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journal für lehrerInnenbildung
jlb
no.1
2021
Mythos Reexion
Bibliograe:
Manuela Keller-Schneider:
Mulperspekvische Reexion
als dynamisierender Prozess
zur Förderung von Professionalität.
journal für lehrerInnenbildung, 21 (1), 66-75.
hps://doi.org/10.35468/jlb-01-2021-06
Gesamtausgabe online unter:
hp://www.jlb-journallehrerinnenbildung.net
hps://doi.org/10.35468/jlb-01-2021
ISSN 2629-4982
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Manuela Keller-Schneider
Mulperspekvische Reexion
als dynamisierender Prozess zur
Förderung von Professionalität
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Mulperspekvische Reexion
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Professionalität von Lehrpersonen zeichnet sich durch erworbene
Experse aus, wobei insbesondre eine adapve Experse eine auf
situaonsspezische Anforderungen ausgerichtete Bewälgung von
Anforderungen ermöglicht. Der Beitrag zeigt theoriegestützt auf, dass
eine adapve Experse über die Auseinandersetzung mit herausfor-
dernden Situaonen aufgebaut wird und dass unterschiedliche Kom-
ponenten der individuellen Ressourcen dabei von Bedeutung sind.
Darauf auauend wird die Arbeit mit einem auf diese Komponenten
ausgerichteten Reexionsinstrument vorgestellt, mit welchem eine
subjekv wahrgenommene Situaon analysiert wird, um an die un-
terschiedlichen Komponenten anknüpfend neue Sichtweisen und Lö-
sungsmöglichkeiten abzuleiten.
Auau von Erkenntnissen
über die Reexion von Erfahrung
Reexion fokussiert auf Gedanken und Handlungen, Prozesse und
Veränderungen, konzeptuelle Rahmungen sowie auf sich selbst
(Nguyen, Fernandez, Karsen & Charlin, 2014) und geht damit über
Selbstwahrnehmung sowie Selbstaufmerksamkeit hinaus. Im Beruf
von Lehrpersonen ist Reexion unabdingbar (Helsper, 2001), um der
Konngenz pädagogischen Handelns zu begegnen (Combe, Paseka &
Keller-Schneider, 2018). Die Fähigkeit, Ungewissheit als Herausforde-
rung anzunehmen, soll bereits im Studium erworben werden (Keller-
Schneider, 2018a; Korthagen, 2014), um sich auf die Ungewissheit be-
ruichen Handelns vorzubereiten. Da Wissen nicht direkt in Handlung
überführt werden kann (Mandl & Gerstenmaier, 2000), sondern als re-
econ in acon (Schön, 1983) ein Abwägen von Handlungsoponen
und situav bedingter Entscheidungen erfordert (Blömeke, Gustafs-
son, Shavelson, 2015), stellt die Förderung von Reexionskompetenz
als reecon on acon (Schön, 1983) eine zentrale Anforderung in der
Lehrpersonenbildung dar.
In spezischen Situaonen erforderliche Handlungsentscheidungen
werden von kogniven und emoonal-movaonalen Ressourcen so-
wie von Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen mitbesmmt (Blö-
meke et al., 2015; Keller-Schneider, 2020a). Sie prägen die Art und
Weise der Bewälgung von Anforderungen und damit auch die daraus
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hervorgehenden Erfahrungen und Erkenntnisse mit, die als subjek-
ves Wissen (Neuweg, 2014) in die individuellen Ressourcen integriert
werden und diese nicht nur erweitern, sondern auch transformieren
(Dreyfus & Dreyfus, 1986; Berliner, 2001).
Professionalisierung als konnuierlicher Prozess erfolgt in der Ausei-
nandersetzung mit sich stellenden Anforderungen, der Reexion von
Erfahrungen und der Integraon von daraus hervorgehenden Erkennt-
nissen. Erfahrung und deren Reexion werden damit zur Ressource
für die Gewinnung von Erkenntnissen. Über die Bildung von Synergien
(chunks, Gruber & Degner, 2016) ermöglicht Professionalisierung eine
Redukon der Komplexität situaver Anforderungen, sowie adapve
Experse (Tartwijk, Zwart & Wubbels, 2017) und den Auau einer be-
ruichen Identät (Cherrington, 2017). Adapve Experse zeigt sich
im Handeln und ermöglicht, relevante Faktoren zu erkennen und das
eigene Handeln auf die Situaon auszurichten, worin sie sich von rou-
nierter Experse unterscheidet (Tartwijk et al., 2017).
