten Schulschließung fehlt eine dritter Erhe-
bung, die im Anschluss an das Quartalpraktikum geplant war. Das erste Begleitseminar am
Ende des zweiten Semesters war inhaltlich offen gestaltet; das Begleitseminar der zweiten
Erhebung fokussierte auf die Thematik der Klassenführung. Im Rahmen der beiden Begleit-
seminare wurden die Studierenden in einer rund 30-minütigen Senquenz aufgefordert, eine
ihnen wichtige Situation zu beschreiben und unter Nutzung der Impulsfragen des Reflexi-
onsinstruments unter verschiedenen Perspektiven zu analysieren. Die auf diese Weise ent-
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 45
standenen Dokumente mit kurzen, teilweise in Stichworten formulierten Texten dienten
einerseits der weiteren Reflexion der Erfahrungen und der Entwicklung von Handlungsop-
tionen in der Ausbildungsgruppe sowie als Datengrundlage der explorativen Begleitstudie
«Berufsbezogene Entwicklungsaufgaben angehender Lehrpersonen im Kontext der schulfeld-
bezogenen Ausbildung».
Instrument: Zur Initiierung des Reflexionsprozesses diente das von Keller-Schneider entwi-
ckelte Reflexionsinstrument (2018a, S. 47), welches auf dem wahrnehmungsgestützten,
stress- und ressourcentheoretisch begründeten Modell der Professionalisierung von Lehr-
personen basiert (Keller-Schneider, 2020a, S. 51). Im Zentrum steht eine erinnerte subjektiv
bedeutsame Begebenheit im Schulfeld, die mittels Leitfragen aus unterschiedlichen Per-
spektiven beleuchtet wird. Die Leitfragen fokussieren pädagogisch-psychologisches, fachli-
ches und fachdidaktisches Wissen, Überzeugungen, Motive und Ziele, sowie Regulations-
möglichkeiten.4
4In einer späteren Version wurden Emotionen als siebtes Feld dazu genommen (Keller-Schneider, 2020a, S. 420).
Durch die Leitfragen, die je einen spezifischen Bereich der individuellen
Ressourcen fokussieren, soll eine mehrperspektivische und facettenreiche Reflexion ange-
regt werden.
Stichprobe: Die Stichprobe umfasst insgesamt zwölf Studentinnen des Studiengangs Kinder-
garten/Unterstufe der einphasigen Lehrerinnen- und Lehrerbildung der Pädagogischen
Hochschule Zürich, wobei sieben in beiden Erhebungszeitpunkten beteiligt waren.
Datenkorpus: Dieser umfasst insgesamt 19 Dokumente, neun sind im ersten Zeitpunkt ent-
standen, zehn im zweiten. Die Gedanken wurden in Stichworten und Satzfragmenten in die
Felder geschrieben, wobei einzelne Felder auch leer blieben.
Datenanalyse: Die in den Begleitseminaren entstandenen schriftlichen Dokumente wurden
inhaltsanalytisch ausgewertet (Mayring, 2015; Kuckartz, 2018). In der Methode der qualita-
tiven Inhaltsanalyse werden über eine regelgeleitete Systematisierung die zur Sprache
gebrachten manifesten sowie die darüber hinausgehenden latenten, über Explikationen
erschlossenen Inhalte mittels deduktiv abgeleiteten und induktiv aus dem Material heraus-
gearbeiteten Kategorien und Kodierleitfaden analysiert und interpretiert (Stamann, Janssen
& Schreier 2016; Kuckartz, 2018). Analysiert werden die Beschreibungen einer Situation; die
Gedanken, die in die Analysefelder geschrieben wurden, werden im Sinne von Explikatio-
nen zugezogen (Mayring, 2015).
Im ersten Auswertungsschritt wurden die beschriebenen und bearbeiteten Situationen mit-
tels deduktiv entwickelter Kategorien analysiert (Mayring, 2015). Als Hauptkategorien wur-
den die vier beruflichen Entwicklungsaufgaben verwendet (Keller-Schneider & Hericks,
2014), die sich auf Anforderungen an die Person in ihrer Rolle als Berufsperson, an die Ver-
mittlung von Sach- und Fachinhalten, an die Klassenführung, sowie an die Kooperation in
und mit der Institution Schule richten. Wie sich diese Entwicklungsaufgaben bei angehen-
den Lehrpersonen konkretisieren, wurde in einem zweiten Auswertungsschritt mit induktiv
aus dem Material herausgearbeiteten Subkategorien analysiert. Die aus den Analysen der
Dokumente hervorgehenden Ergebnisse wurden in einer Profilmatrix (Kuckartz, 2018,
S. 526) festgehalten, in welcher die Analysen je Kategorie und Fall sichtbar sind, und in
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einem dritten Auswertungsschritt fallspezifisch untersucht (fallorientierte qualitative
Inhaltsanalyse, vgl. Kuckartz, 2018; Keller-Schneider, 2020b). Im vierten Auswertungs-
schritt wurde geprüft, in welcher Weise die Analysefelder des Reflexionsinstruments ver-
standen werden und inwiefern den Studierenden eine Differenzierung zwischen den
Zugängen möglich ist.
5 Ergebnisse
5.1 Entwicklungsaufgaben und ihre Konkretisierung in den geschilderten Situationen,
erste Erhebung
Die Ergebnisse der nach den Hauptkategorien analysierten Situationen zeigen, dass sich in
fünf von neun Situationen die Entwicklungsaufgabe der Klassenführung dokumentiert.