Die Reexion von situav sich stellenden Herausforderungen ermög-
licht ein auf die Situaon ausgerichtetes, d. h. adapves Handeln.
Doch situav sich stellende Anforderungen werden individuell ver-
schieden wahrgenommen, bedingt durch die individuell geprägten
Ressourcen, die aus Erfahrungen und Erkenntnisse hervorgehen.
Die subjekv geprägte Wahrnehmung und Deutung von Situaonen
und die daraus hervorgehenden individuell gewichteten Anforde-
rungen sind für Professionalisierungsprozesse zentral, wobei damit
deutlich wird, dass auch Professionalisierungsprozesse interindividu-
ell dierent verlaufen. Dies wird im folgenden Abschni stress- und
ressourcen theoresch begründet.
Wahrnehmung und Deutung von Anforderungen
miels individueller Ressourcen
Stresstheoreschen Ansätzen folgend (Lazarus & Folkman, 1984)
werden Anforderungen unbewusst nach ihrer Bedeutsamkeit und Be-
wälgbarkeit eingeschätzt, wobei mehrere Komponenten der indivi-
duellen Ressourcen und ihr Zusammenwirken dabei von Bedeutung
sind (Keller-Schneider, 2020a). Als Herausforderungen angenommene
Anforderungen werden bearbeitet und führen zu neuen Erfahrungen
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und Erkenntnissen, welche, in die individuellen Ressourcen integriert,
diese transformieren (Gruber & Degner, 2016). Als Überforderung
wahrgenommene Anforderungen können sich in der Vermeidung von
Herausforderungen zeigen und zu einer Resistenz Veränderungen ge-
genüber führen (Tartwijk et al., 2017), wodurch Professionalisierungs-
prozesse eingeschränkt werden. Subjekv geprägte Überzeugungen
lenken die Wahrnehmung und Bearbeitung von Anforderungen und
können vor Überforderungen schützen, schränken damit über Ver-
meidung der Auseinandersetzung mit Anforderungen die Entwicklung
einer adapven Experse ein (vgl. Beispiel unten). Die Bereitscha,
Anforderungen als Herausforderungen anzunehmen und sich mit die-
sen auseinanderzusetzen, ermöglicht weiterführende Erkenntnisse.
In der Reexion von subjekv bedeutsamen Erfahrungen können Er-
kenntnisse gewonnen und unbewusst ablaufende, von Überzeugun-
gen geprägte Prozesse sichtbar und für die weitere Professionalisie-
rung nutzbar gemacht werden.
Der stresstheoresch hergeleitete Wahrnehmungsprozess wird von
mehreren Komponenten der individuellen Ressourcen geprägt. Ge-
stützt auf kompetenz- und ressourcentheoresche Ansätze (Blömeke
et al., 2015; Keller-Schneider, 2020a) kommen in der Wahrnehmung
und Deutung von Situaonen nicht nur Überzeugungen, sondern auch
weitere individuelle Ressourcen zum Tragen. Wissen und Können so-
wie ein posives Konzept eigener Fähigkeiten stellen Voraussetzun-
gen für die Bearbeitung und Bewälgung von Anforderungen dar.
Überzeugungen rahmen die Wahrnehmung und besmmen damit
mit, was in den Blick genommen wird und was als nicht relevant oder
nicht bewälgbar ausgeklammert wird. Move und Ziele wirken als
dynamisierende Komponenten auf die Bereitscha und Intensität der
Auseinandersetzung. Selbstregulaonsfähigkeiten regulieren einzu-
setzende und zu schützende Ressourcen. Emoonen färben die wahr-
genommene Situaon aekv.
Diese im theoriegestützt hergeleiteten Modell der Entwicklung päd-
agogischer Professionalität hergeleiteten individuellen Ressourcen
(Keller-Schneider, 2020a) tragen in ihrem Zusammenwirken zur Wahr-
nehmung und Deutung sowie zum Umgang mit situav sich stellen-
den Anforderungen bei und prägen damit das beruiche Handeln
sowie über daraus hervorgehende Erkenntnisse die weitere Profes-
sionalisierung. Eine Reexion von Situaonen und Erfahrungen aus
den Perspekven dieser Zugänge kann zu einem dierenzierten und
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faceenreichen Verständnis einer Situaon führen, eigene Handlun-
gen nach ihrer Angemessenheit durchleuchten sowie weitere Hand-
lungsoponen erönen. Diese Komponenten stellen die Eckpfeiler im
nun vorgestellten Reexionsinstrument dar.
Ein mehrperspekvisches Reexionsinstrument
Das professionalisierungstheoresch begründete Reexionsinstru-
ment stellt individuell erlebte, d. h. reale und für das Subjekt bedeut-
same Situaonen ins Zentrum und beleuchtet diese aus der Perspek-
ve der unterschiedlichen Komponenten der individuellen Ressourcen,
welche die Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Situaonen
mitbesmmen (Keller-Schneider, 2020b). Leiragen (Abb. 1) erläutern
den Fokus der jeweiligen Betrachtungsweise und dienen als Impulse
zur Exploraon der einzelnen Zugänge.
Abb. 1 Theorieg
Fachdidaktisches Wissen
Was wissen Sie aus fachdidaktischer
Perspektive?
Welche Hürden und Schwierigkeiten
gehen von der Sache aus?
Über welches Vorwissen könnten die
Schüler/-innen verfügen?
Wie kann dieses aktiviert und
modifiziert werden? ...
Emotionen
Was empfinden Sie?
Pädagogisch-
psychologisches Wissen
Was wissen Sie aus einer
fachunabhängigen und
fachübergreifenden
Perspektive betrachtet?
Über welches pädagogische,
psychologische und allgemein
didaktische Wissen verfügen Sie? ...
-
t
-
- -
. -
i
Überzeugungen
Wie Lernen Schüler/innen?
Was brauchen sie dazu?
Was kann eine Lehrperson beitragen?
Was ist guter Unterricht?
Was funktioniert?
...
Ziele und Motive
Was ist Ihnen wichtig?
Was möchten Sie erreichen?
Was möchten Sie sicher stellen?
Was möchten Sie ermöglichen?
...
Selbstregulation, Bereitschaft
Was möchten Sie tun,
um dies zu erreichen?
Wieviel Engagement erwarten Sie
von sich?
Woran erkennen sie, dass es sich lohnt?
Was muss sich zeigen,
damit Sie dran bleiben?
...
Fachwissen
Was wissen Sie über die Sache?
...
Situation
Beschreibung einer konkreten Begebenheit Was freut, ärgert, belastet?
estützt entwickeltes Reexionsinstrument zur Analyse alltäglicher
Schulsituaonen (Keller-Schneider, 2020a, S. 420).
Das Reexionsinstrument kann von (angehenden) Lehrpersonen in
einer Regie oder in supervisorisch angelegten Gruppensitzungen
genutzt werden. Der erste Teil der Arbeit erfolgt in Einzelarbeit, der
zweite als Gruppengespräch.
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Einzelarbeit: (1) Eine bedeutsame Situaon wird beschrieben, wobei auf
die Trennung zwischen Beobachtungen und eigenen Gedanken geach-
tet werden soll (vgl. Keller-Schneider, 2018b, S. 86.). (2) Die beschrie-
bene Situaon wird anhand der Leiragen (Abb. 1) analysiert. (3) Die
unterschiedlichen Aussagen werden zueinander in Beziehung gesetzt
und nach Übereinsmmungen und Widersprüchlichkeiten untersucht.
Gruppengespräch: (4) Eine Person stellt ihre Situaon und ihre Ge-
danken dazu vor (Keller-Schneider, 2018b, S. 318f.). Die Gruppen-
mitglieder hören zu; bei Bedarf können Rückfragen gestellt werden
(5). Anschließend bringen die Gruppenmitglieder weitere Deutungs-
möglichkeiten und ihre Sichtweisen ein. Diese werden zueinander in
Beziehung gesetzt (6), wobei auf Übereinsmmungen und Synergien
sowie auf Widersprüchlichkeiten geachtet wird. Aus den herausgear-
beiteten Widersprüchlichkeiten werden Handlungsoponen und Ent-
wicklungsmöglichkeiten abgleitet (7), welche die präsenerende Per-
son abschließend gewichtet (8). Danach wird eine nächste Situaon
bearbeitet (Schrie 4 bis 8).
Bei größeren Gruppen kann nach einer oder nach zwei gemeinsamen
Besprechungen die Arbeit in Zweier- oder Dreiergruppen erfolgen.