Dabei wurde von den Schülerinnen und Schülern ausgehendes negatives Verhalten in den
Blick genommen: „Er wird wütend, wenn man mit ihm über Fehlverhalten spricht, und legt
sich einfach auf den Boden“ oder „Die erste Gruppe zeigt wenig Motivation, steckt moti-
vierte SuS negativ an; die zweite Gruppe ist sehr motiviert“. Wie die Studentinnen darauf
regierten, bleibt in der Situationsbeschreibung offen. Störendes Verhalten, ergänzt um die
Reaktion der Lehrperson, wird in drei weiteren Situationen beschrieben und zeigt sich als
auf den Moment bezogenes direktes und direktives Intervenieren, um das erwünschte Ver-
halten einzufordern. „Ich wollte ihn nehmen und neben mich setzen; er wollte nicht und
hielt sich mit aller Kraft an der Bank fest“ und „Das Kind reißt sich sehr grob aus meiner
Berührung (Festhalten am Arm)“.5
5In der Diskrepanz in der Wortwahl ‚Berührung‘ und der Ergänzung ‚Festhalten am Arm‘ wird deutlich, dass sich bei
der angehenden Lehrperson intrapsychisch ein Konflikt zwischen Sich-Durchsetzen und dem als nicht angemessen
gewertetem Einsatz von Körperkraft abspielt.
In der dritten Situationsbeschreibung “Bestrafung eines
Jungen. Bei nicht erwünschtem Verhalten bekommt er ein Puzzle“ erfolgt das Sich-Durch-
setzen über eine direkte Sanktion, aufgrund welcher ein Gehorchen des Jungen eingefordert
wird. Anforderungen der Klassenführung zeigen sich im ersten Studienjahr als auf den
aktuellen Moment bezogenes direktes Intervieren auf von den Schülerinnen und Schülern
verursachte Störungen. Über Explikationen wird deutlich, dass den Studierenden die Mitar-
beit aller Kinder ein großes Anliegen ist und dass keines den Unterricht durch abweichen-
des Verhalten stören oder von anderen Kindern gestört werden darf. Dies wird durch eine
direktive Führung und reaktive Interventionen angestrebt. In den verschriftlichen Überzeu-
gungen, dass durch den Aufbau einer Sicherheit gebenden Beziehung und durch einen
attraktiven, alle Schülerinnen und Schüler erreichenden Unterricht störendes Verhalten
reduziert werden kann, werden Anzeichen deutlich, dass Störungen auch in indirekter
Weise begegnet werden kann. In dieser Wahrnehmung der Anforderungen der Klassenfüh-
rung zeigen sich auch Facetten der Entwicklungsaufgabe der Rolle; den Studierenden ist es
ein Anliegen, sich in der Fähigkeit zu bestätigen, Handlungen anleiten und Abläufe sicher-
stellen zu können. Eine Klasse führen zu können, konsequent von allen das erwartete Ver-
halten einzufordern und abweichendes Verhalten zu lenken steht im Kern des ausbildungs-
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 47
phasenspezifischen Verständnisses der Anforderungen der Klassenführung am Ende des
ersten Studienjahres.
In drei weiteren Situationen manifestiert sich das Verständnis der Rolle als Lehrperson,die
sich im Da-Sein als offene, Freude und situativ Impulse einbringende Lehrperson konkreti-
siert. So weisen Äußerungen wie „selber Freude an der Sache haben und diese weitergeben“,
„das Kind braucht Zuneigung“ und „den Kindern zeigen, was sich spannendes im Alltag
versteckt“, darauf hin, dass sich diese angehenden Lehrpersonen als Bezugspersonen anbie-
ten und über das eigene Interesse sowie über Zuwendung allen Kindern Freude und Entde-
cken ermöglichen wollen.
In einer Situation klingt die Entwicklungsaufgabe der Kooperation in und mit der Institution
an, wobei sich diese in der asymmetrischen und von Abhängigkeit geprägten Beziehung zur
Praktikumslehrperson zeigt. So ist die Studentin enttäuscht, dass die Praktikumslehrperson
nicht auf ihre Idee eingeht und nicht erläutert, warum diese von ihr als nicht passend gese-
hen wird.
Die Entwicklungsaufgabe der Vermittlung von Sach- und Fachinhalten klingt nur indirekt
an und zeigt sich in der Freude an der Sache, die weitergegeben werden soll, sowie im situati-
ven Aufgreifen von sich zeigenden Phänomenen. Die zentrale Tätigkeit der Vermittlung,
die mit der Vorbereitung, Durchführung und Besprechung von Unterrichtssequenzen den
Hauptteil der Zeit im Schulfeld einnimmt, wird zu Beginn der Ausbildung in keiner der
geschilderten Situationen thematisiert.
5.2 Entwicklungsaufgaben und ihre Konkretisierung in den geschilderten Situationen,
zweite Erhebung
Das Reflexionsinstrument wurde im vierten Semester (zweite Erhebung) im Kontext einer
Begleitseminarveranstaltung zur Thematik Klassenführung eingesetzt. Bedingt durch diese
thematische Fokussierung zeigen sich in den Situationsanalysen mehrheitlich Anforde-
rungen der Klassenführung. Dabei wird überwiegend störendes Verhalten der Kinder the-
matisiert, das in fünf Situationen von einem einzelnen Kind ausgeht, in zwei Situationen
von einer Gruppe. Die thematisierten Störungen fokussieren das Verhalten selbst (sich in
einer Sequenz im Freien vom Pausenplatz entfernen, Störungen in der Kreissequenz, die
Mitarbeit verweigern), auf den Inhalt des Verhaltens (Rauchen imitieren) oder auf dessen
Kontextuierung, wodurch das Verhalten zur Störung wird (anderen helfen, wenn Hilfe
geben nicht angesagt ist). In diesen Situationen werden die Störungen als von den Kindern
verursacht beschrieben.
In drei Situationen wird die Quelle der Störung als von der Lehrperson ausgehend erkannt.
Eine Studentin bezeichnet das eigene von der Regel abweichende Verhalten als die Störung
auslösend („die einen ließ ich dreinreden, andere nicht; die einen, die ich sprechen ließ, mel-
deten sich durch Handerheben, andere nicht“), eine andere erkennt, dass sie durch ihre
Fokussierung auf ein Kind den Gesamtblick verloren und damit die Aufgabe der Klassen-
führung nicht mehr wahrgenommen habe, was zu Störungen führte („Ausblenden der
anderen Kinder in einem Gespräch mit einem Kind, damit verlor ich den Gesamtüber-
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blick“). In der dritten Situation wird deutlich, dass durch eine den Kindern nicht bekannte
Bedeutung eines Signals Verwirrung entstanden war und dass damit die Störung ausgelöst
wurde („Ich habe erwartet, dass die Schüler/innen beim Gongschlag stehen bleiben und
zuhören, doch die Kinder kannten diese Bedeutung des Signals nicht“).
Insgesamt nehmen sich in diesem zweiten Erhebungszeitpunkt einige angehende Lehrper-
sonen (3 von 10) nicht nur als auf eine von Kindern ausgelöste Störung reagierend wahr,
sondern auch, durch das eigene Verhalten bedingt, als eine Störung auslösend.
5.3 Entwicklungen – fallorientierte Analysen
Bedingt durch Wechsel in der Mentoratsgruppe (Studienabbruch oder -unterbruch) existie-
ren von insgesamt sieben Studierenden Dokumente aus beiden Zeitpunkten. Diese werden
im nächsten Auswertungsschritt der fallorientierten qualitativen Inhaltsanalyse folgend
längsschnittlich betrachtet und nach überdauernden Themen und der Art und Weise ihrer
Bearbeitung untersucht.
In den kategorieorientierten Analysen wird deutlich, dass sich die von den Studierenden
beschriebenen Situationen in zwei Dimensionen unterscheiden: Im Verständnis der Quelle
von Dynamiken (Schüler/innen vs. Lehrperson) sowie in der Art der Intervention der Lehr-
person (direkt reagierend vs. indirekt agierend). Im nächsten Analyseschritt werden die
Fälle (über ihre anonymisierten Initialen) in einem von diesen Dimensionen aufgespannten
Raum positioniert (t1) und nach möglichen Entwicklungen (t1
–
t2) untersucht (Abb. 2).
Abb. 2: Im von den Dimensionen Quelle der Dynamik und Art der Intervention der Lehrperson aufgespannten
Raum positionierte Fälle (erste Erhebung) und ihre aus den Analysen der zweiten Erhebung abgeleite-
ten Entwicklungen
GX schildert in beiden Sequenzen eine Unterrichtsstörung. In der ersten versucht sie, über
eine direkte, das Kind festhaltende Intervention dieses an den richtigen Ort zu bekommen,
um die Störung zu unterbrechen. In der Analyse der zweiten Situation zeigt sich, dass sie
durch eine bessere Passung des Unterrichts auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen
möchte. Im Reflexionsfeld zum fachdidaktischen Wissen erwähnte GX, dass der Unterricht
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 49
zu abstrakt war, was den Schülerinnen und Schülern den Zugang zum Lerngegenstand
erschwerte. Aufgrund der Formulierung kann angenommen werden, dass dieses Wissen
vermutlich aus Rückmeldungen der Praktikumslehrperson stammt und von GX als ihre
Absichten unterstützend angenommen wurde. Im Verständnis von Klassenführung wird
eine Veränderung sichtbar: Wird in der ersten Situation eine Störung als vom Kind verur-
sacht betrachtet und von der Lehrerin in einer direkten Intervention begegnet, so zeigt sich
in der zweiten Situation ein verändertes Verständnis, indem Störungen auch als von nicht
passendem Unterricht ausgelöst betrachtet werden und damit über das Bestreben, eine bes-
sere Passung des Unterricht zu finden, ein indirekter Umgang mit Störungen möglich wird.
Veränderungen zeigen sich in beiden Dimensionen (Quelle und Art der Intervention).