Als Abschluss der Sitzung (9) themasieren alle Teilnehmenden, was sie
zum Weiterdenken angeregt hat und welche Impulse sie mitnehmen.
Ein konkretes Beispiel
Wie Widersprüchlichkeiten zwischen unterschiedlichen Sichtweisen
Entwicklungen anregen, wird anhand der Analyse einer Lehrperson
gezeigt (Abb. 2).
Erläuterungen der Lehrerin:
Ich war mit der Stunde sehr zufrieden, merkte zwar, dass ich die Erwar-
tung, dass die Schüler*innen zehn Minuten allein arbeiten sollen, zu hoch
gesteckt hae. Eigentlich wusste ich, dass Zweitklässler nicht ruhig arbei-
ten können. Doch ich erinnere mich, in der Ausbildung gelernt zu haben,
dass es für das Lernen sehr sinnvoll sei, wenn sie zuerst allein arbeiten
und sich erst in einem zweiten Schri austauschen. Dass die Schulleiterin
dabei Ruhe erwartete, war mir nicht bewusst, denn ich bin eigentlich der
Meinung, dass dies nicht geht. Doch nun muss ich etwas ändern. Kann ich
denn von Kindern ein anderes Verhalten erwarten? Doch eigentlich weiß
ich nicht, wie ich das machen kann. Ich traue mir das auch nicht zu.
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Abb. 2 Ana
-
t
-
- -
. -
i
Überzeugungen
• Zusammenarbeit unterstützt
das Lernen.
• Zweitklässler können nicht ruhig
arbeiten.
• Solange sie arbeiten, kommt es nicht
darauf an wie laut es ist.
• Wenn ich Ruhe durchsetzen
will, dann wird die
Stimmung schlecht.
Ziele und Motive
• Ich möchte, dass die Schüler/innen arbeiten
und dass eine zufriedene Stimmung herrscht.
Selbstregulation
• Es ist mir nicht wert, Ruhe einzufordern,
da ich eine solche sowieso nicht
durchsetzen kann.
• Es genügt, wenn die Schüler/innen auch
nur eine kurze Zeit ruhig arbeiten.
Pädagogisch-
psychologisches Wissen
• In Einzelarbeit erproben die
Schüler/innen, was sie verstanden haben
• Partnerarbeit ist sinnvoll, um
Ergebnisse zu korrigieren und
Unklarheiten zu besprechen
• Die Aufmerksamkeitsspanne von
Zweitklässlern ist nicht sehr groß.
Fachwissen
Ich selber weiß, was Nomen sind und
erkenne diese in Texten, d.h. ich verfüge
über die fachlichen Kenntnisse
Fachdidaktisches Wissen
• Nomen in einem Text erkennen ist
ein sinnvoller erster Schritt, weil damit
eingeübt wird, dass Nomen groß
geschrieben werden.
• Partnerarbeiten ermöglichen,
die Sache gemeinsam zu klären
Situation: Nomen erkennen –es ist laut
Nach einer Einführung in die Thematik ‚Nomen in einem Text erkennen‘ arbeiten
die Schüler/innen daran, in einem Text Nomen zu markieren. In den ersten 10 Minuten sollen
sie das allein tun und anschließend zu zweit ihre Ergebnisse besprechen. Zu Beginn sitzen die
Schüler/innen an ihren Plätzen und arbeiten. Doch schon nach sehr kurzer Zeit, beginnen einige
nach rechts und nach links zu schwatzen. Einige gehen im Zimmer umher, es wird immer lauter,
doch es wird auch gearbeitet, jedoch nicht den Anweisungen entsprechend. Ich lasse sie
gewähren, denn ich denke, sie tun ja etwas und von Zweitklässlern kann man kein
leises Arbeiten erwarten. Die Schulleiterin war jedoch
gar nicht zufrieden.
Emotionen
Ich bin zufrieden,
da irgendwie
gearbeitet wird.
Emotionen
Die SL sagte, es sei
zu laut. Nun fühle
ich mich unsicher.
lyse einer konkreten Situaon (Keller-Schneider, 2018b, S. 47).