Bei TL geht das Fehlverhalten in beiden Situationen von einem Kind aus, die Studentin rea-
giert in der Rolle als Lehrerin über direkte Interventionen. In beiden Sequenzen steht das
Thema der Bestrafung im Zentrum, um unerwünschtem Verhalten zu begegnen und
erwünschtes zu erreichen. In der ersten Sequenz setzt die Studentin das von der Praktikums-
lehrerin genutzte Timeout (an einem Puzzle arbeiten) als Bestrafung für störendes Verhal-
ten in der Kreissequenz ein (,er bekommt ein Puzzle‘). In der zweiten Situation schildert sie,
dass sie ein Kind, das Rauchen imitiere, was sie nicht dulde, da Rauchen schlecht sei, zur
Einsicht bringen möchte und erst, wenn nötig, Bestrafungsmaßnahmen treffen wolle. In
beiden Sequenzen wird ihre normative Vorstellung über richtiges Verhalten der Schülerin-
nen und Schüler sichtbar. Eine Veränderung in der Art ihrer Interventionen zeigt sich darin,
dass sie in der ersten Situation die Strafe direkt auf die fehlbare Handlung folgen lässt, in der
zweiten jedoch ein Bestreben um Einsicht einschiebt; Strafmaßnahmen werden erst in zwei-
ter Linie getroffen. In der Konkretisierung der Entwicklungsaufgabe der Klassenführung
könnte sich, bei gleichbleibender, beim Kind angesetzter Quelle des störenden Verhaltens,
eine Veränderung in der Intervention der Lehrerin zeigen, wobei sie in beiden Situationen
direkt auf die Situation bezogen interveniert.
EA schildert in beiden Sequenzen eine Situation, in welcher ein Knabe im Unterricht „nicht
mitmachen will“ und die Anweisungen der Lehrerin nicht befolgt. In der ersten Sequenz
bemüht sie sich, durch Festhalten des Knaben sich durchzusetzen, was ihr trotz dem Einsatz
von körperlichen Kräften nicht gelingt. In der zweiten Sequenz kommen nonverbale Signale
zur Sprache, die sie einführen und früh genug einsetzen will, um Fehlverhalten des spezifi-
schenKnabenzuvermeidenundeinenreibungslosen Unterricht zu erreichen. Durch eine
wirksame Klassenführung soll die Lernzeit erhöht werden. Die thematische Fokussierung
auf ein, eine Störung verursachendes Kind bleibt erhalten (Quelle), die Art der Intervention
ändert sich; die Lehrerin agiert in der zweiten Situation indirekt, indem sie ein zuvor verein-
bartes und eingeübtes Zeichen einsetzen will. In dieser Intervention könnte sich zeigen, dass
sie dem Kind mehr Selbststeuerung zutraut und sich selbst als reaktiv intervenierende Lehr-
person zurücknehmen möchte.
In den von NO geschilderten Situationen wird Klassenführung als eine Vertrauen und
Beziehung aufbauende sowie Grenzen setzende Aufgabe angesprochen. Die Studentin
nimmt sich dabei in der Rolle einer Präsenz und Zuwendung ausstrahlenden Lehrerin wahr.
Ihrer Beschreibung entsprechend gehen die Störungen vom Kind aus (Quelle), die indirekt
50 Manuela Keller-Schneider
auf die Situation einwirkende Intervention der Lehrerin besteht darin, über Zuwendung
Vertrauen aufzubauen und damit über Beziehung den Störungen indirekt zu begegnen. In
den Analysen der Situationen und im Umgang damit lassen sich keine Veränderungen
erkennen, wobei die Analysen sehr allgemein gehalten sind.
MT thematisiert in beiden Reflexionsanlässen störendes Verhalten der Klasse. In der ersten
Reflexion thematisiert sie die Differenz in der Dynamik (Mitmachen vs. Nicht-Mitmachen)
zwischen den beiden Halbklassen. In der ersten Reflexion wird die Störung von Kindern
ausgehend beschrieben; MT übernimmt keine Mitverantwortung für die entstandene Dyna-
mik und erkennt keine eigenen Handlungen, die zur entstandenen Situation beigetragen
haben. In der zweiten Reflexion wählt sie wiederum eine Sequenz, in welcher die Klasse
„sich weigert mitzumachen“. Gestützt auf die Überzeugung, dass Schülerinnen und Schüler
einen abwechslungsreichen Unterricht brauchen, möchte sie durch eine Verbesserung ihres
Unterrichts erreichen, dass „die Kinder in interessanten Lernmöglichkeiten freiwillig mit-
machen“. Sie übernimmt damit mehr Verantwortung für Unterrichtsstörungen und
erkennt eigene Handlungsmöglichkeiten, um Störungen präventiv zu vermeiden. Störun-
genwerdenindererstenErhebungalsvomKindausgehend betrachtet, in der zweiten, über
einen nicht passenden Unterricht, auch von der Lehrperson selbst. Über indirekte Interven-
tionen der besseren Passung des Unterrichts will sie Störungen vorbeugen.
In den von FJ beschriebenen Sequenzen wird die Freude am Tun deutlich. In der ersten
Sequenz zeigt sich diese in einem Lied, das die Kinder aus den Tagespraktika kannten und
im Wochenpraktikum aus eigener Initiative gesungen hätten, was sie sehr gefreut habe. In
der zweiten Sequenz manifestiert sich diese in einer nicht angemessenen, aber auch nicht
störenden und mit Freude ausgeübten Aktivität eines Kindes. Die Lehrerin fragt sich, ob sie
eingreifen oder aufgrund der Freude des Kindes dieses gewähren lassen soll. Sie reflektiert
in ihrer Analyse die Bedeutung von Regeln und bringt dabei zur Sprache, dass diese nicht
absolut gelten, sondern von Lehrpersonen situativ angemessen und die Dynamik abschät-
zend durchgesetzt werden sollen. Klassenführung und die Rolle einer Lehrperson werden
nicht nur auf den Umgang mit Störungen ausgerichtet, sondern beziehen sich auf die, über
indirekte Interventionen ausgeübte Lenkung der Dynamik insgesamt. Diese wird in der
Freude sichtbar, welche die Lehrerin in der ersten Situation zeigt. Durch das Abwägen in der
zweiten Situaiton, ob sie trotz der Freude des Kindes intervenieren soll, nimmt FJ eine
innerlich aktivere Rolle ein, auch wenn sich diese nicht in einer Handlung niederschlägt.
Das für Novizinnen und Novizen charakteristische Denken, Regeln konsequent zu verfol-
gen, wird durch situative Bedingungen und durch die subjektive Überzeugung, dass Freude
wichtiger sei, gelockert. In ihrem Abwägen, ein situativ passendes Handeln zu finden, zeigt
sie, dass sie sich im Umgang mit dieser Situation und den an sie gestellten Führungsanforde-
rungen vom Stadium des regelgeleiteten Denkens von Noviz/innen entfernt und in ein von
Richtlinien gekennzeichneten Handeln von kompetenten Anfänger/innen entwickelt hat
(vgl. dazu Dreyfus & Dreyfus, 1986; Berliner, 2001; Neuweg, 2014).
In den Reflexionen von FS zeigt sich in beiden Situationen eine Fokussierung auf die indivi-
duellenSchülerinnenundSchüler,wobeiinbeidenAnalysendieUrsachedesstörenden
Verhaltens der Kinder bei der Lehrperson gesehen wird. In der ersten Sequenz kommt diese
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 51
über das Verhalten der Praktikumslehrperson zur Sprache, welche „ein Kind fallen lässt“
und Schwierigkeiten mit den Eltern auf das Kind übertrage. In der zweiten Sequenz erkennt
sie, dass sie sich in ein Gespräch mit einem Kind vertieft und damit den Überblick über die
Klasse verloren habe. Aus beiden Sequenzen geht hervor, dass sich die Lehrerin bemüht,
sich auf ihre Rolle zu konzentrieren, um sich (unabhängig von Vorgeschichten) sowohl auf
die einzelnen Kinder auszurichten und zugleich das Geschehen insgesamt im Auge zu
behalten. Sie erkennt die Komplementarität des Lehrer-Schüler-Verhaltens und ist sich
bewusst, dass sie bei sich ansetzen und das eigene Handeln gestalten kann, um indirekt Ein-
fluss auf das Verhalten der Kinder auszuüben. In beiden Situationen fokussiert die Studen-
tin auf die Rolle einer Lehrperson, die über direkte und indirekte Interventionen die Dyna-
miken gestaltet.
IndenfallorientiertenlängsschnittlichenAnalysenzeigensichunterschiedlicheAusgangs-
punkte und Verläufe. In Ansätzen lässt sich erkennen, dass die Quelle von Dynamiken
zunehmend in der Interdependenz von Schüler/innen und Lehrperson gesehen wird und
dass das Geschehen über direkte und indirekte Interventionen der Lehrperson gestaltet wer-
den kann.
5.4 Analysefelder und ihre Verbindung zur beschriebenen Situation
Erstes Studienjahr (erste Erhebung): Das als mögliche Ressource verfügbare und zur Erklä-
rung der Situation beigezogene Wissen zeichnet sich mehrheitlich durch Alltagswissen aus;
die Begriffe ‚Pädagogisch-psychologisches Wissen‘, ‚Fachwissen‘ und ‚Fachdidaktisches
Wissen‘ scheinen noch keine berufsspezifischen Wissensbereiche zu erschließen. So bleibt
im bisherigen Studium erworbenes entwicklungspsychologisches, sozialpsychologisches,
kommunikationspsychologisches, lernpsychologisches sowie fachdidaktisches Professions-
wissen, trotz hinführender Leitfragen, unerwähnt. Da in keiner der geschilderten Situation
ein Vermittlungs- und damit auch kein Fachbezug zur Sprache kommt, ist durch die Wahl
der Situationen ein Rekurrieren auf Fachwissen und auf fachdidaktisches Wissen nicht
möglich. In den wissensorientierten Rubriken werden mehrheitlich Überzeugungen (im
Sinne subjektiver Theorien) oder Wissen über das Kind (familiärer Hintergrund, Schwie-
rigkeiten) genannt. Einzig in der Analyse der Situation, in welcher eine Studentin die
Zusammenarbeit mit der Praktikumslehrperson thematisiert und eine offene Kommuni-
kation vermisst, wird eine Verbindung zur Kommunikationstheorie von Schulz von Thun
hergestellt. Dieser Bezug ermöglicht der Studentin, die nonverbale Botschaft der Prakti-
kumslehrperson als Botschaft zu verstehen und zu entschlüsseln. Die zur Sprache gebrach-
ten Überzeugungen (Kinder brauchen Grenzen, Kinder brauchen ein anregendes Lern-
klima, Kinder brauchen einen sicheren Ort) und Motive (Beziehung aufbauen, Motivation
der Schülerinnen und Schüler fördern, zur Bezugsperson werden) sind genereller Art und
weisen einen losen Bezug zu den geschilderten Situationen auf. Aus den Dokumenten geht
hervor, dass es den Studierenden im ersten Studienjahr schwerfällt, eine Verbindung zwi-
schen einer von ihnen erlebten Situation und den zur Analyse nutzbaren individuellen Res-
sourcen herzustellen, die über die Leitfragen im Reflexionsinstrument angeregt werden soll-
ten. Ebenso zeigt sich, dass ihnen die unterschiedlichen Bereiche des Professionswissens
52 Manuela Keller-Schneider
wenig vertraut sind und dass Wissen und Überzeugungen sowie Motive/Ziele und Regulati-
onsmöglichkeiten fließend ineinander übergehen.