Aus den Ausführungen der Lehrerin geht hervor, dass sie ursprünglich
mit dem Verlauf dieser Sequenz und dem eingespielten Arbeitsmo-
dus der Klasse zufrieden war. Durch die Rückmeldung der Schulleitung
wurde ihre Sicht irriert, eine Verunsicherung stellte sich ein. Ihre
Überzeugung (Zweitklässler können nicht ruhiger arbeiten), welche
als Rahmung die Deutung der Arbeitsweise prägte (es ist laut, aber
das ist normal bei Zweitklässlern), wurde von der Schulleitung in Fra-
ge gestellt. Durch ihre Forderung nach einer Veränderung wurde der
Lehrerin klar, dass ihre Sichtweise nicht adäquat ist, dass sie aber nicht
weiß, wie sie das ändern kann.
Aus der Analyse geht hervor, dass die Überzeugungen der Schullei-
terin und der Lehrperson widersprüchlich sind. Was die Schulleite-
rin als zu laut deutet, entspricht aus der Sicht der Lehrerin dem, was
von Zweitklässlern erwartet werden kann. Ihre Hinweise im Feld der
Selbstregulaon verweisen darauf, dass sie für das Lenken des Lärm-
pegels wenig Energie verwendet. Ihre Überzeugung, dass leises Ar-
beiten nicht möglich sei, unterstützt sie darin. Ihr ist eine gute Sm-
mung in der Klasse wichg (Ziele) und dass die Smmung nicht durch
Intervenonen der Lehrerin beeinträchgt werden (Überzeugung).
Auch ihr Wissen, dass die Aufmerksamkeitsspanne von Zweitkläss-
lern nicht allzu groß sei, bestägte sie in ihrem Verhalten in dieser
Situaon. In dieser Deutung zeigen sich jedoch auch die ießenden
Grenzen zwischen Wissen und Überzeugungen, denn die Schullei-
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tung schätzt das Potenzial von Zweitklässlern anders ein. Diese Sicht-
weise wird von Mitgliedern der Supervisionsgruppe geteilt. Durch
die Infragestellung der Überzeugung, dass Zweitklässler nicht ruhig
arbeiten können, wird deutlich, dass der Lehrerin Wissen fehlt und
dass sie Impulse braucht, um Wege zu nden, wie sie Ruhe schaen
kann. Dass sie sich mit dieser Anforderung befassen muss und auch
kann, wird in der Analyse und in der Lösungsndung in der Gruppe
deutlich.
Abschluss
Dieses Beispiel zeigt auf, wie über Reexion Grenzen von Überzeugun-
gen und Widersprüchlichkeiten zwischen Zugängen als dynamisieren-
de Komponenten genutzt werden können, um Entwicklungen anzu-
stoßen und sich neuen Ziele zu stellen. In diesem Beispiel wurde der
Widerspruch erstmals durch die Rückmeldung der Schulleiterin aus-
gelöst und von Gruppenmitgliedern geteilt, doch Widersprüchlichkei-
ten können auch von Gruppenmitgliedern iniiert werden (‚Das sehe
ich anders, aus meiner Sicht könnte man das auch so deuten‘) oder
aus eigenen Gedanken hervorgehen (‚Das geht doch nicht, doch ei-
gentlich weiß ich nicht, wie ich das ändern kann‘). In der Bearbeitung
des Reexionsinstruments wird die Nutzung von mehreren Quellen
von Deutungen angeregt, in der Verlangsamung der Gedanken durch
das Auächern auf mehrere Felder wird eine veree Auseinander-
setzung angeregt. Zentral ist dabei, dass die analysierte Situaon für
die individuelle Lehrperson subjekv von Bedeutung ist und es ihr
wichg ist (internal oder external ausgelöst), sich damit zu beschäf-
gen. In der mehrmaligen Nutzung dieses mehrperspekvischen Re-
exionsinstruments entsteht eine Fähigkeit, Situaonen aus unter-
schiedlichen Perspekven zu betrachten (reecon on acon), auch
in der Situaon selbst (reecon in acon) und ohne den Leiragen
im Einzelnen zu folgen. Aus der Nutzung dieses Reexionsansatzes
resulert eine adapve Experse (Tartwijk et al., 2017), die über Re-
exion als dynamisierender Prozess die weitere Professionalisierung
unterstützt.
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Manuela Keller-Schneider
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Mulperspekvische Reexion
jlb no. 1/2021 hps://doi.org/10.35468/jlb-01-2021-06
Manuela Keller-Schneider, Prof. Dr. phil.,
Pädagogische Hochschule Zürich.
Arbeitsschwerpunkte:
Professionsforschung, insbesondere Berufseinseg,
Team und Schulentwicklung, selbstreguliertes Lernen
m.keller-schneider@phzh.ch