Zweites Studienjahr (zweite Erhebung): Wird das in den Analysen aufgeführte Wissen nach
Hinweisen auf Professionswissen untersucht, so wird auch in dieser zweiten Erhebung
(Beginn des vierten Semesters) deutlich, dass wenig auf in der Ausbildung erworbenes Pro-
fessionswissen rekurriert wird. Aufgrund des fehlenden Vermittlungsbezugs in den
beschriebenen Situationen kommt wiederum kein Fachwissen und kein fachdidaktisches
Wissen zur Sprache. In einer geschilderten Situation zeigt sich ein Hinweis auf pädagogisch-
psychologisches Wissen, indem die Studentin ihr Ziel eines reibungslosen Unterrichts
damit untermauert, dass bei fehlender Klassenführung 35% der Unterrichtszeit verloren
gehe. In den Analysen von vier Studierenden werden subjektive Theorien als Wissen darge-
legt.InzweiAnalysenwurdeunterWissendasvonderPraktikumslehrpersonweitergege-
bene Wissen über das Kind bzw. über die Kinder aufgeführt. In zwei weiteren Analysen
erscheint das dargelegte Wissenals Rückmeldung von der Praktikumslehrperson. Teilweise
sind die Felder für Wissensbezüge leer. Auch im vierten Semester rekurrieren die Studieren-
den in ihren Analysen nicht auf erworbenes Professionswissen. In den drei Zugängen Über-
zeugungen, Motive und Regulation wird in den Analysen eine klarere Fokussierung deutlich,
als dies in der ersten Erhebung der Fall war. Die Studierenden differenzieren zwischen
Überzeugungen, die den eigenen Wahrnehmungen und Gedanken einen Rahmen geben,
Zielen, welche sie durch ihr eigenes Handeln als Lehrperson erreichen möchten und
Absichten, auf die sie ihren weiteren Lernprozess ausrichten.
6 Diskussion der Ergebnisse und ihre Bedeutung für die Ausbildung
1) In der thematischen Ausrichtung der geschilderten Situationen sind in beiden
Erhebungszeitpunkten Anforderungen zur Klassenführung dominant. In der ersten Erhe-
bung war die thematische Ausrichtung der zu analysierenden Situationen offen, in der zwei-
ten wurde diese durch die Einbettung in die Thematik Klassenführung geprägt. Zum ersten
Zeitpunkt am Ende des ersten Studienjahres wird deutlich, dass hauptsächlich die Sicher-
stellung des Unterrichtsablaufs im Zentrum steht, und dass Maßnahmen getroffen werden,
die sich auf den aktuellen Moment ausrichten. In dieser frühen Ausbildungsphase kommt
Klassenführung als ein Sich-Bewähren vor der Klasse zum Ausdruck. Dieser Befund stützt
den Befund von Meyer und Kiel (2013), wonach das vordringliche Ziel der Studierenden im
Praktikum sei, ihr Selbstbild als Lehrperson zu schützen oder zu verbessern. Aus den Refle-
xionen, die als Explikationen in die Analyse der geschilderten Situationen einbezogen wur-
den, wird deutlich, dass auch die Entwicklungsaufgabe der Rolle anklingt, wobei sich diese
nicht als Rollenfindung zeigt, wie diese für den Berufseinstieg empirisch identifiziert wurde
(Keller-Schneider, 2010), sondern sich in der Sicherung der Rolle als Lehrperson (oder ihrer
Vorstellung davon) konkretisiert, die, auf der Entwicklungslinie der Rolle als Berufsperson
liegend (Hericks et al., 2019), der explorierenden Rollenfindung in der späten Ausbildungs-
phase (Keller-Schneider, 2020c) und der identitätsstiftenden Rollenfindung der Berufsein-
stiegs (Keller-Schneider, 2010) vorausgeht. Werden in der frühen Ausbildungszeit Anforde-
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 53
rungen zur Rolle zur Sprache gebracht, so zeigt sich diese im Präsent-Sein als Lehrperson
und weniger im Agieren als Lehrperson. In den subjektiv wichtigen Erfahrungen werden
keine Vermittlungsanforderungen geschildert. Es scheint, dass der für die späte Ausbil-
dungsphase konkretisierte Entwicklungsaufgabe der sachangemessenen Vermittlung (Kel-
ler-Schneider, 2020c) eine Bestätigung in der Klassenführung vorausgehen muss. In der
zweiten Erhebung im vierten Semester vor dem Quartalspraktikum wird deutlich, dass die
Studierenden als angehende Lehrpersonen erkennen, dass sie mit einem auf die Schülerin-
nen und Schüler ausgerichteten Unterricht, für welchen sie als Lehrperson verantwortlich
sind, indirekt auf die Klassenführung und auf die Prävention von Störungen Einfluss neh-
men können. Unterricht als ‚focus of concerns‘ (Fuller & Bown, 1975) rückt damit stärker in
den Fokus der Aufmerksamkeit. Kooperation in der Institution zeigt sich bei einer Studentin
im problematischen Erleben der Asymmetrie zwischen der Praktikumslehrperson und der
Studentin. Die Abhängigkeit von angehenden Lehrpersonen von ihren Ausbildungsperso-
nen wird auch in Studien zur zweiten Ausbildungsphase in Deutschland identifiziert (Koˇsi-
n´ar, 2014) und beleuchtet ein zentrales Dilemma von im Schulfeld tätigen aber in Ausbil-
dung stehenden angehenden Lehrpersonen.
In der zweiten Erhebung (Anfang viertes Semester) wird die, durch die thematische Ausrich-
tung der Lehrveranstaltung unterstützte, Fokussierung auf Klassenführungsanforderungen
facettenreicher und auf einen größeren Zeithorizont bezogen aufgezeigt. Auch wenn Anfor-
derungen der Klassenführung in der Situation selbst teilweise als problematisch erlebt wur-
den, so gehen deren Analysen über die Sicherung des Unterrichtsgeschehens im Moment
hinaus. Aspekte der Entwicklung einer Klassenkultur und der Passung der Unterrichtsan-
forderungen auf die Voraussetzungen der Kinder rücken ins Blickfeld. Zudem werden die
Ursachen der Störung nicht leidglich beim Kind gesucht, sondern auch im Zusammenwir-
ken von Handlungen gesehen, in welchen Störungen auch als von der angehenden Lehrper-
son ausgehend erkannt werden. Damit zeigt sich ein facettenreicheres Verständnis von
Klassenführung, das sich den vielfältigen Anforderungen zur Klassenführung im Berufsein-
stieg (Keller-Schneider, 2010) nähert.
2) Aus den Vergleichen zwischen den Erhebungszeitpunkten gehen fallübergreifende Verän-
derungen hervor. Die Entwicklungsaufgabe der Klassenführung wird als bedeutend wahrge-
nommen, wobei sich im Verständnis dieser Anforderungen sowie im Umgang damit Ver-
änderungen zeigen, die über die Annäherung an ein berufseinstiegsspezifisches Verständnis
(Keller-Schneider, 2010) auf eine zunehmende Professionalisierung verweisen. Es werden
größere Zeithorizonte in den Blick genommen, die Lehrperson erkennt sich als Dynamiken
mitgestaltende und nicht nur darauf reagierende; erste Anzeichen sind erkennbar, dass die
Handlungsoptionen der Lehrperson zunehmend über ein regelgeleitetes Handeln hinausge-
hen (Dreyfus & Dreyfus, 1986; Berliner, 2001). In den Analysen der ersten Erhebung wird
deutlich,dassesdenStudierendenschwerfällt,trotz Leitfragen die unterschiedlichen Per-
spektiven auf die von ihnen als bedeutsam eingebrachte Situationeinzunehmen.Inder
zweiten Erhebung werden die Antworten deutlicher den einzelnen Zugängen entsprechend
formuliert und ermöglichen zunehmend ein multikausales Denken.
54 Manuela Keller-Schneider
3) In den individuellen Entwicklungen im Studienverlauf deutet sich an, dass sich in der
individuellen Wahl der Situationen tieferliegende Themen abbilden, die habituell (Helsper,
2018) bzw. berufsbiografisch verankert (Blömeke et al., 2008; Cochran-Smith & Zeichner,
2005) als bedeutsam wahrgenommen werden. In den Analysen der Situationen zeigen sich
teilweise Veränderungen, die sowohl in der Dimension der Quelle einer Dynamik als auch
in den Interventionsmöglichkeiten der Lehrperson eine Erweiterung des Spektrums zeigen.
4) In der Analyse des beigezogenen Wissens wird deutlich, dass es den Studierenden insbe-
sondere zum frühen Zeitpunkt im Studium, aber auch vor der längeren Praxisphase in der
Mitte des Studiums, nur begrenzt möglich ist, auf im Rahmen der Ausbildung erworbenes
Professionswissen zurückzugreifen. Da sich in den analysierten Situationen kein Vermitt-
lungsbezug zeigt, kommt kein Fachwissen und kein fachdidaktisches Wissen zur Sprache.
Aber auch pädagogisch-psychologisches Wissen wird sehr begrenzt beigezogen und der
Taxonomie von Anderson und Krathwohl (2001) entsprechend nicht zur Analyse der Situa-
tion und zur Synthese eines vertieften Verstehens genutzt. Es ist den Studierenden in der
ersten Ausbildungshälfte nicht möglich, das im Rahmen von Lehrveranstaltungen erwor-
bene und situierte Wissen mit situativ sich stellenden Anforderungen in Verbindung zu
bringen und als Ressource für ein vertieftes Verständnis und für daraus abzuleitende
Lösungsansätze zu nutzen. Schulpraxis wird als von den Lehrveranstaltungen getrennte
Domäne verstanden, Vernetzungen (Dreyfus & Dreyfus, 1986; Berliner, 2001) und der
Zugriff auf das in die individuellen Strukturen integrierte subjektive Wissen (Neuweg, 2014)
werden nicht sichtbar.
Eine Differenzierung zwischen Überzeugungen, Motiven/Zielen und Regulationsmöglich-
keiten ist insbesondere in der ersten Erhebung undeutlich. Da sich kein Zugriff auf Wissen
zeigt, sind die in den Analysen geschilderten Überzeugungen dominant. In der zweiten
Erhebung werden berufsspezifische Situationen und Ziele, die als Lehrperson angestrebt
werden, aufgeführt, in der Regulation zeigen sich Absichten der Studierenden, auf welche
sieihreWeiterentwicklungalsLehrpersonausrichten wollen. In der Fokussierung auf
unterschiedliche Zugänge, wie Situationen betrachtet werden können, zeigt sich eine
zunehmende Differenzierung. So werden Überzeugungen verstärkt als Rahmungen wahr-
genommen und Ziele, Motive sowie Regulation als dynamische Kräfte, die individuell
gestaltet werden können. Ein Bewusstsein, dass Überzeugungen diese prägen, ist jedoch
nicht erkennbar. Inwiefern sich dieses in späteren Ausbildungsphasen zeigen wird, bleibt
offen.
Als Folgerungen für die Ausbildung kann abgeleitet werden, dass über vielfältige didaktische
Zugänge der Verknüpfung von Wissen und Erfahrung Beachtung geschenkt werden soll
(Neuweg, 2014), wenn ein vertieftes Verstehen von herausfordernden Situationen geför-
dert werden soll, in welchen erworbenes und erst teilweise verankertes Professionswissen
für die Analyse von Erfahrungen und die Synthese von Handlungsoptionen genutzt werden
soll (Anderson & Krathwohl, 2001). Dies kann beispielsweise über ein Modellieren erfolgen
oder über eine Gliederung der Reflexion in Teilschritte, um auf der Basis von erinnertem
Wissen dieses auf die Situation auszurichten. Da der Lehrberuf von Kontingenz geprägt ist,
ist eine Vorbereitung darauf auch im Rahmen der Lehrpersonenbildung erforderlich
Mehrperspektivische Reflexion subjektiv bedeutsamer Situationen 55
(Combe, Paseka & Keller-Schneider, 2018; Keller-Schneider, 2018b). Regelgeleitetes Wissen
zu erwerben ist eine Voraussetzung dafür, um dieses weiterzuentwickeln und herausfor-
dernde Situationen auf situative Erfordernisse auszurichten (Dreyfus & Dreyfus, 1986; Ber-
liner, 2001).
Aus der ausbildungsphasenspezifischen Konkretisierung der beruflichen Entwicklungs-
aufgaben, die sich als dem Lehrberuf immanente Anforderungen durch die Berufsbiografie
hindurchziehen (Hericks et al., 2019), geht aus dem entwicklungspsychologisch begründe-
ten Konzept von Entwicklungsaufgaben (Keller-Schneider, 2020c) hervor, dass die berufs-
phasenspezifische Sichtweise auf berufliche Anforderungen anerkannt und als Ausgangs-
punkt für weitere Professionalisierungsprozesse genutzt werden soll, wenn die weitere Pro-
fessionalisierung an das aktuelle Wissen der Studierenden als angehende Lehrpersonen
anknüpfen soll. Studierende sind bestrebt, sich aufgrund ihrer biografisch erworbenen Vor-
stellungen zum Lehrberuf in der Instruktionsaufgabe einer Lehrperson zu bestätigen, bevor
die Perspektive auf interaktive Prozesse erweitert und das individuumsbezogene Verständ-
nis ausdifferenziert werden kann. Da diese Vorstellungen als Überzeugungen die Wahrneh-
mung rahmen und die Aufnahme von Impulsen begrenzen (Blömeke et al., 2008), ist ein
reflexionsbasiertes Bewusstwerden von Überzeugungen und deren Divergenzen mit Über-
zeugungen anderer von Bedeutung. In der Gegeneinanderführung unterschiedlicher Sicht-
weisen und deren theoretischer Fundierung sowie subjektiver Begründung kann das Spek-
trum multifaktorieller Bezüge thematisiert werden.
Grenzen: Diese explorative Studie zeigt auf, dass trotz der Leitfragen zumindest zu Beginn
der Ausbildung zur Lehrperson diese nur begrenzt im intendierten Sinne genutzt werden
können, da auch das Verstehen von Leitfragen nicht voraussetzungsfrei ist und berufsrele-
vante Vorkenntnisse erfordert.
Inwiefern die im Rahmen dieser Studie identifizierten ausbildungsphasenspezifischen Kon-
kretisierungen der Entwicklungsaufgaben als belastbare Befunde gewertet werden können,
muss durch eine auf einer breiteren Datenbasis abgestützten Studie geprüft werden. Dass
sich aber Studierende als angehende Lehrpersonenindensubjektivundausbildungspha-
senspezifisch wahrgenommenen beruflichen Anforderungen unterscheiden und dass sich
Entwicklungsaufgaben ausbildungsphasenspezifisch konkretisiert verändern, kann anhand
der Befunde dieser Studie erkannt werden.
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Kontaktdaten
Prof. Dr. Manuela Keller-Schneider, Pädagogische Hochschule Zürich, Fachbereich Lehrprofession, Lagerstr. 2,
8090 Zürich, E-Mail: m.keller-schneider
,
phzh.ch
58 Manuela Keller-Schneider